CDU 70 Jahre - Universität Heidelberg

70 Jahre CDU
Redaktionell überarbeitete Manuskriptfassung des Vortrages am 3. Juli 2015
Jubiläumsveranstaltung des Kreisverbandes der CDU Heidelberg
SRH-Hochschule – Foyer
Prof. Dr. Manfred G. Schmidt
Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg
Meine Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung zu einem Vortrag anlässlich des 70. Geburtstags
der CDU, zu dem ich herzlich gratuliere. Ihrer Einladung bin ich gerne gefolgt.
Ich bin nicht Mitglied Ihrer Partei, habe aber als Politikwissenschaftler die CDU
und ihre Politik im Bund und in den Ländern immer mit großem Interesse beobachtet. Für die Parteienforschung ist die CDU ein besonders interessanter Untersuchungsfall. Aus mehreren Gründen.
1.Erfolg bei der Mobilisierung von Wählerstimmen, bei Machterhalt und
Machterwerb und bei der politischen Gestaltung
Besonders interessant ist – erstens – der außergewöhnliche Erfolg, den die CDU
bei den allerwichtigsten Zielen von politischen Parteien erreicht hat: Wählermobilisierung, Machterwerb und Machterhalt sowie politische Gestaltung. Bei
allen drei Zielgrößen erreicht die CDU bemerkenswerte Ergebnisse – sowohl im
internationalen Vergleich1 als auch im nationalen Maßstab. Ihr durchschnittlicher Stimmenanteil bei Bundestagswahlen liegt bei 33,9 Prozent. Zählt man den
Stimmenanteil ihrer bayrischen Schwesterorganisation, der CSU, dazu, sind es
42,6 Prozent. Als Volkspartei hat die CDU das Kunststück vollbracht, Wähler
aus unterschiedlichsten Schichten und unterschiedlichen Konfessionen zu gewinnen – eine bis dahin in Deutschland unbekannte Konstellation.
Auch beim Machterwerb war die CDU erfolgreicher als andere Parteien. Nach
Dauer und Stärke der Regierungsbeteiligung zu urteilen, ist sie unter den Par-
Vom Erfolg bei Wahlen und bei der Regierungsbeteiligung kündet auch der internationale
Vergleich. Die Unionsparteien sind im Vergleich mit andern westlichen Demokratien länger
und wirkungsmächtiger an der Führung der nationalen Regierungsgeschäfte beteiligt als andere christdemokratischen Parteien. Das ist eine bemerkenswerte Leistung – weil sie in einem
beinharten politischen Wettbewerb errungen und über viele Jahrzehnte durchgehalten wurde.
Das hat Champions League-Format – auf dem Niveau von spanischen Spitzenteams
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teien die führende Kraft im Bund – dort bekanntlich im Verein mit der CSU, der
bayrischen Schwesterorganisation. Dass zudem fünf der acht Bundeskanzler
aus der CDU stammen, spricht ebenfalls für ihre politische Potenz.
Der Regierungsbeteiligung nach zu urteilen, ist die CDU überdies in sechs
Bundesländern die stärkste Partei, auch in Baden-Württemberg.2 Die politische
Bilanz ist mithin – auf gut Schwäbisch gesagt – „net schlecht“. Oder auf Hochdeutsch: „alles in allem ziemlich gut“.
Die positive Bilanz schließt Blessuren nicht aus, wie derzeit die Verbannung der
baden-württembergischen CDU in die Opposition. Vielleicht tröstet die CDU,
dass auch die SPD ihre liebe Mühe und Not mit dem Abmarsch in die Opposition hat. Ich zitiere aus der Rede, die Helmut Schmidt nach seiner Abwahl
durch das konstruktive Misstrauensvotum am 1.Oktober 1982 hielt. Jetzt stehe
der abgewählten SPD, so Schmidt, das „frustrierende Erlebnis” der Opposition
bevor, das schwierige „Immerzu-nur-reden-und-nicht-gestalten-Können” und
das Abgeschottetsein vom „Herrschaftswissen”.3
Doch zum Trost von Helmut Schmidt und allen anderen, die Wahlen verloren
haben, kann man dies festhalten: In Demokratien mit starken Oppositionsparteien gibt es für die Opposition die reelle Chance, bei der nächste Wahl wieder
an die Regierung zu gelangen. Und genau das gehört mit zu den Vorteilen der
Demokratie gegenüber nichtdemokratischen Regimen.
2. Außen- und innenpolitische Erfolge
Zeitgeistpartei oder Partei der Konfliktentschärfung?
Ein zweiter Sachverhalt macht die CDU auch für die Parteienforschung so interessant: ihre Regierungspraxis in der Innen- und der Außenpolitik. Aus Zeitgründen konzentriere ich mich auf die Innenpolitik. Am 26.6.2015 war in der
Frankfurter Allgemeine Zeitung eine Interpretation zum Charakter der CDU
vorgelegt worden. Dort hieß es, die CDU sei eine „Zeitgeistpartei“ 4. Eine interessante These, doch im Zeitgeist geht der Charakter der CDU nicht auf. Die
Die anderen Länder sind – neben dem von der CSU regierten Bayern – Rheinland-Pfalz, das
Saarland, Sachsen, Thüringen und Schleswig-Holstein (gemessen am Kabinettsitzanteil der
CDU seit der jeweiligen Landesgründung).
3 Zitiert nach Klaus Bölling: Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt. Ein Tagebuch.
Reinbek bei Hamburg 1982, S. 114 f.
4 Günther Bannas: Die Zeitgeistpartei, in: FAZ Nr. 146, 27.6.2015, S. 1.
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Diagnose „Zeitgeistpartei“ übersieht einen anderen, viel wichtigeren Charakter
der CDU. Sie ist in mancherlei Hinsicht die Konfliktentschärfungspartei. Die
CDU hat nämlich, so werde ich zeigen, wesentlich an der Entschärfung von drei
brisanten deutschlandweiten gesellschaftlichen Konflikten mitgewirkt: den
ökonomischen Konflikt, den religiösen Konflikt, den Konflikt um die Umweltschutz- und Energiepolitik. Und die CDU hat zudem den Konflikt entschärft,
den die Bildung des Landes Baden-Württemberg hervorgerufen hat.5 Diese Politik der Konfliktentschärfung brachte nicht nur dem ganzen Land einen Vorteil, nämlich Entlastung von polarisierendem Streit. Sie war auch politisch für
die Union insgesamt vorteilhaft, denn die Konfliktentschärfung verbesserte die
Position der CDU auf dem Markt der Wählerstimmen. Somit erklärt die Politik
der Konfliktentschärfung zugleich einen Teil des zuvor erwähnten Erfolges der
CDU bei Wahlen und bei der Regierungsbeteiligung.
2.1 Entschärfung der ökonomischen Konfliktlinie
Der Wählerforschung zufolge gibt es in Deutschland mehrere Konfliktlinien:
Eine davon ist ökonomische Konfliktlinie. Die ökonomische Konfliktlinie trennt
– wenngleich abgeschwächter als früher – das Wählerverhalten der Unternehmer, des Mittelstandes und der Selbständigen auf der einen Seite und das Wählerverhalten der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft (teilweise auch
der Angestellten) auf der anderen Seite. Die eine Seite stimmt mehrheitlich für
eine der bürgerlichen Parteien, die andere stimmt größtenteils für eine der links
von der Mitte platzierten Parteien. Die ökonomische Konfliktlinie existiert hierzulande, aber sie ist – im Unterschied zur Weimarer Republik – entscheidend
entschärft worden, und zwar so, dass die Unionsparteien aus diesem Konflikt
mehr Wähler gewinnen als früher. Dazu haben viele Faktoren beigetragen –
unter anderen eine Wirtschaftspolitik, die für wirtschaftliche Entwicklung und
Hebung des Lebensstandards für nahezu die gesamte Bevölkerung sorgte. Entscheidend entschärft wurde der ökonomische Konflikt sodann durch den Aufund Ausbau des Sozialstaats, der gegen Risiken schützt, gegen die sich die
meisten Bürger individuell nicht ausreichend versichern können. Am Auf- und
Ausbau des Sozialstaates wirkten hierzulande bekanntlich zwei große Parteien
tatkräftig mit: nicht nur die SPD, wie manche meinen, sondern auch die christdemokratischen Parteien, die beide ebenfalls Sozialstaatsparteien sind. Somit
hat Deutschland eine ungewöhnlich sozialstaatsfreundliche Parteienlandschaft
– mit gleich zwei großen Sozialstaatsparteien, nicht nur mit einer Sozialstaatspartei.
Schwerer tat sich die Union allerdings bei dem Konflikt zwischen Einheimischen und Zuwanderern und beim Geschlechterkonflikt. Beim Konflikt zwischen Arm und Reich hat die CDU
ebenfalls Mühe, sich zu profilieren, obgleich sie hierbei mit ihrer Sozialpolitik punkten könnte.
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2.2 Entschärfung der religiösen Konfliktlinie
Das Wählerverhalten in Deutschland, so lehren unsere Wählerforscher, wird
von einer zweiten Konfliktlinie geprägt: der religiösen Konfliktlinie. Ihr zugrunde liegen signifikante Unterschiede im Wählerverhalten von Katholiken
und Protestanten sowie von kirchlich gebundenen und konfessionslosen Wählern. Die religiöse Konfliktlinie existiert hierzulande bis heute, doch auch sie ist
entscheidend entschärft worden. Aus vielerlei Gründen. Zur Entschärfung dieses Konfliktes trug auch die Politik bei, nicht zuletzt die Politik der Parteien im
Bund und in den Ländern. Eine wichtige Station auf dem Weg dorthin war die
Beilegung des Streites um die Konfessions- bzw. die Gemeinschaftsschule. So
auch in Baden-Württemberg. Letztendlich bekam die interkonfessionelle Gemeinschaftsschule Vorrang, flankiert von der Garantie, Konfessionsschulen auf
privater Grundlage und mit staatlicher Subvention weiterführen zu können.
Das ist im Prinzip auch ein Muster für die Einbindung anderer Religionen, wie
des Islams.
2.3 Entschärfung der ökologischen Konfliktlinie
Eine dritte Konfliktlinie kennzeichnet das Wählerverhalten insbesondere seit
den 1980er Jahren: Ich nenne sie die ökologische Konfliktlinie. In ihrem Zentrum steht der Streit um Art und die Reichweite der Umweltschutz- und der
Energiepolitik. Bei diesem Konflikt hatte sich die CDU lange einerseits energiepolitisch als Pro-Atomkraft-Partei klar positioniert und andererseits im engeren
Umweltschutzbereich passiv verhalten. Das war merkwürdig, weil die CDU
sich umweltpolitisch schon früh profiliert hatte. Das Paradebeispiel ist die erfolgreiche Umweltschutzpolitik zur Wasserreinhaltung des Bodensees seit den
1950er und 1960er Jahren, an der die CDU-geführten Landesregierungen in Baden-Württemberg maßgeblich beteiligt waren. Doch politisch ausgeschlachtet
wurde dieser frühe umweltpolitische Erfolg lange Zeit nicht. Die umweltpolitische Profilierung der Union setzte erst viel später ein – in den 1980er Jahre. Der
allergrößte umwelt- und energiepolitische Befreiungsschlag der CDU erfolgte
2011: durch die Entscheidung der Kanzlerin Merkel, aus der Kernenergie auszuscheiden. In politischer Hinsicht war diese Entscheidung ein sensationeller
Schachzug: Er räumte eine politische Streitfrage beiseite, die für die Unionsparteien schwierig, ja potentiell gefährlich war. Denn mit der Fortführung der ProAtomkraft-Politik hätte man weder neue Wähler gewinnen noch neue Koalitionsmöglichkeiten erschließen können.
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2.4 Bewältigung eines baden-württembergischen Sonderkonfliktes
Zur Entschärfung eines vierten Konfliktes hat die CDU ebenfalls beigetragen:
gemeint ist der Streit, den die Zusammenlegung der drei Länder WürttembergBaden, Württemberg-Hohenzollern und Baden im Jahre 1952 hervorrief. Die
Geburt des Landes Baden-Württemberg ging nicht ohne Blessuren vonstatten,
denn geliebt haben sich die Stämme nicht, die dabei unter einem Dach zusammenkamen. Die Geburtswehen bei der Gründung Baden-Württembergs waren
schwer und die Nachwirkungen ebenfalls. Besonders laute Klagerufe kamen
aus Südbaden. Dort trat die Mehrheit für die Wiedereinrichtung des alten Landes Baden ein. Vom Zusammengehen mit den Schwaben befürchtete man Ungutes: „Die sind mir viel zu geschäftstüchtig“, hieß es oft über die Schwaben im
wirtschaftlich schwächeren südbadischen Teil6. In Baden war die Angst vor der
„Gefahr im Osten“ groß, also die Angst vor dem, was östlich des Schwarzwaldes lag7. Ferner argwöhnte man im überwiegend katholischen Südbaden religiöse Unbill vom Zusammenlegen der Länder. Wie hieß es so hellsichtig in einer
Stellungnahme aus dem Jahre 1952? Ich zitiere: „Ihr Sauschwobe bringt’s noch
so weit, dass unser schönes Badener Land vom Teufel regiert wird“8.
Erheblichen Spannungen bezeugen auch die vielen populären Witze über allzu
sparsame Schwaben. Sie kennen vielleicht diesen Witz: Ein kleiner Junge aus
Schwaben wäre beinahe im Bodensee ertrunken. Er wird in letzter Sekunde gerettet – von einem Badener. Doch der Dank für die Rettungstat bleibt aus. Stattdessen stellt der Vater des Geretteten, ein Schwabe den badischen Lebensretter
voller Zorn mit folgenden Worten: „Ja und wo isch sei Mütz?“9
Bei der Geburt des Landes Baden-Württembergs gab es nicht nur frohe, sondern viele lange Gesichter. Enttäuscht reagierten auch jene, die einen anderen
Namen für das neue Bundesland bevorzugten. Da kam viel zusammen. Das
Hauptstaatsarchiv Stuttgart hat die Namensvorschläge fleißig gesammelt und
zum 50. Geburtstag des Landes eine Auswahl veröffentlicht. Einige Kostproben: „Wühoba“ schlugen die einen vor, andere waren für „Bawüholand“.
„Schwaben“ fand sich ebenfalls unter den Vorschlagen, aber auch „DeutschSüdwest“ oder „Nordbodenseeland“. Manche plädierten gar für „Vorderösterreich“.10
Elisabeth Nölle-Neumann: Der Südweststaat. Eine demoskopische Geschichtsstunde, in: 50
Jahre Baden-Württemberg, Verlagsbeilage zur FAZ, Dienstag, 19. März 2002, S. 1-2.
7 Hermann Bausinger: Die bessere Hälfte. Von Badenern und Württembergern, Stuttgart 2002.
8 Joseph Behe und Frederique Schwebel: Sauschwobe und Gelbfiaßler, Stuttgart 2002.
9 Bausinger, Die bessere Hälfte.
10 50 Jahre Baden-Württemberg, Verlagsbeilage zur FAZ, Dienstag 19. März 2002, S. 3.
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Der Konflikt zwischen Baden und Württemberg wurde im Lauf der Zeit entschärft. Vielerlei trug dazu bei, unter anderem der wirtschaftliche Aufschwung
in allen Landesteilen. Entschärft wurde der Konflikt zudem durch die Regionalpolitik der baden-württembergischen Landesregierungen, die alle Landesteile bediente. Und entschärft wurde der Konflikt parteiintern durch proporzdemokratische Regeln. Davon zeugen bis heute die Organisationsstrukturen der
baden-württembergischen CDU, namentlich die sehr starke innerparteiliche
Position der vier Bezirksverbände Nordbaden, Nordwürttemberg, Südbaden
und Württemberg-Hohenzollern.11
Gelöst wurde der Konflikt zwischen Baden und Württemberg schließlich durch
die Volksabstimmung vom 7. Juni 1970. An diesem Tag stimmten die Badener
erneut über Baden ab – und befürworteten mehrheitlich die Beibehaltung des
Landes Baden-Württemberg.
3. Die Kehrseite der Medaille
Die CDU kann sich vieler Erfolge rühmen. Aber es gab auch Misserfolge, Fehler
und Weichenstellungen mit Folgeproblemen.
Die CDU laboriert an Mitgliederschwund und Alterung ihrer Mitglieder. Auch
ist die Union auf dem Wählerstimmenmarkt nur asymmetrisch erfolgreich.
Stimmenanteile über 75 Prozent erzielt sie in ihren Kernmilieus bei den Landwirten und bei kirchlich gebundenen Wählern insbesondere bei Katholiken mit
starker kirchlicher Bindung. Doch mit Landwirten und kirchlich gebundenen
Wählern allein kann man keine Mehrheiten gewinnen. Weit überdurchschnittliche Stimmenerfolge erreicht die Union sodann bei den älteren Wählern. Andererseits hat die Union sodann insbesondere – wie ihre Misserfolge bei Lokalwahlen in großen Städten zeigen – im großstädtischen Elektorat eine schwächere Position.
Auch bei der politischen Gestaltung sind nicht nur Erfolgsgeschichten zu berichten.
Ich nenne nur einige Beispiele:
Mit der Reaktion auf den Wertewandel von den Pflicht- und Akzeptanzwerten
hin zu den Selbstentfaltungswerten tut sich eine weithin wertkonservative Partei wie die Union nach wie vor schwer.
Klaus Peter Grotz: Die CDU, in: Michael Eilfort (Hg.) Parteien in Baden-Württemberg, Stuttgart 2004, S. 37-74, S. 49 ff.
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Aber auch bei eindeutig „materialistischen“ Themen wie Staatsfinanzen sind
Schwächen unübersehbar. Gewiss: Derzeit kann der Bundesfinanzminister
Schäuble mit der „schwarzen Null“ punkten. Doch beim Anhäufen der Staatsverschuldung haben CDU und CSU im Bund kräftig mitgewirkt – wenngleich
sie in Bayern und Baden-Württemberg gezeigt haben, dass man auch mit weniger Staatsverschuldung als in anderen Bundesländern wirtschaften kann.
Schließlich ein nachdenklicher Blick auf die Europapolitik. Die CDU ist eine
Partei, die besonders beherzt für die europäische Staatengemeinschaft eintritt.
Dafür gibt es gute Gründe. Doch über ihre Europabegeisterung scheint die
Union die Nebenwirkungen und Folgeprobleme der Europäischen Union zu
vernachlässigen. Doch die Nebenwirkungen und Folgeprobleme sind gewichtig. Ich begnüge mich mit Stichworten wie mehr Bürokratie, mehr Technokratie,
Verlust an nationalstaatlicher Demokratie und hohe Kosten einer GriechenlandRettungspolitik, die seit nunmehr fünf Jahren für Staatsinsolvenzverschleppung
sorgt.12
4. Zukünftiges
Genug von Vergangenheit und Gegenwart. Ich wage abschließend einen Blick
in die Zukunft. Allerdings sind Prognosen immer unsicher, vor allem, wenn sie
die Zukunft betreffen, so hat uns Mark Twain belehrt. Das gilt auch hinsichtlich
eines Blickes auf die wahrscheinliche Zukunft der CDU. Am sichersten scheint
mir eine Projektion, die bestehende Tendenzen hochrechnet und verlängert.
Angesichts eines Wähleranteils von 34,1 Prozent bei der Bundestagswahl 2013
und von 33,9 Prozent im Durchschnitt aller Bundestagswahlen hat die CDU
sehr gute Chance, auch zukünftig weitere runde Geburtstage zu feiern.
Dabei wird ihr voraussichtlich die weitere Alterung der Bevölkerung zugutekommen. Bei den mindestens 60-Jährigen sind die CDU und die CSU seit Jahr
Obwohl sie ihre sozialdemokratische Konkurrenz gerne als eine „Partei der Gängelei“ kritisiert, ist sie die Union ihrerseits gegen Gängelei nicht gefeit. Die Politik der CDU-geführten
baden-württembergischen Landesregierungen seit der Jahrtausendwende hat in die Universitäten des Landes mit der Einführung eines machtvollen Hochschulrates bzw. Universitätsrates,
mehrheitlich besetzt mit universitätsexternen, vom Wissenschaftsministerium bestimmten Personen, zu sehr hineinregiert und sie erheblich gegängelt. Baden-Württembergs Universitäten
sind aber Top-Universitäten. Man sollte sie in ihrer Autonomie stärken und sie frei laufenlassen.
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und Tag die mit Abstand stärkste Partei – bei der Bundestagswahl 2013 gewannen sie 49 Prozent der Stimmen der mindestens 60-Jährigen. Und weil der Anteil der mindestens 60-Jährigen wächst, haben die Unionsparteien gute Chancen
auf weitere Alterungsgewinne. Sofern es ihnen gelingt, so ist zu ergänzen, die
„neuen Alten“, unter ihnen etliche postmaterialistische Wähler, auf ihre Seite zu
ziehen: Das ist mit einer Energiepolitik ohne Atomkraft einfacher als mit einer
Energiepolitik der alten Art. Und das ist mit einem starken Sozialstaat ebenfalls
einfacher als mit einer schmalen Sozialpolitik.
Auch von einem zweiten Trend dürfte die CDU profitieren: von der tendenzielle zunehmenden Zahl der Nichtwähler – sofern weiterhin ein überproportional
großer Teil der Nichtwähler aus der (groß)städtischen Unterschicht stammt,
also aus Wählergruppen, die nicht typische Unionsparteienwähler sind.13
Die zukünftigen Chancen der CDU hängen zudem davon ab, wie gut sie im
Lichte der wichtigsten Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens abschneidet. Das sind laut Wahlforschung erstens die Parteiidentifikation der Wähler,
also ihre grundsätzliche Nähe oder Distanz zu einer Partei, zweitens die Themen, die im Wahlkampf dominieren, drittens die Problemlösungskompetenz,
die den Parteien zugeschrieben wird und viertens die Attraktivität ihrer Spitzenkandidaten.
Erfolg oder Misserfolg einer Partei bei zukünftigen Wahlen werden davon abhängen, wie gut oder schlecht es dieser Partei gelingt, die eben erwähnten Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens zu ihrem eigenen Nutzen zu beeinflussen, und zwar insbesondere durch die Aufstellung wettbewerbsfähiger
Spitzenkandidaten, durch Platzierung von parteigünstigen Themen und Beseitigung von parteiungünstigen Streitfragen, durch Nachweis von Problemlösungskompetenz und durch Stärkung der Parteiidentifikation.
Ich weiß – und damit komme ich zum Schluss – das ist leichter gesagt als getan.
Armin Schäfer: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der
Demokratie schadet, Frankfurt a.M.-New York 2015.
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