DIE GOLDBERG-VARIATIONEN Wer „Bach“ hörte, dachte an den „Musikus“ – an welchen auch immer. Über Generationen hinweg versorgte die Familie Thüringen mit den besten Organisten und Tonkünstlern, von Johann Sebastian Bach selbst zurückverfolgt bis ins 16. Jahrhundert. Von einer „sehr großen Anhänglichkeit“ der Familienmitglieder untereinander berichtet der erste Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel (1749–1818): „Da sie unmöglich alle an einem Orte beisammen leben konnten, so wollten sie sich doch wenigstens einmal im Jahre sehen. Da die Gesellschaft aus lauten Kantoren, Organisten und Stadtmusikanten bestand, so wurde zuerst ein Choral angestimmt. Von diesem andächtigen Anfang gingen sie zu Scherzen über, die häufig sehr gegen denselben abstachen. Sie sangen nämlich nun Volkslieder, teils von possierlichem, teils auch von schlüpfrigem Inhalt zugleich miteinander aus dem Stegreif so, dass zwar die verschiedenen extemporierten Stimmen eine Art von Harmonie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme anderen Inhalts waren. Sie nannten diese Art von extemporierter Zusammenstimmung Quodlibet, und konnten nicht nur selbst vom Herzen dabey lachen, sondern erregten auch ein eben so herzliches und unwiderstehliches Lachen bey jedem der sie hörte.“ Das mehrstimmige Improvisieren gehörte in der Barockzeit zu den Kunststü- cken, die Musiker gern miteinander teilten. Höchstes handwerkliches Können, ein- gesetzt mit Humor zur Geselligkeit, damit konnte man die Zugehörigkeit zu jener besonderen Zunft unter Beweis stellen. Ein Quodlibet – „was beliebt“ – über fest- stehenden Harmonien ist der letzte Satz jenes bedeutenden Variationszyklus’ der Klavierliteratur, den Bach als vierten Teil seine „Clavier-Übung“ 1741 als „Aria mit verschiedenen Veränderungen“ herausgab. Etwa ab 1730 hatte Johann Sebastian Bach, möglicherweise im Bewusstsein seiner Bedeutung für die Nachwelt, damit begonnen, Werksammlungen zusammenzustellen und herauszugeben. Zu dieser Zeit lebte er nach Organistenstellen in Arnstadt, Mühlhausen, Weimar und Köthen bereits einige Jahre als „Cantor und Music-Director“ in Leipzig, also als Kantor der Thomasschule und Leiter der Musik an den vier Stadtkirchen. In Weimar waren ab 1708 die meisten seiner großartigen Orgelwerke entstanden; während der ersten Leipziger Jahre Oratorien, Passionen und unzählige Kantaten. Danach schrieb Bach weniger Kirchenmusik, komponierte überhaupt nicht mehr so viel. Allerdings war er auch 1729 zu seinen umfangreichen Aufgaben noch Leiter eines Orchesters mit wöchentlichen Konzerten geworden, des Collegium Musicum. Dennoch ist nach Auffassung von Malcolm Boyd die Gabe der musikalischen Erfindung, „die Begabung, originelle und eingängige Melodien formen zu können“ bei Bach nie größer gewesen als in diesen Jahren. Unter dem bescheidenen Titel „Clavier-Übung“ nach dem Vorbild einer Sammlung seines Amtsvorgängers Johann Kuhnau fasste Bach zwischen 1731 und 1741 einige besonders herausragende Kompositionen zusammen: sechs Partiten für Cembalo als ersten Teil, eine „Ouverture im französischen Stil“ und das „Italienische Konzert“ als zweiten; Orgelwerke als dritten und eben den Variationszyklus für Cembalo als vierten Teil. Dass das Werk heute unter dem Titel „Goldberg-Variationen“ bekannt ist, geht auf eine Anekdote zurück, die Forkel überliefert: „Der Graf Keyserlingk [Heinrich Carl Reichsgraf von Keyserlingk, 1696– 1764] kränkelte viel und hatte dann schlaflose Nächte. Goldberg [Johann Gottlieb Goldenberg, 1727–1756], der bey ihm im Hause wohnte, mußte in solchen Zeiten in einem Nebenzimmer die Nacht zubringen, um ihm während der Schaflosigkeit etwas vorzuspielen. Einst äußerte der Graf gegen Bach, daß er gern einige Clavierstücke für seinen Goldberg haben möchte, die so sanften und etwas muntern Charakters wären, daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte. Bach glaubte, diesen Wunsch am besten durch Variationen erfüllen zu können, die er bisher, der stets gleichen Grundharmonie wegen, für eine undankbare Arbeit gehalten hatte. Aber so wie um diese Zeit alle seine Werke schon Kunstmuster waren, so wurden auch diese Variationen unter seiner Hand dazu. Auch hat er nur ein einziges Muster dieser Art geliefert. Der Graf nannte sie hernach nur seine Variationen. Er konnte sich nicht satt daran hören, und lange Zeit hindurch hieß es nun, wenn schlaflose Nächte kamen: Lieber Goldberg, spiele mir doch eine von meinen Variationen.“ 30 an der Zahl sind es, genau genommen 31. Bach nämlich bezeichnet die Vorstellung des Themas als „Aria“, was etwas in die Irre führt, denn das eigentliche Thema ist nicht etwa eine Melodie, sondern eine Basslinie und deren Harmonisierung – die „Aria“ ist also schon eine Ausschmückung, die zum Ende der Variationen noch einmal wiederholt wird. Solche Variationsformen über einem Ostinato-Bass waren als Passacaglia oder Ciacona (Chaconne) in der Barockmusik gängig, allerdings meist über ein kürzeres, achttaktiges Muster. Bach hingegen erweitert ein solches Schema auf das Vierfache, 32 Takte, und gewinnt dadurch Spielraum für unendlich viel mehr harmonische und melodische Möglichkeiten. hier das Notenbeispiel Basslinie Jede dritte der 30 Variationen ist ein Kanon, wobei sich der Abstand zwischen den Kanonstimmen jedes Mal vergrößert: In Variation 3 setzt die zweite Stimme auf demselben Ton ein wie die erste, in Variation 6 einen höher – bis zur Oktave in Variation 24 und zur None in Nr. 27. Trotz dieser sehr durchdachten Architektur wirkt das Stück keineswegs trocken. In der Spannung zwischen dem unausweichlichen Bass und den leichtfüßigen MelodieUmspielungen hebt Bach die Variationenform der Instrumentalmusik auf ein unerreicht hohes Niveau. Ein Beispiel seiner Konsequenz und Meisterschaft: In der langsamen Moll-Variation 25 bleibt der Bass dennoch in der ursprünglichen Dur- Form. Bach erreicht das durch Chromatik und kühne Harmonisierung. Philipp Spitta fasst seine Bewunderung in einem schlichten Satz zusammen: „Über dem Basse entwickelt Bach eine solche Fülle von Erfindung und Kunst, dass dieses Werk allein hinreichen würde ihn unsterblich zu machen.“ Trotz aller Ehrfurcht vor der Meisterleistung macht Albert Schweitzer dem Zuhörer in seiner philosophischen Bach-Biografie Mut: „Dieses Werk gleich beim ersten Hören zu lieben, ist unmöglich. Man muß sich erst hineinfinden und mit dem Bach der letzten Periode sich zu der Höhe hinaufarbeiten, auf welcher man von der Stimmführung nicht mehr natürlichen Klangreiz verlangt, sondern in dem Sichausleben in absoluter Freiheit der Bewegung Freude und Befriedigung findet. Einmal dahin gelangt, erfasst man auch die sanfte, tröstende Heiterkeit, die aus diesem scheinbar so künstlichen Stücken herauslächelt. In der letzten Variation wandelt sich die Heiterkeit zu lustigem Lachen.“ Die letzte Variation vor der Wiederkehr der Aria ist das „Quodlibet“ mit seinerzeit bekannten Volksliedern, die Bach auch in der Bauernkantate BWV 212 von 1742 verwendet. „Ich bin so lang nicht bei dir gewest, ruck her, ruck, her“ war ein „Kehraus“, der „Rausschmeißer“ bei Tanzvergnügen und sicher eine witzige Anspielung auf das nahende Ende des Stückes. Es antwortet ein anderer launiger Abschied: „Kraut und Rüben haben mich ver- trieben“, ein ironischer Hinweis auf das vermeintliche Durcheinander der vorange- gangenen Variationen. Humor gepaart mit höchster kontrapunktischer Kunst, das ist ein Rückblick Bachs auf seine Ursprünge, die Musikerfamilie und ihre musikalischen Späße, die ihm ein Leben lang Inspiration waren. Mit dieser einzigartigen Form enden die Variationen und kehren in der Wiederholung der Aria gleichzeitig, wenn man den ersehnten Schlaf noch nicht gefunden haben sollte, zu ihrem Anfang zurück. Arrangement für Orgel von Alexander Ivanov Alexander Ivanov ist seit 2005 Organist und Kantor an St. Severin auf Sylt, leitet die Reihe der Mittwochskonzerte und die Kantorei. In Leningrad (St. Petersburg) geboren, besuchte er die renommierte Glinka-Chorschule für Knaben. Im Sinne der russischen Tradition erhielt er dort eine Ausbildung in den Fächern Chorleitung und Methodik des Musikunterrichts. Im Jahr 1994 setzte er seine musikalische Ausbildung in Deutschland fort und studierte zunächst an der Hochschule für Kirchenmusik in Herford. Noch vor seinem Orgel- Konzertexamen bei Prof. Pieter van Dijk in Hamburg und der A-Prüfung für Diplom-Kirchenmusiker bei Prof. Jürgen Essl in Lübeck war er Preisträger internationaler Orgelwett- bewerbe und wirkte als Organist in Kirchengemeinden in Herford und Hamburg. Von 1997 an war Ivanov Assistent von Kirchenmusikdirektor Prof. Gerhard Dickel an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis (Michel). Akzente setzte er unter anderem mit dem Ökumenischen Jugendchor in Hamburg im Bereich der synagogalen Musik sowie mit dem Deutsch-Russischen Chor für die Literatur der orthodoxen Kirche. Ivanov konzertierte als Organist und Pianist in Deutschland, Russland, den Niederlanden, Österreich, Frankreich, Italien, Polen, Ungarn und Finnland und ist Gast bei Rundfunk und Fernsehen.
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