Hein, Sabine Heinrich – Könn – Str. 265 40625 Düsseldorf 0211 – 291 44 12 „Roll on, Lore“ 73 Seiten, Psychodrama Expose: In Retrospektive wird das zerstörerische Nachbarschaftsverhältnis zwischen einer MS-kranken Rollstuhlfahrerin und einer neu zugezogenen vierköpfigen Durchschnittsfamilie illustriert. Beabsichtigt die an multipler Sklerose Erkrankte die Nachbarfamilie zu irritieren oder versucht sie nur ihrer eigenen Hilflosigkeit zu entgehen? Die neu zugezogene Katharina Bergemeyer verstrickt sich in ein Netz von Hilfsbereitschaft und verzweifelten Abgrenzungsversuchen. Die Autorin wurde 1962 in Hagen/Westfalen geboren. Nach abgeschlossenem Studium der Slavistik/ Germanistik und mehrtägigen Auslandsaufenthalten in den USA, Moskau und Finnland, lebt und arbeitet die 41jährige dreifache Mutter mit ihren beiden schwerstbehinderten Kindern seit 1999 in Düsseldorf und Umgebung. 2 Roll on, Lore! Die Hebebühne des Krankentransporters ruckelte langsam in die Höhe. Auf ihr befand sich eine zirka fünfzigjährige Frau, mit einem Wettercape im Rollstuhl sitzend. Unter einem modischen Fleecehut zeigte das kantige Gesicht ein eingefrorenes Grinsen, während sie nach oben befördert wurde. Jemand sagte, ein Lächeln sei die beste Art, anderen die Zähne zu zeigen. Wie wahr, dachte Katharina Bergemeyer, die der nach oben steigenden Rollstuhlfahrerin winkend gegenüber stand. Mit einem Ruck stoppte die Bühne auf Höhe des Fahrzeugbodens, und ein Malteser löste die Bremsen und fuhr die Frau ins Wageninnere, wo er den Rollstuhl fixierte. Einen letzten Blick auf Katharina werfend, bleckte die Dame im Rollstuhl noch einmal die Zähne zu einem Abschiedslächeln, erhob schwach den rechten Arm zu einem Gruss – mit dem linken hielt sie ein Usambaraveilchen umklammert. Dann wurde die Hebebühne eingefahren, die Hecktüren wurden laut geschlossen, und die Malteser brausten los. Katharina blinzelte in die Vormittagssonne. Sie ist weg! Bei Gott, wahr und wahrhaftig, sie ist ganz weg! Ein kleiner Umzugswagen der Firma „H.Schüller & Söhne. Umzüge ohne Grenzen“ liess den Motor an, und eine dicke Wolke verbrannten Diesels quälte sich aus dem Auspuff und kam auf Katharina zu. Mit einem halben Sprung zur Seite erwachte sie aus ihren Träumereien und blickte den Rücklichtern des Möbelwagens nach, bis dieser um die Ecke bog. Sie starrte noch einige Augenblicke die leere Strasse hinunter, bevor ihr bewusst wurde, dass sie mitten auf der Fahrbahn stand. Katharina schaute in den klaren Herbsthimmel und rieb die Handflächen aneinander, um die Erdkrumen des Usambaraveilchens zu entfernen, das sie Lore Kanter soeben in den Arm gedrückt hat- 3 te. Mit so einem Verlegenheitsblümchen hatte die ganze Sache begonnen, und damit versuchte Katharina jetzt einen Schlussstrich unter die Angelegenheit zu ziehen. Noch – wie stets – verwirrt von ihrer, so hoffte sie, Begegnung mit Lore Kanter, fischte sie nachlässig ein paar Reklameblätter vom Vortag aus dem Briefkasten und trat zurück in den kühlen Hausflur. In ihrem Kopf schwammen die Gedanken wie in Götterspeise; eben sehr langsam. Sie legte ihre Windjacke achtlos auf die Flurbank, wo sie es sich zwischen Matchsack und Schals bequem machen konnte, und ging in die Küche. Einen Moment lang stand sie unentschlossen da, die Arme fest um ihren Körper gelegt, sich selbst gleichsam in den Armen haltend. Dann griff sie nach einem Becher und füllte ihn mit schwarzem Kaffee. Uh, heiss! Sie liess ihren Blick ziellos durch’s Küchenfenster gleiten, griff den Kaffeepott am Henkel und ging in den Wintergarten. Mit einem Seufzer liess sie sich in den Rattansessel plumpsen und sass Augenblicke lang nur da: die Beine überschlagen, den dampfenden Kaffee auf ihrem Knie mit beiden Händen umschlossen, eingehüllt in ihre alte Mohairjacke und den Blick nach nirgendwo gerichtet. Durch das halb geöffnete Fenster hörte sie die schimpfenden Spatzen im Garten. Sie registrierte die Geräusche ohne den Blick in ihre Richtung zu wenden. Ruhe ... dachte sie, Ruhe! Kein Klingeln, kein Rufen, kein Telefon, kein zwingender Blick von Hilfebedürftigkeit. Ich glaub’s nicht, ich glaub’s einfach nicht. Katharina sog einen Schluck heissen Kaffee ein, dann noch einen und liess sich von der Wärme des Getränks durchdringen. Sie beugte sich im Sessel ein wenig zurück und blickte zum Himmel. Folgte mit ihren Augen dem Zug der Wolken. War es erst anderthalb Jahre her, seit sie und ihre Familie hier eingezogen, und damit in den Bann dieser Nachbarin geraten waren? Bitter pressten sich ihre Lippen aufeinander, sie schüttelte langsam den Kopf und senkte den Blick auf ihren Kaffeebecher. 4 Begonnen hatte es zwei Tage nach ihrem Einzug. Sie war, wie das so üblich ist, ihrem Mann aus beruflichen Gründen nach Norddeutschland gefolgt. Es hatte einige Zeit gebraucht, das Richtige für die vierköpfige Familie zu finden. Nun gut, der Zeitpunkt war nicht so schlecht gewesen. Hannah würde im Sommer hier mit der Schule beginnen, und bis dahin würde sie das Kind halt zu Hause beschäftigen. An einen Kindergartenplatz war für das letzte halbe Jahr nicht zu denken. Naja..., dachte Katharina, so hätten sie mehr Zeit für einander, für Ausflüge, Erkundungen in die neue Umgebung. Sie könnten den Morgen in Ruhe beginnen. Und der Kleine würde halt hier mit dem Kindergarten beginnen, sobald ein Platz frei wäre. Wichtig war, sie waren glücklich im neuen Zuhause angekommen, und in den nächsten Tagen sollte sich das verbliebene Chaos lichten. Einige der neuen Nachbarn hatten sie am Umzugstag kennengelernt, hatten einen kurzen Plausch im Flur oder auf der Strasse gehalten. Über die Kinder würden die Kontakte schnell wachsen. Sie hatten eine Wohnung in einem Sechs-Parteien-Haus gefunden. Alle unterschiedlich geschnitten, erstellt im Rahmen eines Projekts „Generationsübergreifendes Wohnen“. Die Parterrewohnung im Maisonettenstil mit dem kleinen Garten entsprach genau ihren Bedürfnissen. Ihre direkte Nachbarin, die sie noch nicht kennengelernt hatten, bewohnte eine behindertengerechte Wohnung im Parterre; die Gärten stiessen aneinander. Während der Phase der Renovierungsarbeiten hatten sich Klaus und Katharina bei den übrigen Nachbarn für Lärm und Schmutz entschuldigt und sich bei dieser Gelegenheit als neue Mieter vorgestellt. Ihre Nachbarin, Frau Kanter, die übrigens im Rollstuhl sässe, sei augenblicklich zu einer Kurmassnahme fort, hatten die Nachbarn gesagt und mit einem vielsagenden Lächeln hinzugefügt, sie würden sie sicher bald kennenlernen. Katharina und Klaus waren befremdet über den unsensiblen Umgang der Leute mit der ihnen bislang unbekannten , offensichtlich behinderten Nachbarin. 5 Dann klingelte es am zweiten Tag um die Mittagszeit an ihrer Wohnungstür, und da hatte sie dann persönlich gestanden respektive gesessen: Lore Kanter. Katharina hatte die Tür geöffnet, und nachdem sie auf Augenhöhe ins Leere geschaut hatte, den Blick auf den Rollstuhl vor ihr gesenkt. Lore Kanter war ein schmächtiges, etwas in sich eingesunkenes Persönchen, etwa Mitte vierzig. Der moderne Kurzhaarschnitt war frisch gefönt, im ganzen wirkte sie sehr gepflegt und verströmte einen Duft von teurem Parfüm. Der Kopf wackelte ein wenig, als sich der Blick zweier flinker, hinter eleganten Brillengläsern verschanzter Augen auf Katharina richtete und sich zwei Hände mit einem Usambaraveilchen ihr entgegenstreckten. Lore hielt mit der einen Hand zittrig die Blume umklammert, während die zweite die erste Hand zu führen versuchte. Ungeschickt und langsam war das Usambaraveilchen auf Katharina zugekommen. Katharina erinnerte sich genau, das irgendwas in ihr dachte, so’n olles Usambaraveilchen ist doch immer wie ein Schlag ins Gesicht. Es ist weniger als nichts, denn nichts ist neutral. Aber von diesem Usambaraveilchen fühlt sich der Beschenkte leicht gedemütigt. Ah, ein Verlegenheitsblümchen drängt sich mir entgegen!, sagte sie sich damals, und fühlte sich unangenehm an alle Amway-, Thermomix- und sonstigen Parties erinnert, zu denen stets ein ähnlich geartetes ‚Präsent’ für die Gastgeberin auf den Tisch gebracht wurde. Aber gleichzeitig gab sie sich damals ein paar virtuelle Ohrfeigen für ihr hässliches Denken. Sie hatte vor sich einen kranken, an den Rollstuhl gefesselten Menschen, der unter grosser Anstrengung zu ihr herübergerollt kam, um sie als neue Nachbarn zu begrüssen. Dadurch gewann so ein Blumenpott doch an Wert und Menschlichkeit! Katharina lachte finster in sich hinein. Sie hätte ihr schon damals den Blumentopf an den Kopf werfen sollten. Sie seufzte und rutschte noch ein bisschen tiefer in den Sessel hinein. Aber das würde sie nicht einmal heute zu Wege brin- 6 gen. Gerade eben noch war sie sich schäbig vorgekommen, als sie Lore sozusagen als Retourkutsche und mit einem „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“ Lächeln versucht hatte, ein ebensolches Usambaraveilchen in die Hand zu drücken. Doch wie sie vor ihr gestanden hatte, aufrecht und gesund, den Blick auf das Häufchen Elend vor sich, nämlich Lore, gesenkt, die mit einem hilflosen Blinzeln und ihrer brüchigen Stimme gebeten hatte, ihr die Blume in den Arm zu drücken, sie könne heute mit ihren Händen nichts festhalten, und dabei schmerzverzerrt auf die Hände gestarrt hatte, fühlte sich Katharina wieder so klein und schäbig, und nochmals flackerten Zweifel auf an dem Bild, das sie sich von Lore gemacht hatte. Damals hatte sie das Usambaraveilchen vorsichtig, wie eine kostbare Vase aus Lores Händen entgegengenommen und nur halb zugehört, was ihr die brüchige Stimme sagte. Die ganze Zeit über hatte sie versucht, möglichst ungezwungen und natürlich zu wirken und sich gleichzeitig bemüht, einen schnellen Überblick über die Situation und die Erkrankung ihrer Nachbarin zu gewinnen. Äusserlich ganz die ungezwungene Freundlichkeit, stand sie innerlich unter der Anspannung, nicht schon bei der ersten Begegnung zu patzen, die eigene Hilflosigkeit gegenüber der Behinderten zu verraten. Hinter ihr war Klaus in den Flur getreten, hatte über ihre Schulter geguckt und die Nachbarin in seiner jungenhaften Manier hineingebeten. In das ganze Chaos hier!, war es Katharina durch den Kopf geschossen. Und während sie noch mit dünner Stimme beteuerte, keine Umstände machen zu wollen und es sei jetzt sicherlich keine Zeit, kam Lore über ihre Schwelle gerollt. Wir haben uns die Natter selbst ins Nest geholt, dachte Katharina bitter. Lore war damals also über ihre Türschwelle gerollt, mitten hinein in ihr Familienleben, und dort sollte sie noch einige Zeit bleiben. Nur das hatten sie nicht geahnt. Natürlich gelang es ihr bei den ersten drei Versuchen nicht über die 7 niedrige Bodenschwelle zu rollen. Sie hatte den Kopf schräg gelegt, und sie beiden, Katharina und Klaus mit solch einer hilflosen Freundlichkeit angesehen, dass es Katharina heiss wurde vor Scham, diese kranke Frau ohnmächtig mit der kleinen Bodenschwelle, i h r e r Bodenschwelle kämpfen zu sehen, und Klaus war sofort hinter ihr hervorgesprungen, um den Rollstuhl von hinten schiebend in die Wohnung zu bugsieren. Im Flur musste Katharina noch hastig einige Umzugskartons an die Seite zerren, um ein Hindurchrollen zu ermöglichen. Klaus schob Lore bis an den Esstisch – parkte die Nachbarin dort und bot ihr eine Tasse Tee an. Lore hatte ein wenig mit dem Kopf gewackelt und angenommen. Sie hatte ihnen dabei das Gefühl vermittelt, als zollten sie i h r Dank dafür, dass sie das Teeangebot annahm. Katharina sass stumm da. Sie wollte noch einen Schluck Kaffee zu sich nehmen, hielt aber auf halbem Wege inne, und starrte weiter nach draussen in den Himmel , als suche sie da Löcher. ...
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