Die Ruhe nach dem Sturm - DRK Kreisverband Neumünster e.V.

Die Ruhe nach dem Sturm
2/2015 | rotkreuzmagazin | Von Frank Burger
In der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Neumünster stranden jedes Jahr
Tausende Menschen, die durch Hunger, Krieg und Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben
wurden - das DRK hilft ihnen dabei, im neuen Leben anzukommen.
Es ist der erste schöne Tag seit Langem. Ammar Dalati, 38, sitzt im Schneidersitz im Gras,
neben ihm die Familie: seine Frau Zahira, 26, der sechsjährige Sohn Mohammed, die kleine
Tochter Ziana, die gerade drei geworden ist, immerzu vor sich hin singt und eine Stoffpuppe
schwenkt, außerdem der 14-jährige Neffe Karim*. Der Familienvater nickt dem Dolmetscher
zu, lächelt den Besucher an und erzählt von der Hölle. Vom Irrsinn der Gewalt in Damaskus,
in der Heimat, in Syrien. „Dieses Land gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch den Krieg“, sagt
der 38-Jährige.
Familie Dalati ist vor dem Krieg aus Damaskus geflohen und blickt der Zukunft in Deutschland vorsichtig
optimistisch entgegen.
Neumünster ist im hohen Norden die Anlaufstelle für Flüchtlinge, Asylbewerber und
Spätaussiedler. Doch gleich, wer auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne aufgenommen
wird: Die Betreuung übernimmt der hiesige DRK-Kreisverband Neumünster, der diese
Aufgabe schon seit mehr als 25 Jahren erfüllt. Die 43 Mitarbeiter kümmern sich um
Unterkunft, Verpflegung, Kinderbetreuung und medizinische Versorgung, sie bieten Beratung
für das Asylverfahren sowie bei sozialen und psychischen Problemen an.
„Im Moment leben hier durchschnittlich 650 Menschen“, sagt Tim Künstler, der
stellvertretende Leiter der Einrichtung. „Ihre Zahl und ihre Herkunft schwanken, das hängt ab
von den Krisenherden der Welt. Jetzt kommen natürlich viele aus Syrien, aber auch aus
Afghanistan, Serbien, Eritrea oder dem Irak.“ Ursprünglich war die Einrichtung ausgelegt auf
400 Plätze, die Wohncontainer wurden im vergangenen Jahr nötig, als die Zahl der
Hilfesuchenden stark stieg. Diesen Sommer sollen Container mit weiteren 150 Plätzen
aufgestellt werden. Und im nahe gelegenen Boostedt öffnet eine zweite
Erstaufnahmeeinrichtung ihre Pforten. Wegen des großen Andrangs können die Flüchtlinge
manchmal nur zwei Wochen in Neumünster bleiben, dann muss für sie eine längerfristige
Unterkunft in den Kreisen und Kommunen des Bundeslandes gefunden worden sein, damit
Platz für die Neuankömmlinge ist.
Hochbetrieb beim ärztlichen Dienst
Nun gibt es Menschen in dieser Gesellschaft, nach deren Meinung schon jetzt mehr als genug
Flüchtlinge in Deutschland angekommen sind. Man wünscht jedem von ihnen eine
Begegnung mit Petra Markowski-Bachmann, der Einrichtungsleiterin in Neumünster. Sie
sagt: „Wenn ich das höre – warum denken manche bloß so eingeschränkt? Wenn wir einmal
die Perspektive wechseln, dann können wir erkennen, dass wir auch ein ganzes Stück stolz
darauf sein können, dass diese Menschen ausgerechnet bei uns Hilfe suchen. Sie vertrauen auf
unsere Gesellschaft und sie vertrauen auch darauf, dass wir ihnen und ihren Kindern Schutz
bieten – ist dies nicht auch ein Ausdruck dafür, wie viele Menschen diesem Land vertrauen?“
Dr. Hilmar Keppler, Leiter des ärztlichen Dienstes in Neumünster, behandelt mit zwei Kolleginnen täglich bis zu 170
Patienten
Hochbetrieb herrscht auch im Wartezimmer des ärztlichen Dienstes. Müde blickende Männer
und Frauen, Plastiktüten mit Habseligkeiten zu ihren Füßen, schlafende Kinder. Mittendrin,
grauhaarig und aufrecht, Dr. Hilmar Keppler, 72, der Chef. Seine beiden Kolleginnen und er
seien täglich für „80 bis 170 Patienten“ da. „Die Untersuchung zur Erstaufnahme dauert nur
ein paar Minuten, aber wenn jemand Leid ausdrückt, steht die Uhr still“, sagt der
Allgemeinmediziner, der 26 Jahre lang eine eigene Praxis führte und nun, statt in Rente zu
gehen, beim DRK angestellt ist. „Wir werden täglich mit schweren Fällen konfrontiert:
Tuberkulose, koronare Herzkrankheit, großflächige Verbrennungen, psychische
Erkrankungen. Das erfordert einen großen Betreuungsaufwand, zu dem immer auch die
Dolmetscher gehören – ohne sie wären wir oft sprachlos.“
Auch für Ammar und Zahira Dalati und die Kinder wird die Zeit nach Neumünster wichtig
sein. Über allem schwebt die Frage, ob ihr Asylverfahren günstig verläuft. Es geht auch
darum, ob sie in eine Unterkunft nach Kiel ziehen können, wo bereits Verwandte leben. Sie
möchten gern Deutsch lernen. Sie hoffen, dass die Eltern ihres Neffen Karim, die noch im
Libanon festhängen, im Zuge einer Familienzusammenführung nach Deutschland kommen
dürfen. „Herr Dalati, was wünschen Sie Ihrer Familie und sich für die Zukunft?“ Seine Frau
sieht ihn aufmerksam an. Ziana spielt mit der Puppe und singt leise. Ihr Vater sagt: „Ein
schönes Leben.“
*Name auf Wunsch der Familie geändert