Das glaubt ihr doch wohl selbst nicht! Biber richten großen Schaden

„Das glaubt ihr doch wohl selbst nicht! Biber
richten großen Schaden an. Sie bauen
­Staudämme und können dadurch ganze
Landstriche überfluten. Sie unterhöhlen
Ufer­böschungen. Im Sommer holen sie gern
Mais, Rüben und Getreide von den Feldern.
Ich kann nur hoffen, dass es hier keine
Biber gibt.“
„Wir haben aber einen abgenagten
Baumstumpf entdeckt. Er schaut genauso
aus wie der Rest von unserem Apfelbaum!“,
ruft Philipp.
„Vielleicht haben die Kinder recht.“
Mama zeigt auf den Küchentisch. Dort liegt
das aufgeschlagene Lexikon. „Ich habe auch
nachgelesen. Es könnte wirklich sein, dass
ein Biber unseren Apfelbaum geholt hat.“
Papa schaut sich die Bilder im Lexikon an.
„Biber an der Ems – wenn das stimmt, muss
ich mir Sorgen um mein großes Maisfeld
machen. Es liegt direkt am Fluss.“
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Spurensuche
Am nächsten Tag sitzt eine ältere Frau in
der Küche. Sie ist klein und rundlich und hat
graues Haar. Aber ihre blauen Augen funkeln
lebhaft.
„Leonie, Niklas und Philipp“, sagt Papa,
„das ist Frau Renner. Sie war früher meine
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Biologielehrerin in der Schule. Ich habe
Frau Renner wegen unseres Biberproblems
angerufen.“
„Johannes“, berichtigt Frau Renner, „Biber
müssen keine Probleme machen. Wenn wir
Menschen ihnen rechts und links der Ems
einen Streifen Brachland von 20 Metern
zugestehen würden, wären sie vollkommen
zufrieden. Sie würden keinen Schaden
anrichten. Mit der Zeit würde eine Auenland­
schaft entstehen, in der sich viele neue
Pflanzen und Tiere ansiedeln könnten. Und
du müsstest dir keine Sorgen um ­deinen
Mais machen.“
Sie sieht die Kinder an. „Seit ich nicht
mehr unterrichte, beobachte ich die Natur.
Ihr meint also, dass ein Biber in eurem
­Garten war. Falls ihr recht habt, wäre das
großartig. Denn in diesem Gebiet an der
Ems hat noch niemand Biber gesehen.
Aber jetzt zeigt mir doch erst einmal den
Baumstumpf.“
Die Kinder führen Papas ehemalige
­Lehrerin in den Garten. Fachmännisch
betrachtet Frau Renner den Stumpf von allen
Seiten. Sie kniet sich hin und untersucht ihn
mit einer großen Lupe.
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„Ihr habt euch nicht geirrt. Diesen Baum
hat möglicherweise ein Biber abgenagt.
Das hier könnten die Spuren der beiden
­oberen Schneidezähne sein. Wusstet ihr,
dass die orange­roten Nagezähne ständig
nach­wachsen? Sie nutzen sich beim Fällen
und Nagen stark ab. Sie haben keine Zahn­
wurzeln und schärfen sich beim Gebrauch
gegenseitig.“
„Und warum holt der Biber ausgerechnet
unseren Apfelbaum?“, platzt Leonie heraus.
„Nun, junge Obstbäume sind ein Lecker­
bissen für die Tiere. Die Rinde ist noch saftig,
das mögen sie. Dazu kommt, dass eure
­Wiese so nah am Emsufer liegt. Biber ver­
lassen ihr Gewässer nicht gern. An Land
bewegen sie sich plump und unbeholfen. Es
würde ihnen schwerfallen, vor einem Feind
zu fliehen. Sie suchen ihre Nahrung möglichst
in Gewässernähe. Eure Mutter sollte
schleunigst einen stabilen Zaun aufstellen,
wenn sie ihre Obstwiese retten möchte.“
Philipp stößt seinen Zwillingsbruder in die
Seite. Dann flüstert er: „Das verraten wir
Mama nicht. Wenn der Biber alle Bäume
holt, können wir wieder Fußball spielen.“
Laut verkündet er: „Ich bleibe von jetzt an
jede Nacht auf, bis ich einen Biber gesehen
habe! Du auch, Niklas?“
Niklas schüttelt den Kopf. „Nö. Ich will
nachts schlafen.“
Auch Frau Renner möchte herausfinden,
ob es an der Ems tatsächlich Biber gibt.
„Wir müssen nicht die ganze Nacht Wache
halten. Ich schlage vor, wir treffen uns am
Sonntagmorgen um halb sechs. Ich hole
euch ab und dann gehen wir runter zur Ems.“
Sie schaut die Kinder erwartungsvoll an.
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„Morgens um halb sechs“, stammelt
Niklas, „da schlafen wir eigentlich noch.“
„Ich schlafe gewöhnlich ebenfalls um
­diese Zeit. Aber in diesem Fall lohnt sich das
frühe Aufstehen. Biber sind dämmerungs­
aktiv. Tagsüber bekommen wir mit Sicher­
heit kein Tier zu sehen. Sonntagmorgen um
halb sechs. Zieht euch warm an und bringt
Taschenlampen mit.“
So, wie sie das sagt, wagt keiner zu wider­
sprechen. Frau Renner war bestimmt eine
Lehrerin, bei der niemand laut im Unterricht
war oder Unsinn gemacht hat.
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Auf frischer Tat ertappt
„Philipp, Niklas, aufstehen!“ Leonie ist schon
angezogen. Sie sprüht geradezu vor guter
Laune.
Ihre Brüder quälen sich schlaftrunken aus
den Betten.
„Ich hab keine Lust“, mault Niklas. „Ich
bin noch so müde. Sag der komischen Frau
Renner, dass ich krank bin.“ Er wirft einen
sehnsüchtigen Blick auf sein noch warmes
Bett.
„Dann bleib zu Hause. Ich jedenfalls will
den Biber sehen.“ Philipp schlüpft in seine
Sachen.
Natürlich bleibt Niklas nicht zu Hause.
Er gähnt ausgiebig. Dann zieht er sich an.
Auf dem Küchentisch steht ein Teller mit
Broten. Die hat Mama gestern Abend noch
geschmiert. In einer Thermoskanne ist lau­
warmer Kakao. Genau das Richtige für
einen kalten Herbstmorgen.
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Kurz vor halb sechs verlassen die Kinder
das Haus. Luca rennt schwanzwedelnd zur
Tür. Aber er darf nicht mit.
„Tut mir leid, aber du vertreibst uns den
Biber“, sagt Philipp. Luca jault leise. Er trottet
zurück auf seinen Platz unter der Treppe.
Draußen ist es stockdunkel. Frau Renner
wartet schon. Sie hält eine Taschenlampe in
der Hand. „Seid ihr warm genug angezogen?
Gut. Dann kann es losgehen.“ Schweigend
marschieren sie zum Fluss.
Es ist ganz still. Gut, dass Frau Renner
dabei ist. Sonst wäre Philipp dieser Ausflug
in der Dunkelheit unheimlich.
Der Weg an der Ems entlang ist an einigen
Stellen sehr schmal. Die vier müssen hinter­
einander herlaufen. Frau Renner geht voran,
dicht gefolgt von Leonie und den Zwillingen.
Mit den Taschenlampen leuchten sie auf
den Boden, damit niemand stolpert.
Nach einer Weile bleibt Frau Renner
stehen. „Dies könnte ein Biberausstieg sein.“
Sie richtet den Strahl ihrer Lampe auf eine
Stelle am Ufer. Sie sieht beinahe wie eine
Treppe aus Sand aus. „Wir setzen uns auf
die andere Seite des Weges und warten.“
Frau Renner legt eine Decke auf den
Boden. Sie ist wirklich gut ausgerüstet. Alle
hocken sich hin. Sie knipsen die Taschen­
lampen aus. Es ist wieder stockfinster.
Alle schweigen und sitzen ganz still. Der
Biber soll sie nicht hören. Auf einmal springt
Philipp auf und trampelt auf den Boden.
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