Die Handwerker in St. Petersburg Europaische Hochschulschriften Publications Universitaires Europeennes European University Studies Reihe III Geschichte und ihre Hilfswissenschaften Serie III Series III Histoire, sciences auxiliaires de I'histoire History and Allied Studies Bd./Vol. 934 PETER LANG Frankfurt am Main • Berlin • Bern • Bruxelles • New York • Oxford • Wien Andreas Keller Die Handwerker in St. Petersburg Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 PETER LANG Europaischer Verlag der Wissenschaften Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Keller, Andreas: Die Handwerker in St. Petersburg : von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 / Andreas Keller. - Frankfurt am Main ; Berlin ; Bern ; Bruxelles ; New York; Oxford ; Wien : Lang, 2002 (Europdische Hochschulschriften : Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften ; Bd. 934) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 2000 ISBN 3-631-39403-9 Gedruckt auf alterungsbestendigem, sSurefreiem Papier. D25 ISSN 0531-7320 ISBN 3-631-39403-9 © Peter Lang GmbH Europdischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2002 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschlie&lich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung aufcerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzuldssig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfeltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany 1 2 www.peterlang.de 4567 meiner Frau Irina "Die magnalia, welche die alte Welt unter dem N a m e n der sieben Wunderwerke hinterlassen, sind an sich selbst einer sonderbaren Bewunderung wtirdig, aber in Betrachtung ihrer jemals gehabten Nutzens, und der geraunien Zeit, welche darauf verwendet ist, mit der Stadt Petersburg in keine Vergleichung zu ziehen, denn deise ist in zehn Jahren erbauet, i ^ d kann in Ansehen des aus der ganzen Welt dahin gezogenen Handels mit Recht ein Wunderwerk der Welt heiBen". Friedrich Christian Weber "Wer hat, meine Brtider, sich unter euch vor 30. Jahren traumen lassen, daB ihr mit mir an der Ostsee hier zimmern, und mit einer teutschen Kleidung in denen durch unsere Mtihe und Tapferkeit eroberten Landern eure Wohnstadt aufschlagen, (...) solche geschickte und aus fremden Landern zu Haufe g e k o m m e n e Sonne, soviel ausheimische Kunstler und Handwerksleute in unserm Gebiethe (...) sehen und erleben wurde". Rede Peter des GroBen im Mai 1714 auf dem fertiggebauten Schiff in St. Petersburg, nach F. Ch. Weber Vorwort Die Handwerkerschaft v o n St. Petersburg genoB aufgrund der Qualitat ihrer Arbeit einen aufierordentlich ^juten Ruf. Sie tat sich in der Adaptation neuer Fertigungsmethoden hervor und w a r fur technische Neuerungen aller Art aufgeschlossen. Die Entwicklung des Handwerks in St. Petersburg war im Sinne Peters des Groflen. Sein Anliegen war es, die Ausbildung hochqualifizierter Handwerker voranzutreiben, u m der Wirtschaft Russlands Impulse zu geben. Diese Arbeit mochte zeigen, wie sich das H a n d w e r k in der Hauptstadt des Russischen Reiches entwickelte und w a r u m es z u m Vorbild fur die tibrige Handwerkerschaft wurde. D a diese Entwicklung mit den Strukturen der Selbstverwaltung und denen des Ausbildungswesens eng verbunden ist, sollen auch sie in dieser Arbeit thematisiert werden. Die Periode der Industrialisierung bildet den historischen Schweipunkt dieser Untersuchung, da in dieser Zeit das Handwerk durch die fortschreitende industrielle Produktion unter erheblichen Konkurrenzdruck k a m . Der Autor mochte den Mitarbeitern des Russischen historischen Staatsarchivs in St. Petersburg und denen der Russischen Nationalbibliothek v o n St. Petersburg fur ihr Engagement und ihre H ilfe bei der Suche nach den benotigten Materialien herzlich danken. D e m Deutschen Akademischen Austausch Dienst danke ich fur das halbjahrige Stipendium sowie der Burkhaidt-Stiftung der Universitat Freiburg i. Br. fur die fmanzielle Unterstutzung meines Vorhabens. Diese Arbeit ware ohne die Hilfe von Birgit Sawatzki und Felix Gollinger nicht zustande gekommen. Fur wertvolle Ratschlage danke ich Herrn Prof. Dr. Heiko H a u m a n n und Herrn Dr. Guido Hausmann. Mein besonderer D a n k gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dittmar Dahlmann, der mir mit Rat und Tat zur Seite stand. Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis 15-20 D e r Stadtplan von St. Petersburg in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts EINLEITUNG 23 0.1 Problemstellung 23 0.2 Forschungsgegenstand und Untersuchungszeitraum 28 0.3 M e t h o d e 34 0.4 Begriffe 39 1. D a s H a n d w e r k in Rufiland vor Einfuhrung der Ziinfte 1722 45 2. Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik der russischen Regierung v o m 18. Jahrhundert bis 1914 49 2.1 Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik Peters I. vor der Einfuhrung der Ziinfte 2.2 Die Einfuhrung der Zimfte 1722 49 54 2.3 Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik nach Peter I. bis 1762 2.4 Die Gewerbepolitik Katharinas II. 1 7 6 2 - 1796 60 69 2.4.1 D a s Handwerksstatut v o n 1785: Innovation und Kontinuitat 70 2.5 Der Senatserlafl von 1796 75 2.6 D a s Zunftstatut von 1799 78 2.7 Z u r Typologie russischer und westeuropaischer bzw. deutscher Ziinfte 79 2.8 Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts 2.9 Staatliche MaBnahmen z u m Schutz des hauptstadtischen 82 Zunfthandwerks 87 2.10 Die Reformversuche v o n 1850 88 2.11 Die Regierungskommissionen 1857-1864 92 2.12 Die Regierungspolitik v o n 1870 bis 1914 96 2.13 Zusarnmenfassung 98 3. Die Entwicklung des H a n d w e r k s im 18. Jahrhundert 103 3.1 D a s Zunfthandwerk 103 3.2 D a s nichtzunftige H a n d w e r k 109 3.3 Zusarnmenfassung 113 4. D i e H a n d w e r k e r u n d ihr G e w e r b e im Stadtbild St. Petersburgs des 19. Jahrhunderts 5. D i e Selbstverwaltung der Zunfthandwerker 119 121 5.1 D i e Selbstverwaltung der russischen Ziinfte 127 5.2 Die Selbstverwaltung der deutschen Ziinfte 132 5.3 Die Zeit v o n der Reform der offentlichen Selbstverwaltung St. Petersburgs im Jahr 1846 bis z u m E n d e der 1850er Jahre 139 5.4 Die Selbstverwaltung der russischen Ziinfte wahrend der „groBen Reformen" 1860er Jahre bis 1914 146 5.4.1 Die Handwerksverwaltung und die standigen Zunfthandwerker 146 5.4.2 Die Handwerksverwaltung u n d die zeitweiligen Zunfthandwerker 5.5 Die Gerichtsbarkeit der Handwerksverwaltung 5.5.1 D a s RechtsbewuBtsein der H a n d w e r k e r 164 179 183 5.6 Die finanzielle Lage der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die Entwicklung des Verwaltungsapparates 5.7 Zusarnmenfassung 6. D e r Fiskus u n d das H a n d w e r k 6.1 Die Besteuerung der auslandischen H a n d w e r k e r 186 189 195 195 6.2 Die Besteuerung russischer Handwerker 212 6.3 Die Besteuerung der n b h t zUnftig organisierter H a n d w e r k e r 224 6.4 Die Aufgaben der russischen Handwerksverwaltung bei der Besteuerung der H a n d w e r k e r 6.5 Zusarnmenfassung 7. Die soziale L a g e der H a n d w e r k e r 227 232 235 7.1 Die soziale Herkunft der Handwerker und ihre demographische Verteilung 235 7.2 D i e L e b e n s - u n d Arbei sverhaltnisse i m H a n d w e r k 249 7.3 Die soziale V e r s o r g u n g der Handwerker 267 7.4 Die Unterstutzungs- u n d andere Kassen der H a n d w e r k e r 269 7.5 Zusarnmenfassung 273 8. Die Fach- u n d Allgemeinbildung im H a n d w e r k 277 8.1 Die Allgemeinausbildung im H a n d w e r k 277 8.2 Die Fachausbildung im Handwerksbetrieb bei den ztinftigen und nichtziinftigen Handwerkern 8.3 Die Rolle der Handwerksverwaltung in der Berufsausbildung 284 296 8.4 Die nichtzunftige Handwerksausbildung u n d die Rolle des Staates 300 8.5 D i e Kaiserliche Russisehe Technische Gesellschaft und die technische Ausbildung 8.6 Die privaten Ausbildungsanstalten im H a n d w e r k 312 315 8.7 Staatliche Mafinahmen :mm Aufbau der Berufsschulen in RuBland u n d St. Petersburg 318 9. M o n o p o l und Konkurrenz im H a n d w e r k 323 9.1 M o n o p o l 323 9.1.1 Die Ziinfte und die zunftfreien Handwerker 323 9.1.2 Die M o n o p o l k a m p f e zwischen den Ziinften 336 9.1.3 Zur Definition des Monopolrechts in der russischen Gesetzgebung 9.2 Konkurrenz 342 352 9.2.1 Zunftige Handwerker 352 9.2.2 Nichtzunftige H a n d w e r k e r 361 9.2.3 Bauerliches H e i m g e w e r b e im St. Petersburger u n d seinen benachbarten Gouvernements: G e w e r b e im Spannungsfeld v o n Stadt und Land 9.3 Zusammenfassung 10. Die wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s 10.1 Die allgemeine wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r 371 376 381 382 10.1.1 Die Kreditbildung im H a n d w e r k und die Genossenschaften 410 10.1.2 Die Preis- und Lohnbildung 416 10.2 D e r Absatzmarkt und regionale Verteilung des H a n d w e r k s 423 10.3 Die allgemeine Entwicklung der St. Petersburger Industrie und des H a n d w e r k s im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Wandel im H a n d w e r k 434 10.3.1 Die Rolle der auslandischen H a n d w e r k e r 448 10.3.2 Die Entwicklung des Zunfthandwerks und die zeitgenossische Rezeption 10.4 Zusammenfassung 460 470 SCHLUSS 473 Abkurzungsverzeichnis 475 Russische Mafle vor 1917 476 Verhaltnis v o m Silber- und Papierrubel im 19. Jahrhundert 476 Handwerksaltestenverzeichnis russischer und deutscher Ziinfte 477 Tabellenanhang 479 Quellen und Literaturverzeichnis 565 Tabellenverzeichnis Tabellen im Text Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Manufaktur- b z w . Fabrikarbeiter und die H a n d w e r k e r v o n St. Petersburg 1785-1900 31 Handel mit Pelzwaren in den Jahren 1837-1854 u n d die Zollabgaben 85 A u s g e w a h l t e Handwerksbranchen unter den deutschen und russischen Zunfthandwerkern in den Jahren 1724, 1766 und 1790 105 Anzahl der Meister in den russischen und deutschen Zunften in ausgewahlten H a n d w e r k e n v o n St. Petersburg 1766 und 1789/1790 107 Tabelle 5 H a n d w e r k e r in der Admiralitat in den Jahren 1715 -1721 Ill Tabelle 6 B e v o l k e r u n g von St. Petersburg 1720-1800 116 Tabelle 7 Anzahl der Meister in ausgewahlten Zunften nach den Tabelle 4 Tabelle 8 A n g a b e n von Dittmar und Korf 1840 135 A u s g a b e n der Handwerksverwaltung im Jahre 1849 137 Tabelle 9 E i n n a h m e n und A u s g a b e n der auslandischen Handwerksverwaltung 1850 Tabelle 10 Die soziale Herkunft der Zunftmeister 1 8 1 1 , 1 8 1 5 - 1 8 1 6 und 1834-1835 138 240 Tabelle 11 Anzahl der Beschaftigten und der Arbeitsstunden in den kontrollierten Betrieben 1841 250 Tabelle 12 Anzahl der W o h n u n g e n und H o h e der Miete 257 Tabelle 13 A u s g a b e der Meisi:er- und Gesellendiplome 1866, 1867 und 1910 297 Tabelle 14 Anzahl der Lehrlinge in den Handwerksbetrieben der zunftigen Meister und mittlere Zahl der Gewerbebetriebe in M o s k a u u n d St. Petersburg 1900 und 1910 298 Tabelle 15 Einfuhr v o n Rohrstocken 1832 bis 1834, in Papierrubel 355 Tabelle 16 Die Betragszahlen nach der sozialen Zugehorigkeit 1847 411 Tabelle 17 Verteilung der Handwerksbetriebe nach Stadtvierteln 1815, 1869, 1881 u n d 1889 429 Tabelle 18 H a n d w e r k e r im Petersburger, M o s k a u e r und Taurischen G o u v e r n e m e n t und in RuBland 1858 436 Tabelle 19 Handwerksbetriebe in St. Petersburg und M o s k a u 1900 und 1910 442 Tabelle 20 Anzahl der Zunfthandwerker in St. Petersburg und RuBland 1900 und 1910 469 Tabellen im A n h a n g Tabelle 1 St. Petersburger Handwerker von 1722 bis 1914 479 Tabelle 2 Zunfthandwerker; Meister, Gesellen u n d Lehrlinge im Jahr 1724 485 Tabelle 3 Zimfthamdwerker im Jahr 1766 486 Tabelle 4 Zunftige u n d zunftfreie Handwerker im Jahr 1789/90 488 Tabelle 5 Russische Ziinfte 1866 491 Tabelle 6 Russische Ziinfte 1867 494 Tabelle 7 Russische Ziinfte 1868 495 Tabelle 8 Russische Ziinfte 1873 497 Tabelle 9 Z u - bzw. A b n a h m e cler Handwerkerzahlen in den russischen Ziinften 1866-1873 498 Tabelle 10 Mittlere WerkstattgroBe 1866-1873 500 Tabelle 11 Silberschmiede- u n d Posamentiererzunft 1866-1891 502 Tabelle 12 K o n d i t o r e n - u n d Backerzunft 1874-1891 504 Tabelle 13 Schuhmacher- und Ledererzunft 1874-1891 505 Tabelle 14 S c h r e i n e r - u n d Zimmererzunft 1866-1891 506 Tabelle 15 Malerzunft 1874-1891 507 Tabelle 16 Schlosser- und Schmiedezunft 1866-1879 508 Tabelle 17 Schneiderzunft 1865-1891 509 Tabelle 18 Tapezierer- u n d Haarverarbeiterzunft 1866-1891 511 Tabelle 19 Gesamtzahl der Handwerker russischer Ziinfte in St. Petersburg 1866-1891 512 Tabelle 20 Prozentualer Anteil v o n Meistern, Gesellen u n d Lehrlingen p r o Betrieb in den russischen Zunften v o n St. Petersburg 1 8 6 6 - 1891 514 Tabelle 21 Handwerksbetriebe 1869 515 Tabelle 22 Handwerksbetriebe 1890 516 Tabelle 23 Verhaltnis der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberzahlen 1890 . . . 517 Tabelle 24 Ausgewahlte Gewerbebranchen in St. Petersburg 1900 518 Tabelle 25 Gesamte Gewerbebranchen in St. Petersburg 1900 521 Tabelle 26 Zahlenverhaltnis der Arbeitnehmer zu einem Arbeitgeber in St. Petersburg 1890 und 1900 Tabelle 27 Anzahl der Werkstatten nach ihrer Grofle 1900 u n d 1910 522 523 Tabelle 28 Anzahl der Lehrlinge entsprechend der BetriebsgroBe 1900 u n d 1910 Tabelle 29 Mittlere Anzahl der Lehrlinge pro Betrieb 1900 u n d 1910 Tabelle 30 Neugegrundete Industriebetriebe in St. Petersburg zwischen 1881 und 1897 Tabelle 31 Steuerberechnungen des Finanzministeriums, der Zunftaltesten und des Handwerksoberhauptes deutscher Zunfte 1840 Tabelle 32 Eingezahlte Steuerbeitrage der auslandischen Meister in den russischen Zunften, 1811 -1816, in Rubel 524 525 526 527 529 Tabelle 33 Eingezahlte Steuerbeitrage der Gesellen bei den auslandischen Meistern in den russischen Zunften in den Jahren 1811-1816 530 Tabelle 34 Eingezahlte Steuerbeitrage der Lehrlinge bei den auslandischen Meistern in den russischen Zunften in den Jahren 1811-1816 530 Tabelle 35 Bezahlte u n d ausstehende Steuer der auslandischen Meister in den deutschen Ziinften 1818-1821 531 Tabelle 36 E i n n a h m e n der Handwerkskasse der deutschen Ziinfte 1850 und 1851 531 Tabelle 37 A b g a b e n der auslandischen Zunfthandwerker 1849, 1850 und 1851 in SilbeiTubel 532 Tabelle 38 Kopfsteuer und andere A b g a b e n eines Meisters in Papierrubel im Jahr 1825/26 533 Tabelle 39 Kopfsteuer in K o p e k e n in den Jahren 1724, 1794, 1816/18 und 1839/50 533 Tabelle 40 Akzisesteuer zwischen 1835 und 1837 in Papierrubel 534 Tabelle 41 Die Besteuerung der Zunfthandwerker im Jahr 1864 in Silberrubel 535 Tabelle 42 Die Entwicklung der Steuerlast j e Person der Bevolkerung in RuBland zwischen 1861-1913 in Silberrubel 535 Tabelle 43 Steuersatz der Kaufleute von 1775 bis 1824 in Rubel 536 Tabelle 44 Die Anzahl verkaufter Handelslizenzen (svidetel'stva na melocnyj torg und torgovye bilety) 537 Tabelle 45 Verkaufte Gewerbeerlaubnisse (promyslovye svidetel 'stva) fur Handwerksstaiten und Handelsbetriebe im Jahr 1909 538 Tabelle 4 6 Die A b g a b e n der Zunfthandwerker und der Gewerbetreibenden im St. Petersburger Gouvernement fur die G e w e r b e - und Handelslizenzen 1873-1891 in Rubel 539 Tabelle 47 Beitrage in die Kasse der Handwerksverwaltung von den zeitweiligen und standigen Handwerkern fur 1876, 1880, 1884, 1885 und 1903 540 Tabelle 48 Beitrage in die Zunftkassen von den standigen H a n d w e r k e r n 1886-1888 541 Tabelle 4 9 Beitrage in die Zunftkassen v o n den zeitweiligen H a n d w e r k e r n 1881-1888 Tabelle 50 E i n n a h m e n der Handwerksverwaltung 1 8 6 6 - 1909 542 543 Tabelle 51 Kapital der Handwerksverwaltung in der B a n k 1876 - 1884 . . . 544 Tabelle 52 E i n n a h m e n der Handwerksverwaltung 1886-1891 544 Tabelle 53 Prozentualer Anteil an verschiedenen Posten in den Finanzen der Handwerksverwaltung 1886 bis 1891 545 Tabelle 54 E i n n a h m e n und A u s g a b e n der St. Petersburger H a n d w e r k s verwaltung in den Jahren 1908-1912 546 Tabelle 55 Verhaltnis der Arbeitskrafte weiblichen Geschlechts zur Gesamthandwerkerzahl in den russischen Zunften St. Petersburgs 1874-1891 547 Tabelle 56 Verpflegte Personen im Altersheim fur H a n d w e r k e r 1 8 5 0 - 1910 548 Tabelle 57 Unterrichtsfacher und -stunden in den drei Klassen der Alexandrinischen Schule 1887/1888 549 Tabelle 58 Schuler und Schiilerinnen in der Alexandrinischen Schule 1 8 6 6 - 1910 550 Tabelle 59 Malschule der russischen Handwerksverwaltung 1887-1891 551 Tabelle 60 Anzahl der Lehrlinge und Ausgaben in Rubel in der Fursorgegesellschaft 1902 -1906 551 Tabelle 61 Anzahl der Lehrlinge in den Sonntagsklassen der Malschulen auf der Vasilij-Insel und bei der technischen H o c h s c h u l e 1846 552 Tabelle 62 Anzahl der Schuler in der Handwerksberufsschule 1875 - 1895 553 Tabelle 63 Absolventen der Handwerksberufsschule 1877 - 1895 554 Tabelle 64 Werkstatten auslandischer Meister 1827 bis 1840 555 Tabelle 65 Die Immobilienwerte v o n St. Petersburg 1845 556 Tabelle 66 Die Veranderung der mittleren BetriebsgroBe bei den Zunfthandwerkern 1790 - 1891 557 Tabelle 67 D a s Verhaltnis der Handwerkeranzahl zu der Bevolkerung St. Petersburgs und Zuwachsraten 1840-1910 558 Tabelle 68 Verteilung der Werkstatten nach ausgewahlten Gewerbebranchen 1815 und 1869 559 Tabelle 69 Prozentuales W a c h s t u m des H a n d w e r k s und mittlere BetriebsgroBe zwischen 1864, 1890 und 1900 560 Tabelle 70 Zahl der Einwohner j e Handwerker bzw. ihr prozentualer Anteil an der Bevolkerung 1864, 1890 und 1900 561 Tabelle 71 Klavierbauer in St. Petersburg 1863 562 Tabelle 72 Aufstellung der Handwerksbetriebe nach den Branchen im Jahr 1869 563 t. Petersburger Viertel: аз. - ол. - [ - Admiralitatsviertel Kazanerviertel Spasskerviertel Kolomenskerviertel Naroverviertel Moskauerviertel AH P Л В П Выб. - Alexander-Nevskij - Viert< Rozdestvenskerviertel Litejnerviertel Vasilijinsel viertel Petersburgerviertel Vyborgerviertel Quelle: Juchneva, N. V., Etniceskij sostav i etnosociaTnaja struktura naselenija Peterburga. L. 1984. EINLEITUNG 0.1 Problemstellung Die v o r l i e g e n d e Arbeit setzl: sich zum Ziel, die Lage des H a n d w e r k s in St. Petersburg im 19. Jahrhundert und besonders wahrend der Industrialisierung in der zweiten Halfte dieses Jahrhunderts darzustellen. Die Frage der Industrialisierung RuBlands im 19. Jahrhundert beschaftigte viele Historiker. Sie versuchten aus verschiedenen Blickwinkeln heraus zu klaren, ob es zu diesem fruhen Zeitpunkt uberhaupt eine Industrialisierung in RuBland gab und w e n n ja, welche spezifischen Ztige sie trug. Dabei w u r d e a u c h auf die russische Besonderheit hingewiesen, daB die Arbeiter in der russischen Industrie meistens aus leibeigenen Bauern rekrutiert wurden. Unter anderem wurde konstatiert, daB die russische Wirtschaft in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts z u m groBten Teil staatlich gelenkt und zugleich subventioniert w u r d e und daher in h o h e m Grade von der Wirtschaftspolitik des Staates und weitgehend von Staatsauftragen abhangig war Vielfaltige RestriktionsmaBnahmen der russischen R e g i e r u n g gegen private Unternehmen und die hohe Besteuerung dieser Unternehmen fanden ihren Niederschlag in der mangelnden Entwicklung privater Initiativen in der Wirtschaft und in standigem Kapitalmangel. Infolge dieser Fehlentwicklung war es schwierig, mit den westlichen Industrielandern zu konkurrieren. Durch diesen F o r s c h u n g s s c h w e ф u n k t auf die Entwicklung der Industrie wurde dem weitentwickelten und hochspezialisierten H a n d w e r k von St. Petersburg nur wenig B e a c h t u n g geschenkt. W e n n schon die russischen Industriebetriebe der harten Konkurrenz der westlichen Industrie ausgesetzt waren, die billigere und von der Qualitat her auch bessere Waren lieferte, und nur mtihsam standhielten, wie sollte es dann um die B e d e u t u n g des H a n d w e r k s in den russischen Hauptstadten und in RuBland allgemein bestellt sein? Tatsachlich war das H a n d w e r k in St. Petersburg mit dem Beginn der Industrialisierung ahnlichen Problemen wie in Westeuropa ausgesetzt. Infolge der Industrialisierung eroberten die groBen Industriebetriebe mehrere Handwerksbranchen und verdrangten die Handwerksstatten aus ihren traditionellen Produktionsnischen. Dadurch entstand der Eindruck, daB das H a n d w e r k keine Zukunft und keine Entwicklungs- bzw. Innovationskraft m e h r hatte. Mit der Zeit bewies es aber, daB es durchaus imstande war, einige Marktbereiche fur sich zu sichern oder sogar neue zu gewinnen. E s ist wichtig, die Rolle der auslandischen - z u m groBten Teil deutschen H a n d w e r k e r in St. Petersburg; zu untersuchen, die Innovationen im technischen und betriebsorganisatorischeii Bereich mit sich brachten, w a s eine nachhaltig positive W i r k u n g auf das russische Handwerk hatte. Zur Lage des H a n d w e r k s in RuBland lassen sich in der russischen Historiographie vor 1917 und in der sowjetrussischen Historiographie einige Arbeiten finden. W a s aber das H a n d w e r k von St. Petersburg betrifft, so fehlen hier ubergreifende Darstellungen. N . Stepanov veroffentlichte 1864 eine Untersuchung, in der er die Organisations- und Rechtsformen des russischen und des westeuropaischen H a n d w e r k s verglich. Zehn Jahre spater erschien die Arbeit v o n I. Ditjatin uber die russischen Stadte und ihre Verwaltung, in der er auch uber die stadtischen H a n d w e r k e r berichtete. SchlieBlich ist ein Aufsatz von M . Dovnar-Zapol'skij uber die M o s k a u e r H a n d w e r k e r im 17. Jahrhundert zu nennen, der aber auch wie die zwei obengenannten Autoren v o m Standpunkt des Rechtshistorikers schrieb. In A n b e t r a c h t der b e h e r r s c h e n d e n K l a s s e n t h e o r i e in d e r sowjetischen Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte wurde in der F o r s c h u n g tiberwiegend der Bauern- und Arbeitergeschichte nachgegangen. D a g e g e n befand sich die Geschichte des H a n d w e r k s in RuBland im 18. und besonders im 19. Jahrhundert, als das H a n d w e r k mehr und m e h r im Schatten der Industrialisierung stand, immer am R a n d e des Forschungsfeldes der Historiker und es wurde nicht systematisch darauf eingegangen. Die erschienenen Arbeiten wurden meistens als Artikel zusammengefaBt und stellten das H a n d w e r k uberwiegend im Mittelalter dar. S. V. Bachrusin widmete einige seiner Arbeiten d e m russischen H a n d w e r k im Spatmittelalter, in denen er die allgemeine Lage des H a n d w e r k s im zentralisierten RuBland des 16. u n d 17. Jahrhunderts, insbesondere die d e r L e h r l i n g e , erforschte. 1 2 3 4 5 1 N. Stepanov, Sravnitel'no-istoriceskij обегк organizacii remeslennoj promySlennosti v Rossii i zapadno-evropejskich gosudarstvach, Kiev 1864. 2 1 . Ditjatin, Ustrojstvo i upravlenie gorodov Rossii Bd. 1: Vvedenie. Ustrojstvo i upravlenie gorodov Rossii v XVIII stoletii, St. Petersburg 1875; Bd. 2: Gorodskoe samoupravlenie do 1870 goda. Jaroslavl' 1877. 3 M. Dovnar-Zapol'skij, Organizacija moskovskich remeslennikov v XVII veke, in: 2MNP (September 1910). 4 A. V. Arcichovskij, Novgorodskie remesla v XVI veke, in: NIS 6, S. 3-15, Novgorod 1939; V. I. Sunkov, Remeslo v Pskove i Novgorode po dannym syska 1639-1640, in: IZ 5, S. 102117, Moskau 1939; N. V. Ustjugov, Remeslo i melkoe tovamoe proizvodstvo v Russkom gosudarstve XVII veka, in: IZ 34, S. 166-197, Moskau 1950; K. N. Serbina, Ocerki iz social'no-ekonomideskoj istorii russkogo goroda. Tichvinskij posad v XVI-XVIII vekach, Moskau-Leningrad 1951; L. V. Danilova, Melkaja promySlennost' i promysly v russkom gorode vo vtoroj polovine XVII i naeale XVIII vekov (po materialam goroda Jaroslavlja), in: Istorija SSSR 3, 1957, S. 87-111; A. P. PronStejn, Velikij Novgorod v XVI veke, Char'kov 1957; A. M. Orechov, Tovamoe proizvodstvo i naemnyj trud v promySlennosti po pererabotke zivotnogo syr'ja v Niznem Novgorode 17 veka, in: Russkoe gosudarstvo v XVII veke, S. 75-109, Moskau 1961; K. N. Serbina, Remeslo i manufaktura v Rossii v XVI-XVII vekach, in: Remeslo i manufaktura v Rossii, Finljandii i Pribaltike, S. 20-31, Leningrad 1975. 5 S. V. Bachrusm, Ocerki po istorii remesla, torgovli i gorodov russkogo centralizovannogo gosudarstva XVI - naeala XVII vekov, in: Naucnye trudy Bd. 1, hier: Moskva как remeslennyj i torgovyj centr v XVI v., S. 107-142, Moskau 1952; Ebenda, Remeslennye uceniki v XVII veke, Bd. 2, S. 101-118, Moskau 1954. W a s das H a n d w e r k im 18. und 19. Jahrhundert betrifft, so lassen sich einige Studien erwahnen. 1952 erschien das Buch von K. A. Pazitnov uber die rechtliche Stellung der H a n d w e r k e r in der Gesetzgebung des russischen A b s o l u t i s m u s . Seine U n t e r s u c h u n g betont die Besonderheiten der russischen Ziinfte im Unterschied zu denen in Westeuropa. E s laBt sich eine Fallstudie von S. I. Sakovi nennen, in der er den Handwerkerstand in bezug auf die bauerliche B e v o l k e r u n g M o s k a u s der 1720er Jahren erforschte. In den 1960er Jahren versuchten F. Ja. Poljanskij und Ju. R. K l o k m a n ein vergleichsweise hohes Entwicklungsniveau des H a n d w e r k s zu belegen, w a s angesichts einer schwach entwickelten Klein- u n d Mittelindustrie wenig iiberzeugend ist. AuBerdem wurde uber die Handwerker in den allgemeinen Studien der Wirtschafts- und i\rbeitergeschichte berichtet. Die H a n d w e r k e r in St. Petersburg sind T h e m a der Aufsatze von A. I. K o p a n e v und N . I. I v a n o v a . Als letztes soil in der sowjetischen Historiographie die ethnosoziologische Untersuchung von N . V. Juchneva erwahnt w e r d e n , in der verschiedene Gruppen von H a n d w e r k e r n nach N a t i o n a l i t y und sozialer Zugehorigkeit behandelt werden. SchlieBlich sind noch die zwei B a n d e uber die 6 7 8 9 10 11 6 K. A. Pazitnov, Problema remeslennych cechov v zakonodatel'stve russkogo absoljutizma, Moskau 1952. 7 S. I. Sakovi, Social'nyj sostav moskovskich remeslennikov 1720-ch godov, in: Istoriceskie zapiski, Bd. 42, S. 238-261, Moskeu 1953. 8 Klokman, Ju. R., Social'no-ekonomi6eskaja istorija russkogo goroda. Vtoraja polovina 18go veka, Moskau 1967; Poljanskij, F.Ja., Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii XVIII veka. Moskau 1960. 9 E. I. Zaozerskaja, U istokov krupnogo proizvodstva v russkoj promySlennosti, Moskau 1947; P. G. Ljubomirov, 06erki po istorii russkoj promySlennosti, Moskau 1947; R. S. LivSic, RazmeScenie promySlennosti v dorevoljucionnoj Rossii, Moskau 1955; Istorija rabo&ch Leningrada (Hrsg. S. N. Valk u. a.), Bd. 1 (1703 - Februar 1917), Leningrad 1972; L. N. Semenova, Raboeie Peterburga v pervoj polovine XVIII veka, Leningrad 1974. 10 A. I. Kopanev, Remeslenniki Peterburga v pervoj polovine XIX veka, in: Remeslo i manufaktura v Rossii, Finljandii i Pribaltike (Hrsg. A. S. Kan u.a.), S. 78-89, Leningrad 1975; Ders., Naselenie Peterburga v pervoj polovine XIX veka, Moskau-Leningrad 1957; Ders. in: Ocerki istorii Leningrada Bd. 1, S. 485-490 und 512-520, sowie Bd. 2, S. 178ff. und 21 If; N. I. Ivanova, Deutsche Handwerker und Unternehmer in St. Petersburg vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1913. In: Dittmar Dahlmann u. Carmen Scheide (Hrsg.), „... das einzige Land in Europa, das eine grofle Zukunft vor sich hat". Deutsche Unternehmen und Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frtihen 20. Jahrhundert, Essen 1998 (Veroffentlichungen des Instituts fiir Kultur und Geschichte der Deutschen im 6stlichen Europa, hrsg. v. Detlef Brandes, DietmarNeutatz u. Maria Rhode, Bd. 8), S. 275-312. 11 N. V. Juchneva, Etni6eskij sostav i etnosocial'naja struktura naselenija Peterburga. Statistische Analyse, Leningrad 1984, S. 56-65. Geschichte der russischen Kultur im 18. Jahrhundert zu nennen, in denen auf die 12 allgemeine Entwicklung des russischen H a n d w e r k s eingegangen w i r d . W a s die nichtrussischsprachige Geschichtsschreibung anbelangt, so schenkten die meisten Autoren ihre Aufmerksamkeit fast ausschlieBlich den Arbeitern in den 13 Fabriken und erwahnten die Handwerker nur am R a n d e . R e g i n a l d Zelnik und Joachim von Puttkamer gingen zwar der Problematik der Zunfte nach, sie wurde aber nur im Z u s a m m e n h a n g mit der allgemeinen Gewerbegesetzgebung sowie der Arbeit der Regierungskommissionen (1857-1862) erortert, deren Stellungnahme bezuglich des Zunftsystems eindeutig negativ war und deren Vorschlage ihren zeitgemaBen A u s d r u c k nicht zu Unrecht in der geauBerten Option der zukiinftigen 14 Gewerbefreiheit wiederfanden . In diesem Z u s a m m e n h a n g ist es wichtig, eine klare historiographische Linie bzw. ein Bundel von Vorstellungen iiber die Zunfte zu erlautern. Die russische liberal-demokratische (Ditjatin), sowjetische (Pazitnov) und westliche (Zelnik, Hildermeier) Geschichtsschreibung iiber die russischen Zunfte sind sich in der Erkenntnis einig, daB diese Zunfte „freilich nicht den Nutzen [brachten], den sich der Reformer erhoffte", eine restriktive Rolle fur die gewerbliche Entfaltung besonders im 19. Jahrhundert spielten und eine Erweiterung staatlich-polizeilicher Lenkungsmechanismen 15 darstellten . 12 Ocerki russkoj киГгигу XVIII veka Bd. 1, S. 157-177 und Bd. 2, S. 254ff. und 260, Moskau 1985 und 1990. 13 Victoria E. Bonnell, Roots of rebellion; workers' politics and organisations in St. Petersburg and Moscow, 1900-1914, Berkeley, Calif. 1983; Daniel R. Brower, The Russian city between tradition and modernity: 1850-1900, Berkeley 1990; Olga Crisp, Labor and industrialisation in Russia, in: The Cambridge Economic History of Europe. Vol. VII, Part 2, London 1976; Manfred Hildermeier, Biirgertum und Stadt in RuBland 1760-1870: Rechtliche Lage und soziale Struktur, Koln/Wien 1986; Heather Hogan, Forging revolution: (metalworkers, managers and the state in St. Petersburg), 1890-1914, Bloomington, Indiana 1993; Robert B. McKean, Saint Petersburg between the revolutions: (workers and revolutionaries, June 1907-February 1917), New Haven 1990; R. Pipes, Social Democracy and the St. Petersburg labor movement, 1885-1897, Cambridge 1963; Joachim v. Puttkamer, Fabrikgesetzgebung in RuBland vor 1905: Regierung und Unternehmerschaft beim Ausgleich ihrer Interessen in einer vorkonstitutioneller Ordnung (Beitruge zur Geschichte Osteuropas Bd. 20). Koln 1996; Michael Share, The Central Worker's Circle of St. Petersburg, 18891894: A Case study of the "Workers' Intelligentsia", New York and London 1987; Gerald D. Surh, 1905 in St. Petersburg: labor, society and revolution, Stanford 1989; Reginald E. Zelnik, Labor and Society in Tsarist Russia. The Factory Workers of St. Petersburg 18551870, Stanford 1971. 14 15 Zelnik, Labor, S. 1 If., 69-119, 283-331; Puttkamer, Fabrikgesetzgebung. Ditjatin, Bd. 1 Ustrojstvo, S. 296-299; Pazitnov, Problema, S. 49-51; Zelnik, Labor, S. 12; Hildermeier, Burgertum, S. 45 f. Zusammenfassend laflt sich das traditionelle Bild des russischen H a n d w e r k s mit den Worten von Reginald Zelnik in Erinnerung rufen: , J n addition to their leadership roles within the tsekh, the elders were expected to function as administrative and fiscal agents of the government, thus contravening the concept of the guild as an independent association of producers. Furthermore, in contrast to the guilds of Western Europe, the tsekh w a s not a truly closed corporation. N o t only w a s its membership not restricted numerically, it was even open to such nonurban categories of the population as manorial serfs if the serf w a s granted authorization to j o i n by his lord. Within certain limitations, membership w a s not required of all local artisans. Finally, there were n o provisions for limiting the quantity of items produced in each tsekh. In short, the tsekh was not so m u c h a voluntary association for protective and monopolistic purposes as it w a s a quasigovernmental administrative unit aimed at providing a more rational basis for the organisation and stimulation of production and for taxing the urban population" . 16 Z w a r werden diese Charakteristika des Zunfthandwerks im allgemeinen nicht bestritten, doch wird in dieser Arbeit versucht, ein facettenreicheres Bild des Zunfthandwerks auszugreifen, das auch andere N u a n c e n ergibt und die moglichen Verzerrungen oder gar optischen Tauschungen in der Bewertung der Rolle des Zunfthandwerks im sozialen und wirtschaftlichen Leben RuBlands vermeiden hilft . Das St. Petersburger H a n d w e r k blieb bis heute weitgehend eine terra incognita in der Geschichtsschreibung iiber RuBland. 1985 schrieb T. Steffens in seiner Dissertation in b e z u g auf das Handwerk St. Petersburgs, daB die "Zahlenangaben tiber den Anteil der Handwerker in einzelnen Branchen [...] allerdings nirgendwo" zu finden s e i e n . Der Autor bedauerte, daB ein solch bedeutender wirtschaftlicher Faktor wie das H a n d w e r k derart im 'toten Winkel der zeitgenossischen, aber auch der neueren Forschung" blieb. Speziell iiber die Handwerker in St. Petersburg, 17 18 11 16 1 Zelnik, Labor, S. 12. 17 Vgl. Ralph Tuchtenhagen, Osteuropaische Geschichte en panne, in: OE 5, 1999, S. 518526, hier S. 524. 18 Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917. Soziale Lage, Organisation und spontaner Protest zwischen zwei Revolutionen, Freiburg 1985, S. 45. bedingt durch ihr Interesse fur die finnischen H a n d w e r k e r in der Hauptstadt, schrieben nur einige finnische A u t o r e n . J. H. Bater erwahnte in seiner Arbeit zur Industrialisierung v o n St. Petersburg nur einige wenige Branchen des Handwerks, wie Schmiede, Backer, Konditoren, G o l d s c h m i e d e und J u w e l i e r e , und analysierte sie im Z u s a m m e n h a n g mit der allgemeinen Entwicklung der Industrie St. Petersburgs und der Stadttopographie. Die umfangreiche Darstellung von Manfred Hildermeier uber die russische Stadt und das Burgertum ist aufschluBreich und bietet einiges Material uber die H a n d w e r k e r in RuBland. In seiner Arbeit werden aber angesichts des schwach entwickelten stadtischen H a n d w e r k s unter Burgertum meistens die Kaufleute und Kleinbiirger (mescane) verstanden und die Handwerker nur ausnahmsweise behandelt . In der Arbeit wird unter anderem untersucht, wie die Ziinfte als eine fremde Institution in RuBland FuB fassen konnten. U m einiges v o r w e g z u n e h m e n , ist hier festzustellen, daB die Ziinfte in RuBland durchaus eine Zukunft hatten, w a s ihre Geschichte im 19. u n d Anfang des 20. Jahrhunderts belegt. Ein Teil der gewerbetreibenden Mittelschicht in den russischen Stadten nutzte die Moglichkeiten dieser neu geschaffenen Institution und machte sie sich zu eigen. Die Petrinische Reform der Gewerbeordnung, die friiher freilich in einer gesetzlichen F o r m auch nicht existierte (und hier wird ein N e r v der bis heute andauernden Diskussion uber die „Westernisierung" bzw. „Modernisierung" RuBlands beriihrt), war beziiglich der Herausbildung des mittleren Biirgertums im 19. Jahrhundert sowie eines Kerns von Fachleuten mit hohem Qualifikationsgrad wenigstens in St. Petersburg auf langere Sicht ein Erfolg. 19 20 21 0.2 Forschungsgegenstand und Untersuchungszeitraum Das generelle Ziel dieser Arbeit ist es, das H a n d w e r k als eine Gesamterscheinung unter sozialen, rechtlichen, administrativ-politischen und wirtschaftlichen G e sichtspunkten zu beschreiben. Als erstes soli auf die Urspriinge des H a n d w e r k s in St. Petersburg im 18. Jahrhundert hingewiesen und dann eine Bestandsaufhahme 19 E. Westerlund, Pietarin suomalaiset kultaja hopease ppamestarit v. 1714-1814, Helsinki 1938; О. K. Ky6sti6, Suomalaiset Pietarissa kasityota oppimassa, in: Historiallinen Aikakauskirja 3 (1951); L. Backsbacka, St. Petersburgs juvelerare, guld- och silversmeder 1714-1870, Helsingfors 1951; Sune Jungar, Finnljandskie remeslenniki v S.-Peterburge, in: Remeslo (s. Anm. 10), S. 90-99. 20 James H. Bater, St. Petersburg. Industrialization and change (Studies in urban history 4, hrsg. v. H. J. Dyos), London 1976, S. 129, 138f, 194, 197, 269, 372f. 21 Manfred Hildermeier, Burgertum und Stadt in Rufiland 1760-1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur, K6ln-Wien 1986, S. 15,23, 61, 142. des Handwerks in St. Petersburg in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts gemacht werden, um die D y n a m i k und die Tendenzen der Entwicklung des H a n d w e r k s zu verdeutlichen. W a s die wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s in St. Petersburg anbetrifft, so wird der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts liegen, da sich, wie oben gesagt, zu dieser Zeit der ProzeB der Industrialisierung v o l l z o g , der auf das stadtische H a n d w e r k eine besonders starke A u s w i r k u n g hatte. Daran anschlieBend soil die Frage behandelt werden, ob sich die strukturelle Wandlung, die im H a n d w e r k am Ende des 19. Jahrhunderts augenscheinlich ist, wahrend der Industrialisierung vollzog, oder schon fruher begann und vielleicht auch andere Griinde hatte, die auBerhalb der Industrialisierung liegen. Die negativen Entwicklungstendenzen wirkten sich aber fur das damalige St. Petersburger H a n d w e r k nicht existenzbedrohend aus. Es war in der Lage, sich den neuen R a h m e n b e d i n g u n g e n anzupassen. Dies wurde dadurch erleichtert, daB der Handwerkerstand der Hauptstadt hochentwickelt war. Als Anhaltspunkt dafur dient die Aussage von H. L. Attenhofer, der 1820 bezuglich der auslandischen Handwerker schrieb, daB deren Lebensbedingungen fur ihre Zunftgenossen in Deutschland beneidenswert seien. E s steht auBer Zweifel, daB eine solch vage Aussage eines Zeitgenossen mit Vorsicht behandelt werden muB. Auffallend ist aber die Tatsache, daB in St. Petersburg ein gewisser Wohlstand, zumindest bei einigen deutschen Handwerkern, einem Auslander auffiel und das heiBt, daB in der Stadt ein gewisser Prozentsatz der deutschen Handwerker einen relativ hohen Lebensstandard erreichen konnte und folglich auch dementsprechende R a h m e n b e d i n g u n g e n vorhanden sein muBten, die einen solchen Wohlstand erlaubten . 22 23 DaB die Handwerksmeister von St. Petersburg um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt eine ziemlich hohe Anzahl an Gesellen und Lehrlingen im Vergleich zum ubrigen RuBland hatten, kann durch ihre A n p a s s u n g an die rasche industrielle Entwicklung St. Petersburgs und durch den hohen Entwicklungsgrad des H a n d w e r k s erklart werden. In wirtschaftlicher Hinsicht soli den Fragen nachgegangen werden, wie sich das Spektrum der meistvertretenen Berufe unter den H a n d w e r k e r n anderte, welche Handwerksmeister diese wirtschaft lichen U m w a l z u n g e n uberstanden und welche K o n k u r s anmeldeten, wie groB die wirtschaftliche B e d e u t u n g des St. Petersburger H a n d w e r k s bei der 22 S. hierzu: Heiko Haumann, Kapitalismus im zaristischen Staat 1906-1917: Organisationsformen, Machtverhultnisse und Leistungsbilanz im IndustrialisierungsprozeB, Konigstein 1980, S. 23fT.; R. Portal, Die russische Industrie am Vorabend der Bauernbefreiung, in: Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionaren RuBland, hrsg. v. D. Geyer, S. 133-163; Heinrich Scherer, Der Aufbruch aus der Mangelgesellschaft. Die Industrialisierung RuBlands unter dem Zarismus (1860-1914), Giessen 1985. 23 Vgl. Heinrich Ludwig Attenhofer, Medikotopograficeskoe opisanie S. Peterburga, St. Petersburg 1820, S. 13f. Warenproduktion und wie groB die Arbeitsintensitat im Vergleich mit anderen wirtschaftlichen Bereichen war. Die Tatsache, daB die Entstehung der Handwerkerschaft von St. Petersburg in ihren Urspriingen hauptsachlich dem Staat zu verdanken war, stellt ein wesentliches M e r k m a l ihrer Entwicklung dar. Schon vor der G r u n d u n g der Ziinfte im Jahre 1722 wurden von Handwerksmeistern auf den Werften der Admiralitat, im GuBeisenhof u n d in verschiedenen Manufakturen Kleidung fur die A r m e e , Segeltiicher und vieles andere, w a s fur die Bedtirfhisse des Staates bestimmt war, hergestellt. Die russische Regierung bestimmte durch das Handwerksstatut und die rechtlichen Regelungen das Wesen der Ziinfte v o n St. Petersburg. Die Zunftverwaltung, die besonders in der ersten Zeit ihres Bestehens groBtenteils fiskalischen Z w e c k e n und der Qualitatskontrolle der Handwerkserzeugnisse diente, gewann in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts immer mehr an B e d e u t u n g als eine soziale Institution, die der Ausbildung, der Wohltatigkeit und der Entwicklung des H a n d w e r k s diente. Die Organisation des H a n d w e r k s in Ziinften ermoglichte auch auslandischen insbesondere deutschen Handwerkern eine schnelle Integration, da ihnen das Zunftwesen von ihrem Herkunftsland vertraut war. Dies wird durch die Tatsache bestatigt, daB in St. Petersburg noch vor 1722 schon etliche deutsche Ziinfte existierten. Die biirgerlichen Reformen der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts forderten die schnelle industrielle Entwicklung der Hauptstadt, die ihren Anfang in den friihen 60er Jahren nahm und ihren Kulminationspunkt in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erreichte . Aus der unten aufgefuhrten Tabelle ist zu ersehen, daB sich die Zahl der Handwerker in absoluten Zahlen im Laufe des 19. Jahrhunderts mindestens um das zwanzigfache steigerte und daB die Fabrikarbeiter die Handwerker zahlenmaBig erst in den 1880er Jahren iiberholten (siehe Tab. 1). W a s die wirtschaftliche Existenz des H a n d w e r k s betrifft, ist zu priifen, wie erfolgreich die Zunfthandwerker ihre Versorgungsaufgabe erfullten bzw. die stadtische Gesellschaft mit Nahrungsmitteln und iiberhaupt mit Konsumgiitern versorgten, sowie welchen Beitrag die Handwerker im Laufe des 18. u n d a m Anfang des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung der Industrie v o n St. Petersburg im Vergleich zu den Anstrengungen des Staates leisteten. Wie wirkte die unterentwickelte und nicht fur den Markt produzierende Landwirtschaft in der U m g e b u n g der Stadt auf das hauptstadtische H a n d w e r k ein? E s ist gleich zu bemerken, daB die Landwirtschaft des St. Petersburger Gouvernements einen wesentlich substitutionellen Charakter trug und verhaltnismaBig w e n i g A u s w i r k u n g auf das hauptstadtische H a n d w e r k h a t t e . Die wenigen Bauern in der 24 25 24 25 Share, Central, S. 1; Steffens, Arbeiter, S. 26. Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, Leningrad 1955, S. 304, 490f; So gab es im St. Petersburger Gouvernement zwischen 1897 und 1903 auf 779.000 Einwohner 36.093 U m g e b u n g v o n St. Petersburg, die selbst Getreideeinkaufe im Tver'jer oder Jaroslavlsker Gouvernement tatigten, konnten die Metropole mit ihren rund 200.000 am Anfang des 18. und mit rund 500.000 E i n w o h n e r n u m die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht ausreichend v e r s o r g e n . 26 Tabelle 1: Manufaktur- bzw. Fabrikarbeiter u n d die H a n d w e r k e r v o n St. Petersburg 1785-1900 v.H. Handwerker v.H. Jahr Manufaktur- und Fabrikarbeiter 1785 5500-6000 100 7000 100 46,2/53,8 1845 11600 193,3 26000 371,4 30,9/69,1 1862 19300 166,4 75000 288,5 20,5/79,5 1869 40000 207,3 85000 113,3 32/68 81573 204 99889 117,5 45/55 133361 163,5 126757 126,9 51,3/48,7 1890 1900 27 Gesamtverhaltnis in% Quelle: Istorija raboeich LeningradaBd. 1, S. 8f.; Juchneva, Sostav, S. 56. Insgesamt gab es 1869 in der Stadt 139.290 Beschaftigte (104.242 Manner und 35.048 Frauen), davon waren etwa 85.000 in den Werkstatten tatig; Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2, Leningrad 1957, S. 122,183; K.A. Pazitnov, Polozenie rabocego klassa v Rossii, t. 2, Leningrad 1924, S. 23; Ryndzjunskij, Gorodskoe grazdanstvo, S. 426; Ab dem Jahr 1862 sind sowohl zunftfreie als auch Zunfthandwerker ausgefuhrt. Das bauerliche Hausgewerbe im St. Petersburger Gouvernement w u r d e vollig den Bedurfhissen der Hauptstadt und des stadtischen H a n d w e r k s untergeordnet und Gewerbetatigen, die fast ausschlieJ31ich auf Nachfrage der Landbevolkerung ihre Waren produzierten. Nach St. Petersburg wurden vor allem die Waren geliefert, die fur das hauptstadtische Handwerk, mit Ausnahme des Schuhmachers- und Schneiderhandwerks, keine starke Konkurrenz darstellten, sondern sein Sortiment erganzten, in: K. N. Tamovskij, Melkaja promySlennosf Rossii v konce 19-go - nacale 20-go vekov. M. 1995, S. 26f., 38-49; Juchneva, EtniCeskij sostav, S. 146-150. 26 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2. S. 132f.; L. N. Semenova, Snabzenie chlebom Peterburga v XVIII v. (praviterstvennaja politika), in: N.V. Juchneva, Peterburg i gubernija. Istorikoetnograficeskie issledovanija, Leningrad 1989, S. 5-20. 27 Istorija goroda Peterburga za 200 let. St. Petersburg1905, S. 72; Die Anzahl von 133.361 Arbeitern in den 631 Fabriken und Werken von St. Petersburg bezieht sich auf das Jahr 1902, in: S. Peterburgskoe kupecestvo i torgovopromySlennye predprijatija goroda к 2001etnemu jubileju stolicy, St. Petersburg 1903, S. 1. erfullte seine Funktion als Rohstoff- oder Halbfertigproduktelieferant. Es bildete v o n daher keine e m s t z u n e h m e n d e Konkurrenz fur das hauptstadtische Handwerk. Im Gegenteil g e w a n n das bauerliche Hausgewerbe, das in ZentralruBland weit entwickelt war und sich auf eine Massenherstellung bestimmter Waren spezialisierte, besonders seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als St. Petersburg mit dem inneren RuBland durch die Eisenbahnlinien verbunden war, allmahlich an Bedeutung. Also traten die bauerlichen Handwerker (kustari), die ihr H a n d w e r k (kustarnye promysly) neben der Hauptbeschaftigung in der Landwirtschaft betrieben, als der Konkurrenzfaktor auf, der durch den standigen Preisverfall den Lebensstandard der St. Petersburger Handwerker absinken lieB, etliche Meister zugrunde richtete und zur Verbreitung des Verlagshandwerks beitrug. Diese "kustarnye promysly" konnen als selbstandiger Forschungsgegenstand, methodologisch gesehen, hilfreich sein, da dadurch das stadtische H a n d w e r k scharfere Konturen gewinnt. Besonders im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erwuchs fur die stadtischen H a n d w e r k e r in der Gestalt der Kustari ein ernster Konkurrenzfaktor. E s ging so weit, daB die Kustari, organisiert in besonderen Genossenschaften, nicht nur v o m Verleger, sondern auch v o m Staat Auftrage erhielten. Als ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor wurde das bauerliche H a n d w e r k im Jahre 1888 unter die Obhut des Staatsguterministeriums (ministerstvo gosudarstvennych imuscestv) gestellt. M e h r noch - in St. Petersburg wurde auf Initiative privater Personen ein H e i m g e w e r b e - M u s e u m (kustarnyj muze'}) beim Kaiserlichen Landwirtschaftlichen M u s e u m (imperatorskij seVskochozjajstvennyj muzej) gegriindet, w a s auf die groBe Bedeutung des bauerlichen H a n d w e r k s hindeutet. Seiner Konkurrenz mit dem stadtischen H a n d w e r k wird in der Forschung besondere Beachtung geschenkt. AuBerdem soli als ein weiterer Faktor berucksichtigt werden, inwieweit das H a n d w e r k von den h o h e n saisonalen Schwankungen der Bevolkerung profitierte. Jeden Sommer k a m e n 40.000 bis 50.000 Bauern in die Stadt, die in Fabriken, Manufakturen oder im Baugewerbe tatig w a r e n . 28 Es ist zu prtifen, o b die Handwerksmeister ihre Produkte fur den stadtischen Markt und fur bestimmte K u n d e n anfertigten oder auch die Moglichkeit zur Ausfuhr in das innere RuBland oder sogar ins Ausland hatten, in w e l c h e m Umfang also der Warenaustausch im handwerklichen Bereich fortgeschritten war. Fest steht, daB die Handwerker die Kapazitaten ihrer Betriebe wegen allgemeinen Kapitalmangels nicht beliebig saisonal vergroBern oder verkleinern konnten. Sie konnten sich dadurch nicht so schnell an groBe Nachfrageveranderungen anpassen. Deswegen muB nachgeforscht werden, in w e l c h e m Umfang die nicht zunftigen Handwerker, die aus dem D o r f kamen, die starken Nachfrageschwankungen ausglichen. 28 Das waren haupts&chlich Bauern aus benachbarten Gouvernements, da der Einzugsbereich St. Petersburgs sich auf mehrere hundert Kilometer erstreckte. Vgl. Juchneva, Etni6eskij sostav, S. 83-88, 142-146. W a s die Konkurrenz zwischen den Zunfthandwerkern und den zugewanderten Handwerkern v o m Lande betrifft, so laBt sich hier folgendes bemerken: Die zugewanderte bauerliche Bevolkerung St. Petersburgs, die in Manufakturen, Fabriken und handwerklichen Kleinbetrieben beschaftigt war, deckte ihren Existenzbedarf an primar benotigten Produkten, z. B . EB- und Bekleidungswaren, indem sie sie von den „freien" Meistern gunstig auf den Stadtmarkten kaufte. D a der Staat ein Preismonopol seitens der Handwerksziinfte nicht zulieB, gab es betrachtliche Preisunterschiede zwischen den Waren, die von den oben genannten Erzeugern angeboten wurden und denjenigen, die die Zunfthandwerker produzierten. D u r c h diese Kanalisierung des Angebots iiber die Nachfrage wurde die bauerliche Expansion gedampft und wirkte sich nicht entscheidend auf das eigentliche Stadthandwerk aus: Die billigere Produktion wurde eher in Stadtrandindustriegebieten im nordostlichen Teil des Petersburger Bezirks, in den Vyborger und Narvsker Bezirken angeboten, wahrend die Waren besserer Qualitat, die fur das anspruchsvollere Sladtpublikum bestimmt waren, in der Mittelstadt zu entsprechend hoheren Preisen verkauft wurden. Diese Aussage ist stark schematisiert und soil nur dazu dienen, generelle Strukturmerkmale beziiglich der zugewanderten Handwerker und ihrer Konkurrenz mit dem ziinftigen H a n d w e r k zu charakterisieren. GewiB gab es unter den ziinftigen und auBerhalb der Zunft stehenden Handwerkern einen gewissen wirtschaftlichen Wettkampf, w a s aber seine Intensitat und seine Folgen betrifft, so muB er erst erforscht werden. AuBerdem sollen nicht nur Konkurrenz und Polaritat in Betracht gezogen werden, sondern auch die vielseitigen Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen diesen beiden berufsstandischen Organismen. Die zugewanderten Handwerker besaBen z. B . eine gewisse soziale Mobilitat und versorgten auch die stadtische Zunfthandwerkerschaft mit Arbeitskraften, w a s seinen Niederschlag in den Statistiken fand. Die ziinftigen zeitweiligen (vremennye) Handwerker, die zum Geldverdienen aus dem Dorf kamen, um ihrem Herrn und Gutsbesitzer Pflichtzahlungen entrichten zu konnen, waren quantitativ am starksten in den Zunften vertreten. Die Handwerkerschaft bestand zu zwei Dritteln aus Bauern oder aus Meistern und Handwerkern bauerlicher Herkunft, w a s einerseits auf die groBe Aufhahmefahigkeit des stadtischen H a n d w e r k s , andererseits aber auch auf mogliche QualitatseinbuBen hinweist. Die stadtische "Gesellschaft" selbst, d. h. die hohere Gesellschaft, das Beamtentum, die Kaufleute, die Kleinbiirger, die Besitzer von Immobilien und nun auch die Zunfthandwerker, machten im Vergleich zur Gesamtbevolkerung einen viel kleineren Teil aus. Unter diesem Blickwinkel gewinnen die deutschen Zunfthandwerker in der standi sch sehr abgegrenzten stadtischen Gesellschaft eine viel groBere Bedeutung. Wie bereits erwahnt, wurden die handwerklichen Zunfte von St. Petersburg in die "russischen" und in die "deutschen" geteilt. In die "russischen" Zunfte wurden die einheimischen Handwerker und in die "deutschen" Zunfte die auslandischen H a n d w e r k e r eingeschrieben. Die Mitglieder dieser Zunfte unterschieden sich betrachtlich nach ihrer rechtlichen Stellung. So wurden die Handwerker der "russischen" Ziinfte v o m Staat v o n Zeit zu Zeit mit Auftragen verpflichtet, die sie in einigen Fallen in den wirtschaftlichen Ruin trieben. Sie hatten auch eine hohere Steuerlast im Vergleich zu den auslandischen Handwerkern. Als Zunftmitglied besaB ein H a n d w e r k e r entweder eine standige (vecnyj) oder eine zeitweilige (vremennyj) Zugehorigkeit. In der Regel gehorten zu den zeitweiligen die Handwerker bauerlicher Herkunft, also die ehemaligen bauerlichen Handwerker oder Kustari, die das H a n d w e r k als Nebenerwerb mit Hauptbeschaftigung in der Landwirtschaft betrieben. Sie erhielten in der Regel eine Aufenthaltsgenehmigung fur ein Jahr, die sie haufig verlangerten. A b e r die meisten bauerlichen Handwerker, die aus den zentralen russischen Gebieten nach St. Petersburg zugewandert waren, schrieben sich nicht als zeitweilige H a n d w e r k e r in die Ziinfte ein sondern arbeiteten zunftfrei, w a s eine erhebliche K o n k u r r e n z fur die ziinftigen H a n d w e r k e r darstellte. Sie konnten billiger produzieren, weil sie keine groBen Betriebskosten hatten und weniger Steuern im Vergleich mit den Zunftmeistern zahlten: sie mieteten in der Regel eine Ecke in einer H a n d w e r k s w o h n u n g an und arbeiteten dort mit alien notigen Werkzeugen. Die Erforschung des H a n d w e r k s von St. Petersburg soil einerseits die Fragen uber seine soziale, wirtschaftliche, rechtliche und administrativ-politische Lage in der Stadt und seinen Entwicklungsgrad im Vergleich mit dem iibrigen RuBland verdeutlichen und andererseits zur Wirtschaftsgeschichte St. Petersburgs selbst beitragen. Des weiteren ist es ihr Ziel, ein detaillierteres soziales Profil des St. Petersburger H a n d w e r k s in der groBstadtischen Landschaft im ausgehenden Zarenreich zu rekonstruieren . 0.3 Methode Die A n n a h m e , daB das "Generalthema einer neuzeitlichen Wissenschaft v o m Handwerk" die "Einordnung der modernen Handwerksexistenz in den G e s a m t z u s a m m e n h a n g des modernen Industrialismus" ist, ist fur die Erforschung des H a n d w e r k s zur Zeit der Industrialisierung prinzipiell w i c h t i g . Generell lassen sich die folgenden grundsatzlichen methodischen Fragen bei der Erforschung der wirtschaftlichen Lage des St. Petersburger H a n d w e r k s und des Wandels dieser L a g e beschreiben: Zur Klarung der wirtschaftlichen Lage der H a n d w e r k e r sind vor allem Materialien aus St. Petersburger Archiven herangezogen worden. AufschluBreich zur gesamten Lage des St. Petersburger H a n d w e r k s im 19. Jahrhundert sind die Protokolle und Berichterstattungen verschiedener Regierungskommissionen, die die rechtliche 29 29 Wilhelm Wemet, Gegenstand und Aufgaben der Handwerksforschung. Minister 1959 (Beitrage zur Handwerksforschung, Bd. 1), S. 16. und wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s erforschten und nach den Ursachen suchten, die die Lage des Handwerks bestimmten. Des weiteren sind die Veroffentlichungen und Statistiken der Zeitschrift des Innenministeriums fur die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts bezuglich der E n t w i c k l u n g des H a n d w e r k s sowie die Veroffentlichung von N . Stepanov iiber die Organisation des H a n d w e r k s in RuBland b e d e u t s a m . Unter dem regionalem Aspekt ist die handwerkliche Nebentatigkeit der Bauern im St. Petersburger Gouvernement und deren Auswirkung auf das stadtische H a n d w e r k zu beriicksichtigen, w a s in dem Aufsatz von A. A. Lipskij behandelt w i r d . Der Wohlstand der Handwerker und die reale H o h e ihres Gehaltes lassen sich durch den Vergleich der H o h e der Preise fur Brot in St. Petersburg ermitteln . Dariiber hinaus werden auch zahlreiche Urkunden und D o k u m e n t e im Hinblick auf bestimmte Handwerker der Stadt herangezogen, die auch in rechtlicher Hinsicht sehr informativ sind. Uber den technischen Standard und die Fertigkeiten der Handwerker konnen Informationen aus der Beschreibung der St. Petersburger handwerklichen Ausstellung im Jahre 1899 herangezogen werden. Eine weitere methodologische Hilfe soli die Teilung des H a n d w e r k s in folgende groBe Bereiche leisten: Nahrungsmittel-, Bekleidungs-, holz- und metallverarbeitendes H a n d w e r k und das der Dienstleistungsbereiche sowie die Handwerksberufe im Zulieferer- und Reparaturbereich, die sich durch die Industrialisierung etabliert hatten. AuBerdem werden die Entwicklungstendenzen des H a n d w e r k s von St. Petersburg in den Phasen der Industrialisierung und Hochindustrialisierung durch solche Aspekte konkretisiert und beobachtet wie - die Veranderung oder Beibehaltung der Betriebsordnung und Produktionsweise durch den Lfaergang v o m kleinen Handwerksbetrieb zur Fabrik, - die A n d e r u n g der BetriebsgroBe, die Absatz- und Preispolitik. Die Wirtschaftlichkeit eines handwerklichen Betriebes laBt sich an der Entwicklung des Lebensstandards der Handwerker und ihres Reallohns messen. Diesem Z w e c k dienen die M e t h o d e n von H.-J. Gerhard und F. L e n g e r , die fur den deutschen Fall erarbeitet wurden. Unter anderem hat Lenger gezeigt, daB es z u m Teil moglich ist, die E i n k o m m e n der Meister iiber die gezahlten Steuern zu 30 31 32 33 30 N. Stepanov, Sravnitel'no-istoriceskij ocerk organizacii remeslennoj promySlennosti v Rossii i zapadno-evropejskich gosudarstvach, Kiev 1864. 31 A. A. Lipskij, Kustarno-remeslennye promysly v S. Peterburgskoj gubernii, in: S. Peterburgskij zemskij Vestnik 1903, 1-2, S. 61-70. 32 A. Rykadev, Ceny na chleb i na trud v S. Peterburge za 58 let, in: VFPT, vom 31. April und 13. August 1911, Nr. 31, S. 201-206. 33 Hans-Jurgen Gerhard, Quantitative und qualitative Aspekte von Handwerkereinkommen in nordwestdeutschen Stadten von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: U. Engelhardt, Handwerker in der Industrialisierung, hier S. 51-76; Friedrich Lenger, Polarisierung und Verlag: Schuhmacher, Schneider und Schreiner in Dtisseldorf 1816-1861, in: U. Engelhardt, Handwerker in der Industrialisierung, hier S. 146-163. ermitteln. Fur die Ermittlung des tatsachlichen Lebensstandards der Handwerker und als konjunkturelle Indikatoren k o n n e n zwei HilfsgroBen wie die durchschnittliche BetriebsgroBe und die Wohnungsverhaltnisse d i e n e n . Weitere Indikatoren zur Kontrolle von Einkommensschatzungen sind: die Zahl der im H a n d w e r k Beschaftigten, die Entwicklung der gesamten Handwerkerzahlen und die Handwerkerdichte. Daran anschlieBend sind die W a n d l u n g e n der Betriebsweise, die technische und organisatorische Gestaltung des Betriebes sowie des H a n d w e r k s h a n d e l s von Bedeutung. Die rechtliche L a g e des H a n d w e r k s , nicht nur in St. Petersburg, sondern auch in ganz RuBland, laBt sich anhand reichlich erhaltener Gesetze und rechtlicher Regelungen verdeutlichen. Unter anderem sind die wichtigsten rechtlichen Quellen die "Vollstandige Sammlung der Gesetze RuBlands" (Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii)* , die "Protokolle der K o m m i s s i o n fur die Uberarbeitung der Fabrik- und Handwerksstatuten" (Protokoly komissii dlja peresmotra ustavov fabridnogo i remeslennogo) unter der Leitung v o n Baron A d o l f Fedorovic Stackelberg zu erwahnen, (was die staatlichen Aktivitaten anbetrifft). AuBerdem geben die R e g e l u n g e n innerhalb der Ziinfte wichtige Informationen iiber ihre innere E n t w i c k l u n g . Besonders behandelt w u r d e im 19. Jahrhundert das T h e m a der rechtlichen L a g e der L e h r l i n g e . 34 5 36 37 Die soziale Lage des H a n d w e r k s fand ihren Ausdruck am E n d e des 19. Jahrhunderts und in den Jahren vor 1914 in der Griindung verschiedener Gesellschaften seitens der Handwerker. Das soziale E n g a g e m e n t laBt sich anhand 34 S. hierzu: Bruno Fritzsche, Handwerkerhaushalte in Zurich 1865-1880. Eine Bestandsaufhahme, in: U. Engelhardt, Handwerker in der Industrialisierung, S. 105-125; Peter Heumos, Zur Sozialstruktur von Kleingewerbe und Handwerk in Prag 1890-1910, in: ebd.,S. 165-182. 35 Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii (PSZRI), 1-е sobranie. St. Petersburg 1830, torn 3,4, 5, 6, 7, 9, 11, 12, 13, 14, 15,16,20,21,22, 23,25,27, 28, 29, 30,31,35, 36, 37,38, 39, 40; 2-е sobranie, torn 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 10, 13, 14, 17, 18,20, 21, 23, 24, 27, 30, 31, 36, 37, 39, 40,41. 36 Trudy komissii ucrezdennoj dlja peresmotra ustavov fabridnogo i remeslennogo v trech tomach. St. Petersburg 1863, 1879; Sobranie postanovlenij remeslennych dlja rukovodstva masterov vsech cechov i sluza§£ich u nich podmaster'ev i ucenikov izvlecennoe iz svoda zakonov. St. Petersburg 1860; D.A. Dril', Polozenie remeslennikov i remeslennoe zakonodatel'stvo, in: Juridiceskij Vestnik 1891, Nr. 1, S. 29-59 (Statuten von verschiedenen handwerklichen Zunften und Innungen). 37 G. F. Rakeev, Ob uluesenii polozenija remeslennych ucenikov, St. Petersburg 1890; D. G. Sel'diScev, О polozenii ucenikov remeslennych masterskich po dejstvujuScemu russkomu zakonodatel'stvu, in: Trudy pervogo s-ezda russkich dejatelej po obScestvennomu i dastnomu prizreniju 8-13 marta 1910 goda. 38 der Vielfalt der handwerklichen Organisationen analy sieren . Die Statistiken iiber die Handwerker erlauben sowohl soziale als auch wirtschaftliche Aussagen, die in 39 ihrem Zusammenspiel ein komplexes Bild vermitteln sollen . Bei der Erforschung der sozialen Lage der Handwerker von St. Petersburg soli der gesamtgesellschaftliche Kontext herangezogen werden: Die russische Hauptstadt hatte eine groBe Garnison, eine Vielzahl von Beamten, Dienstboten, Bauern und Kleinbiirgern. AuBer der sozialen Stellung des H a n d w e r k s in der stadtischen Gesellschaft ist seine innere Sozialstruktur zu erforschen, fur die der Begriff der horizontalen Mobilitat verwendet werden kann. Die soziale Mobilitat des Handwerkers zwischen dem Arbeiter einerseits und dem Fabrikanten oder dem GroBhandler andererseits kann im weiteren als vertikale Mobilitat bezeichnet werden. AuBerdem diirfen auch die Wirtschafts- und Gewerbepolitik des russischen Staates und ihre Auswirkungen auf das H a n d w e r k nicht vernachlassigt 40 werden . Des weiteren sollen Fragen zu sozialen, wirtschaftlichen und steuerpolitischen Bereichen behandelt werden. Dazu gehoren etwa: Wie viele Meister waren zu verschiedenen Zeiten in der Stadt? W o h e r erhielten sie ihr Rohmaterial? W o haben die H a n d w e r k e r ihre Produkte verkauft, also die Frage nach der Struktur des Warenabsatzes und der Art und Weise, in der er erfolgte. Wie viel Steuerlast lag auf den Waren (sogenannter akciznyj Handwerker zur nalog)! Gesamtbevolkerung? Wie verhielt sich die Anzahl der Nach welchen Leitvorstellungen strukturierte der Handwerker sein Leben? Welche N o r m e n der Arbeitsgestaltung und der Arbeitsorganisation, welche Erziehungs- und Lebensformen und welche Formen offentlicher Reprasentation gab es um die Mitte des 19. Jahrhunderts? 38 Listok dlja remeslennych raboeich, St. Petersburg 1908; Remeslo, St. Petersburg 18811883; Proekt obrazovanija novogo "S.-Peterburgskogo obScestva remeslennoj promySlennosti", St. Petersburg 1871; Otdet sobranija S.-Peterburgskich cechovych masterov, St. Petersburg 1899; Otcet Remeslennogo bjuro za 1886 g., St. Petersburg 1899; Otcet obScestva "NastojaSCij remeslennik" za 1911-1912 g., St. Petersburg 1913. 39 Statisticeskie svedenija о S. Peterburge, St. Petersburg 1836; Cislo remeslermikov v S. Peterburge v 1839 godu, in: ЁМТ 1840 Nr. 6, S. 395-398; Ju. E. Janson, Naselenie Peterburga. Ego social'nyj sostav po perepisi 1869, in: Vestnik Evropy 1875 Nr. 5, S. 606-41; Nr. 6, S. 55-95; Pamjatnaja knizka S.-Peterburgskoj gubernii na 1882-1914 g., St. Petersburg 1875-1915. 40 PSZ RI 1, Bd. 15, No. 11308; Bd 12, No. 16188; Bd. 25, No. 19187. Als orientierendes Beispiel im Z u s a m m e n h a n g mit den theoretischen u n d methodologischen Grundlagen der Arbeit kann die Handwerksforschung in 41 Deutschland herangezogen w e r d e n . 42 Die Studie von Jiirgen B e r g m a n n uber das Berliner H a n d w e r k im 19. J a h r h u n d e r t spielt fur diese Arbeit eine besonders wichtige Rolle. Dabei ist nicht zu vergessen, daB der Vergleich auch typologisch ahnlicher Stadte wie St. Petersburg und Berlin bzw. H a m b u r g nicht per se zu analogen Schltissen fuhren soil. Deshalb ist der methodologische Hinweis v o n Manfred Hildermeier wichtig, statt „typologisch verwandte Stadte zu betrachten [...] die Stadtlandschaften miteinander [zu] vergleichen oder Burgertums- bzw. Unternehmergrwppew in bestimmten zeitlichen G r e n z e n " , w o z u die Arbeit v o n Bergmann in reichem MaBe Moglichkeiten bietet. Die komparative E i n b i n d u n g des deutschen Handwerks in die Geschichte des St. Petersburger H a n d w e r k s ist erkenntnisbringend, weil es in einigen Fallen erlaubt, die DifFerenzen in der technischen und institutionellen Entwicklung des russischen Stadthandwerks zum deutschen festzustellen. Die Etablierung des H a n d w e r k s in RuBland als einer sozialen und professionellen Institution ging im Unterschied zu 43 41 S. dazu: Wilhelm Abel (Hrsg.), Handwerksgeschichte in neuer Sicht, 2. Aufl., Gottingen 1978 (Gottinger Beitrage zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 1), darin Abels Beitrag: "Neue Wege handwerksgeschichtlicher Forschung", S. 1-25; R. S. Elkar (Hrsg.), Fragen und Probleme einer interdisziplinaren Handwerksgeschichte, in: Elkar (Hrsg.), Deutschlands Handwerk in Sp&tmittelalter und Fruher Neuzeit, in: Gottinger Beitrage zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 9, Gottingen 1983, S. 3-31; Ulrich Engelhardt, Handwerker in der Industrialisierung: Lage, Kumar und Politik vom spa4en 18. bis ins fruhe 20. Jahrhundert (Industrielle Welt, Schriftenreihe des Arbeitskreises fur moderne Sozialgeschichte, Hrsg. v. Werner Conze), Stuttgart 1984; ebd., Karl Heinrich Kaufhold, Handwerksgeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Uberlegungen zur Entwicklung und zum Stande, S. 20-33; Friedrich Lenger, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800. Fr./M. 1988; Karl Friedrich Wernet, Handwerksgeschichte als Forschungsgegenstand. Т. 1. u. 2, Munster 1961 (Forschungsberichte aus dem Handwerk, Bd. 4, 5); Ders., Handwerksgeschichtliche Perspektiven, Munster 1963 (Forschungsberichte aua dem Handwerk, Bd. 10; Ders., Handwerksgeschichte als Forschungsgegenstand T.l u. 2., Munster 1961 (Vorschungsberichte aus dem Handwerk 4-5); Ders., Handwerksgeschichtliche Perspektiven Munster 1963 (Vorschungsberichte aus dem Handwerk 10); Ders., Zur Abgrenzung von Handwerk und Industrie. Die wirtschaftlichen Zusammenhange in ihrer Bedeutung fur die Beurteilung von Abgrenzungsfragen, Munster 1965; Ders., Wettbewerbsund Absatzverhultnisse des Handwerks in historischer Sicht, Bd. 1: Nahrung, Getranke, GenuBmittel, Berlin 1967; Wernet, Wilhelm, Gegenstand; Ders., Handwerk im Widerstreit der Lehrmeinungen. Das neuzeitliche Handwerksproblem in der sozialwissenschaftlichen Literatur (Forschungsberichte aus dem Handwerk. 3), Miinster/W. 1960. 42 Jiirgen Bergmann, Das Berliner Handwerk in den Fruhphasen der Industrialisierung. Berlin 1973 (= Einzelver6ffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 11). 43 Manfred Hildermeier, Zwischen Burgertum und Adel: Unternehmer im Zarenreich, in: D. Dahlmann, C. Scheide (Hrsg.), „... das einzige Land", S. 87-99, hier S. 90. Westeuropa zogernd vor sich und fand viel spater statt. D a s Handwerk in der russischen Stadt blieb Jahrhunderte lang durch uberlieferte Traditionen gepragt, die die u b e r k o m m e n e n F o n n e n des H a n d w e r k s , die noch im 16. und 17. Jahrhunderten existierten, bis ins 19. Jahrhundert hinuberrettete. Diese Tradition erlaubte z. B . alien, die keine Fachqualifikation besaBen, einem H a n d w e r k nachzugehen. Die durchaus heterogene soziale Struktur der russischen B e v o l k e r u n g k o n n t e sich im V e r h a l t n i s zur A u t o k r a t i e , die alle Verselbstandigungsbestrebungen im Keim erstickt hatte, nach Berufssparten nicht differenzieren b z w . sich s t a n d i s c h i n s t i t u t i o n a l i s i e r e n . D i e spate Institutionalisierung des russischen Handwerks in der Stadt im 18. und 19. Jahrhundert verhalf ihm zur Herausbildung seiner sozialen Institutionen und zur Herausbildung des StandesbewuBtseins. 0.4 Begriffe ti Zuerst soil geklart werden, was unter , Handwerk verstanden wird. A m besten hat sich in der historischen Handwerksforschung die Definition von Karl Kaufhold bewahrt. Unter ,JF{andwerJt versteht er eine ,jselbstandige gewerbliche Tatigkeit\ die y l „mit der Person ihres Tragers unlosbar verbunden ist und bei der auf Grundlage individueller, erlernter Handfertigkeit und umfassender Werkstoffbeherrschung produziert wird [...] oder Dienstleistungen angeboten w e r d e n " . 44 Dabei schlieBt er die sogenannte Urproduktion und die Verkehrs- und Bewirtungsdienstleistungen aus. Die Spezifik der Produktionstechnik im H a n d w e r k laBt Werkzeuge und Maschinen nur zur Erganzung der Handarbeit zu. Kaufhold unterscheidet die gewerbliche Betriebsform des H a n d w e r k s von Manufaktur und Verlag durch das Merkmal der wirtschaftlichen Selbstandigkeit. AuBerdem klammert er das Landhandwerk, Textilerzeugung und Heimgewerbe v o m H a n d w e r k aus. Ausgehend von dieser Definition des H a n d w e r k s wird in dieser Untersuchung versucht zu verdeutlichen, welche Anderungen sich im H a n d w e r k mit dem Anfang der Jndustriellen Revolution '' in RuBland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzogen. Wobei wahrend der ersten Zeitperiode der industriellen Entwicklung in Westeuropa zwischen etwa 1750 und 1870 unter dem Begriff Industrie" wirtschaftliche Tatigkeiten aller Art, folglich auch das 1 44 Vgl. К. H. Kaufhold, Umgang und Gliederung des deutschen Handwerks um 1800, in: W. Abel (Hrsg.), Handwerksgeschichte in neuer Sicht, Gottingen 1978, hier S. 27f. 45 Handwerk, verstanden wurden. In RuBland vollzog sich dieser Begriffswandel mit einer Verzogerung bis ins ausgehende 19. Jahrhundert. D e s w e g e n kann in dieser Arbeit davon ausgegangen werden, daB an der starken E x p a n s i o n der hauptstadtischen Industrie das St. Petersburger H a n d w e r k z u s a m m e n mit den groBeren Werken u n d Fabriken bis ans Ende dieses Jahrhunderts einen groBen Anteil. Dies fand seinen Niederschlag nicht nur in den russischen, sondern auch in den westeuropaischen Berufsstatistiken, w o das „Handwer№ unter Jndustrie" zusammengefaBt w u r d e . A u s g e h e n d von der Definition des H a n d w e r k s bei Kaufhold wird versucht, die besonderen M e r k m a l e eines Handwerkers aus St. Petersburg im Unterschied zu seinen westeuropaischen Kollegen herauszuarbeiten. Die ersten Unterschiede treten schon mit den Kategorien der standigen" und zeitweiligen" Zunfthandwerker auf, die im westeuropaischen Zunfthandwerk nicht vorhanden waren. Diese zwei Kategorien von Handwerkern wurden schon angesprochen. 46 A u c h innerhalb der Werkstatt sind wesentliche Unterschiede zu der in Westeuropa festzustellen. Die russische Werkstatt unterschied sich durch die noch weiter aufgefacherte Betriebshierarchie, w o es auBer der des Meisters (master), Gesellen (podmaster Arbeiter (rabodj) der 'e) und der Lehrlinge (udenik) noch die vierte Kategorie der gab. Die letzteren fiihrten einfachere und schwerere Arbeiten aus und waren w e n i g qualifiziert. Sie waren fast ausschlieBlich zugereiste Saisonarbeiter v o m Land, deren „Einschulung" bzw. Einarbeitung nur wenige Tage 47 dauerte. Allerdings wurde in den Untersuchungsberichten der Regierungsbeamten oft nicht unterschieden zwischen einem Gesellen und einem Arbeiter, 48 demzufolge die Gesellen selbst als „Arbeiter" bezeichnet w u r d e n . S e l b s t in der offiziellen Zeitschrift des Innenministeriums hieB es: D e r Geselle ist als ein Handwerker zu bezeichnen, der sein H a n d w e r k gelernt hat, aber noch keine vollstandige Erfahrenheit in seinem H a n d w e r k besitzt und unter der Leitung des Meisters als einfacher Arbeiter seinen Aufgaben nachgeht. Er hat kein Recht, andere Gesellen u n d Lehrlinge zu unterhalten und soli fur den Meister arbeiten und 49 seine Kunst den Lehrlingen z e i g e n . Erst seit 1852, als in einigen Regionen und 45 Vgl. Reinhart Koselleck (Hrsg. u. a.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3. Stuttgart 1982, zu den Begriffen „Industrie" und „Gewerbe" s. S. 237f., 249, 286 und „Industrielle Revolution" S. 293ff., 297. 46 Ebd., S. 297. 47 Vgl. Vladimir Dal , Tolkovyj slovar' v detyrech tomach, Moskau 1990, Bd. 2, 3,4. 48 Zum Arbeiterbegriff s. auch: Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 32ff. 49 4 Ob ustrojstve remeslennogo soslovija i remeslennoj promySlennosti, in: 2MVD, 1853, otdelenie 2, t. 3, kn. 5, S. 1-40, hier S. 3. kleineren Stadten eine vereinfachte Handwerksverwaltung eingefuhrt wurde, war in den Werkstatten tatsachlich eine vierte Kategorie »der Arbeiter" offiziell vorhanden. Trotzdem ist es notig, im 19. Jahrhundert und besonders in seiner ersten Halfte zwischen einem Gesellen und einem Saisonarbeiter zu unterscheiden, weil sie zwei verschiedene Gruppen bildeten. Ein Geselle durchlief eine drei- bis funfjahrige Lehre bei einem Zunftmeister und bekam nachher ein Gesellendiplom von der Handwerksverwaltung, das ihn berechtigte weiter bei einem Meister zu arbeiten. Bis er dann die Meisterpriifung ablegen durfte und eine eigene Werkstatt eroffhen konnte, sollte er mindestens drei Jahre bei einem Zunftmeister gearbeitet haben. Diese Gesellenzeit sollte dazu dienen, alle fachspezifischen Seiten eines H a n d w e r k s in vollem Umfang zu erlernen. Der Saison- bzw. Lohnarbeiter hatte diese Rechte nicht und durfte sein Leben lang nur als Facharbeiter, w a s im Grunde g e n o m m e n auch der Geselle war, arbeiten. Mit dem Beginn der Industrialisierung w u r d e die Grenze zwischen einem Gesellen und einem Lohnarbeiter immer undeutlicher, bis sie durch den BewuBtseinswandel, der besonders durch die erste Russische Revolution von 1905 und die industrielle Revolution hervorgerufen wurde, und die Auflosung der traditionellen Hausgemeinschaft, in der die beiden Spharen Arbeit und Privatleben in einem verschmolzen waren, in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erlosch. Der Begriff „deutsche Zunfte" bedeutet nicht, daB in diesen Zunften ausschlieBlich die Handwerker deutscher N a t i o n a l i s t , sondern auch andere meist west- und mitteleuropaische Nationalitaten vertreten waren. deutschen Handwerker innerhalb der „deutschen Allerdings bildeten die Zunfte" die zahlenmaBig groBte Gruppe. Der Begriff „Verlag" ist fur die russischen Verhaltnisse ebenso anwendbar wie in der westeuropaischen Geschichtsschreibung. Hier heiBt es: Verlag ist eine Herstellungsweise, bei der „der Verleger eine groBere Anzahl v o n Arbeitskraften in dezentralisierten, formal selbstandigen Betriebsstatten" regelmaBig 50 beschaftigt. An den Begriff des Verlags schlieBen sich noch weitere Begriffe wie Lohn- bzw. Stuckarbeiter (podensdiki oder rabotniki und postudniki) an. D a s Vorhandensein dieser Kategorie der gewerbetreibenden Bevolkerung beschaftigte die Regierung schon am Anfang der 1860er Jahre, als in St. Petersburg eine 50 Klaus ABmann, Verlag-Manufaktur-Fabrik. Die Entwicklung groBbetrieblicher Unternehmensformen im G6ttinger Tuchmachergewerbe. In: Handwerksgeschichte in neuer Sicht, W. Abel (Hrsg.), S. 211-240, hier S. 213. Vielzahl solcher Gewerbetreibenden vorhanden war, die meistens meisterfrei arbeitende Gesellen w a r e n . 51 Schon in den 1840er Jahren tauchen in den Beamtenberichten uber die Lage der gewerbetreibenden Bevolkerung in St. Petersburg Begriffe wie „Arbeitervo№ (rabodie ljudi) und Arbeiterklasse (rabodij klass) auf, die nicht im marxistischen Sinne oder wie in der sowjetischen Historiographie verwendet wurden. Unter diesen Begriffen w u r d e n entweder die 30.000 bis 50.000 bauerlichen Saisonarbeiter verstanden oder die armen Einzelhandwerker bzw. allein arbeitende Gesellen, deren soziale Gruppe nach unten an die der Bettler grenzte. AuBerdem k a m e n als weitere Kategorie von Beschaftigten in der Werkstatt die „Arbeitenden" (rabotniki) hinzu, die den weiteren Begriffswandel im H a n d w e r k zum Ausdruck brachte. Die flieBenden Grenzen zwischen Werkstatt, W e r k oder Fabrik verursachten eine Ubertragung der Begriffe aus dem H a n d w e r k in die Industrie und u m g e k e h r t . Die D y n a m i k der wirtschaftlichen Entwicklung machte es unmoglich, eine klare Grenze zwischen beiden Betriebsformen zu Ziehen. So arbeiteten in den Werkstatten Arbeiter", obwohl sie ihrem Stand nach im Heimbetrieb des Meisters Gesellen waren; neben Saisonarbeitern wurden in den Fabriken ebenfalls ^belter" beschaftigt, obwohl sie ihrem Qualifikationsgrad nach Meister waren. AuBerdem wurden groBere Werke in Ziinfte" (cechi) gegliedert, wie die GieBerei (litejnyj cech), Schmiedehalle (kuznednyj cech), Dreherhalle (tokarnyj cech) und andere, die ihrem W e s e n nach eigenstandige Betriebseinheiten darstellten, die aber nur Teil des Produktionsablaufes waren. AuBerdem verbarg sich haufig hinter d e m Begriff der „Fabrik" eine Werkstatt, die nur deshalb solchen Status besaB, weil sie 52 53 54 51 Delo chozjajstvennogo departamenta ministerstva vnutrermich del, po predpoloieniju S. Peterburgskoj ObScej i rasporjaditernoj dumy ob ustrojstve klassa remeslennikov, izvestnych pod nazvaniem poStuCnikov i о neudobstvach su56estvuju§£ich pravil о porjadke perechoda podmaster'ev ot odnogo mastera к drugomu, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 2384 (fevral 1861g.); Po zapiske (..) Smimova (1843), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172,1. 45; Dmitrij Drir Polozenie remeslennikov i remeslennoe zakonodatel'stvo, in: Juridiceskij vestnik(1891), Bd. 7, Nr. 1 (Januar), S. 29-59. 4 52 О merach к iskoreneniju niScenstva v meSCanskom i remeslennom soslovijach S. Peterburgskoj stolicy (1.12.1861-15.04.1864), in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 112,1. Iff., 12, 15,17. 53 Mnenie S.-Peterburgskoj remeslennoj upravy po proektu polozenija ob ustrojstve i soderzanii promySlennych zavedenij i о nadzore za proizvodstvom v nich rabot. St. Petersburg 1897, S. 1. 54 S. zu den Begriffen „fabrika" und „zavod": Klaus Heller, Typen und Rechtsformen groBgewerblicher Unternehmer in RuBland im 18. und in der ersten Hulfte des 19. Jahrhunderts, in: Berliner Jahrbuch fur osteuropaische Geschichte 1997. Unternehmertum in RuBland, hrsg. v. Klaus Heller, hier S. 7-27. beim Manufakturdepartement registriert war oder der Meister den Titel eines Hoflieferanten trug, w a s ihm das Recht verlieh, sich als „Fabrikant" zu bezeichnen. Es ist durchaus zulassig, unter den „ F a b r i k e n " der Kaufleute der dritten Gilde, unter denen sehr viele Handwerksmeister waren, eine Ubergangsform v o m Handwerksbetrieb zu einem GroBbetrieb zu vermuten. Der Begriff des Artels bzw. artel wird im Z u s a m m e n h a n g mit dem bauerlichen bzw. nichtztinftigen H a n d w e r k verwendet. Es war ein Kollektiv, das sich „gemeinschaftlich v e r d i n g t e u n d am A r b e i t s o r t g r o B t e n t e i l s auch z u s a m m e n l e b t e " . Die Artelsarbeiter waren die Arbeitnehmer im Artel, die in der Regel v o n einem Auftragsnehmer (podrjadcik) organisiert wurden, der vorzeitig aufs Land reiste u n d sie vor der Sommersaison schon am Wohnort veфflichtete. D a s Artel w a r eine Genossenschaft der Arbeiter bzw. Handwerker, die mit wenigen A u s n a h m e n ihrem Stand nach Bauern waren und uberwiegend in der Bauindustrie und im StraBenbau eingesetzt wurden. Wahrend und nach der ersten Russischen Revolution 1905 vollzog sich, wie gesagt, ein sprunghafter Wandel im SelbstbewuBtsein der Handwerker, der allerdings Jahrzehnte vorher vorbereitet wurde. Mit der Radikalisierung der russischen Gesellschaft wurden klare Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen gezogen. In der Presse und in den Diskussionen auf dem HandwerkerkongreB 1911 etablierten sich dann letztlich Begriffe wie iiArbeiterklasse", Arbeitgeber", ,yArbeitnehmer" und ^JClassenkampf im Sprachgebrauch der H a n d w e r k e r . 1 55 yy 56 55 Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 197; Das Wort Artel wurde uberwiegend in der Bildungssprache verwendet und hatte viele Synonyme wie vataga, druiina, staja, kotljana. Ihre Mitglieder hieBen artel 'Stiki, pajs&ki, uzen$&ki, pokrudniki u.a., aus: G. Sazonov, Programma dlja sobiranija svedenij о russkoj narodnoj arteli, in: R.M., janvar' 1881, kn. 1, S. 278-300, hier S. 284. 56 M. Gu-n, Zabastovki i organizacija kapitala, in: Narodno-socialistifceskoe obozrenie, vyp. 1 (1906), S. 68-73; B. Bogdanov, Itogi remeslennogo s-ezda, in: Nasa Zarja, Nr. 2 (fevral') 1911, S. 62-75. 1. Das H a n d w e r k in RuBland v o r Einfuhrung der Ziinfte 1722 Bevor uber die Ziinfte in RuBland gesprochen wird, bleibt zu fragen, in welchem Zustand sich das russische H a n d w e r k vor der Einfuhrung der Zunfte befand. O b bestimmte Organisationsmerkmale des russischen Handwerks dem westeuropaischen Zunftwesen ahnlich waren oder beide nicht miteinander vergleichbar sind? Es gibt in der russischen Historiographie unterschiedliche Interpretationen bezuglich der Organisation des H a n d w e r k s in RuBland vor Einfuhrung der Zunfte 1722. Die These uber die korporative Organisation des H a n d w e r k s a m Beispiel des Artels im mittelalterlichen RuBland wurde 1852 von V. N . Leskov und spater von F. D e m e n t ' e v aufgestellt, die sie als Vorlaufer der Zunfte in RuBland rezipierten. Leschkov betonte, daB die Reform Peters I. der gesetzliche Ausdruck dessen war, w a s langst in RuBland existierte. . W e n n wir aber unter einer Korporation eine Korperschaft mit den verliehenen Rechten einer juristischen Person verstehen, so sind die zeitweiligen, saisonal bedingten losen Vereinigungen russischer Handwerker, die keine Struktur und keine Organisationsmerkmale aufwiesen, die wiederum fur die westeuropaischen Zunfte typisch waren, nicht mit j e n e n zu vergleichen . A u c h Ditjatin verneinte den Vergleich der russischen Artels mit den ZUnften in Westeuropa. Seiner M e i n u n g nach existierten alle Artels, die es in RuBland zu j e n e r Zeit gab, wie die Gewerbeartels (arteli promyslov), d. h. saisonalbedingt und mit bauerlichem Charakter. Ahnlicher M e i n u n g war N . Ryckov, der zeigte, daB die H a n d w e r k e r in der M o s k a u e r R u s wahrend der Regierungszeit von Aleksej Michajlovid keinen Beschrankungen v o n gesetzlicher Seite unterlagen und ihre Gemeinschaften keine Ahnlichkeit mit den westeuropaischen Ziinften aufwiesen. Er unterstrich zu Recht die Eigenartigkeit der russischen Handwerksorganisationen, der Artels, und gab ein treffliches Charakteristikum der petrinischen Reformen: Peter I. fuhrte die Reformen in den russischen Stadten aus fiskalischen und polizeilichen Grunden ein, um die Qualifikation der Handwerker zu erhohen und die Qualitat der Waren uberpriifen zu konnen, wodurch der Konsument besser geschutzt gewesen ware und dem Staat hochqualifizieite Fachkrafte jederzeit zur Verfugung gestanden hatten. Diese W u n s c h e Peters I. gingen aber, so Rydkov, aufgrund der fur die russischen H a n d w e r k e r vollig fremden Institution der Zunfte, nicht in Erfullung . Bemerkenswert ist, daB Ryckov, der seine Schrift 1863 verfaBte und die Zunftreform Peters I. als Totgeburt bezeichnete, die Tatsache ignorierte, daB vor 57 58 4 59 57 M. Kuliser, Cechi и nas i v Evrope, in: Russkaja Mysl', Kn. 11-12. 1877, hier kn. 11, S. 3272, hier S. 44. 58 V. N. LeSkov, Обегк drevnich russkich zakonov о remeslennoj i zavodskoj promySlennosti. In: Moskvitjanin 1852, Nr. 23, S. 361-368; F. Dement'ev, Cechi v Rossii. In: BrokgauzEfron, 1903, t. 38, S. 131-134. 59 N. D. RyCkov, О cechach v Rossii i Zapadnoj Evrope. In: Russkij vestnik, Bd. 47 (1863) Nr. 11, S. 789-822, hier S. 811. seinen A u g e n die russischen Zunfte in M o s k a u und besonders in St. Petersburg gerade in den 1840er - 1860er Jahren ihre Blutezeit erlebten. Dovnar-Zapol'skij u n d T. P. Efimenko konnten keine Analogien zwischen der Organisation der Handwerker in der M o s k a u e r Periode und den westeuropaischen Zunften finden, obwohl ihrer M e i n u n g nach einige M e r k m a l e dafur sprachen, daB unter den Moskauer Gold- und Silberschmieden die T e n d e n z zu einer к о ф о г а ^ е п Bildung vorhanden war. Als Indiz dafur fugten sie hinzu, daB diese Handwerker ihre Waren beim Altesten der H a n d e l s r e i h e n (torgovye rjady) z u m Abstempeln vorlegen sollten. Dies kann noch nicht als Hinweis auf eine innungsartige Vereinigung unter den Gold- und Silberschmieden gewertet werden, sondern nur als Hinweis auf die Qualitetskontrollfunktionen seitens der kaufmannischen Institution in der Person des Altesten einer H a n d e l s r e i h e . Es ist hier zu bemerken, daB D o v n a r - Z a p o r s k i j und Efimenko die Ansicht von LjaScenko kritisierten, daB die Artels die Vorlaufer der Zunfte gewesen seien, und ihre Aufinerksamkeit den Sloboden und Handelsreihen widmeten, in denen sie einige Elemente der к о ф о г а ^ е п Organisation der Zunfte zu erkennen glaubten. In den 1950er Jahren versuchten die sowjetischen Historiker M. N . Tichomirov und A. M . Sacharov die Thesen Leskovs iiber die russischen Artels und andere Attribute des russischen H a n d w e r k s als Vorlaufer der petrinischen Zunfte im 18. Jahrhundert weiter zu entwickeln. Mit Fakten wie unter anderem der Existenz v o n Handwerkersloboden und Hundertschaften, der Spezialisierung in den Handelsreihen auf d e m Stadtmarkt, dem Vorhandensein der Patronatskirchen, die von bestimmten Handwerkern gestiftet wurden, versuchten die beiden Autoren diese Ansichten Leskovs zu untermauern und behaupteten, daB unter den russischen H a n d w e r k e r n bestimmte Organisationsmuster vorhanden waren, die denen in den westeuropaischen Zunften ahnelten . Obwohl Tichomirov meinte, daB es eine ubertriebene Modernisierung ware, solche Vergleiche mit den russischen H a n d w e r k e r n des 12. u n d 13. Jahrhunderts anzustellen, hielt er solche Vergleiche mit denselben im 16. Jahrhundert fur durchaus moglich. N u n warfen die obengenannten Fakten, die diese Thesen belegen sollten, weitere Fragen auf, die nicht eindeutig beantwortet werden konnten. Die M e r k m a l e des russischen H a n d w e r k s , die v o n den oben erwahnten Autoren angefiihrt wurden, erlauben noch nicht, iiber eine Ahnlichkeit der Organisation russischer Handwerker mit den westeuropaischen Zunften zu sprechen. In dem Versuch, 60 61 62 60 Torgovyj rjad - der Stadtmarkt, wo die Kaufleute nach der Art der Ware ihre Handelsstuben reihenweise aufgestellt gehabt hatten. Es gab z. B. die Handelsreihen der Fleisch- und Stoffhandler (mjasnoj i sukonnyj rjad) sowie Silberreihen (serebrjanye rjady), wo die Waren aus dem Gold, Silber und anderen hochwertigen Materialien verkauft aber nicht von den Handwerkern hergestellt wurden. Das war eine Vertriebsweise rein kaufinannischer Natur, wo der Handwerker die Rolle eines Herstellers und Lieferanten des Kaufmanns ausftihrte. 61 Dovnar-Zaporskij, Organizacija moskovskich remeslennikov v XVII veke. In: 2MNP (September 1910), S. 137ff.; Vgl. Pazitnov, Problema, S. 14; Efimenko, Т. P., Обегк organizacii gorodskich remeslennikov v Moskovskom gosudarstve XVI i XVII vekov. In: 2urnal ministerstva justicii (1914) Nr. 4, S. 114-162. 62 A. M. Sacharov, Cechi v Rossii, in: SIE Bd.15, S. 762ff. Parallelen zu den westeuropaischen Zunften aufzustellen, ist die T e n d e n z der sowjetischen Historiker der 1950er Jahre abzulesen, die „historische GesetzmaBigkeit" zu belegen und den „Determinismus" der historischen Entwicklung am Beispiel der „korporativen Institutionen" der Handwerker im mittelalterlichen RuBland zu beweisen. Mit diesen Versuchen sollte wieder zur Schau gestellt werden, daB die theoretischen Grundsatze der marxistischleninistischen Theorie auf alle Gebiete der Geschichte a n w e n d b a r seien und einerlei, ob in den westeuropaischen Landern oder in RuBland - es sollten fur beide Regionen analoge GesetzmaBigkeiten in der Entwicklung der Stadte feststellbar sein, bei deren Entstehung die Handwerker in Westeuropa eine erhebliche Rolle spielten . 63 Die angebliche Ahnlichkeit der mittelalterlichen russischen handwerklichen Vereinigungen mit den westeuropaischen Zunften kann rein formal begriffen werden. Bei naherer Betrachtung enthullt sich diese Ahnlichkeit als eine optische Tauschung. Inhaltlich gesehen hatten die Organisationsformen russischer Handwerker mit den westeuropaischen Zunften nichts Gemeinsames und Rydkov hatte recht, w e n n er behauptete, daB die Zunfte in RuBland eine vollig neue und fremde Institution waren. Was aber die Entwicklung russischer Zunfte betrifft, so besteht hier eine prinzipielle Diskrepanz zwischen den Ansichten von Ditjatin, Sacharov und Tichomirov und denen, die in dieser Arbeit vertreten werden. Ditjatin bezeichnete die Zunftreform als gescheitert. Die sowjetischen Autoren bewerteten das Bestehen der Zunfte in RuBland nur fur die erste Zeit positiv, w a s aber ihre Rolle im 19. Jahrhundert und b e s o n d e r s nach dem Beginn der Industrialisierung betrifft, so bezeichneten sie die Zunfte als eine Institution des mittelalterlichen Feudalismus. Dieser Vergleich russischer Zunfte mit den westeuropaischen Zunften des Mittelalters und ihre D e u t u n g als einer rein restriktiven Organisation fur das 19. und beginnende 20. Jahrhundert ist verfehlt. Eine andere Gruppe sowjetischer Historiker wie P. I. Ljascenko, K. A. Pazitnov, F. Ja. Poljanskij und K. N . Serbina kamen im Gegensatz dazu zu d e m SchluB, daB es ktinstlich und erzwungen sei, Parallelen zum westeuropaischen Zunfthandwerk aufzustellen. D a s russische H a n d w e r k sollte besser in seiner Eigenartigkeit w a h r g e n o m m e n und untersucht w e r d e n . Pazitnov klarte den Unterschied 64 63 A. M. Sacharov, Goroda severo-vostodnoj Rusi XIV-XV w., Moskau 1959; M. N., Tichomirov, Drevnerusskie goroda, Moskau 1956, S. 33; ders., О kupeceskich i remeslennych ob-edinenijach v Drevnej Rusi (XI-XV w.). In: VI 1 (1945). 64 P. I. LjaS6enko, Istorija narodnogo chozjajstva SSSR, torn 1. Moskau 1947, S. 268f; K. A. Pazitnov, Organizacija remeslennoj promySlennosti v Moskovskoj Rusi i reforma Petra. In: IZ 8 (1840); ders., Problema remeslennych cechov v zakonodatel'srve russkogo absoljutizma. Moskau 1952; F. Ja. Poljanskij, Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii XVIII veka. Moskau 1960, S. 15; K. N. Serbina, К voprosu ob ucenicestve v remesle russkogo goroda XVII v. In: IZ 18 (1946); dies., Ocerki iz social'no-ekonomideskoj istorii russkogo goroda. Tichvinskij posad v XVI-XVIII vekach. Moskau, Leningrad 1951; dies., Remeslo i manufaktura v Rossii v 16-17 vekach, in: Remeslo i manufaktura v Rossii, Finljandii i zwischen den zwei Organisationsformen „Artel" und „Zunft", indem er unter anderem aufzeigte, daB sie den verschiedenen Organisationsformen „societas" Artel und „universitas" - Zunfte angehorten. Die Artels w u r d e n mit den N o r m e n des Zivilrechts, die Zunfte aber auch mit administrativen Rechtsnormen geregelt. Er wies mit R e c h t darauf hin, daB sich nicht nur Leskov, der die Parallelen zwischen den westeuropaischen Zunften aufstellte, sondern auch DovnarZaporskij und Efimenko tauschten, wenn sie die Hundertschaften, Sloboden und Handelsreihen mit den Zunften verglichen . Die Entwicklung des russischen H a n d w e r k s lief nicht unbedingt auf eine Form der Zunftorganisation hinaus, sondern hatte durchaus die Moglichkeit, sich weiter auf e i g e n e m W e g e zu entwickeln. Es ist j e d o c h zu fragen, o b diese Entwicklung erfolgreicher als die v o n Peter I. eingeschlagene ware oder nicht? Die Petrinische Reform wollte in erster Linie eine geregelte Handwerksindustrie schaffen. Allerdings sollten noch mehr als 150 Jahre vergehen, bis der Traum v o n Peter I. in Erfullung gehen sollte, weil die gesellschaftlichen und sozialen Verhaltnisse bis in die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts nicht gegeben waren. O b w o h l die russischen Zunfte v o n St. Petersburg und M o s k a u im 18. Jahrhundert gewiB ein bescheidenes Dasein fuhrten, konnten sie sich seit dem Ende des 18. und im 19. Jahrhundert im wirtschaftlichen Leben mehr und mehr behaupten und sich zu einer Institution entwickeln, die im 19. Jahrhundert von einer bestimmten sozialen Schicht der Gewerbetreibenden fur ihre Z w e c k e instrumentalisiert wurde. D e s weiteren wird hier versucht, die Frage zu beantworten, welche soziale und wirtschaftliche Rolle die Zunfte in St. Petersburg spielten? Welche B e d e u t u n g k a m ihnen in der H e r a u s b i l d u n g eines standischen BewuBtseins bei den ziinftigen Handwerkern und in der Integration der bauerlichen H a n d w e r k e r in die stadtische Gesellschaft zu? O b am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts das standische BewuBtsein der Zunfthandwerker in St. Petersburg die K e i m e einer burgerlichen Moral bzw. Verhaltensweise und die Ubergangserscheinungen zu einer burgerlichen Gesellschaft ohne standische Hindernisse und Vorurteile aufwies? 65 Pribaltike, Leningrad 1975, S. 20-31. 65 Pazitnov, Problema, S. 27f. 2. Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik der russischen Regierung v o m 18, J a h r h u n d e r t bis 1914 2.1 Die G e w e r b e g e s e t z g e b u n g und die Gewerbepolitik Peters I. v o r der Einfuhrung der Zunfte Das T h e m a der Gewerbegesetzgebung und der Gewerbepolitik der russischen Regierung im 18. Jahrhundert bringt vor allem die Frage uber die Kontinuitat der Gewerbepolitik des Staates auf. Geklart werden muB auch, ob und w e n n j a welche Ansatze in der Organisation des russischen H a n d w e r k s fruher schon bestanden und inwieweit die spatere Regierungspolitik diese Ansatze weiterfuhrte bzw. sie wieder verwarf. Es soil versucht werden, die Inhalte des „russischen Zunftwesens", die es von den Zunften in Westen Europas unterschied, aufzuzeigen. Die russische Geschichtsschreibung in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts schied sich an der Frage, ob die Regierung 1722 mit der Einfuhrung der Zunfte ein generelles Zunftmonopol und damit ein volliges Verbot des freien H a n d w e r k s oder aber ein beschranktes Zunftmonopol, welches das Bestehen eines freien H a n d w e r k s erlaubte, einfuhrte. N a c h M e i n u n g von N . Stepanov versuchte Peter I. das unterentwickelte russische H a n d w e r k zu unterstutzen, indem er die Zunfte mit einem universellen Monopolrecht versah. Er wollte damit die Konkurrenz seitens der nichtzunftigen 66 Handwerker ausschalten . Ditjatin und Leskov meinten dagegen, daB die Worte: 4 „a v nevolju ne p r i n u z d a t " 67 (die Handwerker gegen ihren Willen nicht zwingen) in den Erlassen v o m 27. April und 16. Juli 1722 den SchluB zulieBen, daB die Zunfte keinen Monopolcharakter hatten. Jeder, der in die Hauptstadt kam, durfte 68 frei die Zunfthandwerke a u s u b e n . Kizevetter gelang es, die M e i n u n g e n der beiden obengenannten Autoren zu vereinigen, indem er behauptete, daB z u m Zunfteintritt nur die Posadleute gezwungen wurden. Die ubrigen, die in die Stadt 66 N. Stepanov, Sravnitel'no-istorideskij ocerk organizacii remeslennoj promySlennosti v Rossii i zapadno-evropejskich gosudarstvach. Kiev 1864, Vgl. Pazitnov, Problema, S. 52. 67 68 Vgl. mit dem Gesamttext des Erlasses im Dokumentenanhang. V. N. LeSkov, Ocerk drevnich russkich zakonov о remeslennoj i zavodskoj promySlennosti. In: Moskvitjanin 1852, Nr. 23; ders.. Russkij narod i gosudarstvo. Istorija russkogo obSdestvennogo prava do XVIII veka. Moskau 1858; 1.1. Ditjatin, Ustrojstvo i upravlenie gorodov Rossii. Bd. 1. St. Petersburg 1875, Bd. 2, Jaroslavl' 1877; Vgl. Pazitnov, Problema, S. 52f. kamen und nicht zur stadtischen Gesellschaft gehorten, durften dem H a n d w e r k ohne Zunfteintritt n a c h g e h e n . 69 K. A. Pazitnov gelang es in seiner Arbeit am besten, die Ziele des Gesetzgebers zu interpretieren und seine Argumentation zu b e l e g e n . Er behauptet, daB im Sinne des Erlasses v o m 27. April 1722 alle Handwerker, die in der Stadt arbeiteten, ohne Unterschied des Standes in die Zunfte eintreten sollten. Diesen ZusammenschluB bekraftigen weitere D o k u m e n t e . So fugt er den Auftrag (nakaz) der Stadt Simbirsk hinzu, der zeigt, daB der zusatzliche ErlaB v o m 16. Juli in der Provinz gerade in diesem Sinne verstanden wurde: 70 „Denjenigen, die in die Zunft nicht eingetreten sind, ist dem Gesetz nach verboten, die Waren z u m Verkauf anzufertigen, wie es der ErlaB v o m 16. Juli 1722 befehligt. W e n n aber j e m a n d ohne in die Zunft einzutreten sein H a n d w e r k a u s u b e n wird, so werden denjenigen nicht nur das W e r k z e u g w e g g e n o m m e n , sondern sie werden dariiber hinaus bestraft und aus der Stadt in ihre Dorfer hinausgeschickt" . 71 Eine Frage, die sich aus oben gesagtem ergibt, ist: Ist die Gewerbegesetzgebung, die das Handwerk betraf, allein aus den fiskalischen und polizeilichen Interessen des Staates abzuleiten, oder entstand sie zumindest teilweise unter einem gewissen Sachzwang, einem D r u c k von „unten"? Es ist anzunehmen, daB hier beide Faktoren, Staatsrason und Sachzwang, eine Rolle gespielt haben. Das zeigt gerade der erganzende ErlaB v o m 16. Juli 1722, der die H a n d w e r k e r aus alien Bevolkerungskategorien aufzahlt, d a b e i a b e r im U n t e r s c h i e d zum vorangegangenen ErlaB eine A u s n a h m e einfuhrt, daB namlich die Handwerker in den Adelshausern und Klostern die Waren fur den eigenen Bedarf, nicht aber z u m Verkauf anfertigen durften. Der Gesetzgeber lieB einen KompromiB mit den einfluBreichsten Schichten der Gesellschaft wie dem Adel und der Kirche zu, wodurch das Zunftmonopol nur in einer beschnittenen Form existierte. Ein weiteres Beispiel, das zeigt, daB der Gesetzgeber den russischen Verhaltnissen R e c h n u n g trug, ist das Institut der zeitweiligen Handwerker, das in Westeuropa undenkbar war, da dort die mit der weltlichen und klerikalen M a c h t ausgehandelte Regel gait: „Stadtluft macht frei". In Anbetracht dieser Andersartigkeit der r u s s i s c h e n V e r h a l t n i s s e w u r d e v o m G e s e t z g e b e r im V e r l a u f des Anpassungsprozesses der russischen Gesetzgebung „in die ganze Struktur der 69 A. A. Kizevetter, Posadskaja ob§6ina v Rossii XVIII st. Moskau 1903. 70 Pazitnov, Problema, S. 53. 71 Ebd.: A ne zapisavSis' v cech nikomu nikakogo rukodelija na prodazu po zakonam, как ukaz 1722 goda ijulja 16 dnja povelevaet, ne proizvodit*. A eieli kto, ne zapisavSis' v cech, какое remeslo budet imet , u tech ne tol'ko instrumenty otbirat , no i ich nakazyvat', iz goroda vysylat' v te ze ziterstva, gde kto napisan. 4 4 V e r o r d n u n g e n eine gewisse Elastizitat eingebaut [..], die der Gesetzgeber akzeptiert[e]" . Die Beweggriinde Peters I. werden durch den historischen Hintergrund verstandlicher. Peter der GroBe w a r der erste Zar, der in RuBland eine staatliche Wirtschaftspolitik im modernen Sinne betrieben hat. Er leitete sie aus dem Merkantilismus her, dessen Grundprinzipien er durch seine auslandischen Berater erlautert bekam. Diese Grundprinzipien w a r e n eine Rezeption der Politik des franzosischen Finanzministers J. B . Colbert und der Stuarts in England, wobei die Steuer- und Wirtschaftspolitik von Peter I. den Charakter eines Merkantilismus mit stark ausgepragten fiskalischen Z u g e n t r u g , w a s auch ein M e r k m a l des deutschen Kameralismus war. Eines seiner Grundprinzipien war, die Besteuerung nach dem Finanzbedarf der Fursten zu richten. Die Ausgaben fiir A r m e e und Marine im Z u s a m m e n h a n g mit d e m GroBen Nordischen Krieg hatten Prioritat und uberhaupt war der Krieg ein Hauptmotor und Ursache fur die Entstehung der Manufakturindustrie in RuBland . 72 73 74 75 Die Befriedigung des steigenden Geldbedarfs setzte die Steigerung der Steuerkraft der Bevolkerung voraus, wodurch wiederum die „pflegliche" B e h a n d l u n g der Beisassengemeinde, die sich zum groBen Teil aus Zunfthandwerkern zusammensetzte, zu erklaren ist. Peters I. Wirtschaftspolitik stellte, wie es das Beispiel der Verfassungsmethodik der Zunftregelungen verdeutlicht, eine 76 M i s c h u n g aus verschiedenen westeuropaischen Erfahrungen d a r . Die russische 72 Walther Kirchner, Die deutsche Industrie und die Industrialisierung RuBlands 1815-1914, St. Katharinen 1986, S. 328. 73 Max Weber, Wirtschaftsgeschichte: AbriB der universellen Sozial- und Wirtschaftgeschichte, 4. Auflage.. Berlin 1981, S. 293f. 74 Vgl. ebd., S. 296-300. Allgemein zum Merkantilismus und Kameralismus in Europa: Rolf Walter, Wirtschaftsgeschichte: vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Koln, Weimar, Wien 1998, S. 22-32; Immanuel Wallerstein, Der Merkantilismus: Europa zwischen 1600 und 1750, 0.0.1998; Rainer Gommel, Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Kameralismus 1620-1800. Mtinchen 1998; Maximilian Walter, Das Furststift Kempten im Zeitalter des Merkantilismus: Wirtschaftspolitik und Realitatenentwicklung (1648-1802/03), Beitrage zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 68), Stuttgart 1995; Richard H. Tilly (Hrsg.), Geschichte der Wirtschaftspolitik: vom Merkantilismus zur sozialen Marktwirtschaft, Miinchen 1993; Fritz Blaich, Die Epoche des Merkantilismus, Wiesbaden 1973; Hans Hausherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit: vom Ende des 14. bis zur Hohe des 19. Jahrhunderts, 4. Aufl, Koln, Wien 1970, hier uber M. in RuBland S. 271-276; H. Kellenbenz, Der Merkantilismus in Europa und die soziale Mobilitat, Wiesbaden 1965. 75 E. V. Anisimov, Gosudarstvennye preobrazovanija i samoderzavie Petra Velikogo v pervoj cetverti XVIII veka, St. Petersburg 1997, S. 14. 76 Unter dem Sammelbegriff „Wes teuropa" wird hier, wie es in der russischen Historiographie gelaufig ist, West-, Slid-, Mittel- und Nordeuropa verstanden. Regierung erteilte Handelsprivilegien, griindete Manufakturen, baute Kanale und StraBen, wie es auch fur die Entwicklung in Frankreich typisch war, w o im 18. Jahrhundert ein Strafiennetz, das mit den romischen StraBen vergleichbar ist, ausgebaut wurde, u m den Binnenhandel zu fordern und St. Petersburg mit dem 77 Inland zu v e r b i n d e n . Es m a g paradox erscheinen, daB, wahrend die Landesherren in Europa die Zunftrechte zu beschneiden versuchten, Peter I. die Zunfte - eine standische Organisation der H a n d w e r k e r in RuBland - griindete. Ihrem W e s e n nach hatten die Zunfte in RuBland eine andere Natur als in Westeuropa. Sie waren ein Instrument des Zaren, der damit das H a n d w e r k zu entwickeln, sein Fachniveau zu heben und die Produktion zu steigern versuchte, wodurch die Steuereinnahmen des 78 Staates verbessert werden sollten . Die fehlenden Informationen iiber die tatsachliche Lage der St. Petersburger H a n d w e r k e r im 18. Jahrhundert sind ein Hindernis in der Erforschung des Zusammenspiels zwischen Praxis und regulierender Staatsrason, die ihren Ausdruck in der Gesetzgebung fand. Trotzdem ist es dank der Spezifik der Zusammenstellung der Erlasse im 18. Jahrhundert fast immer moglich, nicht nur den rein gesetzgeberischen Willen, sondern auch die von „unten" k o m m e n d e n Impulse fur die Freigabe des jeweiligen Erlasses festzustellen. N o c h vor der Einfuhrung der Zunfte versuchte Peter I. in den Erlassen v o n 1699, 1 7 0 3 , 1 7 0 4 u n d 1708 die gewerbetreibende Bevolkerung zu organisieren, u m die Einnahmen der Staatskasse fur die Modernisierung der A r m e e , der Marine, des Staatsapparates u n d des Bildungswesens zu verbessern, u m die wichtigsten Reformbereiche zu nennen. Als er feststellte, daB diese MaBnahmen wenig effektiv waren, startete er zu Beginn der 20er Jahre, als der 20jahrige Krieg zu Ende war, ein Projekt zur Organisation der Handwerker in Zunften. Der ErlaB v o n 1699, der den ersten Versuch darstellte, die stadtische Bevolkerung von den iibrigen Schichten abzugrenzen und eine gesonderte V e r w a l t u n g in der Gestalt der Rathauser (Burmisterskie izby) einzufuhren, scheiterte an der Passivitat und dem Desinteresse der gewerbetreibenden Schichten der Stadte, der Kaufleute und Handwerker. Eines der Motive dieses Erlasses war, die Kaufleute und andere Gewerbetreibende v o n der Willkiir mehrerer Staatsamter zu befreien, durch deren Burokratismus sie groBe Zeit- und Geldverluste erlitten. D e n Kaufleuten und Gewerbetreibenden 77 78 wurde befohlen, aufgrund ihrer Einnahme- und Vgl. Blaich, Die Epoche des Merkantilismus. Wiesbaden 1973, S. 185f Vgl. Hans Hausherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit: vom Ende des 14. bis zur Hohe des 19. Jahrhunderts, 4. Aufl., Koln-Wien 1970, S. 273. Ausgabebucher jahrliche Kostenvoranschlage und Warenverzeichnisse 79 aufzustellen, u m Willkur der Amter bei der Besteuerung zu v e r m e i d e n . Mit dem ErlaB v o n 1703 trachtete der Gesetzgeber danach, den Arbeitgeber zu schiitzen und es einem unzuverlassigen Gesellen oder Lohnarbeiter schwerer zu machen, eine Stelle zu finden. Ein Arbeitssuchender sollte bei der Einstellung ein Empfehlungsschreiben bzw. ein Gutachten v o m frtiheren Arbeitgeber vorweisen. 80 Selbst die Meister waren dazu v e ф f l i c h t e t . D e r dritte aus dieser Reihe v o n Erlassen von 1704 war ein weiterer Versuch, die Handwerker ohne Zunfte zu organisieren und von ihnen Steuern in vollem Umfang einzutreiben. E s wurde namlich verfugt, daB sich alle Handwerker und Lohnarbeiter in der Semenov-Kanzlei fur die H o n i g s a m m l u n g in M o s k a u und in anderen Stadten bei den Heerfuhrern (yoevody) registrieren lassen sollen. Handwerker, wie z. B . Maurer. Farber, Schuhmacher und Schneider sollten zwei Grivna 81 und die einfachen Arbeiter oder Lohnarbeiter 2 A l t y n 82 im Jahr dafur abgeben, daB sie in den Stadten arbeiteten. N a c h der Entrichtung der Steuer bekamen sie jahrlich eine schriftliche Bestatigung, in der Stadt arbeiten zu 83 durfen . Mit dem letzten ErlaB aus dieser Reihe vom 14. N o v e m b e r 1708, als Peter I. die Lage des H a n d w e r k s mit Sondererlassen zu regeln versuchte, wurde den Glockenspielem, Kutschem, KanonengieBem, Wachtern bzw. Torwartern, Klosterund Metropolithandwerkern und den Bauern befohlen, in die Beisassengemeinde einzutreten, andernfalls wurde ihnen verboten, in den Stadten Gewerbe oder Handel zu treiben, u m den stadtischen Beisassengemeinden keine Schaden 84 zuzufugen und ihre Ertragslage zu verbessern . Das war nicht die erste gesetzliche Regelung, die den oben erwahnten Bevolkerungsgruppen eine Gewerbetatigkeit verbot. Das Strafgesetzbuch von 1550 (Sudebnik), die Standesversammlungsbriefe 79 PSZ RI1, Bd. 3, Nr. 1674 (30.1.1699): Ob ucrezdenii Burmisterskoj palaty (...), S. 598600. 80 PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 1927 (1.3.1703): О pisanii krepostej v knigi (...), S. 214f. 81 Grivna - altrussische Geldeinheit ist am Anfang des 18. Jahrhunderts zehn Kopeken gleichzusetzen. Ein Rubel beinhaltet 100 Kopeken. Von „Grivna" wurde spater „grivennik" abgeleitet, was bis heute eine Bezeichnung der Zehnkopekenmunze bedeutet. 82 Altyn - altrussische Geldeinheit, die im 18. Jahrhundert drei Kopeken gleichzusetzen ist. 83 PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 1972 (1.3.1704): О sbore vnutrennej poSliny s chleba (...), S. 248-252. 84 PSZ RI-1, Bd. 12, Nr. 9201 (19.08.1745): Ukaz Kamer-kollegii - Ob oznadenii tovarov, kakimi mogut krest'jane torgovat' v boPSich selach i derevnjach, S. 441. (Sobornye gramoty) nach 1550 und das Gesetzbuch (Sobornoe ulozenie) von 1649 85 versuchten dies gleichfalls zu r e g e l n . Es darf nicht u b e r s e h e n werden, daB das Hauptziel dieser Erlasse war, die Steuersammlung zu regeln, aber auch das Gewerbe zu organisieren, den Arbeitgeber einerseits vor der Willkur der A m t e r und andererseits vor unzuverlassigen A r b e i t n e h m e m zu schutzen, w a s durch eine ordentliche B u c h h a l t u n g und durch die Einfuhrung der Empfehlungsbriefe gewahrleistet werden sollte. Mit den zwei letzten Erlassen sollte die Steuersammlung fur Handwerker und unqualifizierte Arbeiter, die auBerhalb der Sloboden lebten und v o m Land zugereist waren, geregelt, sowie die stadtischen Handwerker in der Beisassengemeinde vor den freien Handwerkern, die keine Steuer zahlten, geschutzt werden. All diese administrativen u n d fiskalischen Aufgaben, die der Gesetzgeber nach alter Tradition durch eine Vielzahl von Erlassen u n d Regelungen zu losen versuchte, sollten n u n v o n einer neuen Institution gelost werden - die Zunfte waren das Instrument, mit d e m eine wichtige gewerbetreibende Gruppe der Bevolkerung organisiert und institutionalisiert wurde - die Handwerker. 2.2 Die Einfuhrung der Zunfte 1722 Die Einfuhrung der Zunfte durch Peter I. mit mehreren Erlassen in den Jahren 1721 -1722 war eine grundlegend neue Entwicklung fur das H a n d w e r k in RuBland und vor allem in St. Petersburg und M o s k a u . Der Unterschied zu den fruheren Reformen war, daB diese neue - v o m Staat geschaffene - Organisationsform das Ziel hatte, einerseits die Steuereinnahmen zu sichern, andererseits die Qualitat der handwerklichen Erzeugnisse und der Ausbildung zu erhohen und eine besondere gewerbetreibende Schicht in den Stadten zu bilden, woraus eine Erweiterung des Blickfeldes des Gesetzgebers und das Verstandnis einer engeren Abhangigkeit wirtschaftlicher und innenpolitischer Z u s a m m e n h a n g e zu konstatieren ist. Das qualitativ hochstehende H a n d w e r k sollte den N a c h s c h u b an qualifizierten Handwerkern fur staatliche Z w e c k e leisten, aber auch die Entwicklung der staatlichen und privaten Industrie fordern. Peter I. beabsichtigte wenigstens in den Hauptstadten, die Entstehung einer starken industriellen Mittelschicht zu fordern, die die Wirtschaft weiterentwickeln konnte, was bis dahin v o n der Wirklichkeit 86 85 86 Pazitnov, Problema, S. 34. Vgl. K. A. Pazitnov, Organizacija remeslennoj promySlennosti v Moskovskoj Rusi i reforma Petra. In: IZ 8 (1840); ders., Problema remeslennych cechov v zakonodatel'stve russkogo absoljutizma. Moskau 1952; F. Ja- Poljanskij, Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii XVni veka. Moskau 1960, S. 15. weit entfernt und nur als ein langfristig angelegtes innenpolitisches und wirtschaftliches Ziel zu akzeptieren w a r . Die neue Richtung der Gewerbepolitik von Peter I. war ein Ergebnis der Suche nach einer besseren wirtschaftlichen Ordnung, die d e m Gewerbe erlaubte, expandieren zu k o n n e n . Schon seit seinen Reisen in Westeuropa, w o ihm das hohe Niveau des Zunfthandwerks und die Kunstfertigkeit der Meister aufgefallen waren, hatte er den Wunsch, eine solche Fulle hochqualifizierter H a n d w e r k e r eines Tages in RuBland zu sehen. Seine Einsicht, daB das H a n d w e r k modernisiert bzw. reformiert werden musse, war, abgesehen von seinen westeuropaischen Beratern wie Franz Lefort oder Patrik Gordon auch dem Universalgelehrten Jurij Krizanic gelaufig, der zur Zeit von Aleksej Michajlovic in der zweiten Halfte des 17. Jahrhunderts seine Bemerkungen uber das H a n d w e r k machte: „Die Handwerker sind fur einen Staat gewinntriichtiger als die reichsten Gruben und Goldminen". Krizani6 n e t , auslandische Handwerker nach RuBland zu rufen, u m das H a n d w e r k zu fordern, russische Fachkrafte auszubilden, und ahnliche Statuten fur die Handwerker, wie es sie in den westeuropaischen Zunften gab, einzufuhren, u m sie besser organisieren zu k o n n e n . 87 88 89 Ivan T. Pososkov, der 1724 in seinem bekannten Buch „Kniga о skudosti i b o g a t s t v e " (Das B u c h uber die Armut und den Reichtum) den Ursachen und Wirkungen des schwachen H a n d w e r k s in RuBland nachging, w a r ebenfalls ein Befurworter der Reformen. Pososkov wies auf die Probleme der unzulanglichen Ausbildung der Lehrlinge hin, die jederzeit ihre Meister verlassen konnten, ohne das H a n d w e r k ordentlich erlemt zu haben; sie gingen ihm dann nicht fachmannisch nach und trieben die Preise durch ihre schlechte Arbeit nach unten, wodurch sie und ihre Kollegen Verluste erlitten. D e s weiteren fehlte im russischen H a n d w e r k 87 PSZ RI-1, Bd. 6 (1720-1722), Nr. 3708 (16.01.1721): Reglament ili ustav Glavnogo Magistrata (Reglement des Hauptmagistrats), S. 291-309; Nr. 3980 (27.04.1722): „О cechach" (Uber die Zunfte), S. 664f; Nr. 4054, S. 746, St. Petersburg 1830. 88 Allgemein zu den Reformen: E. V. Anisimov, The reforms of Peter the Great: progress through coercion in Russia. Armonk, New York 1993; E. Donnert, Peter der GroBe. Wien, Koln, Graz 1988; Peter Hoffmann, RuBland im Zeitalter des Absolutismus. Vaduz 1988; K. Kersten, Peter der GroBe. Vom Wesen und von den Ursachen historischer GroBe. Amsterdam 1935; R. Wittram, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des GroBen in seiner Zeit. Bd. 1-2. G6ttingen 1964. Allgemein zum Thema des Absolutismus in Europa: Giinter Barudio (Hrsg.), Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklarung 1648-1779, Augsburg 1998; Heinz Durchardt, Das Zeitalter des Absolutismus, Munchen 1998; Fritz Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklarung, Stuttgart 1996; Doreen Sommer, Das RuBland Peters des GroBen und der europaische Absolutismus, Marburg 1995; E. Hinrichs (Hrsg.), Absolutismus, Fi./M. 1986; J. Kunisch, Absolutismus. Europaische Geschichte vom Westfalischen Frieden bis zur Krise des Ancien Regime, Gottingen 1986; K. O. Freiherr v. Aretin, Der Aufgekliirte Absolutismus, Koln 1974. 89 Ju. KrizaniS, Russkoe gosudarstvo v polovine XVII veka. St. Petersburg 1859, S. 30ff., zitiert nach Pazitnov, Problema, S. 9. j e d e Regelung, die technische N e u e r u n g e n vor dem Plagiat anderer Meister schutzte u n d die W a r e n v o n niedriger Qualitat v o m Markt fernhalten half. Zur Qualitatssicherung wurde v o n PosoSkov vorgeschlagen, Meister- bzw. Warenzeichen einzufuhren, die friiher nur fur Gold- und Silberschmiede vorgesehen w a r e n . Die MiBstande, die die Entwicklung des H a n d w e r k s hemmten, sollten beseitigt werden. Die erste E r w a h n u n g der Zunfte ist im ErlaB v o m 16. D e z e m b e r 1720 iiber die Verfassung der Magistrate {Ob udinenii formy dlja upravlenija magistratskogd) zu f m d e n . Einen M o n a t spater wurde dann auch die Instruktion fur den Hauptmagistrat verfaBt . Als erstes sollten alle H a n d w e r k e r in ihre Sloboden zuriickkehren u n d Steuern entrichten. Die Aufgabe des Hauptmagistrats bestand vor allem darin, „die Kaufmannschaft und die Manufakturen" zu fordern. Unter „Manufakturisten" verstand der Gesetzgeber Handwerker wie Schmiede, Schneider, Schuhmacher, Zimmerleute, Silberschmiede. Die gewerbetreibende Stadtbevolkerung w u r d e in zwei Gilden eingeteilt, wobei in beiden die Zunfthandwerker prasent waren, w a s eine Bestrebung des Gesetzgebers, die Beisassengemeinde nach dem Berufsprinzip zu gliedern, deutlich m a c h t . D a s ist dadurch zu erklaren, daB die Handwerker nicht nach Hirer Zugehorigkeit zur Zunft, sondern auf Grund ihrer jeweiligen Steuerkraft zu der einen oder anderen Gilde gezahlt wurden. Eine Analogie ist unter anderem in Bayern zu finden, w o 1770 vier Biirgerklassen existierten, wobei in der ersten Klasse unter anderem Bierbrauer und Tuchmacher, in der zweiten Buchbinder, Konditoren, Uhrmacher und andere, in der dritten Backer, Hutmacher, Schneider, Schuhmacher und andere ihrer Steuerkraft entsprechend vertreten w a r e n . 90 91 92 93 94 In RuBland zahlten zur ersten Gilde auBer den GroBhandlem u n d Bankiers die wohlhabendsten Gold- und Silberschmiede; zur zweiten Gilde alle anderen Handwerker wie Schmiede, Schneider, Schuhmacher, Zimmerer, Schreiner, Schnitzer, Dreher und andere. Jede Handwerksart sollte eine entsprechende Zunft haben, in der die jeweiligen Handwerker eingeschrieben sein sollten. Mit diesem D o k u m e n t wurde das F u n d a m e n t der Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r gelegt, die sich erst in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts ganz 90 I. PosoSkov, Kniga о skudosti i bogatstve. Moskau 1937, S. 216f., Vgl. Pazitnov, Problema, S. 10. 91 PSZ RI1, Bd. 6, Nr. 3690 (16.12.1720): Ob udinenii formy dlja upravlenija magistratskogo (Uber die Verfassung der Magistrate), S. 273. 92 Reglament ili ustav Glavnogo Magistrate in: PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 3708 (16.01.1721), S. 291-309. 93 94 Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 47. Uwe Puschner, Handwerk zwischen Tradition und Wandel. Das Munchener Handwerk an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, G6ttingen 1988, S. 76. entfalten sollte. Die Handwerker einer Zunft sollten Versammlungen abhalten, u m die Altesten der Zunfte aus ihren eigenen Reihen zu wahlen. Falls der Alteste sich als gewissenhaft und redlich in der Ausfuhrung seiner Aufgaben envies, bestand die Moglichkeit, sogar in den Staatsdienst als Stadtrat oder auch z u m Burgermeister der Stadt aufzusteigen . Der Versuch, alle H a n d w e r k e r statistisch zu erfassen und sie zu registrieren, fand im ErlaB dadurch seinen Ausdruck, daB alle H a n d w e r k e r der Stadt ohne A u s n a h m e bis zum letzten Schuhmacher und Schneider („do poslednego sapoznika iportnogo") aufgezahlt sein sollten . Die komplizierte soziale Zusammensetzung der Bevolkerung der Stadt verlangte nach einer umfassenden Beschreibung der Handwerker aller Schichten der gewerbetreibenden Bevolkerung. A m 27. April, 16. und 3 1 . Juli 1722 kamen drei weitere Erlasse heraus, die fast ohne A u s n a h m e fur alle Stadthandwerker eine obligatorische Zunftzugehorigkeit verordneten. 95 96 91 Laut dem ErlaB „ О cechach" (iiber die Zunfte) vom 27. April durften w e d e r russische noch auslandische Handwerker, noch andere Burger der Stadt, die einem H a n d w e r k nachgingen, zunftfrei arbeiten. Dartiber hinaus sollten die bauerlichen und aus anderen Stadten zugereisten Handwerker, die in der Stadt lebten, sich bei der Zunft melden und dort eine Prufung ablegen. Andernfalls wurden sie nicht in die Zunft aufgenommen und mit dem weiteren Verbot der Austibung eines H a n d w e r k s belegt. Des weiteren schrieb der Gesetztgeber eine siebenjahrige Lehrzeit fur Lehrlinge vor. Der Meister durfte die Zahl der Gesellen und Lehrlinge in seinem Betrieb ohne Beschrankungen festlegen. Es muB noch eine wesentliche Besonderheit der russischen Zunfte erwahnt werden. Die Korperschaft der Zunftmeister bestand aus zwei Teilen. Z u m einen Teil gehorten die standigen Zunfthandwerker, die freie Burger der Stadt waren und die stadtischen Amter des Stadtrates oder gar das A m t des Btirgermeisters und des Zunftaltesten bekleiden konnten. Der andere Teil, die zeitweiligen Handwerker, wurden nur befristet in die Zunft aufgenommen und waren ihrem Stand nach meistens Bauern. Im 19. Jahrhundert blieb diese G r u p p e der Zunfthandwerker immer noch sehr mobil, weil ihre Grenzen flieBend waren, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied zum 18. Jahrhundert, als sich in den russischen Zunften unter den zeitweiligen Meistern eine selbstbewuBte und bestandige Mitte herausbildete, v o n denen eine tiberwiegende Mehrheit mit ihren Familien in St. Petersburg seBhaft geworden war. Laut ErlaB sollten die Handwerker mehr auf die Qualitat ihrer Waren achten. Es durften v o n ihnen in der Stadt nur die Waren verkauft werden, die das Warenzeichen des Meisters und des Zunftaltesten hatten. Ein VerstoB gegen diese Regel wurde streng bestraft und w e n n j e m a n d zum dritten Mai uberfuhrt wurde, 95 Reglament, S. 306f. 96 Ebd., S. 293. 97 PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 3980 (27.04.1722): О cechach, S. 664f. wurde ihm die Handwerksaustibung verboten. Falls der Zunftalteste selbst eine v o n der Qualitat her schlechte Ware mit einem Gutesiegel versah und z u m Verkauf zulieB, w u r d e er bestraft und, falls er z u m dritten M a i uberfuhrt w u r d e , zu einer Galeerenstrafe verurteilt. D e s w e g e n ist die B e h a u p t u n g von Pazitnov uber das Fehlen v o n Strafsanktionen im Fall eines VerstoBes gegen den ErlaB unbegrtindet. U m den Warenabsatz der Zunftmeister zu sichern, wurde ein Verkaufsmonopol eingefuhrt. N i e m a n d durfte seine Ware ohne Zeichen verkaufen oder eine Ware ohne dasselbe kaufen. Die Frage, ob mit dem ErlaB v o m 2 7 . April ein Zunftmonopol in dem Sinn eingefuhrt worden war, daB sich alle Handwerker der Stadt ohne A u s n a h m e in die Zunfte einschreiben sollten, laBt sich zustimmend beantworten. Der zweite Hauptsatz im ErlaB „nicht gegen den Willen z w i n g e n " („a v nevolju ne prinuzdat'"), der am meisten fur Meinungsunterschiede sorgte und v o n den Verfechtern einer „Gewerbefreiheit" als entscheidender Beweis angefuhrt wurde, bezieht sich auf den Nebensatz „welche sich standig oder zeitweilig einschreiben wollen" („ kotorye pochotjat vecno Hi vremenno " ) , w o n a c h auch leibeigene Bauer in die Zunfte eintreten konnten. Genau diese Interpretation gibt unmiBverstandlich der ErlaB v o m 6. Februar 1796 w i e d e r . D e s w e g e n ist es hochst unwahrscheinlich, daB in der Stadt j e m a n d zunftfrei arbeiten durfte, w e n n selbst leibeigene Bauern, wollten sie als H a n d w e r k e r in der Stadt arbeiten, zum Zunfteintritt verpflichtet wurden. H a n d w e r k e r sollten sich also als zeitweilige oder standige Handwerker in die Zunfte einschreiben, wobei ihnen iiberlassen wurde, sich entweder als zeitweilige oder als standige Handwerker einzuschreiben. D e s weiteren gibt es im ErlaB indirekte Hinweise auf das Zunftmonopol. D e r letzte Satz des Erlasses beseitigt schlieBlich alle MiBverstandnisse, indem er fordert, daB aus alien in der Stadt existierenden Handwerkern Zunfte zu organisieren s e i e n " . Im ErlaB v o m 16. Juli wurde nochmals bestatigt, daB die ganze handwerkstatige Bevolkerung der Stadt in Zunfte gehore: Kaufleute, Raznoeincy, Hofgesinde, Synodal-, Episkopal- und Klosterbauern, Bauern der Gutsbesitzer und H a n d w e r k e r aus den Sloboden und dem Posad. A u c h die leibeigenen Bauern, die mit ihren Passen fur einige M o n a t e in die Stadt kamen, sollten als zeitweilige Handwerker in die Zunfte eintreten. Eine A u s n a h m e gab es fur die Handwerker in den Hausern des Adels oder in den Klostern der Stadt. Lediglich unter einer B e d i n g u n g wurde den letzteren ihre Tatigkeit erlaubt: Sie durften die Waren nicht fur den Verkauf, sondern nur fur den Eigenbedarf des Herrenhauses oder Klosters anfertigen. Dieser ErlaB schuf endgultig die juristische Grundlage fur ein Vorgehen, das seit Jahrhunderten v o n weltlichen und geistlichen Wurdentragern in RuBland praktiziert wurde. Sie stellten ihre Grundstucke, die sich inner- oder auBerhalb der 98 98 PSZ RI 1, Nr. 17438; Ob ustrojstve remeslennogo soslovija i remeslennoj promySlennosti, in: 2MVD, otd. 2, 6. 2, kn. 4, S. 63-108, hier S. 83. 99 PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 3980 (27.04.1722): О cechach, S. 664f. Stadte befanden, Sloboden zur Verfugung, in denen die H a n d w e r k e r abgabenfrei arbeiteten . Der ErlaB endete, wie alle Erlasse Peters I. iiber die Zunfte, mit den Worten, daB die Organisation der Zunfte im Hauptmagistrat in aller Eile vorangetrieben werden s o l l t e . Fur die umfassende Bedeutung der Zunftzugehorigkeit sprach auch der ErlaB, der zwei W o c h e n spater, am 3 1 . Juli, herauskam, in d e m auch die pensionierten Dragoner, Soldaten und Matrosen, die einem H a n d w e r k nachgehen wollten, entsprechend ihrem H a n d w e r k in Zunfte eintreten s o l l t e n . D a s letzte Gesetz aus dieser Reihe, welches zur Zeit Peters I. herauskam, war der ErlaB iiber die auslandischen Meister in St. Petersburg, v o n denen viele in der Hauptstadt lebten, ohne zu einer Zunft zu gehoren und ohne Kopfsteuer zu zahlen. Interessant ist, daB diese Handwerker den W u n s c h auBerten, in die Zunfte einzutreten, ohne dazu g e z w u n g e n worden zu s e i n . O b alle Betroffenen diesem SenatserlaB folgten und o b dieser Wunsch aus vollem Herzen kam, bleibt offen. Tatsache ist, daB es zur Zeit Katharinas II. viele waren, die zunftfrei in der Hauptstadt arbeiteten; dafur waren j e d o c h andere Ursachen und vor allem der ErlaB von 1762 verantwortlich, der eine Masseneinwanderung vor allem aus den deutschsprachigen Landern ausloste. Die Vielzahl der oben genannten Erlasse beziiglich der Regelung des Zunfthandwerks, die Ungeduld und der Zorn, den der Zar zum Ausdruck brachte, wenn die Ausfuhrung zu lange dauerte, legen Zeugnis davon ab, v o n welch groBer Bedeutung dieses Projekt fur Peter I. war. Der weitere Verlauf der Geschichte der Zunfte von St. Petersburg sollte aber einige Korrekturen an den petrinischen Reformen vornehmen. So entwickelte sich im Zarenreich das stadtische Zunftwesen parallel z u m bauerlichen H a n d w e r k auf dem Lande und in der Stadt. E s laBt sich am Beispiel St. Petersburgs erkennen, daB bauerliche und aus anderen Stadten zugewanderte Handwerker die Moglichkeit erhielten, in der Stadt im Handwerkerstand, also im Zunfthandwerk, eine zeitweilige Zugehorigkeit als Handwerksmeister zu erhalten. D a s heiBt, daB sie Werkstatten, Gesellen und Lehrlinge unterhalten konnten, aber 100 101 102 103 104 100 Vgl. Pazitnov, Problema, S. 34. 101 PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 4054 (16.07.1722): О zapisi v cechi, S. 746. 102 PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 4066 (31.7.1722): О zapisi dragun, otstavnych soldat i matrosov v cechi, S. 754. 103 PSZ RI 1, Nr. 4395 (20.12.1723): О pisanii v cechi masterovych ljudej, priSlych iz-za rubeza i о s£islenii onych dljy plateza podusnych deneg s drugimi posadskimi (Uber die Einschreibung der Handwerker in die Zunfte und iiber ihre Zahlung fur die Besteuerung gleich wie die anderen Stadtbewohner), S. 188f. 104 Zur Geschichte des Regierenden Senats: Istorija pravitePstvujuScego senata za dvesti let 1711-1911. St. Petersburg 1911. ihre vorherige Standeszugehorigkeit behielten (Bauern blieben also dem Stande nach Bauern). Die Zunfte sollten nach dem Vorbild v o n Riga und Reval, sprich nach d e m deutschen Muster, organisiert werden. Formal gesehen waren sie im groBen und ganzen den Statuten und auBeren Formen der deutschen Zunfte ahnlich. A u c h Lehnworter wie „Zunft" und „ A l ' d e r m a n " weisen darauf hin. D e n n o c h gab es wesentliche inhaltliche Unterschiede. Hier sollen die Besonderheiten der russischen Zunfte hervorgehoben werden: Die Zahl der Meister, Gesellen und Lehrlinge, der Werkstatten und die M e n g e der produzierten Waren wurde nicht eingeschrankt, wie es z. B . fur die Zunfte in Deutschland typisch war. Es gab noch eine andere Kraft, die d e m ordentlichen bzw. Zunfthandwerk Konkurrenz machte - die Kaufleute und die Meister, die Fabriken und W e r k e grtindeten, die meistens nichts anderes als Handwerksstatten waren. Diese Art v o n Unternehmern unterlag aber der Verwaltung des M a n u f a k t u r k o l l e g i u m s . N a c h seinem Reglement durfte j e d e r Fabriken griinden, der uber genug Kapital verfugte. Die G e n e h m i g u n g des Manufakturkollegiums w u r d e auch dann erteilt, w e n n j e m a n d sich weigerte, sich in die Zunft einzuschreiben. In d e m Fall lieB er seine Werkstatt beim Manufakturkollegium als Fabrik registrieren, die dann der Zunftverwaltung nicht mehr unterstand. A u s diesen Griinden w a r es auch unmoglich, das Zunftmonopol durchzusetzen. Dafiir gab es zu viele A u s n a h m e n , die wiederum die Existenz von bauerlichen Handwerkern, die auf den W o c h e n m a r k t e n ihre Waren anboten, von Handwerkern in den Herrenhausern und den Klostern und „den Manufakturisten", die d e m Manufakturkollegium unterstanden, ermoglichten. 105 2.3 Die G e w e r b e g e s e t z g e b u n g nach Peter I. bis 1762 In der Zeit nach Peter I. gab es Erlasse und Verordnungen, die die Petrinischen bestatigten oder einen Sonderfall z u m V o r w a n d hatten. So verlangte der Senat am 19. Mai 1731 v o n der M o s k a u e r „Ratusa" einen Bericht uber die Einrichtung der Zunfte und die Anzahl der Zunfthandwerker. Aufgrund dessen stellte sich heraus, daB es in M o s k a u 153 Zunfte mit 6885 Beschaftigten g a b . A m 6. Februar 1737 wurde auch den Kirchendienern erlaubt, in die Zunfte e i n z u t r e t e n . A m 3. August 1744 erschien der ErlaB bezuglich der nichtrussischen Untertanen, die nur bei 106 107 105 PSZ RI 1, Bd. 7, Nr. 4378 (3.12.1723): Reglament Manufaktur-Kollegii (Reglement des Manufakturkollegiums), S. 167-174, hier S. 169ff. 106 107 Pazitnov, Problema, S. 47f. PSZ RI 1, Bd. 12 Nr. 9113 (28.2.1745) Senatskij: О nevykljudke iz podusnogo oklada cerkovnikov, zapisannych na osnovanii ukaza 14.2.1737, v cechi i v kupeiestvo, po ich sobstvennomu zelaniju, S. 329ff. einem Wechsel zum russisch-orthodoxen Glauben den russischen Zunften beitreten d u r f t e n . Hier ist der klare Wille des Gesetzgebers zu erkennen, die Zunfte fur eigene Z w e c k e in einer assimilierenden Konfessionspolitik zu instrumentalisieren und sie nicht selbst durch den Zulauf zusatzlicher H a n d w e r k e r zu entwickeln. A m 26. M a r z 1745 w u r d e der Wiederaufbau der Zunfte nach dem Muster des Erlasses von 1722 v e r o r d n e t . Dieser ErlaB war aber seiner Art nach nur eine Bestatigung und hatte keinen verpflichtenden Charakter, weil er keine konkreten MaBnahmen vorsah. Im groBen und ganzen laBt sich sagen, daB die Regierungspolitik auch im weiteren Verlauf bis z u m Anfang der 1760er Jahren dem gleichen Muster folgte und nur bestimmte Vorfalle zum V o r w a n d nahm, um die eigentliche E n t w i c k l u n g des H a n d w e r k s zu fordern. D a s Interesse der Regierung an den Handwerkern war d e s w e g e n so groB, weil sie im Interesse des Fiskus und weil die Handwerker Auftrage fur A r m e e und Marine ausfuhren sollten. Die Sonderkonferenz beztiglich des andauernden Siebenjahrigen Krieges am 2. Dezember 1760 stellte dann auch fest, daB das Vorhandensein eines entwickelten Handwerks besonders wichtig sei und daB letzteres unterentwickelt bliebe, solange die Zunfte „im jetzigen Verfall verharren" w u r d e n . Diese staatlichen Aktivitaten wurden durch konkrete Vorfalle oder Bedurfhisse der Regierung, sei es die Uniformherstellung wahrend des Siebenjahrigen Krieges, der Wiederaufbau der Eremitage oder der Eintritt der M o h a m m e d a n e r und der Kirchendiener in die Zunfte, und nicht durch einen gezielten Aufbau des Zunftsysterns hervorgerufen . Die Erlasse weisen darauf hin, daB die Zunfte nicht ausreichend entwickelt waren bzw. nicht alle Meister umfaBten, die das H a n d w e r k im vollen Umfang mit Gesellen und Lehrlingen betrieben. 1760 auBerte der Senat seine Besorgnis uber eine zu groBe Zahl v o n Schneidern, die „fur den L u x u s " arbeiteten und dadurch „den Staat schadigten. Als es aber notig war, gentigend Meister zu fmden, um die Uniform fur die Armee herzustellen", war keiner zu f i n d e n . Im Z u s a m m e n h a n g mit dem andauernden Siebenjahrigen Krieg sollten Lieferungen von Armeeuniformen erfolgen, die w e g e n der mangelnden Anzahl von Schneidern in der Zunft nicht ausgefuhrt werden konnten. Die Sorge des Gesetzgebers gait also ausschlieBlich einer effizienten Steuersammlung und einer reibungslosen Verteilung der lastigen Staatsauftrage, wodurch der eigentliche Inhalt der 108 109 110 111 112 108 PSZ RI 1, Bd. 12 Nr. 9012 (3.8.1744) Senatskij: Vsledstvie donoSenija generala Fermora О zapisanii v reviziju vyvedennych v Rossiju inovercev, S. 192f. 109 Poljanskij, Gorodskoe remeslo, S. 108. 1,0 PSZ RI 1, Bd. 15, Nr. 11158 (7.12.1760): Protokol Osoboj konferencii, S. 574ff. 111 Ebd.; PSZ RI 1, Nr. 9012 (3.8.1744); Der ErlaB vom 6. Februar 1737: Uber das freiwillige Einschreiben der Kirchendiener in die Zunfte und Gilden. Vgl. Pazitnov, Problema, S. 60f. 1,2 PSZRI l,Nr. 11158. Reformen Peters I., neben einer geregelten Steuersammlung die Entwicklung des H a n d w e r k s zu fordern, untergraben wurde. Die B e m u h u n g e n des Senats gipfelten schlieBlich in einem ErlaB, die Register der H a n d w e r k e r in der Hauptstadt zusammenzustellen. D a s war fur die damalige Zeit eine typische H a n d h a b e fur die L o s u n g eines Problems. E s wurde nicht nach d e m wirtschaftlich schlechten Zustand der Zunfte gefragt, sondern ein regulativer Versuch unternommen, ihre Lage mit Zirkularen und formalen Zahlungen zu verbessern. Im Jahr darauf b e k a m der St. Petersburger Stadtmagistrat den M a n g e l an Tischlern zu spiiren. Er berichtete im Z u s a m m e n h a n g mit d e m B a u des Winterpalastes am 9. Juli 1761: „[...] von den hauptstadtischen russischen Tischlern, die seit der letzten Volkszahlung in die Ztinfte eingeschrieben wurden, hat sich, seitdem sie nach Carskoe Selo abkommandiert und in die anderen Arbeitsbrigaden fur staatliche Aufgaben aufgenommen worden waren, keiner im Gildenhaus gemeldet. Es ist keiner in diese Zunft eingetragen worden und keiner zu finden. A u c h o b in der deutschen Zunft der Tischler Meister vorhanden sind, davon ist dem Gildenhaus nichts bekannt, da die letzteren w e g e n ihrer Sturheit keine Steuer zahlen und deswegen auch im Gildenhaus nicht vertreten s i n d " . 113 Dieser Textabschnitt liefert uns vielfaltige Informationen iiber die Lage des Zunfthandwerks in der Hauptstadt. Erstens besagen die Worte: „[...] seit der letzten Zahlung in die Zunfte eingeschrieben wurden", daB die Handwerker nur wahrend der periodischen Zahlungen der mannlichen „ S e e l e n " in den Statistiken erfaBt wurden. In der Zwischenzeit kiimmerte sich keiner u m sie. Die meisten Handwerker nutzten diesen Umstand aus und traten nur pro forma in die Zunfte ein. N a c h B e e n d i g u n g der Z a h l u n g gingen sie wieder ihren Geschaften nach und erschienen nicht einmal bei der Zunftverwaltung, u m die Steuer zu zahlen. Folglich waren 1761 die Zahlen der Zunfthandwerker seit der letzten V o l k s z a h l u n g im Jahre 1744 nicht m e h r aktualisiert worden. Zweitens iiberstiegen die Bediirfhisse des Staates die Moglichkeiten der Zunfte u m ein Vielfaches. Sie wurden in m a n c h e n Zeiten zu Lieferanten von Fachkraften degradiert. Drittens konnten die Tischler der deutschen Zunfte aufgrund „ihrer Sturheit" der Steuerzahlung entgehen. Dariiber hinaus erfahren wir, daB die deutschen Zunfte ihre Unabhangigkeit uneingeschrankt gegeniiber der russischen Handwerksverwaltung bewahrten. Die Berichterstattung des Stadtmagistrats veranlaBte den Senat, a m 10. A u g u s t 1761 an das Hauptkontor des Polizeimeisters v o n St. Petersburg den Befehl zu 113 PSZ RI 1, Bd. 15, Nr. 11308 (10.8.1761): Ukaz Senata glavnoj kontore policmejstera nemedlenno perepisat' po imenam vsech nachodjaS&chsja v Peterburge как russkich, tak i inozemcev stoljarnych i prodich masterov (...), S. 767f. erteilen, alle Handwerker, ohne Ausnahmen, zu registrieren und die Verzeichnisse ohne Zeitverlust d e m Senat vorzulegen, um die ordentlichen Zunfte nach d e m Sinn des Erlasses von 1722 einrichten zu k o n n e n . Ungeachtet steuerrechtlicher Fragen und eigener Bediirfhisse, denen die Regierung ihre Aufmerksamkeit hauptsachlich widmete, w e n n v o m H a n d w e r k die Rede war, konnte langsam die Idee einer ziinftigen Organisation des H a n d w e r k s in RuBland an den russischen Verhaltnissen orientiert - eigene positive Inhalte ausbilden. So waren in RuBland 1764 unter den 171.363 Mitgliedern der Beisassengemeinde kaufmannisches Standes 24.507 Personen, die ihren Lebensunterhalt mit einem H a n d w e r k verdienten, wobei 12.679 Personen oder 7,4% v o n ihnen Mitglieder der Zunfte w a r e n . Dies besagt, daB die Zunftmitgliedschaft v o n vielen Kaufleuten, die ihren Lebensunterhalt in A u s u b u n g eines H a n d w e r k s verdienten, als eine durchaus akzeptable Losung ihrer problematischen Situation als nicht erfolgreiche Kaufleute angesehen wurde. Es soil an dieser Stelle eine Frage angesprochen werden, die, j e nachdem, wie sie beantwortet wird, unterschiedliche Akzente in der allgemeinen Sicht auf die Entwicklung der Beisassengemeinde und dementsprechend die Rolle der Zunfthandwerker als einen Teil davon setzt: W a r u m konnte sich das Zunfthandwerk im RuBland des 18. Jahrhunderts nicht vollstandig entfalten und w a r u m konnte oder wollte die Regierung keine straffe Zunftorganisation einfuhren? Die Regierung forderte zum einen die „GroBindustrie mittels Bau einer Vielzahl von uberwiegend staatlichen Rustungs- und Schwerindustriebetrieben am Ural und in ZentralruBland. Diese Betriebe produzierten fast ohne A u s n a h m e nur Verluste. Sie muBte aber auch die kleineren Privatunternehmen unterstutzen, wenn sie auf langere Zeit eine erfolgreiche industrielle Politik betreiben und ein festes industrielles F u n d a m e n t aufbauen wollte. Ein Reglement fur das ManufakturKollegium, das die Entstehung von Industriebetrieben fordern sollte, wurde nach den Erlassen iiber die Zunfte am 3. Dezember 1723 freigegeben. W a s waren aber die privaten „Manufakturen und Fabriken", w e n n nicht die Werkstatten, die sich von denen der Zunftmeister oft kaum unterschieden? Die auslandischen „Industriellen", die dem Manuiaktur-Kollegium unterstanden, bekamen besondere Vergiinstigungen, indem sie fur einige Jahre von der Mehrwertsteuer befreit 114 115 ul 1 6 1,4 PSZ RI l,Bd. 15, Nr. 11308(10.8.1761): Uber die Zahlung aller russischer und auslandischer Handwerker und aller freien oder leibeigenen mit den Passen, S. 767f. 115 Po opredeleniju komissii о kommercii, RGADAf. 397 d. 441 1. 74ff., zitiert nach Hildermeier, Burgertum, S. 49. 116 Die Begriffe „Grofi-„ und „&einindustrie" sind als relativ zu verstehen. Sie sind aber notig, um formell die Grenzen zwischen dem Zunfthandwerk und den groBeren Manufakturbetrieben oder Werkstatten der Kaufleute, die oft den Werkstatten der ziinftigen Meister ahnlich waren, zu Ziehen. wurden, Arbeitsmaterialien und Rohstoffe aus dem Ausland nicht verzollen muBten, eine W o h n u n g zur Verftigung gestellt b e k a m e n u n d iiberhaupt v o n alien Steuern, Diensten sowie der Einquartierung v o n Soldaten verschont b l i e b e n . Andererseits sollte das Handwerk, also die „Kleinindustrie", entwickelt werden, die gleichzeitig der Nahrboden fur die „GroBindustrie" war. Die Entwicklung des H a n d w e r k s aber hing mit der Entwicklung der Zunfte eng z u s a m m e n . Die Zunfte sollten Privilegien bzw. das Zunftmonopol erhalten, u m ihre wirtschaftliche Kraft entfalten zu k o n n e n , w a s nicht der Fall war. D a s Zunftmonopol gait als zu begrenzt. Daraus resultiert dann eine weitere Frage: W o r a u s sollte sich die Schicht der Privatunternehmer, sprich: Handwerker und Kaufleute, rekrutieren, w e n n in RuBland nur eine kleine Anzahl von Stadten ein entwickeltes H a n d w e r k vorweisen konnten? Dieses Problem der Herausbildung der starken mittleren industriellen Schichten wurde mit dem Problem der Herausbildung des „dritten" bzw. „mittleren Standes" in den Stadten g e k o p p e l t . Die Stadtbevolkerung machte nur einen Bruchteil der Gesamtbevolkerung aus. U m die Mitte des 18. Jahrhunderts betrug die Beisassengemeinde etwa 250.000 Seelen oder 3,1 % von 8 Mill, der Gesamtzahl der steuerpflichtigen B e v o l k e r u n g . U n d gerade hier war der Schwachpunkt - es fehlte an Geld u n d an Menschen. Es w a r die bauerliche Bevolkerung, das Land, w o Arbeitskrafte im UberfluB vorhanden waren, es w a r aber auch die Leibeigenschaft, die zur Zeit Katharinas II. die schlimmsten Formen annahm und die menschlichen Ressourcen fesselte und sie nicht entfalten lieB. D a s anderte aber w e n i g an den Optionen der Regierung, die auf welche Weise auch immer versuchen wollte, den M a k e l der unterentwickelten Stadte zu beseitigen. U m aus dem groBen menschlichen Reservoir schopfen zu konnen, hatte die Regierung die feste 117 118 119 120 117 PSZ RI 1, Bd. 7, Nr. 4378 (3.12.1723): Reglament Manufaktur-kollegii, hier Abschnitte 68, 10, 23,25, S. 169-173. 118 Um mogliche MiBverstandnisse auszuschlieBen, ist hier und im weiteren Verlauf dieser Darstellung der Wirtschaftsraum in den Stadtgrenzen von St. Petersburg gemeint. Falls andere Regionen Rufilands behandelt werden sollen, wird dies extra erlautert. 1,9 Dazu: Hildermeier, Burgertum, S. 59f., 8Iff.; S. M. Troickij, Dvorajnskie proekty sozdanija „tret'ego ста", in: ObScestvo i gosudarstvo feiodaPnoj Rossii. Sbomik statej, posvjaScennyj 70-letiju akademika Cerepnina. Moskau 1976, S. 226-236; D. M. Griffiths, Eighteenth-Century Perceptions ob Backwardness: Projects for the Creation af a Third Estate in Catherinian Russia, in: CASS 13 (1969), S. 458; D. Geyer, „Gesellschaft" als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behordenstaates im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionaren RuBland. K6ln 1975, S. 20-52; ders., Staatsaufbau und Sozialverfassung. Probleme des russischen Absolutismus am Ende des 18. Jahrhunderts, in: CMRS 7 (1966), S. 366-377; M. Raeff, The Well-Ordered Police State. Social and Insitutional Change through Law in the Germanies and Russia, 1600-1800. New Haven, London 1983, S. 181ff. B i n d u n g des Bauern zur Dorfgemeinde oder des Mitglieds der Beisassengemeinde an eine Bevolkerungsgruppe aufweichen mussen, u m ersteren die A u s w a n d e r u n g in die Stadt und letzteren die Arbeit im Zunfthandwerk zu erleichtern . Folglich konnte die Regierung nicht einfach formal so strenge Standesgrenzen Ziehen, wie es sie z. B . in franzosischen Generalstanden oder Reichstagen v o n Ungarn, Polen oder Schweden gab, um oben genanntes Unterfangen zu verwirklichen. Freilich gab es in RuBland auBer d e m Adel, der sich gerade im 18. Jahrhundert als Stand etablieren konnte, keine so entwickelten Stande, die den EinfluB auf die Staatspolitik n e h m e n konnten, wie sie es in den Staaten Mittel-, West- und N o r d e u r o p a s gab. Sie bekamen erst durch die Gouvernements- (1775) und Stadtreform (1785) Katharinas II. ihre Konturen. A u s diesen zwei Grtinden, dem Fehlen der entwickelten Stande und dem Vorhaben, die Beisassengemeinde zu konsolidieren, u m aus ihr einen gewerblichen Mittelstand zu e n t w i c k e l n , konnte kein uneingeschranktes Zunftmonopol eingefuhrt werden, das fur das H a n d w e r k in der ersten Periode ganz forderlich gewesen w a r e . W e n n die Regierung obengenanntes M o n o p o l (Marktbann, Beschrankung der Zahl von Meistern, Gesellen, Lehrlinge und Werkstatten) eingefuhrt hatte, ware den Bauern die Moglichkeit versagt geblieben, in den Stadten Arbeit zu finden. Dies hatte dann zur Folge gehabt, daB die ohnehin geringe Entwicklungsrate der Bevolkerung in den Stadten weiter gemindert w o r d e n w a r e und sich die Entwicklung der stadtischen Gemeinden verzogert hatte. Die Unrentabilitat der Zwangsarbeit w a r schon Peter I. bewuBt, als u m 1720 mehr und mehr zum Vertragssystem ubergegangen und die Anzahl der zwangsweise z u m B a u der neuen Hauptstadt verpflichteten Bauern reduziert wurde. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die meisten staatlichen Manufakturen in private H a n d e ubertragen, wobei die Privatunternehmer oft dazu gezwungen wurden, diese Betriebe zu ubernehmen. Diese Standes- und Gewerbepolitik war demnach einem Zusammenspiel zwischen d e m Entwicklungsgrad der russischen Gesellschaft und dem P h a n o m e n des russischen Zunftwesens zu verdanken, dessen Entstehung in RuBland in die Zeit fiel, in der sich die Zunfte in Westeuropa in der Spatphase ihrer Entwicklung befanden und fruher oder spater mit der Frage ihrer Auflosung konfrontiert waren. In St. Petersburg gab es im 18. Jahrhundert Uberlappungen, die es ermoglichten, verschiedene historischen P h a n o m e n e auf dem engen R a u m der Hauptstadt zu beobachten. Deshalb konnte man St. Petersburg nicht nur als das „Laboratorium 121 122 123 121 S. zum Problemkreis Standeswechsel, Standetrennung und Standesflucht: Hildermeier, Burgertum, S. 91-124. 123 Ebd., S. 45. 124 der M o d e r n e " , sondern auch als das „russische Laboratorium des 18. Jahrhunderts" bezeichnen, in d e m alle moglichen „westeuropaischen Entwicklungsrezepte" ihre Approbation durchliefen und an die russischen Verhaltnisse angepaBt wurden. Die Situation der Zunfte fing langsam an, sich zu andern, als Katharina II. schon in den ersten T a g e n ihrer Regierung den Zunften ihre Aufmerksamkeit widmete. A m 14. Juli 1763 veranstaltete der Senat eine Sitzung z u m T h e m a Zunfte, auf der beschlossen w u r d e , die Meister wie auch friiher im Hauptmagistrat zu registrieren . Die aktive Teilnahme Katharinas II. an der Gewerbepolitik fuhrte noch deutlicher die Diskrepanz zwischen den Ideen des Merkantilismus und der freien Entfaltung wirtschaftlicher Krafte einerseits und d e m Zunftsystem und seinem beschrankenden Wesen andererseits vor Augen. Dies ist im Auftrag Katharinas II. an die Gesetzgebende Kommission leicht a b z u l e s e n . Infolge der oben geschilderten Standes- und Gewerbepolitik der Regierung und weil die Beisassengemeinde sich im Werden befand und die stadtischen Stande sich noch herausbildeten, „fullte sich der Beisassenverband mit einer bunten Vielfalt sozialer G r u p p e n " . Durch die D y n a m i k des Herausbildungsprozesses der Stande ist es zu erklaren, daB z. B . „ein erheblicher Teil der Kaufleute seine Standesbezeichnung zu Unrecht f u h r t e " . Hildermeier konstatiert, daB besonders seit Peter I. nach d e m Prinzip gehandelt w u r d e , daB der ausgeubte Beruf ein V o r w a n d fur den Standeswechsel sein konnte - und das ist ein B e l e g fur die oben erlauterte „offene" Standes- und Gewerbepolitik der Regierung. Diese flieBenden 125 126 127 128 124 K. Schlogel, Jenseits des GroBen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909-1921. Berlin 1988. 125 F. Ja. Poljanskij, Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii 18 veka (Das studtische Handwerk und die Manufaktur in RuBland des 18. Jahrhunderts). Moskau 1960, S. 109. 126 Nakaz imperatricy Ekateriny П., dannyj komissii о soeinenii proekta novogo ulozenija. St. Petersburg 1907, S. 113, § 400, 401, 402.; Zu den Gesellschaftstheorien s.: E. Donnert, Politische Ideologic der russischen Gesellschaft zu Beginn der Regierungszeit Katharina II. Gesellschaftstheorien und Staatslehren zu Beginn der Regierungszeit Katharinas II. Gesellschaftstheorien und Staatslehren in der Ara des aufgeklarten Absolutismus. Berlin 1976; Seebohm, T.M., Ratio und Charisma. Ansatze und Ausbildung eines philosophischen und wissenschaftlichen Weltverstandnisses im Moskauer RuBland. Bonn 1977. Allgemein zu Katharina И.: I. Madariaga, Russia in the Age of Catharine the Great. London 1981; H. Rimscha, Katharina II. Von der preuBischen Generalstochter zur Kaiserin von RuBland. Gottingen 1961. G r e n z e n existierten als eine e i n p r o g r a m m i e r t e G e g e b e n h e i t in der Beisassengemeinde fort, womit ihre hohe soziale Heterogenitat zu erklaren i s t . D a s Ziel des Gesetzgebers war nicht, die stadtischen Bevolkerungsgruppen klar gegeneinander abzugrenzen, w a s auch unmoglich war, sondern einen Konsens zwischen diesen Gruppen zu finden. Die Vielschichtigkeit der Beisassengemeinde war ein Ergebnis der historischen Entwicklung, die Regierungspolitik wollte daran nichts andern. D a r a u s laBt sich die soziale Vielfalt der Zunfte erklaren, in denen nicht nur die standigen 2'unftmeister, die als ein Stand innerhalb des kleinburgerlichen Standes verstanden wurden, sondern auch Bauern, Kleinbtirger, Kaufleute und spater auch Auslander vertreten waren. Die v o m Gesetzgeber zugelassenen flieBenden Standesgrenzen konnen also als eine bewuBte F l e x i b i l i t y des Gesetzgebers gewertet werden, der sich dariiber im klaren war, daB es in RuBland w e n n nicht unmoglich, so bestimmt aber schwierig war, eine Standesgesellschaft einzurichten, wie es sie in Westeuropa gab. Folglich war es unmoglich, die dem „Stand" der Zunfthandwerker verliehenen „Standesprivilegien" in die Praxis umzusetzen, was die Etablierung des Zunfthandwerks - v o n etlichen erfolgreichen Zunftmeistern einmal abgesehen erschwerte. Die russische Regierung war dazu g e z w u n g e n , sich mit der L o s u n g prinzipiell unterschiedlicher und einander ausschlieBender Probleme, fur deren Losung Westeuropa Jahrhunderte gebraucht hatte, zu befassen. Die Entstehung der stadtischen G e m e i n d e n bzw. Beisassengemeinden, die Entwicklung des H a n d w e r k s und der Zunfte und die nachfolgende Herausbildung der Standesgesellschaft - all diese Institutionen, die in Westeuropa in verschiedenen Entwicklungsperioden entstanden, fielen in RuBland im 18. Jahrhundert zusammen. W e n n die Regierung der Entwicklung der Zunfte eine absolute Prioritat eingeraumt hatte, hatte sie die Herausbildung und das A n w a c h s e n der Beisassengemeinde gebremst; andersherum ruinierte diese die Zunfte. A u f dem Hintergrund der Tatsache, daB die Beisassengesellschaft bzw. die Stande schwierig durch eine klare Definition von anderen Bevolkerungsgruppen zu unterscheiden bzw. abzugrenzen waren, entstand in der Regierung unter der Befurwortung Katharinas II. ein Konzept, das bis zu den groBen Reformen der 1860er Jahre beibehalten w u r d e - die Konkurrenz des bauerlichen und des kaufmannischen Standes; daB der Handwerkerstand am starksten davon betroffen war, war unvermeidlich und sollte beibehalten werden, u m den Handelsverkehr zwischen der Stadt und d e m Land zu verstarken und d e m Landadel seine Geldzinsen zu sichern. Dadurch blieb die „strukturelle Vielschichtigkeit" 129 Vgl. ebd., S. 47, 608ff. 1 (mnogoukladnost ) sowohl der russischen Wirtschaft als auch der russischen Gesellschaft weiter b e s t e h e n . Als Peter I. bzw. Katharina II. die Stadtreformen v o n 1722 bzw. 1785 durchfuhrten, lieBen sie zum Teil die alten Institutionen in das Zunftsystem integrieren. D a s gait z. B . fur die leibeigenen Handwerker, die noch nach dem Gesetzbuch v o n 1649 das Recht hatten, mit der Erlaubnis ihrer Grundherren in die Stadte zu gehen u n d dort ihre Geldrente als H a n d w e r k e r zu verdienen. Dies gait auch fur die Staatsbauern. Diese Handwerker w u r d e n in St. Petersburg, wie gesagt, seit 1722 in die Zunfte als zeitweilige Handwerker eingeschrieben und blieben dort solange, bis ihre Passe ungultig wurden. V o n daher sei die Eigenart der russischen Stadt dadurch zu kennzeichnen, daB sie „акеге sozialokonomische Strukturen bewahrte und den spezifischen R a h m e n b e d i n g u n g e n entsprechend fortbildete" . Diese oben erwahnten Faktoren storten die Entwicklung des Zunfthandwerks in St. Petersburg, da es durch die flieBenden Standesgrenzen schwierig oder unmoglich war, „Storer" u n d „Pfuscher" auszugrenzen oder sie wenigstens teilweise durch Gewerbeverbote auszuschalten. So waren 1751 in St. Petersburg die zunftfreien Meister keine Seltenheit, sondern eher die Regel, w a s ein Prazedenzfall aus diesem Jahr belegt. Der Senat untersagte dem M u n z a m t , Produkte v o n nichtziinftigen Gold- und Silberschmieden einer Qualitatsprufung zu unterziehen oder sie gar abzustempeln. Die Tatsache, daB einige der wohlhabendsten und daher auch bekanntesten H a n d w e r k e r wie die Gold- und Silberschmiede ihr H a n d w e r k frei austiben konnten, weist darauf hin, daB in der Stadt ziemlich groBe „Gewerbefreiheit" bestand, die v o n den Zunften oder gar seitens verschiedener Staatsressorts nicht unterdriickt werden k o n n t e . D a s Interesse, Zunftmitglied zu werden, war nur bei den wohlhabendsten Mitgliedern der Beisassengemeinde deutlich ausgepragt, die Werkstatten im groBeren Umfang betrieben, dementsprechend Waren in einer betrachtlichen M e n g e produzierten und sich durch die Zunftzugehorigkeit und entsprechende Privilegen beim Warenabsatz so gut wie moglich abzusichern suchten. A n d e r s war es bei den kleinen Posad- bzw. kleinburgerlichen u n d bauerlichen Handwerkern bestellt, die in einem kleineren Umfang W a r e n produzierten und kein Interesse daran zeigten, Zunftmitglieder zu werden. Sie sahen darin nur eine Belastung fur 130 131 132 130 S. dazu: Heiko Haumann, Unternehmer in der Industrialisierung Rufilands und Deutschlands. Zum Problem des Zusammenhangs von Herkunfl und politischer Orientierung, in: Scripta Mercaturae 20, 1986, S. 143-161, besonders S. 157, 159; Hildermeier, Burgertum, S. 17, 234-246. 131 132 Hildermeier, Burgertum, S. 24. Vgl. Ilja Mieck (Hrsg.), Europuische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Handbuch der europ&schen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hrsg. v. Wolfram Fischer, Jan A. van Houtte, Hermann Kellenbenz u.a., Bd. 4). Stuttgart 1993, S. 774. sich und hatten damit auch Recht: Die Zunfthandwerker wurden immer wieder zu Staatsauftragen verpflichtet, die keine Einnahmequelle, sondern nur einen Verlust an Material und Zeit fur sie darstellten . M e h r noch, manchmal sollten sie in die eigene Tasche greifen, u m einen Staatsauftrag finanzieren zu konnen. Wofur sollte sich ein Handwerker, sei es ein Sloboden- oder Posadhandwerker oder ein H a n d w e r k e r aus dem Dorf, in eine fur ihn vollig fremde Zunftordnung hineinzwingen lassen, w e n n der L a u f der D i n g e es zuliefl, o h n e j e d e Aufsicht zu arbeiten? Die Statuten, Regelungen, Qualitatskontrollen, Ausbildung der Lehrlinge, genauso wie die Wahl des Handwerksoberhaupts: alles das war fur einen russischen H a n d w e r k e r im 18. und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einzig und allein durch den Willen des Gesetzgebers entstanden und muBte ihm vollig uberflussig erscheinen. Der Staat konnte mit einer Unterstutzung der Reformen durch die H a n d w e r k e r nicht r e c h n e n . 133 134 2.4 Die Gewerbepolitik Katharinas II. 1762 - 1796 Eine wichtige Quelle tiber die Lage der Handwerker u m die Mitte des 18. Jahrhunderts ist das Projekt der N e u e n Gesetzessammlung (Projekt Ulozenija), Novogo an dem v o n 1767 bis 1769 gearbeitet wurde. Die gesetzgebende K o m - mission (Ulozennaja komissijd), in die Deputierte aus alien Regionen RuBlands berufen w u r d e n , erarbeitete eine Reihe von Vorschlagen, die das H a n d w e r k 135 betrafen . Unter anderem wurde die unverziigliche Implementierung (keine Einfuhrung, sie wurde schon 1722 beschlossen) der Zunfte in den russischen Stadten, besonders in M o s k a u und St. Petersburg, gefordert. Dabei verlangten die Deputierten ausdriicklich, die Regelungen der Erlasse von 1721/22 wieder in Kraft zu setzen. Die Deputierten wiederholten die obligatorische Teilung in standige und zeitweilige Zunfthandwerker, die Befreiung der Handwerker in den Adelshausern von der Zunftmitgliedschaft, unter dem Vorbehalt, daB sie nicht fur den freien 133 Vgl. Hildermeier, Burgertum,. S. 45f. 134 Ebd. S. 27. 135 Zur Gesetzgebenden Kommission s.: Ja. Abramov, Soslovnye nuzdy, zelanija i stremlenija v epochu Ekaterininskoj komissii, in: Severnyj Vestnik 1886 Nr. 4 S. 145-180, Nr. 6 S. 4784, Nr. 7 S. 69-99, Nr. 8, S. 159-187; A. V. Florovskij, Sostav Zakonodatel'noj komissii 1767-1774 gg. Odessa 1915; V. N. Latkin, ZakonodatePnye komissii v Rossii v XVIII v., torn 1. St. Petersburg 1887; G. Sacke, Die Gesetzgebende Kommission Katharinas II. Ein Beitrag zur Geschichte des Absolutismus in RuBland. Breslau 1940; D. D. Semenov, Gorodskoe predstavitel'stvo v Ekaterininskuju epochu. (Po materialam komissii 1767 g.), in: Russkoe bogatstvo 1898 Nr. 1, S. 36-58; S. Voznesenskij, Gorodskie deputatskie nakazy v Ekaterininskuju komissiju 1767 goda, in: 2MNP t. 24 (1909) Nr. 11 S. 89-119, Nr. 12 S. 241-284. Verkauf produzieren sollten. Zur Dampfung der Konkurrenz u n d z u m endgultigen Verbot des zunftfreien H a n d w e r k s in den Stadten sollten nichtzunftige Meister 136 schriftlich verpflichtet werden, kein H a n d w e r k in der Stadt a u s z u t i b e n . Die Deputierten v o n St. Petersburg gaben im Wahlerauftrag bekannt, daB die Zunf te in St. Petersburg zur Zeit der Zusammenkunfte der Gesetzgebenden Kommission unorganisiert und insgesamt in einem schlechten Zustand waren. Sie beklagten sich daruber, daB jegliche A n g a b e n iiber die Gesamtzahl der H a n d w e r k e r in St. Petersburg fehlten. Nicht j e d e r Meister wurde auf seine Fertigkeiten gepriift und es fehlte eine Kontrolle der Warenqualitat. Die nichtziinftigen H a n d w e r k e r lebten frei in der Stadt und hatten sogar Aushangeschilder iiber ihren Laden. Die Deputierten verlangten, daB die Meister und die Gesellen, die nicht in die Ziinfte eingeschrieben waren und kein Zeugnis von der Zunftverwaltung besaBen, nicht 137 in der Stadt arbeiten durften . Die Vielzahl der Erlasse anderte wenig an der konkreten Situation. Es muBte ein Wandel im BewuBtsein der Gewerbetreibenden und eine A n d e r u n g ihrer Einstellung zur Zunftordnung stattfinden. A u c h 45 Jahre nach Einfuhrung der Zunfte gab es 1767, veranlaBt durch die Einberufung der gesetzgebenden Kommission, einen grofien Streit daruber, ob es in den russischen Stadten Ziinfte 138 geben sollte oder n i c h t . Dieser Streit entflammte immer wieder, weil die Plane des Gesetzgebers nach einer L o s u n g verlangten, scheiterten aber an der Realitat. 2.4.1 D a s H a n d w e r k s s t a t u t v o n 1785: Innovation und Kontinuitat D a s Handwerksstatut von Katharina II. beinhaltete keine prinzipiellen Anderungen der Grundlinien der Zunftpolitik, die Peter I. gelegt hatte. Im Detail wurden allerdings bestimmte N e u e r u n g e n eingefuhrt, die unter anderem eine gewerbliche Tatigkeit kleineren Umfangs unter den Kleinbiirgern und Bauern, die nicht in den Zunften eingeschrieben wurden, legalisierten. D e s weiteren wurde das Artikel iiber 139 die zeitweiligen H a n d w e r k e r im Handwerksstatut g e s t r i c h e n . 136 Proekt novogo ulozenija, sostavlennyj zakonodaternoj komissiej 1754-1766,6ast' III: О sostojanii poddannych voobSce, Hrsg. V. N. Latkin. St. Petersburg 1893, S. 215-233. 137 Ebd. 138 PSZ RI 1, Nr. 12945 (24.7.1767): Nakaz Komissii po sostavleniju proekta novogo Ulozenija, S. 181f. 139 PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 16187: Gramota na prava i vygody gorodam Rossijskoj imperii, Remeslennoe polozenie, S.369-379, § 120-123, podpunkty 1-117, hier § 120: In die Zunfte кбппеп sich alle einschreiben, die dem Stand der Kleinbtirger zugezShlt werden кбппеп; Vgl. In diesen zwei A n d e r u n g e n spiegelt sich ein wesentliches Merkmal des Reformwerks von Katharina II., namlich seine Vielseitigkeit. Einerseits wurde den nichtzunftigen Handwerkern eine bessere Moglichkeit gegeben, ungestort ihrem Kleingewerbe nachzugehen, andererseits kann die W e g l a s s u n g des Artikels uber die zeitweiligen Handwerker so gedeutet werden, daB die katharinische Gesetzgebung versuchte, die Zunfte als einen festen Bestandteil der stadtischen Gesellschaft zu etablieren und ihre korporativen Grenzen deutlicher zu ziehen, wodurch die Zunfte zusatzliche Kontrollbefugnisse bekamen. So konnten die Zunfte die Zahl der auBer Zunft stehenden H a n d w e r k e r eventuell begrenzen oder w e n i g s t e n s kontrollieren, indem sich die staatlichen und die Handwerker in den Adelshausern im Unterschied zu dem Gesetz v o m 16. Juli 1722 bei der Handwerksverwaltung melden sollten, falls sie eine Arbeit neben ihrer Hauptbeschaftigung verrichteten . Es blieb aber unklar, w o z u sich diese Art von Handwerkern bei der Handwerksverwaltung melden sollte: u m zeitweilig oder aber standig in die Zunfte einzutreten? Da im Statut die Gruppe der zeitweiligen Handwerker nicht erwahnt und zugleich im Paragraph 120 klar darauf hingewiesen wurde, daB nur die Handwerker in die Zunfte eintreten durften, die ihrem Stande nach zu den Kleinbtirgern gezahlt werden konnten, gab es viele MiBverstandnisse und MiBbrauche seitens der St. Petersburger Handwerksverwaltung. Ihr durch die Etablierung von 1785 gesteigertes SelbstbewuBtsein veranlaBte sie, diesen Artikel z u m eigenen Vorteil zu interpretieren, worauf spater noch eingegangen wird. Die Forderungen der Deputierten, den Handwerkerstand mit der Einrichtung ordentlicher Zunfte zu r e g l e m e n t i e r e n und die Zunftorganisation wiederherzustellen, um der wirtschaftlich starkeren Schicht der wohlhabenden Zunfthandwerker den Warenabsatz zu sichern, wurden j e d o c h nicht nach ihrem W u n s c h erfullt, weil eine einseitige Zunftmonopol nicht eingefuhrt bzw. das freie H a n d w e r k erlaubt wurde. Es handelt sich um eine A n d e r u n g von 1785, die spater immer wieder von den nichtzunftigen H a n d w e r k e r n benutzt wurde, wenn sie dazu g e z w u n g e n waren, sich in die Zunft einzuschreiben, namlich: Die Zunft konnte n i e m a n d e m verbieten, „sich durch Arbeit seinen taglichen Unterhalt zu erwerben" - unter dem Vorbehalt, keine Gesellen und Lehrlinge zu beschaftigen . Die Regierung legitimierte dies damit, daB die wirtschaftliche Freiheit nicht eingeschrankt werden sollte. AuBerdem g a b es in der Stadt andere Institutionen wie die Sloboden und den Posad, die sich parallel z u m Zunfthandwerk entwickelt h a t t e n . Diesen Status quo 140 141 142 Pazitnov, Problema, S. 81. 140 PSZRI l,Nr. 16187, S. 374. 141 Vgl., Hildermeier, Burgertum, S. 85. 142 Vgl. Pazitnov, Problema, S. 43. bestatigte der ErlaB von 1785, in dessen Paragraph 263 stand: „Keinem ist es verboten, in den Posad einzutreten. Die P o s a d b e w o h n e r k o n n e n verschiedenen H a n d w e r k e n nachgehen und Werk-Stuhle (stany) besitzen. Sie b r a u c h e n dafur keine zusatzliche E r l a u b n i s " . Die P o s a d b e w o h n e r bzw. Kleinburger durften die Waren ihres H a n d w e r k s in ihren Hausern verkaufen. AuBerdem erlaubte das Gesetz, den L a n d b e w o h n e r n in der Stadt ihre Erzeugnisse zu verkaufen. Sie brauchten dafur, wie auch die Posadbewohner, keine Erlaubnis. Die oben erwahnten stany sorgten spater fur viele MiBverstandnisse, da nicht klar definiert wurde, w a s genau unter ihnen zu verstehen war. Normalerweise war unter einem stan ein Werk-Stuhl bzw. ein Webstuhl im kleineren Format gemeint. Die Posadleute, Kleinburger und bauerlichen H a n d w e r k e r haben diesen Begriff sehr freizugig interpretiert und unterhielten mittlerweile regelrechte Werkstatten mit einer Vielzahl v o n Beschaftigten. M i t der Einfuhrung des Stadtprivilegs v o n Katharina II. im Jahre 1785 erhielt die Zunftverwaltung der Stadt St. Petersburg die Form, die im wesentlichen bis 1917 erhalten b l i e b . Alle Zunfte, die vorher getrennt existiert hatten, wurden als ein Stand unter der Leitung einer allgemeinen Handwerksverwaltung (obsdaja remeslennaja uprava) und einem Handwerksoberhaupt (remeslennyj golova) zusammengefaBt. D a s Handwerksoberhaupt vertrat in seiner Person alle Zunfthandwerker der Stadt. Z u m ersten Mai w u r d e eine neue, im einzelnen ausgearbeitete Zunftordnung erlassen, die in das Stadtprivileg integriert war. In Kurze sollen hier die Rechte genannt werden, die im Stadtprivileg den Kleinb u r g e r n sowie den Zunfthandwerkern eingeraumt wurden: 1. O h n e ein Gerichtsurteil sollte niemand von ihnen z u m T o d e verurteilt bzw. ihr H a b und Gut nicht konfisziert werden. 143 144 145 143 PSZ RI 1, Nr. 16187 (21.04.1785): Gramota na prava i vygody gorodam Rossijskoj imperii, § 263. 144 145 PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 16187 (21.04.1785): Der Stadtstatut, S. 369-379, Punkt 120-123. meSeane - Kleinburger. Die mit den Erlassen von 1775 und 1785 neueingefilhrte Gruppe der stadtischen Bev6lkerung. Sie genossen gleiche Rechte wie Stadtbtirger und Zunfthandwerker. Das Wort „meS6ane" wurde schon in denfrUherenErlassen erwahnt. So wurde das Wort im ErlaB vom 20.11.1760 unter Nr. 11145: ne „me§cane, pol'zujuSCiesja odnako i meSdanskimi preimuScestvami", im allgemeinen Sinne der Stadtbtirger benutzt. S. dazu: Hildermeier, Burgertum, S. 73ff.; ders., Was war das meScanstvo? In: Forschungen zur OsteuropSischen Geschichte 36,1985, S. 15-53; Klokman, Ju. R., SociaTno-ekonomiceskaja istorija russkogo goroda. Vtorajapolovina 18-go veka. Moskau 1967; Ryndzjunskij, P. G., Gorodskoe grazdanstvo doreformennoj Rossii. Moskau 1958; ders., Soslovno-podatnaja reforma 1775 g. i gorodskoe naselenie. In: Ob§cestvo i gosudarstvo feodal'noj Rossii. Sbornik statej posvja§6ennyj 70-letiju akademika L.V. Cerepnina. Moskau 1975; Russkij Vestnik, 1863, Bd. 47, Nr. 11 (Oktober), S. 789-822; N. D. Ryckov, О cechach v Rossii i Zapadnoj Evrope, S. 814f.; M. I. My§, О meSdanskich i remeslennych upravlenijach. Sbornik uzakonenij, 2. Ausgabe, St. Petersburg 1896, S. 498. 2. Der Handwerksverwaltung wurde die Gerichtsbarkeit verliehen und v o n nun an wurde uber die Handwerker beim Standesgericht geurteilt. 3. Kleinbiirger und Handwerker genossen die gleichen Rechte. 4. Die H a n d w e r k e r konnten in der Stadt eine Standesverwaltung haben. 5. Sie durften Immobilien und Grundstucke in der Hauptstadt erwerben. Zunftige und nichtzunftige Handwerker hatten in St. Petersburg unterschiedliche Rechte: 1. Grundsatzlich konnten in St. Petersburg alle Stadtbewohner einem H a n d w e r k nachgehen, allerdings wurde denjenigen ein Verkaufsrecht versagt, die keiner Zunft angehorten. 2. N u r die standigen Zunfthandwerker konnten an den Wahlen fur die Handwerkerselbstverwaltung teilnehmen (Wahlrecht). 3. N u r zunftige H a n d w e r k e r durften Werkstatten in der Stadt unterhalten. 4. N u r ein Meister der Zunft - ausgebildet und von der Zunftverwaltung gepruft - durfte Lehrlinge aufhehmen und Gesellen beschaftigen . V o n Beginn an wurden die Handwerker in St. Petersburg in "russische" und "deutsche" Zunfte unterteilt, wobei unter die Kategorie "deutsche" alle westeuropaischen H a n d w e r k e r fielen. An der Spitze j e d e r Zunft stand ein Zunftaltester, der die Steuern eintrieb, die dann zum Teil an den Staat abgefuhrt werden muBten, z u m kleineren Teil aber auch bei der Zunft verblieben. Die Handwerksverwaltung w u r d e wie fruher d e m Hauptmagistrat unterstellt. Das Handwerksoberhaupt war ein standiges Mitglied der Sechsstimmigen D u m a , in der die Interessen der Handwerker z u m Ausdruck gebracht werden sollten. Es waren auch Gesellenherbergen vorgesehen, die aber nicht organisiert wurden, da es in RuBland wie auch in St. Petersburg keine Gesellen mit stark ausgebildetem SelbstbewuBtsein gab und ihnen die gemeinschaftliche Tradition, wie es sie in Westeuropa gab, fremd war. Die Gesellen hatten kein Interesse an einer eigenen Institution, da diese gewerbliche Gruppe sehr mobil und ihre Grenzen sehr flieBend waren. Oft wechselten die Gesellen den Meister oder das H a n d w e r k , bis sie es ganz verlieBen und nach Hause in ihr Dorf zuruckkehrten; keiner zog sie zur Rechenschaft, da die Meister dies selbst immer wieder praktiziert hatten. AuBerdem fehlte in RuBland die Begrenzung der Meisterzahlen, die in Westeuropa als eine Hauptursache fur die Entstehung des Geselleninstituts genannt werden darf . Die B e m u h u n g e n des Gesetzgebers bei der Einrichtung eines Handwerkerstandes wurden aber gleichzeitig von einer anderen R e g e l u n g uberschattet, die die 146 147 146 147 Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 84f., 88f. Vgl. Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 133; О predostavlenii zamedanij na svod remeslennych postanovlenij ot 12 dekabrja 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172: Po zapiske statskogo sovetnika N. Smirnova, hier 1. 40. standischen Grenzen der Zunfthandwerker aufweichte. So sollte sich ein H a n d w e r k e r in eine kaufmannische Gilde einschreiben, falls er Umsatze iiber 500 Rubel hatte, w o d u r c h er einen doppelten sozialen und standischen Status als Handwerker und als Kaufmann erwarb. Damit war der Grundstein fur die Loslosung v o n der Zunft gelegt. Als Kaufmann konnte der H a n d w e r k e r seine Werkstatt als Fabrik beim Manufakturkollegium registrieren lassen und unterstand somit nicht mehr der Zunftverwaltung. In der neuen Zunftordnung wurde z u m ersten Mai detailliert auf die Rechte und Pflichten der Handwerksverwaltung eingegangen. Eine Zunft sollte mindestens 5 Meister zahlen, die alle A n g e l e g e n h e i t e n der Zunft w a h r e n d der Zunftversammlung zu erledigen h a t t e n . D a s Protokoll fuhrte w a h r e n d j e d e r V e r s a m m l u n g der Makler, der auch fur die ordentliche Buchfuhrung der Handwerksverwaltung verantwortlich war. Die Verwaltung oder die Versammlung der Meister durfte das Statut nicht a n d e m , wodurch ihre Tatigkeit nur a u f Kontrollfunktionen beschrankt wurde. Jede Zunft hatte j e d e s Jahr den Zunftaltesten und zwei seiner Stellvertreter zu wahlen, die v o m Stadtmagistrat im A m t bestatigt w u r d e n . V o n der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g w u r d e das Handwerksoberhaupt g e w a h l t . 148 149 Z u m ersten Mai in der russischen Geschichte wurden, allerdings nur im R a h m e n eines Standes, einige Schritte in Richtung einer sozialen Absicherung getan. Falls ein H a n d w e r k e r krank wurde und keine Gesellen und Lehrlinge hatte, die seine Arbeit verrichten konnten, war die Verwaltung verpflichtet, ihm sowohl arztliche Hilfe und Arzneimittel als auch Gesellen und Lehrlinge oder das entsprechende Geld zu Verfugung s t e l l e n . D e s weiteren sollte die Verwaltung, falls ein H a n d w e r k e r ein Zunftamt inne hatte und aus irgendwelchen Grunden, Trunksucht und dergleichen a u s g e n o m m e n , verarmte oder erkrankte, ihm gemaB seiner Beitragshohe seitens der V e r s a m m l u n g der Meister aus der Kasse ein zinsloses Darlehen gewahren. Falls der besitzlose Zunftmeister verstarb, w u r d e er auf Kosten der Verwaltung bestattet. Der Betrieb wurde in diesem Fall v o n der Frau des verstorbenen Handwerkers u b e r n o m m e n und weitergefuhrt. Dabei sollte die Verwaltung ihr, falls sie nicht v o r h a n d e n waren, Gesellen und Lehrlinge zur Verfugung s t e l l e n . Der Meister hatte in seinem H a u s , w o auBer seiner Familie die Gesellen und Lehrlinge in Vollpension wohnten, alle Rechte eines Hausherren. AuBerdem sollte derjenige, der in der Stadt als H a n d w e r k e r arbeiten wollte, unbedingt bei einem Zunftmeister in der Lehre gewesen sein. Die Lehrzeit wurde fur die Lehrlinge v o n sieben auf funf, wenigstens aber drei Jahren herabgesetzt. 150 151 148 PSZRI l,Nr. 16187, S. 369. 149 Ebd., S. 370. 150 PSZRI 1, Nr. 16187, S. 373. 151 PSZRI 1,Nr. 16187, S. 375. N a c h B e e n d i g u n g der Lehre b e k a m ein Lehrling ein Zeugnis und sollte dann als Geselle mindestens drei Jahre lang weiter arbeiten. Es dauerte also mindestens sechs Jahre, bis ein Handwerker seine Meisterprufung ablegen konnte. Z u m Zeitpunkt der Meisterprufung sollte er aber nicht j u n g e r als 24 Jahre sein. D a s Statut reglementierte den Ablauf des Arbeitstages und die Verhaltnisse zwischen dem Meister und seinen Gesellen und Lehrlingen. Die Lange des Arbeitstages w u r d e auf zwoif Stunden von sechs U h r m o r g e n s bis sechs Uhr abends festgelegt, wobei fur das Frtihstuck und die Mittagszeit j e w e i l s eine halbe Stunde bemessen wurde. Arbeitsfreie Tage waren der Sonntag und die Weihnachtszeit. Der Meister hatte das Recht, den Gesellen fur ein halbes Jahr in ein Zuchthaus zu sperren, falls dieser den Meister oder seine Frau beleidigte, wobei nach d e m Vollzug der Strafe das Gesetz den anderen M e i s t e m verbot, einen vorbestraften Gesellen einzustellen. Die B e d e u t u n g der G n a d e n u r k u n d e bzw. des Gewerbestatutes fur die Zunfthandwerker von St. Petersburg ist nicht hoch genug einzuschatzen. Wie aber Hildermeier zurecht feststellt, „enthielt die Gnadenurkunde nicht wenige Regelungen, die ihrem Z w e c k entgegenwirkten. Dazu zahlten in erster Linie die Zulassung des bauerlichen Handels in den Stadten und die Bestatigung der ausgedehnten adligen Wirtschaftsrechte. Trotz anderslautender, programmatischer Absichtserklarungen unterlieB es die Regierung, jeden Stand wirksam auf eine bestimmte ,Sphare der Industrie zu begrenzen" , 4 152 w a s dem St. Petersburger Zunfthandwerk ebenfalls nicht zugute kam, wie aus der Angelegenheit, die mit dem SenatserlaB von 1796 geklart wurde, ersehen werden kann. 2.5 D e r SenatserlaB von 1796 Die Handwerksverwaltung interpretierte die fehlende R e g e l u n g uber die zeitweiligen Handwerker im Handwerksstatut von 1785 in der Weise, daB alle Handwerker, die in der Hauptstadt tatig werden wollten, sich in die Zunfte einschreiben muBten, wodurch die bauerlichen und kleinbiirgerlichen Handwerker automatisch ausgeschlossen bzw. zur Illegalitat g e z w u n g e n waren, denn u m als standiger Meister in die Zunft eintreten zu konnen, muBte man eine Prufung bei der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bestehen, w o z u diese H a n d w e r k e r k a u m imstande waren. Vermutlich auf Betreiben der Handwerksverwaltung schaffte die St. Petersburger Stadtduma mit B e z u g auf Paragraph 120 des Handwerksstatutes von 1785 das Institut der zeitweiligen Zunftmeister ab, wodurch die bauerlichen H a n d w e r k e r erhebliche Schwierigkeiten b e k a m e n . So verringerte sich in den nachsten Jahren die Anzahl der zeitweiligen Handwerker in St. Petersburg drastisch. V o r der Einfuhrung des neuen Handwerksstatutes v o n 1785 gab es 1554 zeitweilige Handwerker, deren Anzahl sich im Jahre 1786 mit 3058 fast verdoppelt hatte. D a v o n blieb im Jahre 1793 nur noch der Bruchteil v o n 317 Handwerkern i i b r i g . Die Lage solcher Handwerker wurde mit dem SenatserlaB v o n 1796 g e k l a r t . Er bestatigte, daB die Handwerker, die ihrem Stand nach leibeigene bzw. Staatsbauern blieben und in der Stadt arbeiteten, die Fabrikarbeiter, die H a n d w e r k e r aus anderen Stadten und aus d e m Ausland zeitweilig in die Zunfte eintreten durften. O h n e Standeswechsel traten Kaufleute und personlich Geadelte in die Zunfte auf Zeit ein, w e n n sie d e m H a n d w e r k mit Hilfe anderer H a n d w e r k e r und Lehrlinge nachgingen. AuBerdem besagte der Artikel 57 des Handwerksstatutes unmiBverstandlich, daB es „in der Stadt, in welcher es eine Handwerksverwaltung gibt, verboten ist, zunftfrei zu a r b e i t e n " . Der ErlaB von 1796 ist eine wichtige Quelle fur das Verstandnis dessen, w a s der Gesetzgeber am E n d e des 18. Jahrhunderts unter Gewerbepolitik verstand, wobei seine negative Stellung zur „Gewerbefreiheit" und d e m Versuch der Handwerksverwaltung, einen kompromiBlosen Zunftzwang einzufuhren, offenbar ist. Es ist an dieser Stelle anzumerken, daB es in RuBland einen bedingten Zunftzwang gab, der durch die Klausel iiber die zeitweiligen H a n d w e r k e r bestehen konnte. Also wies der Senat der Handwerksverwaltung Grenzen zu, die in einem krassen Widerspruch zu ihrem M o n o p o l w e s e n standen. Seinen Worten nach hatte die B e s t i m m u n g der Handwerksverwaltung, die Handwerker nur als standige Meister in die Zunfte einzuschreiben, zur Einschrankung des H a n d w e r k s gefuhrt und den H a n d w e r k e r n geschadet, w a s nicht im Sinne des Gesetzes sei. Der Gesetzgeber fuhr fort: 153 154 155 156 „Es ist nicht selten der Fall, daB ein M e n s c h [kein Handwerker oder Fachmann, A.K.] mehrere H a n d w e r k e beherrscht und j e nach der Konjunktur dieses oder j e n e s H a n d w e r k betreibt oder entsprechend seinen Umstanden sein Gliick in einem anderen H a n d w e r k versucht, das ihm ein besseres E i n k o m m e n verspricht, weshalb er immer zeitweilig in verschiedene Zunfte eintreten wird. [...] Inzwischen, w e n n solche 153 Pazitnov, Problema, S. 81. 154 S. Tabelle 1 im Tabellenanhang. 155 PSZ RI 1, Bd. 23, Nr. 17438 (6.2.1796): „О nevospreScenii meScanam, kazennym i gospodskim remeslennikam zapisyvat'sja v ob§die cechi na takoe vremja, skol'ko kto v onych byt' pozelaet...", S. 865f. 156 PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 16187, S. 374. Handwerker dazu g e z w u n g e n werden, in die Zunfte als standige Meister einzutreten, werden sie mit staatlichen Auftragen uber ihre Krafte belastet, w o d u r c h sie nicht imstande sein werden, ihre Arbeit zu verrichten. Sie werden die Preise zum Nachteil der Bevolkerung erhohen oder bei den standigen Zunftmeistern in den Dienst treten, wobei die letzteren bei ihrem M o n o p o l den Lohn beliebig hoch oder herunter setzen konnen. [...] D e m Gouvernementskontor (gubernskoe pravlenie) wird verordnet, daB es aufgrund der freien A u s u b u n g des H a n d w e r k s unter keinen U m s t a n d e n KleinbUrgern, leibeigenen und staatlichen Handwerkern den zeitweiligen Eintritt in die Zunfte versagen darf. Demzufolge sollen auch leibeigene oder staatliche H a n d w e r k e r in die Zunfte wiederaufgenommen werden, die fruher als zeitweilige Meister in die Zunfte eingeschrieben w a r e n " . 157 Mit einer so breiten Interpretation des Zunfthandwerks wurde seine fachmannische Seriositat und der Anspruch auf hohe Qualitat in Frage gestellt und das StandesbewuBtsein der standigen Zunftmeister verletzt, die Anspruch auf Etablierung im hauptstadtischen Gewerbe erhoben. Hier wird noch einmal deutlich, daB es d e m Gesetzgeber nicht u m das Zunfthandwerk selbst, sondern u m die allgemeine gewerbliche bzw. industrielle Entwicklung ging. Die Zunfte waren eine Institution, die das fachmannische Niveau im H a n d w e r k e r h o h e n sollten. Wie erfolgreich sie das tun konnten, bleibt freilich unter diesen Voraussetzungen fraglich. Damit w u r d e der Versuch der Handwerksverwaltung, das hauptstadtische H a n d w e r k zu monopolisieren, erstmals unterbunden. Z w a r kann im Z u s a m m e n h a n g mit den St Petersburger Zunften keine Rede v o n ihrer Vormachtstellung in der Hauptstadt sein, doch ist dies ein Indiz fur einen betrachtlichen Z u w a c h s an SlandesbewuBtsein der Zunfthandwerker und ihrer gestiegenen wirtschaftlichen Macht, die sie dazu verleitete, den Umfang des Arbeitsmarktes durch den AusschluB der zeitweiligen, sprich bauerlichen, Handwerker aus den Zunften zu regulieren, um den stadtischen Markt, sei es auch partiell, fur sich zu gewinnen. So bildete sich langsam eine Schicht unter den Handwerkern heraus, die im 19. Jahrhundert im ganzen Handwerkerstand fur groBe Konflikte sorgte - die der zeitweiligen Zunfthandwerker. Der SenatserlaB von 1796 war aber nicht Ausloser dieser Entwicklung, wie Ende des 19. Jahrhunderts haufig geschrieben wurde, sondern er bestatigte lediglich eine bereits von Peter I. stammende und in der Zeit zwischen 1785 u n d 1796 abgeschaffte Regelung. 157 PSZ RI 1, Bd. 23, Nr. 17438, S. 866f. 2.6 D a s Zunftstatut von 1799 158 D a s Handwerksstatut von 1785 und das Zunftstatut v o n 1 7 9 9 , das unter anderem versuchte, das W e s e n der Handwerksarbeit genauer zu definieren, dienten als Grundlage fur die Gesetzgebung im 19. Jahrhundert. N a c h dem Zunftstatut von 1799 unterschied sich die handwerkliche Arbeit v o n der Arbeit in der Fabrik - in der Herstellung der Waren durch Handarbeit, - in der Gewahrleistung des Arbeitsverfahrens durch die Einstellung von Gesellen, welche dank ihrer profitablen Arbeit dem Meister ermoglichten, G e w i n n zu erzielen, - in der Ausbildung der Lehrlinge. Dieser Versuch, das Wesen der Handwerksarbeit zu definieren, war zu allgemein und verfehlte das Ziel, das H a n d w e r k von den GroBbetrieben bzw. Fabriken zu trennen, um so steuerpolitische Fragen zu klaren. Z w a r ist es moglich, diese Grenze nach unten, z u m Gewerbe, deutlich zu erkennen. Aber viel wichtiger fur den Gesetzgeber war, sie nach oben abzugrenzen, denn dort v e r s c h w a m m die Grenze bis zur Unkenntlichkeit, da gewisse M e r k m a l e genauso gut auf „Fabriken" wie auch auf die Werkstatten zutrafen. Aufgrund dieser Unklarheit der Gewerberegelungen im Stadtstatut konnte auch keine effektive Standespolitik betrieben werden, wie sie von der Regierung angestrebt w u r d e . Dartiber soil im Z u s a m m e n h a n g mit der Gildenreform von 1824 j e d o c h noch gesprochen werden. In gewisser Weise lieB sich der Gesetzgeber im Zunftstatut v o n 1799 von den wirklichen Bediirfhissen der Gegenwart leiten und lieB einige Regelungen zu, die w e n i g mit d e m W e s e n des Zunfthandwerks korrespondierten. Der Handwerker konnte namlich sein H a n d w e r k in der Fabrik ausuben, wobei er auch dann als Zunftmeister der Zunftverwaltung unterstand und bestimmte Beitrage zahlte. Ein Meister durfte seine Werkstatt mit dem gesamten W e r k z e u g einer anderen Person v e ф a c h t e n , wobei offen blieb, ob diese Person ihre Qualifikation nachweisen muBte oder nicht. D e s weiteren w u r d e das Verlagshandwerk konstituiert, das dem H a n d w e r k e r erlaubte, Auftrage und Material von einem Auftraggeber zu empfangen und gegen Stucklohn weiterzuverarbeiten. Diese Regelung weist auf ein typisches M e r k m a l des St. Petersburger H a n d w e r k s am E n d e des 18. Jahrhunderts hin, namlich auf die fruhe Entwicklung des Verlagshandwerks, das die Zersplitterung des H a n d w e r k s in verschiedene Produktionsweisen forderte, die dem traditionellen H a n d w e r k fern s t a n d e n . Im Gegensatz zu den Handwerkern raumte das Gesetz den Fabrikanten das Recht ein, ihre Produkte uberall zu verkaufen. Die ersteren dagegen durften ihre Produkte nur in der Stadt verkaufen. Im Verwaltungswesen sollte der vergroBerte Verwaltungsapparat effektivere Arbeit 159 158 PSZ RI 1, Bd. 25, Nr. 19187 (12.11.1799): Der Zunftstatut, S. 864-886. leisten, statt vorher zwei waxen jetzt vier Alteste der russischen und vier der deutschen Zunfte t a t i g . 160 2.7 Z u r Typologie russischer und westeuropaischer bzw. deutscher Zunfte Die starke Orientierung der russischen Gesetzgebung an westlichen Mustern laBt die Frage aufkommen, in welc hem Zustand sich das Zunftwesen in Westeuropa im 18. Jahrhundert befand. Als erstes laBt sich feststellen, daB - wahrend in RuBland die Zunfte noch in ihrer Entstehung begriffen waren - sich die Geschichte des Zunfthandwerks in Westeuropa ihrem Ende naherte: 1791 wurden die Zunfte in Frankreich, 1810/11 in Preuflen und 1859 in Osterreich abgeschafft. Der ProzeB der Abschaffung des Zunftsystems im deutschsprachigen R a u m vollzog sich, wie zu sehen ist, etwas spater. Hier behielten die Zunfte nicht unbedingt ihr mittelalterliches W e s e n bei, sondern wurden immer wieder v o m Staat modifiziert bzw. modernisiert, wie z. B . mit der Reichshandwerksordnung von 1731, die unter anderem den Z u g a n g zum Handwerk erleichterte. Einerseits wurden diese Modernisierungsbestrebungen durch die Staatsrason und die Ideen des Merkantilismus oder des im deutschsprachigen R a u m ofter v o r k o m m e n d e n Kameralismus bewirkt, andererseits waren die Erlasse eine Folge der inneren Auflosung des Zunftwesens nach dem DreiBigjahrigen Krieg. D a s Zunftwesen in RuBland war vollig neu. Die Fremdartigkeit der Zunfte fur die russischen Verhaltnisse und cias Fehlen fruherer Organisationen, auf deren Basis sich das Zunftsystem hatte aufbauen lassen, beweist die Tatsache, daB nach den Erlassen v o m 16. Dezember 1720 und 16. Januar 1 7 2 1 , die die Organisation der Handwerker in Zunften verfug ten, ein ganzes Jahr lang v o m Hauptmagistrat nichts unternommen wurde, w a s Peter I. dazu bewog, dem Oberprasidenten und seinem Stellvertreter mit der Galeerenstrafe zu drohen. Die Schwierigkeiten, mit denen Peter I. zu kampfen hatte, veranlaBten ihn, an auslandische Erfahrungen anzukntipfen. Dmitrij Solov'ev, den der Zar mit einer Analyse der Zunftordnungen im Ausland beauftragt hatte, reichte einen Bericht an den Senat ein, der als Grundlage fur den ErlaB uber die Zunfte v o m 27. April 1722 diente, wobei die Zunftordnungen aus Danemark, Deutschland, Schweden, Li viand und Estland zum Vorbild g e n o m m e n w u r d e n . Das N e u e in der petrinischen Zunftordnung war, daB sie nicht nur in Analogic zur schwedischen Zunftordnung die Anzahl der Zunfte und der Zunftmitglieder unbeschrankt lieB, sondern daruber hinaus das Handwerk auch auBerhalb der Zunfte erlaubte. D a s war ein KompromiB mit dem 161 160 161 Nr. 19187, S. 866. Vgl. Aleksandr A. Kizevetter, Gorodovoe polozenie Ekateriny II 1785 g. Opyt istoriceskogo kommentarija. Moskau 1909, S. 184f. Adel und der Kirche, der diesen gestattete, weiterhin H a n d w e r k e r unter der B e d i n g u n g zu beschaftigen, daB sie fur den Eigenbedarf produzierten. Als Katharina II. sich mit der neuen Stadtordnung befaBte, die 1785 erlassen wurde, waren ihr die M e i n u n g e n in Westeuropa iiber die okonomische B e d e u t u n g des Zunftwesens bekannt. Als Verfechterin des staatlichen Merkantilismus u n d der Gewerbefreiheit wuBte sie einerseits den N u t z e n des Zunftsystems in der Organisation des ordentlichen H a n d w e r k s zu schatzen, andererseits war sie sich der Gefahr des Zunftzwanges fur die Entwicklung der Wirtschaft bewuBt, w a s sie in der Arbeitsversion des Artikels 4 0 0 der Instruktion fur die Gesetzgebende K o m m i s s i o n z u m Ausdruck brachte: „Es ist eindeutig, daB fur die Entstehung des kunstfertigen H a n d w e r k s die Zunfte niitzlich sind. Sie sind aber nur fur kurze Zeit niitzlich, da sie die Mehrheit der Gewerbetreibenden unterdriicken, sobald sie organisiert s i n d " . 162 Diese Problematik k o m m t in der letzten Version von Paragraph 4 0 0 zum Ausdruck, in der darauf hingewiesen wird, daB die Niitzlichkeit der Ziinfte in den Stadten umstritten sei und daB noch daruber entschieden werden musse, welche Zunftbestimmungen, in die Praxis umgesetzt werden sollten. Bestatigend wird dann im nachsten Paragraphen darauf hingewiesen, daB die Ziinfte fur die Entwicklung des H a n d w e r k s niitzlich seien, solange sie die Zahl der H a n d w e r k e r nicht begrenzten. Katharina II. sah sich in ihren Beschlussen in Hinblick auf die westeuropaische Entwicklung bestatigt, auch dort war zu ihrer Zeit die Anzahl der Meister in den Zunften nicht b e g r e n z t . Kizevetter analysierte richtig, daB die Reformtatigkeit Katharinas II. beziiglich des stadtischen H a n d w e r k s nicht darauf abzielte, das Zunftmonopol zu starken, sondern die gewerblichen Aktivitaten unter der Stadtbevolkerung und die Entwicklung des H a n d w e r k s anzuregen, w o r a n sich deutlich Ziige des Merkantilismus erkennen l a s s e n . A n dieser Stelle muB eine neue o k o n o m i s c h e Schule, die der P h y s i o k r a t e n erwahnt werden, deren Lehre u m die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand und die sicherlich eine W i r k u n g auf die Einsichten von Katharina II. ausiibte, w o d u r c h auch ihre aktive Tatigkeit bei der Ansiedlung v o n deutschen Kolonisten in der 163 164 165 162 Ders., S. 269. 163 Nakaz imperatricy Ekateriny П., dannyj komissii о so&nenii proekta novogo ulozenija. St. Petersburg 1907, S. 113, § 400,401,402. 164 165 Kizevetter, Gorodovoe polozenie, S. 269. Physiokraten schrieben allejn der Landwirtschaft produktive Kraft zu und fanden in ihr eine Quelle der SchGpfung aller Werte vor. Das Gewerbe erklSrten sie dagegen als unproduktiv. Vgl. Hausherr, Wirtschaftsgeschichte, S. 278. U m g e b u n g von St. Petersburg und an der mittleren Wolga zu erklaren ist. Es scheint, daB Katharina II. keinen Widerspruch darin sah, beide Wirtschaftstheorien zu untersttitzen, und sich von dem Prinzip leiten lieB: Jede Theorie kann niitzlich sein, falls sie z u m allgemeinen Wohlstand und zur Forderung v o n Industrie und Landwirtschaft beitragt. Welche besonderen Merkmale wies das St. Petersburger Zunfthandwerk im Gegensatz zu dem in Westeuropa auf und welche Gemeinsamkeiten hatten sie? E s soli hier immer im A u g e behalten werden, daB es sich u m grundsatzlich verschiedene Zunftprinzipien, um verschiedene konzeptionelle Losungen der Zunftorganisation im H a n d w e r k handelte. Wenn wir das Zunftsystem stark schematisch nach d e m Innen-AuBen-Verhaltnis auswerten, so laBt sich im allgemeinen feststellen, daB sowohl nach d e m InnenVerhaltnis: R e g e l u n g der Asbeit, als auch nach dem AuBen-Verhaltnis: Monopolisierung, welche die Konkurrenz ausschalten sollte (abgesehen von einigen Gemeinsamkeiten z. B. bei der Betriebsordnung bzw. -hierarchie oder der Qualitatskontrolle des Produktes) das russische Zunftsystem anders gestaltet wurde als in Westeuropa. Im russischen Fall wurde das Zunftrecht so modifiziert, daB die Ziinfte nie imstande waren, eine Monopolstellung in St. Petersburg einzunehmen, so daB sie im Unterschied zu Westeuropa nie verlangen konnten, daB alle Meister der Hauptstadt der Zunft beitreten sollten, falls sie ein H a n d w e r k ausiibten . Diese Bestrebung Katharinas II., die Ziinfte in ihren Rechten zu beschranken, war nicht neu. Sie konnte in dem Fall an die westeuropaischen Erfahrungen unter anderem PreuBens und Schweden ankniipfen, w o nach dem DreiBigjahrigen Krieg die absolutistischen Monarchien sich behaupten konnten und alle andere Machtmonopolisten, hier die Zunfte, unterdriickt w u r d e n . Die Zunfte in RuBland waren von Anfang an eine Schopfung des Staates, der mit seinem gesetzgeberischen Instrumentarium die Begriffe fur ihre Konstituierung auswahlte, die am besten seinen Zielen entsprachen. Die Ziele sowohl Peters I. als auch Katharinas II. waren die gleichen: Steigerung der Gewerbeproduktion bzw. des Wohlstandes der Bevolkerung und folglich der Steuereinnahmen, w a s nicht durch die Einfuhrung des Zunftmonopols, sondern im wesentlichen durch die Beschaftigung einer maximalen Zahl von Personen an der Produkt- bzw. Wertschopfung zu erreichen war. D e s w e g e n konnten die Zunfte die Anzahl der Beschaftigten im H a n d w e r k bzw. in den Betrieben nicht begrenzen. Nach AuBen konnten und durften die Zunfte keinen M a r k t z w a n g einfuhren, und sie durften auch die Einkaufspreise von Rohstoffen bzw. die Verkaufspreise ihrer Produkte 166 167 168 Vgl. Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 130f. Ebd.,S. 127. 169 nicht selbst festlegen. A u c h war es ihnen untersagt, den Zunftbann einzufuhren . Solche R e g e l u n g e n waren ein Ergebnis der allgemeinen westeuropaischen Gewerberechtsentwicklung, die Peter I. bzw. Katharina II. zur Kenntnis g e n o m m e n hatten. Modell waren hier Verordnungen in PreuBen und Schweden, die gegen die Zunftregelungen vorgingen, die der Produktionsausweitung hinderlich w a r e n . 170 Bei der Einfuhrung der Zunfte, besonders seit der Zunftreform v o n 1785, muBte sich der Gesetzgeber aber auch dariiber Gedanken machen, wie er in Konflikt zwischen eigenen und kontraren Interessen der Zunfte das B e s t e h e n der Zunfte bzw. des Qualitatshandwerks und das Entstehen einer fachmannischen Tradition, die in RuBland noch geschaffen werden sollte, sichern konnte. So ist es zu erklaren, daB die Zunfte einige Funktionen der Gewerbepolizei bzw. des Gewerbegerichts sowohl nach innen als auch nach auBen ausubten, indem sie d e m H a n d w e r k e r seine Tatigkeit verbieten konnten, falls er Lehrlinge und Gesellen ohne Meisterdiplom unterhielt. D e s weiteren hatte das Handwerksoberhaupt die Befugnis, Lehrlinge einem Meister w e g z u n e h m e n und bei einem anderen zu beschaftigen, w e n n der erste ihn schlecht behandelte. Freilich, n a h m das Handwerksoberhaupt diese Moglichkeit fast nie wahr, weil dies als eine innere Angelegenheit des Meisters gait, ob und welche BestrafungsmaBnahmen er gegenuber d e m Lehrling a n z u w e n d e n fur richtig hielt. Die Handwerksverwaltung fungierte als Schlichtungsstelle bei Streitigkeiten zwischen Handwerkern, Kunden und Zunften. D a s neu eingefuhrte A m t des Handwerksoberhaupts, das die Leitung aller Zunfte in seiner Person vereinigte, war uberhaupt eine N e u e r u n g in der Zunftverfassung Europas, die die spezifischen Seiten der russischen Sozialordnung bzw. Machtverhaltnisse widerspiegelte und als A u s d r u c k einer starken N e i g u n g zur Zentralisierung zustande k a m . 171 2.8 Die G e w e r b e g e s e t z g e b u n g und die Gewerbepolitik d e r russischen Regierung in der ersten Halfte des 19. J a h r h u n d e r t s Z u r russischen Gewerbegesetzgebung im 19. Jahrhundert sind mehrere Arbeiten e r s c h i e n e n . D a aber die gesetzgeberische Tatigkeit der R e g i e r u n g uberwiegend 172 169 Vgl. Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 131. 170 Gommel, Entwicklung, S. 25; Kizevetter, Polozenie, S. 240ff. 171 Vgl. Kizevetter, Polozenie, S. 255. 172 V. Ja. Laverycev, Carizm i rabocy vopros v Rossii (1861-1917), Moskau 1972; Pazitnov, Polozenie rabocego klassa v Rossii; A. F. VovCik, Politika carizma po rabocemu voprosu v predrevoljucionnyj period (1895-1904), L'vov 1964; Puttkamer, Fabrikgesetzgebung; ders., Die Anfange der russischen Arbeiterschutzgesetzgebung und ihre westeuropaischen Vorbilder. In: Reformen in RuBland des 19. und 20. Jahrhunderts: Westliche Modelle und d e m russischen Fabrikwesen gait u n d die ersten Gesetze tiber Kinderarbeit, das Verbot der Nachtarbeit fur Kinder und Frauen, sowie die Einschulung der Fabrikkinder keine Gultigkeit fur die Werkstatten besaBen, konnen diese A b h a n d l u n g e n nur bedingt in unsere Untersuchung einbezogen w e r d e n . Sehr eingehend k a m auf die Gesetzgebung tiber das H a n d w e r k in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts bis zu den 1860er Jahren Ju. Ja. R y b a k o v zu sprechen, der allerdings dieses Problem mit einer generell negativen Einstellung zum Zunfthandwerk b e h a n d e l t e u n d konstatierte, daB die V e r s u c h e der Gewerbegesetzgebung, die Probleme des H a n d w e r k s im standischen R a h m e n zu losen, keine positiven Ergebnisse b r a c h t e n . Die Zoll- und Tarifpolitik der R e g i e r u n g w a r fur das St. Petersburger H a n d w e r k v o n groBer B e d e u t u n g , da es dadurch unmittelbar betroffen war. A b g e s e h e n von Riga war St. Petersburg der groBte Warenumschlagplatz RuBlands. Sehr negativ envies sich die Zollpolitik v o n 1817 bis 1822 w a h r e n d der Amtszeit des Finanzministers D.A. G u r ' e v (1810-1823), der, entsprechend der Richtlinien des Wiener Kongresses in der H a n d e l s p o l i t i k , eine niedrige Verzollung der importierten Waren e i n f u h n e . Sein Amtsnachfolger, Finanzminister E.F. 173 174 175 176 russische Erfahrungen, hrsg. v. Dietrich Beyrau, Igor' CiCurov und Michael Stolleis. р1Ш1кгш1/Ма1п 1996, S. 85-107; weitere Literatur zur Arbeiterfrage in RuBland s. in: Ju. I. Kir'janov, 2iznennyj uroven raboiich Rossii (konec 19 - naCalo 20 vekov), Moskau 1979, S. 20f. 4 173 Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 366,441. 174 Ju. Ja. Rybakov, PromySlennoe zakonodaterstvo Rossii pervoj poloviny XIX veka. Istoenikovedceskie ocerki. Moskau 1986. 175 Der Wiener KongreB fand vom 18.9.1814 bis 9.6.1815 in Wien start, wo unter den rund 200 Staaten, Herrschaften, Stadten und Korporationen die vier (sputer fiinf) GroBmachte GroBbritannien, PreuBen, Osterreich, RuBland (und Frankreich) eine fiihrende Rolle spielten; Literatur hierzu s.: Rudolf Weber-Fas, Deutschlands Verfassung: vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Bonn 1997; Markus Kutter, Der modernen Schweiz entgegen Bd. 3: Die Schweiz von vorgestern; Vom Wiener Kongress bis zu den kantonalen Revolutionen (18141830), Basel 1997; Alexandra v. Ilsemann, Die Politik Frankreichs auf dem Wiener Kongress; Talleyrands auflenpolitische Strategien zwischen erster und zweiter Restauration, Hamburg 1996 (Beitrage zur deutschen und europaischen Geschichte; 16); Michael Handt, Die mindermachtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress, Mainz 1996 (Veroffentlichungen des Instituts f. Europaische Geschichte Mainz; 164: Abteilung Universitutsgeschichte); Anselm Doering-ManteufFel, Vom Wiener Kongress zur Pariser Konferenz: England, die deutsche Frage und das Muchtesystem 1815-1856, Gottingen 1991 (Veroffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 28). 176 Handbuch der europaischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hrsg. von Wolfram Fischer, Jan A. van Hautte u.a., hier Bd. 4: Europaische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. Jlja Mieck. Stuttgart 1993, S. 758. Kankrin (1823-1844), verfolgte bis z u m Ende seiner Amtszeit eine konsequente Schutzzollpolitik und 1842 w u r d e n die Zolle wieder etwas erhoht. Als die h o h e n Zollsatze und Importverbote fur Luxuswaren vor allem im 19. Jahrhundert eingefuhrt wurden, k a m es zu einem schwunghaften Schmuggel an den Westgrenzen des Reiches, wodurch ein Teil des Edelmetalls ins Ausland g e l a n g t e . Dies w a r aber nicht ungewohnlich in Anbetracht der allgemeinen europaischen Entwicklung nach d e m Wiener KongreB, da England und Frankreich eine protektionistische Politik betrieben, der PreuBen, Osterreich-Ungarn und RuBland ebenfalls folgten . 1844 bis 1850 wurden die Zolle wieder gesenkt, wodurch der legale Handel erleichtert wurde. Die Folgen der Zollpolitik sollen am Beispiel des deutschen Kurschners J o s e p h Griinberg gezeigt werden, der auf eigene Kosten eine U n t e r s u c h u n g uber die Einfuhr von Pelzwaren an der russischen Westgrenze 1822/42 anstellte und deren Ergebnisse er 1835 Finanzminister Graf E. F. (Georg) Kankrin bzw. 1836 Innenminister Graf D . N . Bludov z u k o m m e n lieB. Der Leitgedanke des Projektes war, daB das Handelsmonopol der Russisch-Amerikanischen Handelsgesellschaft (Rossijsko-Amerikanskaja kompanijaf uber Pelzwaren, in diesem Fall F u c h s und Iltispelze aus Virginia in Nordamerika, dem AuBenhandel groBen Schaden zufuge und d e m Fiskus eine groBe Steuersumme durch den Schwarzhandel e n t g a n g e n war. Seinen Worten nach wurden uber die Westgrenze und vor allem uber Finnland jahrlich 40.000 bis 50.000 Waschbarpelze sowie Fuchs- und Iltispelze aus Virginia nach St. Petersburg eingeschmuggelt. D a s geschah uber eine 177 178 19 177 Die ersten Gold- und Silbermtinzen in RuBland wurden im 10. und am Anfang des 11. Jahrhunderts gepragt. Seit der Mitte des 12. und bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts war im Zusammenhang mit der Zersplitterung auf mehrere Fiirstenttimer und der politischen Abhangigkeit von der Goldhorde kein russisches Geld mehr im Umlauf. Wahrend des 14.-17. Jahrhunderts wurde das Geld aus dem aus Westeuropa eingefuhrten Gold und Silber gefertigt. Im 17. Jahrhundert wurden fast ausschlieBlich Kupfermunzen mit dem reduzierten Metallgewicht herausgebracht, wodurch die Hyperinflation eintrat und 1660 mit der sogenannten „Kupferrevolte" {Mednyj bunt) endete. Seit der Geldreform anfangs des 18. Jahrhunderts und der Einfiihrung des Dezimalsystems in der Wahrung wurden in RuBland seit 1701 bzw. 1704 regelmSBig Gold- und Silbermttnzen gepragt, die nach der Einfuhrung des Papiergeldes (assignacii) seit 1769 als harte Wahrung galten. Unter „Edelmetall" konnen in den 1820er-1830er Jahren die Silber- und Goldrubel und besonders die goldenen Niederlandischen Dukaten (zolotye niderlandskie dukaty) verstanden werden, die seit 1768 in RuBland gepragt und als Zahlungsmittel im Handelsverkehr mit dem Ausland verwendet wurden. Die letzteren erfuhren besonders seit 1817 einen regen Umlauf auch als Zahlungsmittel innerhalb Rufllands. Vgl. Otecestvennaja istorija. Istorija Rossii s drevnejSich vremen do 1917 goda. Enciklopedija Bd. 2, Moskau 1996, S. 20-25: „Den'gi". 178 179 Burg, Wiener KongreB, S. 127f. Die Russisch-Amerikanische Handelsgesellschaft wurde 1799 gegriindet, um das „Russische Amerika", sprich Alaska, zu erschlieBen und wurde 1868, im Zusammenhang mit dem Verkauf russischer Gebiete in Nordamerika an die USA, geschlossen. Handelskette, die die Pelzwaren aus Nordamerika zuerst nach H a m b u r g transportierte, u m sie dann uber die finnische Grenze nach St. Petersburg zu bringen, w o sie von den Handwerkern weiterverarbeitet und verkauft wurden. Er schlug vor, das M o n o p o l der Russisch-Amerikanischen Handelsgesellschaft abzuschaffen und die Zollabgaben zu senken, w a s mit den Zolltarifen von 1834/36 auch geschah, die unter anderem die Einfuhr von Waschbarpelzen erlaubte. Grunbergs Worten nach lieB sich dadurch das E i n k o m m e n der H a n d w e r k e r und Kaufleute in St. Petersburg deutlich verbessern, weil seinen Berechnungen nach die KUrschner jahrlich von 35.000 bis 40.000 Silberrubel oder etwa 500.000 Silberrubel in 14 Jahren verdienten, wodurch auch der Staat profitierte, da dieses Geld in RuBland blieb, und dadurch eine bessere Handelsbilanz erzielt werden konnte . O b w o h l laut A u s s a g e des Manufaktur- und Innenhandelsdepartements die Vorschlage Grunbergs „auBer Acht" gelassen wurden, senkte der Zolltarif v o m 6. D e z e m b e r 1836 die Zollabgaben fur Pelzwaren erheblich. Z. B . wurden v o n nun an die Waschbarpelze mit 0,8 start zwei Silberrubel pro Pud verzollt, wodurch der Schmuggelhandel drastisch gesenkt werden konnte. A u c h im allgemeinen laBt sich ein Z u s a m m e n h a n g zwischen Liberalisierung des Handels und S e n k u n g der Zolltarife einerseits und der Steigerung des Handelsvolumens andererseits feststellen. Z w i s c h e n 1837 und 1854 steigerten sich die Einfuhr von Pelzwaren und dementsprechend die Zollabgaben an den Staat wie folgt: 180 Tabelle 2: Handel mit Pelzwaren in den Jahren 1837-1854 und die Zollabgaben Jahre Anzahl in Pud Gesamtpreis in Rubel Zollabgaben in Rubel 1837- 1840 6 8 8 6 0 . 110,2 t 973032 191381 1842- 1845 14280 o. 228,5 t 2256031 490708 1850- 1854 25361 o. 405,8 t 3757410 662913 Quelle: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii Korfom inostrannoj remeslennoj upravy v Peterburge (1842-1854), hier: Otnosenie ministra finansov к ministru vnutrennich del ot 29 janvarja 1854 g., 1. 125f. Es war ein Zeichen der Zeit, daB der Staat die Heimindustrie mit Schutzzollen vor der auslandischen Konkurrenz zu schutzen versuchte. 180 RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii Korfom inostrannoj remeslennoj upravy v Peterburge (1842-1854), hier: Proserrie J. Grjunberga к ministru vnutrennich del D.G. Bibikovu ot 29 aprelja 1853 g., 1. 113-119. W a s die Innenpolitik betraf, stellte die Gildenreform v o m 14. N o v e m b e r 1824 einen tiefen Einschnitt in die Rechte der Zunfthandwerker d a r . V o n n u n an b e k a m e n die Kaufleute der ersten und zweiten Gilde das Recht, ohne eine Meisterprufung in der Handwerksverwaltung eine Handwerksstatte mit einer unbegrenzten Anzahl an Lehrlingen, Gesellen u n d Meistern zu unterhalten. Das nach dem franzosischen Vorbild eingefuhrte Patentsystem erlaubte den bauerlichen Handwerkern, die das Patent der vierten und funften Klasse kauften, jeweils eine Fabrik bzw. eine Werkstatt in St. Petersburg zu fuhren. D e s weiteren sollten alle Artelsarbeiter ein Patent der sechsten Klasse fur 25 Rubel kaufen, w a s eine wesentliche B e s c h r a n k u n g fur sie darstellte . D e n Zunfthandwerkern wurde dagegen keine Erweiterung ihrer Rechte, was das Handwerksrecht betraf, zugestanden. Ihnen w u r d e verboten, fremde Produkte weiterzuverkaufen, w a s in der Regel fur das Zunftrecht in Westeuropa typisch war. Die Gildenreform lehnte sich hier noch an die russische G e w e r b e g e s e t z g e b u n g a n . Fuhrten die H a n d w e r k e r neben ihrer Werkstatte auch noch Ladengeschafte, durften sie ihre Produkte nur dort verkaufen. Mit anderen Worten das A n g e b o t durfte die Nachfrage nicht ubersteigen. Falls die Handelsdeputation feststellte, daB in der Werkstatt zu viele Fertigprodukte gelagert wurden, wurden die H a n d w e r k e r unverziiglich dazu gezwungen, sich in die Gilde einzuschreiben. AuBerdem w u r d e n die H a n d w e r k e der Schmiede, Karrenbauer, Radmacher, Bottcher und Reifenmacher auch auBerhalb der Stadtgrenzen zugelassen, w a s den gleichnamigen Zunfthandwerkern der Hauptstadt zusatzliche Konkurrenz b e r e i t e t e . Die groBten Probleme bereiteten aber die mes£ane, aus deren Schicht die Handwerker und Kaufleute rekrutiert wurden und zu deren Rechten es gehorte, beides, das H a n d w e r k und den Handel in zugelassenen Grenzen, zu betreiben. D a aber, wie schon fruher bemerkt wurde, das Gesetz viele Interpretationsmoglichkeiten zulieB, war es in Wirklichkeit schwierig, die mes6ane bzw. Beisassen (posadskie) effektiv zu kontrollieren und ihnen rechtzeitig Grenzen aufzuzeigen. Finanzminister Kankrin prangerte bezuglich der Gildenreform 1824 diesen M a n g e l an, als er feststellte, daB „viele steuerfreie , W e r k b a n k e ' [...] in Wahrheit ,ziemlich groBe' gildenpflichtige ,Fabriken gewesen s e i e n " . E s wurde 181 182 183 184 4 185 181 Zur Gildenreform s.: Hildermeier, Burgertum, S. 183-218; Ryndzjunskij, P.G., Gil'dejskaja reforma Kankrina 1824 goda, in: Istoriceskie zapiski AN SSSR, Bd. 40, S. 110139. 182 PSZ RI 1, Bd. 39, Nr. 30115 (14.11.1824): ЭороткеГпое postanovlenie ob ustrojstve gil'dij i о trogovle proeich sostojanij, S. 588-612, hier § 98-118. Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 188-197. 183 Hildermeier, Burgertum, S. 195; Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 131. 184 Dopolnitel'noe postanovlenie, § 98,118, S. 599, 602. ihnen namlich erlaubt, Werkbanke zu besitzen und auBer den Familienangehorigen bis zu drei Lohnarbeiter bzw. sechs Jungen zu beschaftigen . 186 2.9 Staatliche MaOnahmen Zunfthandwerks zum Schutz des hauptstadtischen Ungeachtet aller staatlichen Einschnitte in die Zunftrechte soil der Politik der Regierung Gerechtigkeit widerfahren, da sie mit ihren „StrafmaBnahmen" das Zunfthandwerk schutzen wollte. A m E n d e des 18. und in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts w u r d e v o n der Regierung eine Reihe von Regelungen getroffen, die fur die Meister, die das Handwerksstatut in irgendeiner Weise verletzten, Geld- oder Zuchthausstrafen vorsahen, bis schlieBlich am 15. August 1845 das Strafgesetzbuch herausgegeben w u r d e . Den Meistern muBten die neuen Regelungen zwiespaltig v o r k o m m e n . Einerseits schutzte die Gesetzgebung die Zunfte von nichtzunftigen Handwerkern, indem sie die gewerblichen Rechte der letzteren einschrankte, andererseits trugen die Gewerberechte der Kaufleute zur wesentlichen Beschrankung der Meister bei. So schutzten zwei Erlasse von 1795 und 1801 die Kaufleute vor d e m MiBbrauch ihrer Handelsrechte durch die Handwerker. Der ErlaB von 1795 untersagte Meistern, deren H a n d w e r k nach einem hohen Kapitaleinsatz verlangte, ihr H a n d w e r k auszuuben, falls sie nicht Mitglied einer kaufmannischen Gilde waren. 1801 untersagte der Gesetzgeber Handwerkern, die nicht in die kaufmannische Gilde eingeschrieben waren, Laden bei ihren Werkstatten zu offiien. In beiden Fallen w u r d e ein erstmals uberfuhrter Meister mit der Halfte der S u m m e , die er fur die kaufmannische Erlaubnis zahlen sollte, bestraft. D a s zweite Mai muBte er das Doppelte zahlen und fur das dritte Mai wurde ihm eine Haftstrafe von drei bis sechs M o n a t e n a n g e d r o h t . 187 188 N a c h d e m Gesetz v o n 1796 setzte sich jeder Handwerker, der kein Recht hatte, eine vollstandig eingerichtete Werkstatt mit Lehrlingen und Gesellen zu fuhren, der Gefahr aus, mit einer Geldstrafe von zehn bis 15 Rubeln bestraft zu werden. Alle Erzeugnisse und Werkzeuge wurden konfisziert und die Werkstatt 189 g e s c h l o s s e n . Besonders streng wurden die Gold- und Silberschmiede sowie Juweliere bestraft, die ihre Produkte ohne Warenzeichen verkauften. N a c h dem 186 Dopolnitel'noe postanovlenie, § 100, S. 599. 187 PSZ RI 2, Nr. 19283 (1845): Uloienie о nakazanijach ugolovnych i ispravitePnych, hier Kapitel 14: О narusenii ustavov fabricnogo, zavodskogo i remeslennoj promySlennosti, S. 916-926. 188 Ebd., S.918. 189 Ebd. Gesetz v o n 1832 w u r d e n z u m ersten Mai uberfiihrte Meister mit der Konfiszierung ihrer Waren bedroht und beim zweiten und dritten M a i j e w e i l s mit hohen 190 Zwangsgeldern bzw. einem Handwerksverbot bestraft . Die Strafgesetzordnung von 1845 stufte das zunftfreie Handwerk schlieBlich als kriminelle H a n d l u n g ein 191 und stellte es unter Strafe . Allgemein gesehen blieb die Handwerksgesetzgebung das ganze 19. u n d beginnende 20. Jahrhundert immer konservativ und bewegte sich im vorgegebenen R a h m e n des Handwerksstatutes von 1785 u n d des Zunftstatutes von 1799. D a s Handwerksstatut in der ersten A u s g a b e der Gesetzesammlung v o n 1832 enthielt insgesamt 2 7 0 Artikel, von denen 142 einen Verweis auf das Handwerksstatut von 192 1785 und 101 auf das Zunftstatut v o n 1799 e n t h i e l t e n . 2.10 Die Reformversuche v o n 1850 M i t der fortschreitenden Entwicklung vieler Handwerksbetriebe zu Fabriken sah sich die Regierung gezwungen, dies gesetzlich zu regeln u n d festzulegen, welche Betriebe d e m H a n d w e r k und welche der GroBindustrie angehoren sollten. Die Ausarbeitung des neuen Handwerksstatutes im Jahre 1850 w u r d e von diesen 193 G e d a n k e n g e l e i t e t . Die Regierung erkannte, daB die aktuellen B e s t i m m u n g e n fur das H a n d w e r k eine wesentliche Diskrepanz zur herrschenden Realitat aufwiesen, weil sie noch v o m Stadtstatut des Jahres 1785 u n d v o m Zunftstatut von 1799 194 h e r r u h r t e n . N a c h M e i n u n g des Gesetzgebers waren die Zunfte nicht sinnvoll nach der Art der ausgeubten Tatigkeit aufgegliedert. Dies w u r d e damit belegt, daB z. B . die Schmiede und Schlosser zwei verschiedenen Zunften angehorten, obwohl sie ihrem Wesen nach dem metallverarbeitenden Handwerk angehorten. Umgekehrt waren mehrere Handwerksarten, die nichts miteinander zu tun hatten, wie z. B . die Topfer und die K a m m m a c h e r , die Ikonenmaler u n d die Maler und Tabakmacher, die Kunstmaler und die Gartner usw., in einer gemeinsamen Zunft vereinigt. 190 Ebd., S. 922. 191 Ebd.; Vgl. PSZ RI 1, Bd. 25 Nr. 19187 (12.11.1799), S. 864-886. 192 Pazitnov, Problema, S. 104; Vgl. PSZ RI 1, Bd. 22 Nr. 16188 (21.4.1785), S. 369-379, punkt 120-123. 193 Trudy komissii, ucrezdennoj dlja peresmotra ustavov fabricnogo i remeslennogo, cast' 1: Proekt ustava о promySlennosti. St. Petersburg 1863, S. 30ff. Diese Unterteilung, wie z. B . im Fall der Schmiede und Schlosser, war mit dem 195 Zunftstatut v o n 1799 eingefuhrt w o r d e n . Hier k a m der Wille der Regierung z u m Ausdruck, die Zahl der Zunfte zu verringern, um die Kontrolle zu vereinfachen, aber auch den finanziellen Aufwand, den die Zunftverwaltung verursachte, zu reduzieren. D a s zeigt uns das n e u e Verzeichnis der Zunfte, das 1850 im Innenministerium fur die „Stadte und Orte der Westlichen, Kleinrussischen und Neurussischen G o u v e r n e m e n t s " zusammengestellt wurde. Unterschieden werden insgesamt zwolf ubergeordnete Zunftgruppen, denen die einzelnen H a n d w e r k e zugeteilt wurden. D i e Wagenbauerzunft versammelte z. B . die Wagenbauer, Karrenbauer, Radmacher, Schmiede, Tapezierer und Sattler, die Werkzeugherstellerzunft die Schlosser, Mechaniker, Optiker, Uhrmacher und 196 uberhaupt alle W e r k z e u g m e i s t e r . Ihnen folgten noch sieben H a n d w e r k e , die einzeln aufgefuhrt wurden. Aber auch in dieser Unterteilung unterlief dem Gesetzgeber ein Widerspruch: die Schmiede und Schlosser, die in eine Zunft gehoren sollten, wurden von neuem getrennt. D e s weiteren gab es h o m o g e n e Zunfte einer einzigen Berufsgruppe wie die der Waffenschmiede, der Buchbinder, der Tabakmacher, der Topfer, der Maler und der Fensterscheibenmeister, der Glaszunft und der Meister fur das glaserne Geschirr. AuBerdem waren auch nichthandwerkliche Zunfte w i e die der Kutscher und der Gartner vorgesehen. Die B a u h a n d w e r k e wie die der Zimmerleute, Maurer, Steinmetze, Dachdecker, Steinsetzer und der Stuckarbeiter gelangten 197 paradoxerweise in diese nichthandwerklichen Z u n f t e , w a s dadurch zu erklaren 195 PSZ RI 1, Nr. 19187, S. 685, § 6, 7. 196 Weitere Zunfte: 1. Kupfer- und EJronzeschmiedezunft: Kupferschmiede, Bronzegiesser, Galvanoplastik, Lampenmacher, Laternenmacher, Giefier, Knopfmacher und Stecknadelmacher, 2. Tischlerzunft: Tischler, Holzschnitzer, Burstenmacher, Schirmmacher, Korbflechter, Korkmacher, 3. Schneiderzunft: Schneider, Miitzenmacher, Hutmacher, WeiBgerber, 4. Weberzunft: Weber, Spinner, Farber, Posamentierer, Goldsticker, Kattundrucker, Meister fur Haarerzeugnisse, 5. SchOne Kunste: Kunstmaler, Ikonenmaler, Graveure, Lithographen, Buchdrucker, Bildhauer, Musiker, Graveure und Steinschnitzer, 6. Ledererzeugnissezunft: Schuhmacher, eine Art der Schuhmacher - BaSmaCniki, Handschuhmacher und allgemein die Meister der Leder-, Wildleder- und Gummierzeugnisse, 7. Backerzunft: Kochmeister, Koche, Konditoren, Weiflbrotbacker, Lebkuchenmeister, Wurstmacher, Kvasbrauer, 8. Juwelierzunft: Brilliantenmeister, Gold- und Silberschmiede, 9. Arzthelferzunft: Friseure, Barbiere, die Meister fur Pomade, Seife und Parfumerie, 10. Ofensetzer: Ofensetzer und Kaminfeger. 197 Trudy komissii, cast' 2: Obzor praviterstvennych mer, S. 58ff. ist, daB sich diese H a n d w e r k e fast ausschlieBlich in den H a n d e n v o n bauerlichen Handwerkern befanden, die in den Artelen vereinigt w u r d e n 198 . Der Leiter der Zweiten Abteilung der kaiserlichen Kanzlei, Graf D . N . Bludov, kritisierte diese Klassifizierung und die rasante V e r m i n d e r u n g der Anzahl der Zunfte durch die Vereinigung verschiedener Handwerksbereiche in einer Zunft. Er betonte, daB eine bessere Kontrolle iiber die Qualitat der Ware nur im engen Zunftkreis durchgefuhrt werden konne, denn nur hier war die entsprechende 199 Fachkompetenz vertreten . Er befurwortete die Erhaltung getrennter Zunfte, deren es insgesamt 60 gab. Die Beibehaltung der Zunftverwaltungen hielt er zur Verbesserung der Handwerkskunst fur richtig. Bludov unbefriedigende Zusammenstellung des Verzeichnisses. Z u r bemangelte die Schneiderzunft gehorten z. B . a u c h die Mutzenmacher, die Hutmacher und die Kiirschner; zur Backerzunft gehorten die WeiBbrotbacker, Lebkuchenmeister, die Wurstmacher 200 und die K v a s b r a u e r . Er unterstrich die Bedeutung der Zunftverwaltungen bei der 201 schnellen und nachhaltigen Losung von Streitfragen zwischen den H a n d w e r k e r n . Bludov betonte als Ziel der Reform die Beseitigung aller H e m m n i s s e der Gewerbearbeit und wies auf die ungleichen Rechte fur die Fabrikanten einerseits 202 u n d fur die H a n d w e r k e r andererseits h i n . N a c h d e m diese Tatsachen festgestellt worden waren, gab es Versuche, eine deutlichere Grenze zwischen den Fabriken und den Werkstatten zu ziehen, w a s beinahe unmoglich war, weil hier eine „ G r a u z o n e " existierte, „in der ein Betrieb sich zwar noch als handwerklich bezeichnete, in der Wirklichkeit aber bereits eine kleine Fabrik w a r " 203 . Als Ergebnis dieser Arbeit wurde 1852 eine vereinfachte H a n d w e r k s o r d n u n g veroffentlicht, die allerdings fur St. Petersburg, Moskau und andere groBere Stadte keine Gultigkeit hatte. A n der genaueren B e s t i m m u n g der Art der Betriebe w u r d e weiter in einem Sonderkomitee des ManufaktuiTats gearbeitet. D a s Komitee faBte drei Verzeichnisse zusammen, in denen die Betriebsarten in drei groBe G r u p p e n j e nach der Branche aufgeteilt wurden: 198 Die Tendenz in den Bauhandwerken, grdBere Arbeitsgemeinschaften aus technischwirtschaftlichen Grunden zu bilden, war nicht nur fur St. Petersburg typisch, sondern machte sich auch in Berlin bemerkbar: hier kamen z B. 1861 auf einen Zimmerer 14,4 Gesellen und auf einen Maurer 17,3 Gesellen, aus: Bergmann, Berliner, S. 160. 199 Trudy komissii, Cast* 1: Obzor praviterstvennych mer, S. 34. 200 Ebd., S. 35. 201 Ebd., S. 36. 202 Ebd., S. 134. 1. 2. Fabrikbetriebe (55), handwerkliche Betriebe, die potentielle oder wirkliche Fabrikbetriebe waren (65) und 3. handwerkliche Betriebe (58). Diese Aufgabe muBte 1855 die M o s k a u e r Abteilung des Manufakturrates losen, die daraufhin ein Verzeichnis verfaBte, in d e m alle ihrer M e i n u n g nach zunftpflichtigen H a n d w e r k e (insgesamt 103) aufgelistet wurden. Bei genauer Betrachtung der Verzeichnisse stellte sich heraus, daB drei verschiedene Staatsressorts zu einer unterschiedlichen Zahl von H a n d w e r k e n kamen. Beim Innenministerium waren es 60, beim Manufakturkollegium 120 und bei der M o s k a u e r Abteilung 103. D e n Mitarbeitern der Regierung schien es beinahe so, als lage die L o s u n g nicht in einer formalen Teilung, sei es in qualitativer oder quantitative! Hinsicht, sondern in einer grundsatzlich anderen Vorgehensweise. Diese Schwierigkeiten des Gesetzgebers, das H a n d w e r k v o n der Industrie rechtlich abzugrenzen, wurden nicht nur in RuBland, sondern auch in Deutschland thematisiert, was erklart, warum sich der russische Gesetzgeber fur die deutschen Erfahrungen imeressierte . 1857 erschien mit wenigen Anderungen Gewerbestatut, das fur die Entwicklung der Industrie von ausschlaggebender Bedeutung war. Laut Statut teilte sich die B e v o l k e r u n g in vier groBe Gruppen: Adel, Klerus, stadtische Kleinburger und Bauern. Laut Gesetz hatten alle, die in die Gilde eingeschrieben waren und die entsprechende Handelslizenz besaBen, Adelige, die in eine kaufmannische Gilde eingeschrieben waren, Bauern mit einer Handelslizenz, zu denen noch Kolonisten und Juden in ihren Wohnorten hinzugezahlt wurden, das Recht, eine Fabrik zu griinden . Hier sind eigentlich alle potentiellen Konkurrenten des Zunfthandwerks aufgezahlt, die o h n e Zunfterlaubnis auch Handwerksbetriebe griinden konnten. Das Statut trug zur S c h w a c h u n g des Zunftsystems der Hauptstadt bei, da es die Meister in den Fabriken v o m Eintritt in die Zunft befreite . Die 1843 von N . Smirnov vorgeschlagenen neuen Zunftordnungen (obrjady) wurden dann in den 50er Jahren weiterentwickelt, u m den EinfluBbereich verschiedener Zunfte a b z u g r e n z e n . Dafiir sollte vor allem eine genauere 204 205 206 207 204 Ebd. 205 Trudy komissii, Cast' 1, S. 174f. 206 2MVD, 6ast' 36 (Mai 1859), S. 81. 207 Obrjady dlja S.-Peterburgskogo russkogo bulocnogo cecha, St. Petersburg 1850; -"brillianto-zolotogo i serebrjanogo cecha, St. Petersburg 1856; -„- cirkul'nogo i parikmacherskogo cecha, St. Petersburg 1854; -"- goitfarno-pecnogo i truboeistnogo cecha, St. Petersburg 1856; -"- konditerskogo cecha, St. Petersburg 1850; -"- prjanienogo cecha, St. Petersburg 1850; -"- sapoznogo cecha, St. Petersburg 1852; -"- stoljarnogo cecha, St. Beschreibung der verwendeten Rohstoffe und ihrer Z u s a m m e n s e t z u n g sowie die Beschreibung der hergestellten Waren dienen. Die Tatsache, daB seit den 30er Jahren groBe Streitigkeiten zwischen den Zunften in St. Petersburg ausgetragen wurden und schlieBlich die neuen Zunftordnungen in den 50er Jahren zusammengestellt wurden, spricht dafiir, daB in St. Petersburg um diese Zeit ein harter K a m p f u m Marktanteile stattfand. Jede Zunft wollte sich ein bestimmtes Marktsegment sichern. Dies waren auBere Zeichen einer N e u o r d n u n g des Zunfthandwerks in der Hauptstadt. E s gab zwar eine klare Spezialisierung der H a n d w e r k e , diese A b g r e n z u n g war aber insofern hinfallig, als daB j e d e r Handwerker einem anderen H a n d w e r k nachgehen konnte, w e n n er sich davon hohere E i n n a h m e n versprach. So konnte z. B . der Schuster dem Gerberhandwerk nachgehen und umgekehrt, w a s in Westeuropa undenkbar gewesen ware. D a s schadete im Endeffekt der allgemeinen Lage des H a n d w e r k s und verschlechterte das qualitative Niveau, was seinen Niederschlag besonders im 18. und 19. Jahrhundert fand, als Waren auslandischer H a n d w e r k e r in qualitativer Hinsicht absolute Prioritat auf d e m russischen Markt hatten. Dieses P h a n o m e n laBt sich dadurch erklaren, daB die Verselbstandigung der G e w e r b e g r u p p e n teilweise per ErlaB schon im 18. Jahrhundert verordnet w u r d e , ihre Spezialisierung sich aber erst nachtraglich um die Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog. Was in Verselbstandigung Westeuropa verschiedener Ursache und Wirkung Gewerbegruppen war, erfolgte d. infolge h. die ihrer Spezialisierung, erfuhr in RuBland eine umgekehrte Reihenfolge. Hier erfolgte zuerst die Verselbstandigung der Gewerbegruppen in den Zunften, in denen die H a n d w e r k e r weiterhin, ihrer alten Tradition folgend, auch anderen H a n d w e r k e n nachgingen, u n d dann ihre Spezialisierung. 2.11 Die Regierungskommissionen 1859-1865 V o r und nach d e m Beginn der „groBen Reformen" wandte der Gesetzgeber seine Aufmerksamkeit wiederholt der Situation des H a n d w e r k s zu. Die Aktivitaten der Regierung in dieser R i c h t u n g fielen mit der Abschaffung der Zunfte bzw. Petersburg 1856; -"- tokarnogo cecha, St. Petersburg 1851; sowie in PGIA, f. 223, op. 1, d. 2328,1. 2-5: Obrjady russkogo i inostrannogo slesarnogo cecha; Obrjady russkogo i inostranngo pozumentnogo cecha. Ebd., op. 1, d. 2334,1. 2-11; Obrjady russkogo i inostranngo kuznecnogo cecha. Ebd., op. 1, d. 2332,1. 8-15; Obrjady russkogo i inostranngo perepletnogo cecha. Ebd., op. 1, d. 2333,1. 8-14; Obrjady russkogo i inostranngo casovogo cecha. Ebd., op. 1, d. 2340,1. 2-15. Einfuhrung der Gewerbefreiheit in Westeuropa zusammen. Die Ironie der Geschichte w a r auch Zelnik aufgefallen: „Ironically, the guild system had barely taken root in Russia w h e n its Western counterpart began to be uprooted by the foras of economic and industrial freedom" . 208 Die Gewerbefreiheit im deutschsprachigen R a u m vollzog sich w i e folgt: 1859 wurde sie in Osterreich, 1860 in Nassau, 1861 in Sachsen, 1862 in Wurttemberg und B a d e n eingefuhrt. AuBerdem erschien 1858 in Bremen das B u c h v o n Victor B o h m e r t uber die Gewerbefreiheit, das einen bedeutenden EinfluB auf die Ansichten eines Teils der russischen Regierung a u s u b t e . 1857 wurde die Moskauer Abteilung des Manufakturrates unter Vorsitz des Grafen I g n a t ' e v beauftragt, eine Gliederung der Industriebetriebe zu erarbeiten. M a n wollte aus fiskalischen Griinden H a n d w e r k s - u n d GroBindustriebetriebe voneinander trennen. 1859 wurde eine Regierungskommission zusammengerufen, die eine Bestandsaufhahme sowohl des H a n d w e r k s als auch der Auswirkungen der russischen Gewerbegesetzgebung durchfuhren s o l l t e . Die K o m m i s s i o n stand unter dem Vorsitz des Ratsmitgliedes beim Innenminister Adolf Baron von Stackelberg. U n t e r den Mitgliedern war auch der Sekretar der St. Petersburger H a n d w e r k s v e r w a l t u n g S. I. Gracinskij. 1860 sammelte Stackelberg die notwendigen Materialien uber die Gewerbegesetzgebung in RuBland und im Ausland. Die K o m m i s s i o n stellte fest, daB sowohl die M o s k a u e r Abteilung des Manufakturrates als auch das Innenministerium in St. Petersburg zu dem SchluB g e k o m m e n waren, daB die Zunfte vollig abgeschafft werden sollten. Die A r g u m e n t e dafur waren: 209 210 1. Die Zunftordnung setzt der Entfaltung der Industrie und des Handwerks Grenzen, 2. sie mindert den Wohlstand des groBten Teils der kleineren Produzenten, 3. sie laBt die Moral im Stand der Handwerker sinken u n d 4. sie entspricht nicht dem Entwicklungsgrad der Wirtschaft und der Natur des russischen Volkes. Charakteristisch fur die Arbeit der Stackelbergschen Kommission war, daB sie im Geiste der russischen Gewerbegesetzgebung handelte, indem sie, wie schon vor ihr Peter I. und Katharina II., ihre Aufmerksamkeit zuerst auf Westeuropa richtete und dort Erfahrungen sammelte, wozu Stackelberg Deutschland bereist hatte. Ohne 208 Zelnik, Labor, S. 122. 209 Ebd. S. 119-159 und besonders S. 120-125. 210 Zur Bewertung der Arbeit der Kommission von Stackelberg s. auch: Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 113-118. Zweifel hatte das Gesetz iiber die Gewerbefreiheit v o m 15. Oktober 1861 im Deutschen Reich u n d die Abschaffung der Zunftverfassung mit I n n u n g s z w a n g , L e h r z w a n g etc. z u m 1. Januar 1862 im Konigreich Sachsen eine enorme A u s w i r k u n g auf die strikt negative Stellungnahme von Stackelberg zur Zunftordnung in RuBland und sein Verlangen nach ihrer sofortigen Abschaffung sowie seiner Forderung nach einer Neuorganisation des H a n d w e r k s durch die Innungen, wie es in Deutschland der Fall w a r . Die K o m m i s s i o n v o n Stackelberg unterstrich, daB selbst die Zunftobrigkeit bzw. die Zunftverwaltung in den Zunften lediglich ein fiskalisches Instrument sah. Die K o m m i s s i o n sah die einzig mogliche L o s u n g des Problems in der Beseitigung des M o n o p o l s u n d des Zwangscharakters der Zunfte, die ihren A u s d r u c k in der Abschaffung des Zunftsystems finden s o l l t e . N a c h der Auflosung des Zunftsystems sollte die G r u n d u n g von Berufsverbanden oder Gesellschaften der Arbeiter initiiert werden. Als Argument dafur w u r d e auf die Artels hingewiesen, die in RuBland seit Alters her b e s t i i n d e n . Die Kommissionsmitglieder wollten einen gesonderten „Stand" der Industriellen schaffen, da bisher nur die oben aufgezahlten Standesmitglieder dem Handwerk nachgehen konnten, wodurch die industrielle Entwicklung gebremst wurde. 211 212 213 1862 veroffentlichte die Kommission einen Entwurf des Industriestatutes, das fur alle Gewerbetreibenden, seien es Handwerker oder GroBindustrielle, gelten sollte. Betrachten wir einige wesentliche Vorschlage der K o m m i s s i o n , die den Standpunkt ihrer Mitglieder am deutlichsten charakterisieren: Start der Zunfte sollten allmahlich die Artels an ihre Stelle treten, die nach dem einstimmigen BeschluB der Meister einer Zunft gegrundet werden sollten. N a c h der Bestatigung des Beschlusses durch die Zunftaltesten und das Handwerksoberhaupt ware das Artel zustandegekommen. D a s Artel sollte aus den wirklichen Artelmitgliedern und den Neulingen (novik) bestehen und der Stadtduma u n t e r s t e h e n . Fiir die F o r d e r u n g des Gewerbes sollte ein Wirtschaftsrat (promyslennyj sovet) zustandig sein, der Beratungsfunktionen in Fragen der Verbesserung der Industrie haben s o l l t e . AuBerdem sollte ein Komitee beim Departement fur Manufakturen und Binnenhandel gegrundet werden, das aus Gewerbetreibenden, zwei Professoren fur C h e m i e und M e c h a n i k und einem Mechaniker bzw. Ingenieur 214 215 211 Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 362; K.H. Kaufhold, Das Handwerk zwischen Anpassung und Verdrangung, in: H. Pohl (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Probleme der Hochindustrialisierung (1879-1914). Paderborn 1979, S. 103-141. 2 , 2 Trudy komissii, Cast' 1, S. 137ff., 149. 213 Ebd., S. 148. 214 Novik ist derjenige, der sich aus der Leibeigenschaft noch nicht losgekauft hat, in: Trudy komissii, cast' 1, S. 20, 179, 186. 2 , 5 Trudy komissii, cast' 1, S. 490. bestehen und das Handwerk und Gewerbe allgemein erforschen und die Kenntnisse uber sie auf den neuesten Stand bringen s o l l t e . Im § 1 des Projektes w u r d e die selbstandige gewerbliche Tatigkeit aller russischen Untertanen und von Auslandern j e d e n Standes und beiderlei Geschlechts in alien Orten des Reiches erlaubt. D e s weiteren w u r d e fur die Griindung eines Gewerbebetriebes eine Bescheinigung uber die Entrichtung aller Steuern v o n der jeweiligen Stadtverwaltung b e n o t i g t . Das exekutive O r g a n fur die Gewerbebetriebe war die Stadtduma, das Finanz- und Innenministerium galten als hochste I n s t a n z e n . Laut § 31 sollten in Zukunft die Bezeichnungen „Meister", „Geselle" und „Lehrling" durch „Inhaber", „Angestellte" u n d „Arbeiter" ersetzt w e r d e n . Diese Unterteilung ist spater in alien Statistiken uber die gewerbetreibende Bevolkerung der Stadt zu finden. Die liberale Presse und die technische Intelligenz begruBten den Entwurf, der allerdings in der Regierung keinen Widerhall fand. Die Vorschlage der K o m m i s s i o n waren ihrer Zeit weit voraus und sollten durch die Neuorganisation der Industrie und der Arbeiterschaft eine gewisse A b s c h w a c h u n g der Spannungen in den sozialen Konfliktzonen und eine Schlichtung besonders scharfer Gegensatze zustande bringen. G e n a u in diesem Sinne verstanden die Zunfte St. Petersburgs ihre Rolle als vermittelndes Glied zwischen den zwei „antagonistischen" Klassen der damaligen Industrie: Fabrikarbeitern und Kapitalisten . D a s ist unter anderem darin zu ersehen, daB die Zunfte eine abweisende Haltung gegentiber der organisatorischen Vermischung v o n GroBindustrie und kleinerem Gewerbe bzw. gegen die Kontrolle des H a n d w e r k s durch die Fabrikinspektion e i n n a h m e n . Mit anderen Worten, sie betonten die Andersartigkeit des H a n d w e r k s und die daraus folgende Notwendigkeit einer eigenen unabhangigen Organisation. Im Gegensatz zu den Vorschlagen der K o m m i s s i o n von Stackelberg, das H a n d w e r k zu reorganisieren, bestatigte das Gesetz v o m 20. M a r z 1862 den standischen Charakter der Handwerksverwaltung und lieB die Teilung des Handwerksstandes in standige und zeitweilige Handwerker weiter bestehen, ohne 216 217 218 219 220 221 2 . 6 Ebd., S. 181,183. 2 . 7 Ebd., S. 487. 218 Ebd., S. 489. 219 Ebd., S.495. 220 Vgl. Kaufhold, Handwerk, S. 132f. 221 Die Fabrikinspektion wurde 1882 eingefuhrt, um die Befolgung der Gewerbegesetzgebung seitens der Fabrikbesitzern zu kontrollieren. 222 letzteren das Wahlrecht zu erteilen . Die Regierung beschrankte sich a u f die Herausgabe einer Zeitschrift, die w e n i g R e s o n a n z in der Handwerkerschaft fand. In der Zeitschrift, die „Der russische H a n d w e r k e r " hieB und v o n der Regierung zwischen 1862-1864 herausgegebenen und finanziert wurde, sollten die Probleme der Neuorganisation des H a n d w e r k s diskutiert werden. Ein spezifisches Merkmal dieser Zeit, zu dessen Herausbildung auch die Stackelbergsche K o m m i s s i o n beitrug, war, daB die Einstellung zu den Zunften in Regierungskreisen m e h r und mehr negative Ztige einnahm. Eine Folge war die Abschaffting des obligatorischen Eintritts in die Zunfte mit d e m Gesetz v o m 4. Juli 1866 in den Stadten des St. Petersburger Gouvernements und in den Ostseepro v i n z e n . 223 2.12 Die Regierungspolitik von 1870 bis 1914 Die nachhaltige Wirkung der Arbeitsergebnisse der Stackelbergschen Kommission ist im BeschluB des Reichsrates bezuglich des n e u e n Stadtstatutes von 1870 zu sehen, in dem dieser seine M e i n u n g uber die Reorganisation des Zunftwesens mit den Ergebnissen der Stackelbergschen K o m m i s s i o n begrundete und d e m Innenministerium vorschlug, den Stand der Zunfthandwerker a u f z u l o s e n . Die Ausfuhrung dieses Vorschlages zog sich hin, denn im Innenministerium w u r d e sehr wohl verstanden, daB das Problem zu k o m p l e x war, u m es mit einem Schlag bzw. mit der Auflosung der Zunfte zu losen. Die Uberlegungen waren nicht nur fiskalischer Natur, sondern betrafen auch Fragen uber die Ausbildung im H a n d w e r k und uber die elementare Kontrolle, die die Handwerksverwaltungen gut oder schlecht ausfuhrten. AuBerdem mussen immer die E n t w i c k l u n g e n in D e u t s c h l a n d im A u g e behalten werden, weil sie eine erhebliche Rolle in der Orientierung der russischen Regierung in Fragen der Gewerbepolitik spielen. E s ist bemerkenswert, daB gerade zu dieser Zeit, als die russische Regierung versuchte, die liberalen Gesetze der 60er Jahre in Einklang mit der Realitat zu bringen, w a s allzuoft als „restriktiv" interpretiert wurde, in Deutschland eine innenpolitische W e n d e stattfand. A b 1881 w u r d e in der Gewerbepolitik des 224 222 G. S. VoPtke, О proekte remeslennogo ustava, in: Trudy vtorogo vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge. St. Petersburg 1911, S. 6. 223 Vortke, О proekte, S. 6; Die Zunfte wurden nicht generell abgeschafft (unictozenie cechovogo remesla, proizvedennoe po rekomendacii komissii Stackelberga zakonom 4 ijulja 1866 goda), wie Pazitnov meinte, in: Pazitnov, Problema, S. 189. Vol'tke, О proekte, S. 7. Reiches begonnen, „die ,hyperliberalen G e s e t z e ' zugunsten des H a n d w e r k s " umzuformen . Wenigstens sollte eine Fabrikinspektion geschaffen werden, was auch 1882 der Fall war, die schon mit der Uberprufung der ihr unterstehenden groBeren Industriebetriebe vollig uberfordert war. Langfristig gesehen konnte die Unterstellung der Werkstatten unter die Fabrikinspektion positive Wirkungen haben, in Anbetracht der groBen Masse von Handwerksbetrieben aber war sie in der naheren Zukunft nicht realisierbar. AuBerdem benotigten die Handwerker eigene Organisationsformen, die von der GroBindustrie getrennt existieren sollten. Eine KompromiBlosung wurde teilweise damit erreicht, daB die Fabrikinspektion die „gr6Beren Werkstatten" (znaditel 'nye remeslennye zavedenija) ihrer Aufsicht unterstellen durfte. Diese Methode der lokalen gesetzlichen Eingriffe im Bereich der kleinindustriellen Betriebe wendete die Regierung auch in der Zukunft an. So schlug der Reichsrat d e m Finanzministerium vor, das Gesetz v o m 3. Juni 1886 uber die Kinderarbeit auf Druckereien und andere polygraphische Betriebe wie auch auf Werkstatten mit mehr als 16 Arbeitnehmern a u s z u d e h n e n . Die O l ' c h i n - K o m m i s s i o n schlug 1894 Plane vor, die dem Projekt v o n 1862 ahnlich waren und die Abschaffung der Teilung von Industrie- und Handwerksbetrieben vorsah. In diesem Z u s a m m e n h a n g sollten auch die Zunfte abgeschafft werden. Dieses Projekt w u r d e allerdings wie auch das vorherige nicht realisiert . Es sind zwei Interessengruppen zu nennen, die fur die Verzogerung der Reform des H a n d w e r k s verantwortlich waren. So verteidigten die standigen Zunfthandwerker in ihren Vertretungsorganen vehement ihre Interessen. Sie wollten keine Reformen und versuchten, ihre Privilegien zu behalten, obwohl an dieser Stelle gesagt werden muB, daB mit Beginn der Industrialisierung die Handwerkerschaft tief gespalten w u r d e und ein groBerer Teil fur die Reform der Zunfte nach dem deutschen Muster in Richtung der Innungsform eintrat, w o r a u f unten noch eingegangen wird. A b e r auch der konservative Flugel der Regierung und die Vertreter des Hofes standen einer Reform des H a n d w e r k s ablehnend gegenuber. D a s waren der Leiter der dritten Abteilung des Innenministeriums, Furst V. A. Dolgorukov, und seit 1866 sein Amtsnachfolger, Graf I. A. Suvalov, der Justizminister Graf V. N . Panin, der Hofminister Graf V. F. Adlerberg und der Cousin des Zaren, der GroBfurst P. G. O l d e n b u r g . In Anbetracht der entstehenden Schwierigkeiten bei der L o s u n g dieser Frage im R a h m e n der Gesetzgebung schlug die Regierung einen anderen W e g ein: Nach und nach schaffte das Innenministerium auf dem Verwaltungsweg die 225 226 227 228 Kaufhold, Handwerk, S. 133. Vol'tke, О proekte, S. 8. Ebd.; Pazitnov, Problema, S. 170f. EroSkin, Istorija, S. 183. Zunftverwaltungen ab, indem das Finanzministerium die Handwerksbetriebe der Fabrikinspektion zu unterstellen versuchte. 1886 wurden die Zunftverwaltungen in der R e g i o n Siid-West-RuBland mit A u s n a h m e von vier Stadten, in denen eine vereinfachte Handwerksverwaltung eingefuhrt worden war, abgeschafft. 1891 w u r d e die gleiche MaBnahme in den Vilensker, K o v e n s k e r und Grodnensker G o u v e r n e m e n t s durchgefuhrt, wobei eine vereinfachte Handwerksverwaltung in den drei Gouvernementshauptstadten beibehalten wurde. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgte die Abschaffung der Zunftverwaltungen in verschiedenen Stadten und Ortschaften RuBlands, so daB zu Anfang des 20. Jahrhunderts schlieBlich nur n o c h 136 Zunftverwaltungen existierten. Die letzte groBe Aktion zur Abschaffung der Zunftverwaltungen erfolgte 1902/1903, nach der sie nur noch in 28 Stadten erhalten blieben, wobei die Zunftverwaltungen (polnoe remeslennoe upravlenie) in 22 Stadten, die vereinfachten Handwerksverwaltungen in vier Stadten sowie in Odessa und Tiflis gesonderte Handwerksverwaltungen erhalten blieben . 229 Als Gegenreaktion auf die MaBnahmen der Regierung reichten H a n d w e r k e r aus Nikolaev, T a m b o v , Jaroslavl , Rybinsk, Kiev, Sevastopol und anderen Stadten RuBlands Petitonen ein, mit der Bitte, die Zunftverwaltungen wieder zu errichten. D a s neu geschaffene Ministerium fur Wirtschaft und Handel stellte sie nach der Revolution 1905/06 teilweise wieder h e r . So blieb der Stand der standigen Zunfthandwerker u n d ihre Zunftverwaltung eingeschrankt bis 1917 b e s t e h e n . 4 4 230 231 2.13 Zusammenfassung Im Kapitel iiber die Gewerbegesetzgebung v o m 18. bis z u m Anfang des 20. Jahrhunderts w a r zu klaren, w a s das H a n d w e r k in RuBland vor und n a c h der Einfuhrung der Zunfte und daran anschlieBend, w a s das W e s e n der russischen Ziinfte selbst im Sonderfall St. Petersburgs im Unterschied zu den Zunften in Westeuropa war. E s wurde festgestellt, daB sich die Gewerbepolitik Peters I. zwei zeitlichen Perioden zuordnen laBt. Die erste Periode dauerte v o n 1699 bis z u m E n d e der 171 Oer Jahren, als noch in alter Tradition und im herkommlichen Gesetzesrahmen gehandelt w u r d e , indem ad hoc verschiedene Gesetze zur R e g e l u n g des stadtischen H a n d w e r k s herausgebracht wurden. N a c h der zweiten Auslandsreise Peters I. 229 4 S. V. Borodaevskij, Remeslennaja promySlennost na Zapade i v Rossii, in: Trudy vtorogo vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge. St. Petersburg 1911. 230 231 Pazitnov, Problema, S. 170f. Uber die Selbstverwaltung zur spateren Zeit s.: H. Gross, Selbstverwaltung und Staatskrise in RuBland 1914-1917. Macht und Ohnmacht von Adel und Bourgeoisie am Vorabend der Februarrevolution. Wiesbaden 1981. 1716-1717 und besonders im AnschluB an den GroBen Nordischen Krieg 1721 w u r d e das Zunftwesen in St. Petersburg auf einer prinzipiell neuen Kodifikationsbasis in A n l e h n u n g an bzw. Entlehnung der westeuropaischen Zunftverfassung aufgebaut. Die weiteren petrinischen Erlasse modifizierten den ErlaB uber die Zunfte von 27. April 1722 und paBten ihn den russischen Verhaltnissen an. Die Zeitperiode zwischen den petrinischen Reformen und 1785 zeichnete sich durch eine Passivitat des Gesetzgebers in der Einrichtung von regelmaBigen Zunften in St. Petersburg aus, die an den augenblicklichen Bedtirfhissen der Regierung, z. B . im Siebenjahrigen K r i e g oder beim B a u des Winterpalastes, ausgerichtet worden war. Mit der Regierungszeit Katharinas II. fing eine neue Periode in der Geschichte des H a n d w e r k s an, als seine Lage in der Arbeit der Gesetzgeberischen K o m m i s s i o n erortert und 1785 das n e u e Handwerksstatut eingefuhrt wurde, das die Institute des Handwerksoberhaupts und des Handwerkerstandes als solche schuf. Peter I. fuhrte im Unterschied zu Westeuropa ein stark modifiziertes Zunftsystem ein, in d e m von Anfang an kein universelles Zunftmonopol im westeuropaischen Sinne bestand. Erstens gait fur die Adels-, Staats-, Kloster- bzw. Metropolitbauern, daB sie dem H a n d w e r k nachgehen durften, w e n n sie fur ihren eigenen Bedarf produzierten oder Staatsauftrage ausfiihrten. Zweitens kann der Zunftzwang durch die Einfuhrung des Instituts der zeitweiligen Handwerker nur als bedingt verstanden werden. Es ist so, daB die petrinischen Erlasse einen Mittelweg gehen wollten, indem sie einerseits das freie Handwerk in der Hauptstadt verboten, andererseits aber auch kein generelles, sondern ein beschranktes Zunftmonopol einfuhrten. Die Beweggriinde zur Einfuhrung der Zunfte waren die H e b u n g des technischen, quantitativen und qualitativen Niveaus des H a n d w e r k s in RuBland und gerade in St. Petersburg, w o ein militarisch-industrieller K o m p l e x entstand, der nach fachgemaB ausgebildeten Arbeitskraften verlangte. Wie aus d e m ersten ErlaB iiber die Einfuhrung der Zunfte zu ersehen ist, beabsichtigte Peter I. nicht, die westeuropaischen Zunfte bedenkenlos nachzuahmen, sondern uberlieB ihnen zunachst die Moglichkeit, sich zu entwickeln, indem sie mit den zeitweiligen Handwerkern den standigen N a c h s c h u b fur ihre mogliche VergroBerung bekamen. Peter I. schuf den gesetzlichen R a h m e n fur die Entwicklung des Zunfthandwerks. Es lag j e d o c h nicht in seinem Vermogen, den W a c h s t u m s m e c h a n i s m u s b z w . die benotigte Wachstumszeit beliebig zu beeinflussen bzw. zu beschleunigen. Schon deswegen nicht, weil St. Petersburg selbst eine j u n g e Stadt mit einem noch nicht entwickelten M a r k t war, abgesehen davon, daB St. Petersburg bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts den groBten Teil des Jahres v o m inneren RuBland abgeschnitten war und erst mit dem Eisenbahnbau seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen effektiven AnschluB an den inneren Markt bekam. Die Hauptstadt war sehr rohstoffabhangig, weil fast alles v o n auBen, sei es hochwertiges Metall aus England oder halbverarbeitete Produkte vom Inland, hergebracht werden muBte. Wie zu ersehen ist, mangelte es auch den Deputierten der Katharinaischen Gesetzeskommission in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts nicht am Willen, in den Hauptstadten ein wohleingerichtetes Zunfthandwerk zu schaffen. Die Mitglieder der K o m m i s s i o n sowie die Regierung stellten aber eine falsche Diagnose iiber die Ursachen der Unterentwicklung der Zunfthandwerke, w e n n sie m e i n t e n , daB e s a l l e i n an d e r k o n s e q u e n t e n D u r c h s e t z u n g der Gewerbegesetzgebung und nicht an den wirtschaftlichen und sozialen R a h m e n b e d i n g u n g e n l a g e . Sie standen aber wie Peter I. zu seiner Zeit vor dem gleichen Problem: D i e Entwicklung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur der Hauptstadt lieB zu wiinschen iibrig. W a s aber dieses Problem unlosbar machte, waren vor allem die Privilegien anderer Bevolkerungsschichten g e g e n u b e r dem H a n d w e r k und die Vormachtstellung des Staates und des Adels, der nicht beabsichtigte, seine Sonderrechte zu opfern. Die russische Wirtschaft war zu sehr mit der Leibeigenschaft gekoppelt, wodurch die Freisetzung des Humankapitals, welches das Stadthandwerk so dringend benotigte, verhindert w u r d e . D a g e g e n anderte sich die Lage des St. Petersburger Zunfthandwerks in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, als nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die stark a n g e w a c h s e n e n Ziinfte vorhanden waren, die ihre Monopolanspriiche in die Wirklichkeit umzusetzen versuchten und sie auch manchmal mit Erfolg durchsetzten, wie es mit der Backerzunft in den 30er Jahren der Fall w a r . Die relativ stabile L a g e des Zunfthandwerks konnte dann bis z u m Anfang der 1860er Jahre aufrechterhalten werden, als die groBen Reformen mit der Industrialisierung zusammenfielen. Ihre Folge war eine z u n e h m e n d e Destabilisierung des H a n d w e r k s . AuBerdem schlug der Wille des russischen Gesetzgebers, wiederum in starkem MaBe durch die Entwicklungen in Westeuropa beeinfluBt, in eine vollig andere Richtung um, da sich in der russischen Regierung seit den Kommissionen am E n d e der 50er Jahre und der Stackelbergschen K o m m i s s i o n eine negative Einstellung z u m Zunfthandwerk b e h a u p t e t e . Dieser M e i n u n g s u m s c h w u n g brachte die Regierung zwar nicht dazu, die Ziinfte in den Hauptstadten abzuschaffen. Sie schmalerte aber zumindest deren Rechte, z. B . w a s die Gerichtsbarkeit betraf. Die Regierung war unfahig, das gesetzgeberische Instrumentarium einzusetzen, u m die Ziinfte zu reformieren, sondern fing seit den 1880er Jahren an, die Zunftverwaltungen zuerst in den westlichen Gouvernements und dann in den zentralrussischen Kleinstadten abzuschaffen. Allerdings blieb die Zunftverfassung als Institution bis 1917 bestehen. 232 233 234 N a c h der Revolution von 1905 und mit der Griindung des Ministeriums fur Wirtschaft und Handel w u r d e dann die Abschaffung der Zunftverwaltungen 232 Vgl. N. D. Rydkov, О cechach v Rossii i Zapadnoj Evrope, in: Russkij vestnik, t. 47, nomer 11 (oktjabr') 1863, S. 789-822, hier S. 812. 233 S. unten Kapitel 9.1. verlangsamt oder sie wurden gar in manchen Stadten wiederhergestellt. Jetzt konnte aber auch keine Rede mehr v o m Zunfthandwerk sein, wie es im 18. Jahrhundert oder in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts existiert hatte. N a c h der vollzogenen Industrialisierung von St. Petersburg und nach d e m gewaltigen sozialen Wandel in der gesamten Arbeiterschaft wahrend der Revolution befanden sich das Zunftwesen und das H a n d w e r k selbst in einem strukturellen Wandel, der sie zu anderen Organisationsprinzipien, sei es im Arbeitsablauf, der Herstellungsweise des Produkts oder des H a n d w e r k s insgesamt hinfiihrte. 3. Die Entwicklung des hauptstadtischen H a n d w e r k s im 18. J a h r h u n d e r t 3.1 D a s Zunfthandwerk Die Handwerkerschaft von St. Petersburg entstand, genauso wie die Hauptstadt selbst, nach dem Willen Peters I. Die Handwerker sollten schnellstens der Regierung zur Verfugung stehen, u m sowohl stadtebauliche Aufgaben zu losen als auch am Aufbau der A r m e e und der Marine mitzuwirken. E s gab zwei W e g e , die Anzahl der fachmannischen Kraften in St. Petersburg zu steigern. Erstens wurden mittels russischer Botschafter und Gesandter im Ausland die verschiedensten Handwerker durch Erlasse angeworben. Der erste offizielle ErlaB, der auch den Aufruf an auslandische Handwerker beinhaltete, nach RuBland zu k o m m e n , erschien am 16. April 1 7 0 2 . Hauptsachlich kamen deutsche u n d hollandische Handwerker nach St. Petersburg, die besonders im Schiffsbau benotigt wurden. Sie blieben meist in der neuen Hauptstadt oder gingen nach M o s k a u als zweitstarkster Anziehungspunkt fur die A n k o m m l i n g e . Interessant ist, daB es in St. Petersburg schon vor 1722 einige „deutsche" bzw. auslandische Zunfte gab, die fur die westeuropaischen Handwerker eine vertraute Organisationsform darstellten und fur ihre berufliche Integration Sorge trugen. So bestanden in St. Petersburg z. B . schon 1712 die Schneider- und Friseurzunfte, denen die M o s k a u e r auslandischen Meister b e i t r a t e n . Als die Zunfte 1722 gegriindet wurden, traten ihnen bis zum Jahre 1726 365 auslandische Handwerker bei. Im Laufe des 18. Jahrhunderts sorgten weitere Erlasse fur einen standigen Zulauf v o n auslandischen Handwerkern und „Manufakturisten" nach St. P e t e r s b u r g . In diesem Z u s a m m e n h a n g entstanden hier ganz neue Handwerksarten, die es vorher in RuBland nicht g e g e b e n hatte. In den 1720er Jahren schrieben sich Schiffs-, Galeeren-, Lastkahn-, Ruder- und KompaBbauer sowie andere H a n d w e r k e r in die Zunfte e i n . Die Zunfte, in denen nur auslandische Handwerker vertreten waren, waren im Jahre 1724 die 241 242 243 244 241 PSZ RI 1, Bd. IV, Nr. 1910 (16.C4.1702): О vyzove inostrancev v Rossiju, s obeScaniem im svobody veroispovedanija, S. 192-195. 242 RGADA, f. 158, 1707 g., d. 211, aus: V. A. Kovrigina, Die Deutschen im Moskauer Handwerk in der zweiten Halfte des 17. und im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts (Hamburger Beitrage zur Geschichte der Deutschen im europSischen Osten, 4 hrsg. v. Norbert Angermann). Luneburg 1997, S. 39f. 243 PSZ RI 1, Bd. 5, Nr. 3017; 4378 (3.12.1723): Reglament Manufakturkollegii, S. 169; Bd. 13, Nr. 10129; Bd. 16, Nr. 12290; Bd.21,Nr. 15331. 244 Zaozerskaja, К voprosu, S. 72, 75. Goldschmiedezunft mit 17, die Zunft der Friseure mit 15 und die der Posamentierer mit sechs M i t g l i e d e r n . Die auslandischen Handwerksmeister waren seit der Griindung der neuen Hauptstadt im Jahre 1703 ein integraler und untrennbarer Bestandteil der St. Petersburger H a n d w e r k e r s c h a f t . Ein Teil v o n ihnen arbeitete in staatlichen Betrieben; der Staat war anfangs der groBte Arbeitgeber fur die Auslander, bot ihnen rechtlichen Schutz und stellte ihnen, w e n n notig, auch Arbeitskrafte zur Verfugung. Ein anderer, groBerer Teil der Meister trat in die russischen oder in die deutschen Zunfte ein. U m die Geschichte der russischen Zunfte zu erlautern, miissen wir wieder z u m Jahre 1722 zuriickkehren. N a c h der Griindung der Zunfte wurden in St. Petersburg 19 russische Zunfte registriert, in denen es anfanglich 535 H a n d w e r k e r g a b (439 Meister, 18 Gesellen und 78 L e h r l i n g e ) . In nur zwei Jahren verdreifachte sich die Anzahl der H a n d w e r k e r in den russischen Zunften und stieg im Jahre 1724 auf 1.566 an. In den 1720er Jahren waren es ihrem Stand nach zumeist B a u e r n . Die groBte Anzahl der russischen Zunfthandwerker stammte aus d e m Jaroslavlsker Gouvernement. E s folgten in absteigender Reihenfolge die H a n d w e r k e r aus M o s k a u und d e m M o s k a u e r Bezirk, Galid, Kostroma, R o m a n o v , P o s e c h o n ' e , Kasin, Rostov, N o v g o r o d , OstaSkov, Vologda und anderen Stadten und Bezirken. Die H a n d w e r k e r aus den verschiedenen geographischen Regionen spezialisierten sich in der Regel in bestimmten Handwerksbereichen. So waren die A n k o m m l i n g e aus Ostaskov Mitglieder der Fischerzunft. Die Schuhmacher stammten aus Kimry und Kasm. In den nahrungsmittelherstellenden Handwerken waren die Handwerker aus Galie, K o s t r o m a , R o m a n o v und dem P o s e c h o n ' e - G e b i e t in der N a h e von M o s k a u vertreten. Die meisten Piroggenbacker stammten aus J a r o s l a v l ' . In M o s k a u , das fur die damalige Zeit das groBte Gewerbezentrum RuBlands war, waren die Zunfte infolge schon vorhandener H a n d w e r k e r noch zahlreicher. Hier wurden im Jahre 1726 in 150 Zunften 6.885 H a n d w e r k e r registriert . Die Z u s a m m e n s t e l l u n g allgemeiner Statistiken tiber die H a n d w e r k e r wird durch ihre uneinheitliche Erfassungsmethode im 18. Jahrhundert wesentlich erschwert. Trotzdem lassen sich mit Hilfe der nachfolgenden Tabelle Aussagen zu diversen Handwerksbranchen machen (siehe Tab. 3). 245 246 247 248 249 250 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 101. Vgl. Kovrigina, Deutschen, S. 42. Pazitnov, Problema, S. 48. Zaozerskaja, К voprosu, S. 72, 75. Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. lOOf. Kovrigina, Deutschen, S. 40ff. Die wichtigsten Branchen waren die Nahrungsmittel- und Bekleidungsherstellung sowie die Metallverarbeitung. Dort wurden im Jahre 1724 j e w e i l s 616, 398 und 283 Beschaftigte registriert. Dementsprechend waren in den beiden ersten Branchen auch die meisten Zunfte anzutreffen. D e n ersten Platz n a h m unter ihnen die Piroggenbackerzunft mit 339 Mitgliedern ein. D e n Piroggenbackern folgten in der gleichen Branche die K a l a c b a c k e r (160), Backer (68) und Kvasbrauer (49). 251 Tabelle 3 : Ausgewahlte Handwerksbranchen unter den deutschen und russischen Zunfthandwerkern in den Jahren 1724. 1766 und 1790 1724 1766 Gesamt Meister Lebensmittelherstellung 616 82 180 328 Bekleidungsherstellung 404 388 1104 2805 Metallverarbeitung 283 250 523 870 Holzverarbeitung 58 90 239 739 Bauhandwerke 23 2 681 877 Transportmittel - 46 129 378 Geratschaftenherstellung - 2 34 34 Branche/Jahr - 1 1790 Meister Gesamt Quelle: Pazitnov, Problema, S. 48; PGIA, f. 221, op. 1, d. 80; I. G. Georgi, Opisanie stolicnogo Sankt-Peterburga, Teil 1. St. Petersburg 1794, S. 236-253. D e n zweiten Platz nach den Piroggenbackern n a h m die Zunft der Schneider mit 245 Mitgliedern ein, ihr folgte die Schuhmacherzunft mit 153 Mitgliedern. D e n dritten Platz n a h m die Zunft der Kupferschmiede mit 161 Beschaftigten ein. In ihr wurden meist Kupfergeschirr und Haushaltserzeugnisse ebenfalls aus Kupfer produziert. E s g a b auch eine Zunft der Fischer, die wenig mit H a n d w e r k im engeren Sinne zu tun hatte. W e n n wir die 127 Fischer abziehen, bleiben im Jahre 1724 1.439 Zunfthandwerker tibrig. Infolge der Auflosung der russischen Backerzunfte verminderte sich die Gesamtzahl der Beschaftigten in den nahrungsmittelherstellenden Zunften betrachtlich. W e n n im Jahre 1724 die Gesamtzahl der Handwerker in der Nahrungsmittelherstellung 616 betrug, so verminderte sie sich bis 1790 um fast die Halfte auf 328 Handwerker. In Anbetracht der besonderen Abhangigkeit der unteren Bevolkerungsschichten von billigen Lebensmitteln achtete die G o u v e m e m e n t s v e r w a l t u n g w e n i g darauf, daB es in der Stadt eine Vielzahl nichtzunftiger H a n d w e r k e r gab, und z w a n g sie nicht unbedingt, den Zunften beizutreten, u m ihr bescheidenes H a n d w e r k nicht noch mehr zu gefahrden. Dafur vergroBerte sich die Gesamtanzahl der Handwerker in der Bekleidungsherstellung von 404 a u f 2 . 8 0 5 u m das siebenfache. Die Anzahl der Meister stieg ebenfalls v o n 388 im Jahre 1766 auf 1.104 im Jahre 1790 oder u m 2 8 5 % an. In der Metallverarbeitung verdoppelte sich die Meisteranzahl zwischen 1766 und 1790 von 2 5 0 auf 523 Meister. D u r c h die rasche Verztinftigung der B a u h a n d w e r k e , hauptsachlich waren es Z i m m e r l e u t e , konnte sich die Anzahl der ihr angehorenden Meister faktisch v o n Null (zwei Meister) im Jahr 1766 auf 681 im Jahr 1790 vergroBern. Die H a n d w e r k e der holzverarbeitenden Branche profitierten ebenfalls von der betrachtlichen Bauaktivitat in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts, als sich St. Petersburg rasch aus einer Garnison- und Beamtenstadt zu einer zivilen Stadt entwickelte. In der transportmittelherstellenden Branche sind nur die Wagenbauer aufgefuhrt. Hier stieg die Meisteranzahl von 46 im Jahr 1766 auf 129 im Jahr 1790. 252 Es sind zwei T e n d e n z e n festzustellen: einerseits verminderte sich der Gesamtumfang des Zunfthandwerks im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts, da die Zunfte w e n i g Z u l a u f hatten, wesentlich, andererseits vergroBerte sich die Anzahl der Zunfte erheblich, w a s eine wichtige organisatorische Basis fur die spatere Entfaltung des Zunfthandwerks in der Hauptstadt darstellte. Wie sich die einzelnen H a n d w e r k e entwickelt haben, ist aus den Statistiken fur die Jahre 1724, 1766 und 1790 zu e r s e h e n . Im Jahre 1724 gab es russische Brot(68), Piroggen- (339) und Kalacbackerztinfte (160) mit insgesamt 567 Handwerkern, die auf Russisch „chlebnyj, piroznyj" und „kala£nyj cechi" hieBen. Die deutschen Meister hatten spater ebenfalls eine Backerzunft, die allerdings den N a m e n „bulocnyj c e c h " trug. Trotzdem werden die Meister beider Zunfte, der „chlebnyj" und „bulocnyj", auf Deutsch als Backermeister und ihre Zunfte dementsprechend als Backerzunfte bezeichnet, obwohl in ihrem Sortiment wesentliche Unterschiede vorhanden waren. Die beiden B e z e i c h n u n g e n sind Synonyme u n d dienen nur als Hinweis auf die Spezifik beider Zunfte. Die drei russischen Zunfte sind im Jahre 1766 nicht mehr zu finden. E s sind in den Statistiken an ihrer Stelle die deutschen WeiB- und Roggenbrotbacker- (30 Meister) und Lebkuchenbackerzunfte (ein Meister) aufgefuhrt. In der nachsten Zeit vollzogen sich wieder einige Umschichtungen, in deren Folge im Jahre 1790 jeweils zwei deutsche und zwei russische Zunfte angezeigt wurden. In den deutschen und russischen Backerztinften gab es j e w e i l s 77 und neun Meister. In 253 Vgl. Georgi, Opisanie, S. 236-253. S. 2, 3 und 4 im Tabellenanhang. der deutschen Konditorenzunft waren elf Meister und in der russischen Konfektmacher- und Lebkuchenbackerzunft 13 Meister aufgefuhrt. Die Verteilung der Meister in den oben aufgefuhrten H a n d w e r k e n fiel in den deutschen und russischen Zunften unterschiedlich aus. So behielten die auslandischen Meister weiterhin ihre Prioritat in den Schneider-, Backer-, Goldu n d Silberschmiedezunften. D a g e g e n verloren sie ihre Vormachtstellung in den Schmiede- und Schreinerzunften. Solche speziellen H a n d w e r k e , die ausschlieBlich in den deutschen Zunften vertreten waren, waren im Jahre 1766 die der Degenschmiede (sieben Meister), Kupfervergolder (21 Meister), W a n d - und Taschenuhrmacher (funfMeister), Instrumentenbauer (drei Meister), Stuckarbeiter und Formmeister (zwei Meister), Goldsticker (neun Meister), Buchbinder (17 Meister), Schlosser (26 Meister), Kaminfeger (sechs Meister), Stuhlmacher (acht Meister) und a n d e r e . Im Jahre 1799 kamen Konditoren (elf Meister), Knopfmacher (15 Meister), Sattler (59 Meister), Schlusselschmiede (sieben Meister) und Nadler (vier Meister) h i n z u . 254 255 Tabelle 4 : Anzahl der Meister in den russischen und deutschen Zunften in ausgewahlten H a n d w e r k e n von St. Petersburg 1766 und 1790 Jahr 1766 1790 auslandische Meister russische Meister % ge samt auslan dische Meister russische Meister % gesamt Schneider 145 32 82:18 176 210 178 54:46 388 Backer 31 - 100:0 31 88 22 80:20 110 Schuh macher 65 128 34:66 194 54 255 24:76 309 Schmiede 40 23 63:37 63 60 88 41:59 148 Gold- u. Silber schmiede 76 18 81:19 94 110 44 71:29 154 Schreiner 71 4 95:5 75 90 124 42:58 214 Gewerbeart Quelle: PGIA, f. 221, op. 1, d. 80; Georgi, Opisanie, S. 236-253. Vgl. PGIA, f. 221, op. l,d. 80. Vgl. Georgi, Opisanie, S. 236-253. AusschlieBlich russische Ziinfte, die keine entsprechenden deutschen Ziinfte hatten, gab es im Jahre 1766 nicht. 1790 gab es bereits eine Vielzahl rein russischer Ziinfte wie Konfektmacher- und Lebkuchenbacker (13 Meister), D a m e n s c h u h m a c h e r (139 Meister), Pelzmantelschneider (24 Meister), Matratzenmacher (drei Meister), Farber (sechs M e i s t e r ) . D e s weiteren waren die Maurer (ftinf Meister), Zimmerleute (577 Meister), Seilmacher (32 Meister), Blechner (22 Meister), Topfer (56 Meister) u n d andere H a n d w e r k e r ausschlieBlich in den russischen Zunften Mitglieder. Die parallelen Zunfte waren im Jahre 1790 solche wie z. B . die der Schneider (178 Meister in den russischen und 2 1 0 in deutschen Zunften), Schuhmacher (jeweils 255 und 54 Meister), Miitzenmacher (je 39 und 21 Meister), Posamentierer (je 75 und neun Meister), Glaser (je 85 und 14 Meister), Schreiner (je 124 und 90 Meister), W a g e n b a u e r (je 86 und 43 Meister), Schmiede (je 88 u n d 60 Meister), Kupferschmiede (je 38 und zehn Meister), Gold- und Silberschmiede (je 4 4 und 100 Meister) und andere. 108Um die D y n a m i k des Entwicklungsprozesses zu klaren, werden wir die russischen und die deutschen Zunfte vergleichen miissen. Die deutschen Zunfte entfalteten sich anfangs d a n k ihrer Privilegien und Steuerbegiinstigungen und hatten mit 770 Meistern in 53 Zunften gegeniiber 3 8 8 russischen Meistern in 36 Zunften oder im prozentualen Verhaltnis 6 6 , 5 % zu 3 3 , 5 % im Jahre 1766 das Ubergewicht. Die Anzahl der russischen Zunfte blieb in 4 4 Jahren mit 19 gleich. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts schafften dann die russischen Zunfthandwerker den Durchbruch und uberholten zahlenmaflig die auslandischen Meister u m ein Vielfaches. Ungeachtet der deutlich angestiegenen Anzahl auslandischer Zunfthandwerker bis zum Jahre 1789/90 mit 1.104 Meistern sowie 373 Gesellen und Lehrlingen oder insgesamt 1.477 Handwerkern, die in 55 H a n d w e r k s a r t e n tatig w a r e n , konnten sie den Abstand zu den rund 6.000 russischen H a n d w e r k e r n nicht a u s g l e i c h e n . So bestand 1790 ein Zahlenverhaltnis von etwa 8 0 % russischen Handwerkern zu 2 0 % auslandischen. Wie sich dieses Verhaltnis zwischen auslandischen und russischen Meistern in den einzelnen Zunften anderte, ist in der oben aufgefuhrten Tabelle vier zu ersehen. 256 257 258 236 Im Gegensatz zu 1766, als nur zwei Farber in den deutschen Zunften tatig waren; eventuell bekamen sie die russische Staatsangehflrigkeit und traten in die russischen Zunfte liber. 257 Johann Gottfried Georgi, Opisanie rossijsko-imperatorskogo stolicnogo goroda SanktPeterburga i dostopamjatnostej v okrestnostjach onogo 1794-1796, Teil 1., St. Petersburg 1794, S. 236-253; s. auch deutsche Ausgabe: Johann Gottlieb Georgi,, Beschreibung der Ruflisch Kayserlichen Residenzstadt St. Petersburges und der Merkwurdigkeiten der Gegend, ... gedruckt bey Kayserlichen Akademie der Wissenschaften. St. Petersburg 1790; J. G. Georgi stammte aus Pommern und hatte bei Linne in Uppsala studiert. Er stand seit 1770 in Diensten der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. 258 Vgl. Tabelle 1 im Tabellenanhang. Allgemein ist eine steigende Tendenz bei der Anzahl der russischen und der deutschen Zunfte zu beobachten, so daB im Jahre 1825 den 67 russischen Zunften 35 deutsche „erofmete" und 31 „uner6ffhete" Z u n f t e gegentiberstanden. Es gab in der Entwicklung der Zunfte gleich nach ihrer G r u n d u n g eine kurze Aufschwungzeit, die drei bis vier Jahre lang andauerte und kurz nach d e m T o d e v o n Peter I. ihr vorlaufiges E n d e erreichte. D a n n vollzog sich ein starker R u c k g a n g der Zunfthandwerkerzahlen, wobei einige Zunfte, wie z. B . die der russischen Backer, wieder aufgelost wurden. Der nachste A u f s c h w u n g ereignete sich mit der Regierungszeit Katharinas II. in den 1770er Jahren und dauerte ungefahr bis z u m Anfang der 1790er Jahre, als die St. Petersburger Handwerksverwaltung die Anzahl der zeitweiligen Handwerker von 3.058 im Jahre 1786 auf 317 im Jahre 1793 reduzierte und in der Hauptstadt ein Zunftmonopol einzufuhren versuchte, um die Nachfrage bei den standigen Meistern zu sichern. Die restriktive Politik der Zunfte wurde v o n einem starken W a c h s t u m an standigen Meistern begleitet: in vier Jahren wuchsen die Meisterzahlen von 811 (1786) a u f 2 . 4 3 4 (1790) u m 3 0 0 % an. N a c h d e m SenatserlaB von 1796, der die M o n o p o l b e s t r e b u n g e n des Zunfthandwerkerstandes unterband, verdoppelte sich dann die Gesamtzahl der H a n d w e r k e r in funf Jahren auf 10.738 Zunfthandwerker im Jahre 1801. Mit den deutschen Zunften gab es insgesamt rund 12.200 Zunfthandwerker in der Hauptstadt. 259 3.2 D a s nichtzunftige H a n d w e r k In den ersten Jahren nach der G r u n d u n g St. Petersburgs war die Hauptquelle des H a n d w e r k e r z u w a c h s e s die Zwangsumsiedlung der H a n d w e r k e r aus zentral- und nordrussischen Stadten. So wurden z. B . im Jahre 1711 aus den Stadten des M o s k a u e r Gebiets 1417 Handwerker mit ihren Familien in die neue Hauptstadt ubersiedelt. AuBerdem wurden Tausende qualifizierter und unqualifizierter Arbeiter nach St. Petersburg - uberwiegend als Bauarbeiter - verpflichtet. Besonders zahlreich waren Zimmerleute und Schreiner aus den nordrussischen G o u v e r n e m e n t s Vologoda, Oloneck und Archangel sk; Schmiede und andere Metallhandwerker k a m e n aus ZentralruBland, unter anderem aus Tula. So waren z. B . im Jahre 1718 2 4 6 Waffenschmiede aus Tula bei der Artilleriehauptkanzlei beschaftigt . 4 260 Nach dem ErlaB v o m 2 1 . Februar 1720 wurden an der Miindung des FluBes Ochta am rechten Ufer der N e v a 500 Hauser fur die ubersiedelten Zimmerleute errichtet, 259 Die nicht „eroffheten" Zunfte haiten weniger als funf Meister und hatten keine Zunftverwaltung. Solche Meister wurden formell als Zunfthandwerker aufgezuhlt, ihre Zunft gait aber als nicht „er6ffhet". 260 Istorija rabocrch Leningrada, Bd. 1. Leningrad 1972, S. 21. но w o anfangs 824 Familien aus Vologda, Beloozero, K a r g o p o l ' und Ustjug w o h n t e n . Sie unterstanden der A d m i r a l i t a t . Hier siedelten sich auch freie H a n d w e r k e r a n , die sich auf holzverarbeitende H a n d w e r k e spezialisierten. Die Ochtensker Zimmerleute u n d Schreiner wurden nach Bedarf beim staatlichen Schiffsbau beschaftigt. In den ubrigen Zeiten gingen sie selbstandig ihrem Erwerb nach, wobei die Befreiung v o n alien Steuern ihr H a n d w e r k begunstigte. Zeitgenossen bemerkten 1779 und 1794, daB sich die H a n d w e r k e r v o n Ochta durch ihre Kunstfertigkeit auszeichneten u n d den hauptstadtischen Kunsttischlern in nichts nachstanden. Dafiir waren ihre W a r e n aber viel gunstiger zu haben. AuBerdem waren 2 0 Ochtensker Schreiner von der kaiserlichen Theaterdirektion verpflichtet w o r d e n , w a s fur ihre hohe fachmannische Qualifikation s p r a c h . Mitte der 1720er Jahre beschaftigte die Regierung ausschlieBlich Lohnarbeiter, die zu dieser Zeit in reichlicher Zahl auf der Suche nach Arbeit nach St. Petersburg k a m e n . Die Z w a n g s u m s i e d l u n g e n und saisonalen R e k r u t i e r u n g e n der H a n d w e r k e r und Arbeiter auf dem Land und in den Stadten envies sich als zu umstandlich und ineffektiv. Mit der Zeit bildeten sich regionale Unterschiede der beruflichen Gliederung der Bauern heraus: die Maurer und Steinmetze kamen aus d e m G o u v e r n e m e n t Oloneck, Maurer aus Jaroslavl' und Kostroma, andere B a u h a n d w e r k e r aus d e m M o s k a u e r G o u v e r n e m e n t . 261 262 263 264 265 266 267 Der groBte Arbeitgeber in der Stadt war die Admiralitat. Im Jahre 1709 wurden dort bis zu 30 und in den Jahren 1715-1721 etwa 70 Handwerksarten ausgeubt. Hier waren auch etwa spezielle Handwerksberufe wie Mastbauer, Seiler, Segeltuchweber und Kessler vertreten. Unter anderem beschaftigte die Admiralitat folgende H a n d w e r k e r (siehe T a b . 5). In sechs Jahren w u r d e der Bestand an Handwerkern v o n 2743 im Jahre 1715 auf 5320 im Jahre 1721 mehr als verdoppelt. A m zahlreichsten waren die holzverarbeitenden Handwerke vertreten: Im Jahre 1721 gab es hier 3.609 Zimmer- 261 4 V. N. Tarnovskij, Melkaja promySlennost Rossii v konce 19 - nacale 20 v. Moskau 1995, S. 38. 262 Admiraltejstvo - die Werft in St. Petersburg im engeren Sinne. Admiraltejstv-kollegija war fur den Schiffsbau in RuBland zustandig. 263 S. P. Luppov, Istorija stroiterstva Peterburga pervoj cetverti XVIII v. Moskau 1957, S. 87f.; PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 2449 (9. November 1711), S. 755-758; B. Mansurov, Ochtenskie Admiraltejskie poselenija. Istoriceskoe opisanie, 6. 1-3, St. Petersburg 1856, hier 6. 1, S. 9f. 264 Die Beschreibungen von Bogdanov und Georgi, aus: Mansurov, Ochtenskie, 6. 1, S. 55, 92. 265 Ebd., S. 90. 266 Vgl. Luppov, Istorija, S. 85-88. 267 06erki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 100. Tabelle 5: H a n d w e r k e r in der Admiralitat in den Jahren 1715-1721 Jahr Gewerbeart 1715 1717 1720 1721 Zimmerer 1867 1483 3677 3609 Schmiede 251 308 351 500 Spinner 275 381 592 448 Segeltuchweber 135 185 100 246 Kalfaterer - 242 111 228 Sagefuhrer 93 124 138 165 Schreiner 122 - 126 124 2743 2723 5095 5320 gesamt Quelle: Materialy dlja istorii russkogo flota, t. 3. St. Petersburg 1866, S. 153ff., 264f., 277,280f. leute, 165 S a g e a r b e i t e r und 124 S c h r e i n e r . I h n e n folgten die faserstofrverarbeitenden Handwerker wie die Spinner und Segeltuchweber mit jeweils 4 4 8 und 2 4 6 Handwerkern. Die Anzahl der Schmiede war mit 500 ebenfalls sehr groB. AuBerdem waren bei der Admiralitat einige Tausend unqualifizierter Arbeiter beschaftigt. Nach dem Tod von Peter I. wurden dann die Kapazitaten im Schiffbau drastisch gekiirzt, so daB im Jahre 1727 in der Admiralitat nur noch 51 Meister, 48 Gesellen und 99 Lehrlinge beschaftigt waren . 268 E s ist verstandlich, daB nicht alle Handwerker in St. Petersburg in die Zunfte eingeschrieben waren. Es fehlte als Voraussetzung dazu der allgemeine Zunftzwang. N a c h Poljanskij war in den 1770er Jahren etwa nur ein Drittel aller stadtischer H a n d w e r k e r Mitglied in den Z u n f t e n W e n n wir dieses Verhaltnis auf St. Petersburg anwenden, kamen hier auf rund 4.000 Zunfthandwerker im Jalire 1783 rund 8.000 nichtzunftige Handwerker und im Jahre 1790 j e w e i l s 7.000 und 14.000 H a n d w e r k e r . Dies ist nattirlich nur eine annahernde Zahl, die eine Vorstellung uber die GroBenordnung bzw. Proportionen des ziinftigen und nichtziinftigen H a n d w e r k s gegeben soil. Dieses Verhaltnis ist durchaus wahrscheinlich und indirekt durch zeitgenossische Aussagen belegt. So 269 268 I. K. Kirilov, CvetuScee sostojarie Vserossijskogo gosudarstva, 2-е Ausgabe. Moskau 1977,S.48f. 269 F. J. Poljanskij, Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii XVIII veka. Moskau 1960, S. 92. wurde v o m Hauptmagistrat an die Gesetzgebende K o m m i s s i o n im Jahre 1767 berichtet, daB „Insbesondere die herrschaftlichen Dienstleute, die nicht in den Zunften eingeschrieben sind, [...] Verschiedene Gegenstande fur den Verkauf in den Handelsreihen und auf Bestellung v o n Drittpersonen [fertigten] und dadurch den wirklichen und eingeschriebenen Zunftmeistern [...] nicht geringen S c h a d e n " 270 zufugten . Der deutsche Universalgelehrte J. G. Georgi stellte ebenfalls im Jahre 1789 fest, daB es in der Hauptstadt eine groBe Anzahl auslandischer und russischer Meister gab, die keiner Zunft a n g e h o r t e n . Dafur, daB es in St. Petersburg im 18. Jahrhundert viele nichtzimftige H a n d w e r k e r gab, war die A u s w a n d e r u n g der kleinstadtischen H a n d w e r k e r hauptsachlich nach St. Petersburg u n d M o s k a u sowie in die Gouvemementsstadte verantwortlich, die dort nach Arbeit s u c h t e n . AuBerdem hatte die U m w a n d l u n g des Naturalzinses in einen monetaren bewirkt, daB immer mehr Bauern saisonal in den Stadten tatig waren, um Geld zu verdienen: zwischen 1760 und 1780 zahlten 6 5 , 7 % der Bauern in den groBrussischen Gouvernements uberwiegend Geld- start N a t u r a l z i n s , auch in St. Petersburg arbeiteten saisonal viele Bauern, wie die G e s e t z g e b e n d e K o m m i s s i o n 1767 feststellte. Eine wichtige Frage zur Lage der St. Petersburger Handwerker, deren jeweilige Beantwortungsweise zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen fiihren kann, ist, welche A u s w i r k u n g e n bauerliches H a u s g e w e r b e u n d Handel auf das stadtische Zunfthandwerk hatten. Mit dem ErlaB v o m 19. August 1745 wurde der frtiher genannte ErlaB v o m 14. N o v e m b e r 1708 bestatigt. Er erklarte, daB die Bauern ihre Waren in der N a h e v o n Stadten nicht verkaufen durften . W e n n sie aber in die Stadt kamen, durften sie auf den stadtischen Markten nur ein bestimmter Warensortiment verkaufen, das d e m der Zunfthandwerker nicht entsprach. Konkret waren das laut Zollstatut von 1755 z. B . verschiedene Brotsorten, Fisch, Kohl und andere Lebensmittel, Vieh, 271 272 273 274 270 SIRIO Bd. 43, S. 251, zitiert nach Hildemeier, Burgertum, S. 45. 271 Georgi, Opisanie, neue Ausgabe, St. Petersburg 1996, S. 195-207. 272 Archiv Akademii nauk, f. 3, op. 10, Nr. 47,1. 2f., aus: Ocerki russkoj kuPtury 18 veka, i. 4. Moskau 1990, S. 260. 273 274 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 252. PSZ RI 1, Bd. 12, Nr. 9201 (19.08.1745): Ob oznacenii tovarov, kakimi mogut krest'jane torgovat' v bol'Sich selach i derevnjach, S. 442. 275 Holz und W a l d p r o d u k t e . Wie aus dem Warensortiment zu ersehen ist, konnte das bauerliche H a n d w e r k keine ernsthafte Konkurrenz fur die Zunfthandwerker sein, da die Warensortimente gesetzlich reglementiert waren. Die Handwerker aus dem U m l a n d waren fur das stadtische H a n d w e r k keine ernstzunehmenden Konkurren ten und konnten in der Stadt meistens Lebensmittel u n d Rohstoffe verkaufen. Das bauerliche Hausgewerbe im St. Petersburger und den anliegenden Gouvernements war fast ausschlieBlich dazu bestimmt, eigene Bedurfhisse der L a n d b e v o l k e m n g zu befriedigen. Die Konkurrenz war nur dann spurbar, wenn die dorflichen Handwerker nach St. Petersburg nicht als Handler, sondern als H a n d w e r k e r kamen und auch dort blieben. Die uberwiegende Mehrheit der Bauern war im B a u h a n d w e r k tatig und stellte zu dieser Zeit keine existentielle B e d r o h u n g fur die meisten Zunfthandwerke dar. Seit Katharina II. den Bauern mit den Gesetzen von 1775 und 1785 erlaubte, in den Stadten Handel zu b e t r e i b e n , war die Position der Zunftmeister etwas geschwacht. Diese A b g r e n z u n g sicherte aber den Warenabsatz der Zunftmeister relativ gut ab. DaB es den Zunfthandwerkern gerade in den 1770er und 1780er Jahren verhaltnismaBig gut ging, zeigt ihre schnell anwachsende Anzahl. Dieses Wachstum fand parallel zu einem starken Bevolkerungszuwachs start. 276 D e m Zunfthandwerk bereitete nicht der bauerliche Handel Sorgen, sondern vielmehr die Heimindustrie. Die Gewerbegesetzgebung des 18. Jahrhunderts verbot den Bauern, in der Hauptstadt Werkstatten zunftfrei zu unterhalten. W e n n sie aber keine Werkstatt hatten und als Heimarbeiter tatig waren, konnte ihnen keine Zunft ihre Arbeit verbieten. Hier lag die eigentliche Gefahr fur das Zunfthandwerk. Sie kann aber wegen fehlender Unterlagen nur vage eingeschatzt werden. DaB es aber in der Hauptstadt einige Tausend solcher H a n d w e r k e r gab, steht auBer Zweifel. 3.3 Zusarnmenfassung U m die Frage zu beantworten, w a r u m sich die Zunfte bis zu den 1770er Jahren nicht entfalten konnten und die Meisterzahlen sich u m diese Zeit auf dem Niveau der 1720er Jahren bewegten bzw. seit der Regierungszeit Petes I. stark herabgesunken waren, mtissen zwei Aspekte herangezogen werden: Erstens war es die erdriickende Last des Staates, der die Meister mit schlecht bezahlten Staatsauftragen ausnutzte u n d sie so ihrer Entwicklungschancen beraubte. Zweitens gewahrte die Regierung den Meistern nur schwachen 275 PSZ RI 1, Bd. 14, Nr. 10486 (1.12.1755): Tamozennyj ustav, S. 462-484, hier S. 467, 474f. 276 Zur Legalisierung der handeltreitenden Bauern und der Entwicklung ihrer Hausindustrie: Hildermeier, Burgertum, S. 89, 1371T. rechtlichen Schutz und miBachtete ihre wirtschaftlichen Interessen. N u r in den 1770er und 1780er Jahren konnten die H a n d w e r k e r aufatmen, als Katharina II. das detaillierte Handwerksstatut v o n 1785 verabschiedete und den H a n d w e r k e r n eine Selbstverwaltung verlieh, die die Interessen aller Zunfte in Person des H a n d w e r k s o b e r h a u p t e s vertrat, w a s nicht nur ihre rechtliche, sondern auch ihre wirtschaftliche Lage verbesserte. Jetzt stieg die Anzahl der standigen und zeitweiligen Zunftmeister rasch an, u n d die Anzahl der Zunfte vermehrte sich ebenfalls. Diese Antwort kann u n s aber nicht vollig zufrieden stellen und laBt weitere Fragen offen, z. B . w a r u m die Handwerksverwaltung und das Handwerksoberhaupt das materielle N i v e a u der Zunfthandwerker anheben konnten u n d w a r u m die Staatsauftrage in den 1770er bis 1780er Jahren auf einmal nicht m e h r so „erdruckend" w a r e n ? N a c h d e m der Winterpalast in den 1760er Jahren fertiggestellt worden war, gab es immer wieder groBe Bauvorhaben in der Hauptstadt wie z. B . den Katharinen-Palast in Carskoe Selo und eine Vielzahl v o n Kirchen u n d offentlichen Gebauden, wie uberhaupt die groBte Bauaktivitat in St. Petersburg mit der Regierungszeit Katharinas II. zusammenfiel. Georgi faBt die Verhaltnisse in der Hauptstadt wie folgt zusammen: „Wie uberall so auch hier [in St. Petersburg, A.K.] sind einige H a n d w e r k e gewinntrachtiger als andere und m a n c h e bieten gar ein karges A u s k o m m e n . Im allgemeinen laBt sich aber sagen, daB die H a n d w e r k e r in St. Petersburg wegen der GroBe der Hauptstadt, der Pracht des Zarenhofes, des bluhenden Handels, des R e i c h t u m s , des herrschenden L u x u s und daruber hinaus durch den Absatz nicht nur in St. Petersburg, sondern auch in anderen Gouvernements und ihres besseren G e s c h m a c k s wohlhabender als in vielen anderen Hauptstadten sind" . 277 Die Ausfuhrungen Georgis haben eine groBe Aussagekraft, weil sie keine groben Verallgemeinerungen enthalten, wie sie z. B . immer wieder in westeuropaischen Reiseberichten zu sehen sind. W e n n sich also die Wirtschaft und d a s uns interessierende H a n d w e r k spurbar entwickeln konnten, so ist nach den Ursachen zu suchen. Es waren die innenpolitischen Reformen, die den entscheidenden Strukturwandel der Stadtbevolkerung und der Handwerkerschaft bewirkten. Die Geldwirtschaft wurde besser organisiert. Die G n a d e n u r k u n d e fur den Adel, die ihn v o m obligatorischen Staatsdienst befreite, der durch Peter I. eingefuhrt worden war, lockte diesen mehr und mehr von M o s k a u und von den Landgutern nach St. Petersburg, w o d u r c h die Nachfrage nach handwerklichen Produkten stark anstieg. Georgi, Opisanie, S. 239. W a s war St. Petersburg vor und w a s nach der Regierungszeit Katharinas II.? Sehr verallgemeinernd gesagt, handelte es sich um zwei verschiedene Hauptstadte. D a s eine St. Petersburg war j e n e s mit seinen Staatsamtern, Armeekasernen, Arbeiterund Auslandersloboden, einigen wenigen Palasten der hofischen Wtirdentrager, wie z. B . der Men§ikov- und Kikinpalast, den Hafenanlagen, mit wenigen und schwachen Spuren von gesellschaftlichem und kulturellem Leben. W a h r e n d und nach Katharinas II. Zeit hatte sich vieles geandert. Zwar blieb St. Petersburg weiterhin ein stark burokratischer und militarischer Charakter erhalten, aber langsam entwickelten sich neue Zuge der Stadt: das „gesellschaftliche" bzw. „offentliche" L e b e n selbst, der Lebensstil der oberen und mittleren Schichten wandelte sich: die MuBe des Adels verhalf zur Entwicklung des Theaterlebens, des Verlagswesens und des Buchhandels. Kulturelles und gesellschaftliches Leben b e k a m e n starke Impulse: es; entstanden standische Organisationen wie die Adelsversammlung und die kaufmannische Versammlung, der deutsche Burgerbzw. Schusterklub, das Deutsche Theater, das auf Kosten v o n deutschen Kaufleuten und H a n d w e r k e r n finanziert wurde und solche Erfolge verzeichnete, daB die deutsche Truppe von der kaiserlichen Theaterdirektion in den 1780er Jahren und dann endgtiltig 1806 aufgenommen wurde. Wobei hier angemerkt werden muB, daB die Ansatze :mr Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens, das zur Zeit Katharinas II. seine vollstandige Entfaltung als „ G o l d e n e s Zeitalter des A d e l s " fand, schon wahrend der Regierungszeit Elisabeths I. (1741 -1761/62) ihren Anfang nahmen. GewiB kann der Verbrauch v o n immensen S u m m e n fur Luxusguter seitens des Zarenhofes und des Adels als V e r s c h w e n d u n g von volkswirtschaftlichen Ressourcen (Boden, Arbeit und Kapital) gewertet werden, w a s auch negative Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Lage RuBlands hatte. Fur die Handwerker in St. Petersburg aber war es eine Zeit der hohen Konjunktur und stetig steigender Nachfrage, w a s sich positiv auf ihre wirtschaftliche Lage auswirkte. Fur das wirtschaftliche Wachstum der Zunfthandwerker und der ganzen Handwerkerschaft von St. Petersburg sorgte unter anderem ein kontinuierliches und mit wenigen A u s n a h m e n fur die ganze Geschichte von St. Petersburg typisches h o h e s Bevolkerungswachstum, das wahrend der Industrialisierung in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts besonders stark war (siehe Tab. 6). Die Nachfrage nach K o n s u m - unc: Luxusgutern war deshalb groB und uberstieg im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts manchmal das Angebot. Die B e v o l k e r u n g n a h m in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts zwischen 1765-1775 und 17851795 besonders stark zu, als Katharina II. die okonomischen und innenpolitischen Reformen - unter anderem die Einfuhrung der stadtischen Selbstverwaltung durchfuhrte. Anfangs waren die Zunfthandwerker in der hauptstadtischen Gesellschaft eine nicht unbedeutende GroBe und konnten nach der Einfuhrung der hauptstadtischen Selbstverwaltung u n d der Stadtduma im Jahre 1785 unter 92 Beisitzern (glasnye) Tabelle 6: B e v 5 l k e r u n g v o n St. Petersburg v o n 1725 bis 1805 Jahr Bev61kerung v. H. zum Vorjahrzehnt 1725 ca. 40000 100 1735 ca. 58000 145 1745 ca. 76000 131 1755 ca. 95000 125 1765 ca. 113445 119 1775 150335 133 1785 166100 110 1795 219100 132 1805 252800 115 Quelle: Enciklopedideskij slovar', hrsg. v. Brokgauz, Efron, Bd. 28 (Halbband 56), St. Petersburg 1900, S. 312, 314. 278 der St. Petersburger D u m a 61 Platze i n n e h a b e n . Sie bildeten am E n d e des 18. Jahrhundert einen betrachtlichen Teil der hauptstadtischen Gesellschaft. E s laBt sich vermuten, daB sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein Wandel vollzog, der sich nicht nur auf quantitative Relationen und Veranderungen im Laufe des W a c h s t u m s b e z o g , sondern auch komplexe Veranderungen in den Institutionen und in der Mentalitat beinhaltete. Mit der Einfuhrung der Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r ereignete sich keine „Organisationsrevolution" (Marktentfaltung, Integration, rationale Standortwahl und anderes), es entstand aber eine gunstige Voraussetzung fur ein anhaltendes Wirtschaftswachstum, das die Organisation der Handwerker begunstigte . 279 Bei den deutschen und russischen Zunften wurde die steigende T e n d e n z in der Zunfteanzahl im Laufe des 18. und in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts deutlich: Im Jahre 1766 existierten 53 deutsche Zunfte, im Jahre 1825 schon 66. Die russischen Zunfte wuchsen ebenfalls v o n 56 im Jahre 1789 auf 67 im Jahre 1825 an, w a s sich auf Katharinas Reformen u n d wirtschaftliche Liberalisierung zuruckfuhren laBt. 278 279 Kizevetter, Posadskaja obScma, S. 88, 158. Reinhard Spree, Das Wachstum von Volkswirtschaften. Theorie und historische Erfahrung, in: JWG 1994/1, S. 109-130, hier S. 109. Zusammenfassend laBt sich sagen, daB das St. Petersburger H a n d w e r k mit dem Zunfthandwerk an der Spitze u m die Jahrhundertwende 1800 seine Prioritat in der gewerblichen Entwicklung behielt. Das Manufakturwesen stagnierte bzw. w a r ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sogar riicklaufig, und konnte mit einer sich allmahlich entwickelnden industriellen Produktion nicht k o n k u r r i e r e n . So wurde die gewerbliche Produktion in St. Petersburg zwischen 1800 und 1875 durch das H a n d w e r k u b e r n o m m e n . Erst mit dem Beginn der Industrialisierung w u r d e es v o n der GroBindustrie auf den zweiten Platz in der Wirtschaftshierarchie verdrangt. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ereignete sich ein Durchbruch in der Einstellung der russischen Handwerker zum Zunftsystem, da die russischen Zunfte viel schneller a n w u c h s e n und viele neue Zunfte entstanden. 280 4. Die H a n d w e r k e r und ihr G e w e r b e im Stadtbild St. Petersburgs des 19. Jahrhunderts Die Palaste und die groBen K a s e m e n , die prachtigen Kathedralen, Peter I., Katharina II., die Dekabristen und Puskin - das sind Begriffe, die gewohnlich mit der Innenstadt v o n St. Petersburg, die im 19. Jahrhundert aus drei Admiralitatsvierteln und dem ostlichen Teil der Vasilij-Insel bestand, assoziiert werden. D a s ist aber nur ein Teil des Bildes v o m Zentrum der Stadt. Der andere Teil zeichnete sich durch die gewerbliche Struktur aus, da die Handwerker v o n St. Petersburg sowohl quantitativ als auch im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Bedeutung sen o n immer ein wichtiger stadtbildender Faktor waren, insbesondere im Innenstadtbereich. Ein St. Petersburger Autor beschrieb den Wandel des Stadtbildes mit f Dlgenden Worten: „ ... N e b e n alten H a u s e m , hubschen eingeschossigen Villen, erheben sich die Riesenkasten der Mietshauser. Alte Gebaude werden in dieser U m g e b u n g v o n ihren fruheren Besitzern aufgegeben und durch Kneipen, Werkstatten und Handwerksbetriebe zu Orten, an denen sich Armut und Schmutz s a m m e l n " . 281 Das Erscheinungsbild des H a n d w e r k s manifestierte sich im Stadtbild wie folgt: Die Hauser wurden mit Werbeschildern bestiickt, auf denen die Symbole des jeweiligen H a n d w e r k s meist mit auffalligen Farben gemalt wurden. Schaufenster kamen erst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts auf, als in den Stadten erste groBe Warenhauser e n t s a t n d e n . Im KellergeschoB und in den oberen Stockwerken waren die weniger wohlhabenden H a n d w e r k e r angesiedelt: Schuhmacher und Schneider sowie hunderte kleiner Handelsstuben (torgovye lavki), in denen sich meist Backereien befanden. Diese H a n d w e r k e r durften sofern sie zur Zunft gehorten •• ebenfalls den mittleren und den oberen Bereich der Hauser mit Werbeschildern bestticken, so daB sich den Passanten oft ein ganzes H a u s als riesiges farbiges, mit entsprechenden Figuren und B l u m e n geschmucktes Werbeschild darstellte. Eine Vielzahl derartiger Hauser befand sich an der 282 281 G. Lukomskij, Sovremennyj Petrograd, ocerk istorii vozniknovenija i razvitija klassiceskogo stroitePstva, 1900-1915 gg., Petrograd 1916, zitiert nach Schlogel, Jenseits, S. 29. 282 Vgl. P. N. Stolpjanskij, Peterburg. Как voznik, osnovalsja i ros Sankt-Piterburch, St. Petersburg 1995, S. 238ff.; D. A. Zasosov, V. I. Pyzin, Iz zizni Peterburga 1890-1910-ch godov. Zapiski ocevidcev, Leningiml 1991, S. 96-100; Erhard Mielenhausen, Einzelhandel und Stadtentwicklung: Wechselseitige Beziehungen innerhalb stadtischer Verchchtungsruume. In: Perspektiven der Stadtentwicklung: Okonomie-Okologie. Osnabruck 1988, S. 51-70, hier S. 52f. 283 zentralen Einkaufsmeile der Hauptstadt dem Nevskij P r o s p e k t . E s gab allerdings Zeiten (von 1752 bis 1770), in denen es den H a n d w e r k e r n und Kunstlern verboten war, in der N a h e des Palastplatzes und des G e b a u d e k o m p l e x e s des Kaiserlichen Palastes auf den StraBen Millionnaja und Bol'saja Lugovaja Aushangeschilder an den Hausern aufzuhangen oder W o h n u n g e n auf der StraBenseite zu m i e t e n . Weniger auffallend, j e d o c h in jeder Hinsicht interessanter w a r der innere Bereich der Hauser, in denen sich die Werkstatten befanden. Eine Werkstatt bestand in der Regel aus drei Teilen: die Werkstatt selbst, unter anderem mit Maschinen, W e r k z e u g e n und Schmiedeherden ausgestattet; das Geschaft, in d e m die Waren angeboten und verkauft wurden, sowie der Wohnbereich, in d e m die Familie des H a n d w e r k e r s und die Gesellen nebeneinander wohnten, meist nur durch einen V o r h a n g voneinander getrennt. 284 D a sich in der Innenstadt Tausende von Handwerksbetrieben uberwiegend in Mietshausern befanden, w o der Platz k n a p p war, wurde jeder Quadratmeter in den Treppenhausern u n d in den Innenhofen ausgenutzt. G e w o h n l i c h standen im Innenhof z w e i - bis dreistockige G e b a u d e aus H o l z oder Backstein, in denen kleine metallverarbeitende Betriebe, GieBereien, Hutfabriken und anderes untergebracht waren. A u s den Fenstern des Mietshauses ragten die Ofenrohre der Betriebe heraus, die alle z u s a m m e n so viel R a u c h ausstieBen, daB M i t b e w o h n e r nicht selten bei der Polizei Beschwerde einlegten. Ein derartiges Bild bot sich in j e d e m Stadtteil: Ein Paradebeispiel dafur ist die KunstbronzegieBerei des auslandischen Meisters Petr G e d e in der Malaja Sadovaja StraBe, die nicht weniger als sieben Schmelzofen in den zehn Z i m m e r n eines H a u s e s im Innenhof hatte. Dieser Innenhof befand sich in unmittelbarer N a h e des M i c h a e l i s p a l a s t e s . Auch die Backer, v o n denen es in der Innenstadt einige hundert gab, machten sich die Treppenhauser und Innenhofe zunutze, in denen sie Bretter mit Teig z u m Abkuhlen aufstellten, w e s w e g e n sich die Stadtarzte mehrmals beschwerten. In den Treppenhausern wurden von den Backern entlang der W a n d e bis zur D e c k e reichende Stande aufgestellt, die ebenfalls der Ablage von Teig dienten. Hauser von H a n d w e r k e r n waren besonders in den Stadtvierteln Karetnaer, Litejner, Petersburger, V a s i l ' e v s k e r und M o s k a u e r z a h l r e i c h , wodurch diese Viertel spezifisch kleinindustrielle Ziige erhielten. 285 286 283 Vgl. Margarete Busch, Deutsche in St. Petersburg 1865-1914: Identitat und Integration (Veroffentlichungen des Institute fiir Kultur und Geschichte der Deutschen im ostlichen Europa; Bd. 6). Essen 1995, S. 49f. 284 PSZ RI 1, Bd. 19, Nr. 13421 (7. Mfirz 1770): О dozvolenii masterovym ljudjam i chudoznikam pribivat' vyveski na domach i imet' kvartiry v domach po glavnym ulicam, S. 18f.; s. dazu: Stolpjanskij, Peterburg, S. 238fT. 285 RGIA, f. 18, op. 2, d. 655: Po proseniju bronzovych del mastera Gede о vkljucenii ego zavedenija v Cislo fabrik (1830-1834), 1. 3. 286 K. S. Veselovskij, Statistideskie issledovanija о nedvizimych imuScestvach v Peterburge, in: Otecestevennye zapiski, torn 57, Nr. 3-4, Cast' 2 (1848), S. 6. 5. Die Selbstverwaltung der Zunfthandwerker U m die Entstehung einer Selbstverwaltung der Zunfthandwerker erlautern zu konnen, muB zunachst der Frage nachgegangen werden, inwieweit die M a s s e der gewerbetreibenden Bevolkerung ein Bedurfhis an der Vertretung ihrer Interessen hatte bzw. o b sie dazu uberhaupt in der Lage w a r . Hildermeier beschreibt die Situation wie folgt: 287 „Die uberaus verschiedenartigen sozialen Gruppen [...] kleine Dorfkramer, Kustarnik, Fabrikant und adliger Unternehmer, die m a n unter diesem Begriff zusammenfaBte, verbanden sich nicht zu einer einheitlichen Klasse. Sie bewahrten den Charakter ihrer j e w e i l i g e n standischen Herkunft und artikulierten ihre j e besonderen Interessen. Sie blieben okonomisch wie sozial ein Konglomerat, dem deshalb auch jegliche Voraussetzungen fehlten, ,burgerliche' politisch-soziale Forderungen nach westeuropaischen Muster vorzubringen oder gar gegen die Autokratie d u r c h z u s e t z e n " . 288 287 Allgemein zur Selbstverwaltung s.: Helmut Gross, Selbstverwaltung und Staatskrise in RuBland 1914-1917. Macht und Ohnmacht von Adel und Bourgeoisie am Vorabend der Februarrevolution. Wiesbaden 1981; Guido Hausmann, Universitat und stadtische Gesellschaft in Odessa, 1865-1917. Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie, Stuttgart 1998, S. 462-466; Lutz Hufher, Stadtdumawahlen und soziale Eliten in Kazan 1870 bis 1913: zur rechtlichen Lage und politischen Praxis der lokalen Selbstverwaltung, in: JGO NF Bd. 44/1996, S. 217-252; Hildermeier, Burgertum, insbesondere S. 246-307; Peter Liessem, Verwaltungsgerichtsbarkeit im sp&ten Zarenreich. Der Dirigierende Senat und seine Entscheidungen zur russischen Selbstverwaltung (18641917) (Studien zur Europaischen Rechtsgeschichte 79), Frankfurt/Main 1996, hier insbesondere S. 175-326; I.I. Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie v Rossii. Bd. 1: Ustrojstvo i upravlenie gorodov Rossii v XVIII stoletii. SPb. 1875. Bd. 2: Gorodskoe samoupravlenie do 1870 goda. Jaroslavl' 1877; A. A. Kizevetter, Gorodovoe polozenie Ekateriny II 1785 g. Opyt istoriceskogo kommentarija. M. 1909; Ders., Posadskaja obSCina v Rossii XVIII st. M. 1903; A. Michajlovskij, Reforma gorodskogo samoupravlenija v Rossii. M. 1908; Valerija A. Nardova, Gorodskoe samoupravlenie v Rossii v 60-ch - nac\ 90-ch godov XIX v. L. 1984; Dies., Samoderiavie i gorodskie dumy v Rossii v konce XIX - nacale XX veka. SPb. 1994; Ljubov* F. Pisar'kova, Moskovskoe gorodskoe obScestvennoe upravlenie s serediny 1880-ch gg. do pervoj russkoj revoljucii. M. 1982; Dies., NizSie gorodskie soslovija v samoupravlenii Moskvy. XVIII-XX w . , Autorinmanuskript; Dies., Social'nyj sostav gorodskich glasnych nakanune kontrreformy 1892 goda, in: ISSSR 1989 Nr. 6, S. 152-160. 4 289 Die Masse der gewerbetreibenden Bevolkerung hatte anfangs kein I n t e r e s s e , eine eigene Selbstverwaltung aufzubauen, da diese Bevolkerungsgruppe im 18. Jahrhundert keinen Stand bildete, sondern sich aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten zusammensetzte und von daher kein Bedurfhis nach der Vertretung eigener standespezifischer Interessen hatte. AuBerdem hatten die H a n d w e r k e r und kleinen Kaufleute ein so geringes E i n k o m m e n , dafl sie k a u m imstande waren, auch finanziell etwas zu der Entwicklung einer eigenen Selbstverwaltung beizutragen. Die materielle Unabhangigkeit w a r wiederum eine der Grundvoraussetzungen fur die Entstehung der standischen reprasentativen Selbstverwaltungsorgane. Als die Handwerksverwaltung 1785 per Dekret zu einer Zeit geschaffen wurde, in der die Auswtichse der feudalen Gesellschaft fur die Leibeigenen einen H o h e p u n k t erreichten, erschien den ehemaligen Bauern und jetzigen Handwerkern, die uberwiegend Leibeigene g e w e s e n waren, j e d e Reglementierung als Verletzung ihrer „Selbstandigkeit" bzw. ihrer relativen stadtischen Freiheit und ihrer Rechte als „Stadtburger". V o n daher ist die entschiedene A b l e h n u n g der unteren und mittleren Schichten der Bevolkerung gegen Reglementierung und Kontrolle zu e r k l a r e n . 290 Die Griindung der Zunfte war eine Initiative der Regierung, die spater auch von reichen H a n d w e r k e r n begriiBt und unterstutzt wurde. Allerdings ist ihre Billigung der Regierungspolitik nicht als Wunsch nach Autonomic sondern als wirtschaftsspezifisches Interesse zu interpritieren, die Konkurrenz durch das bauerliche und zunftfreie Handwerk zu binden und einen gunstigeren H a n d l u n g s r a h m e n fur sich zu schaffen. V o n den Zunften gingen ohnedies keine Initiativen zu N e u e r u n g e n aus. Sie paBten sich d e m festgesetzten R a h m e n an, bewahrten ihre Privilegien und lieBen unwillig die in die Stadt stromenden Bauern in ihren Stand einschreiben, bis der SenatserlaB v o n 1796 strengstens untersagte, den bauerlichen Handwerkern Hindernisse in den W e g zu legen. Im ubrigen gab es fur N e u e r u n g e n in der Zunftstruktur keine zwingenden Grtinde, denn die bauerlichen H a n d w e r k e r traten zeitweilig in die Zunfte ein, wodurch sie dem Zunfthandwerk die benotigten Arbeitskrafte sicherten, sonst aber in ihrem Stand 291 v e r b l i e b e n . Es w a r fur einen Bauer, selbst w e n n er das wollte, sehr schwierig, sich von der Dorfgemeinde zu losen. 289 Vgl. den Begriff „Interesse" in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3 hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Kosseleck, Stuttgart 1982, S. 305-365; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. GrundriB der verstehenden Soziologie, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 1. Halbband. Tubingen 1956/Neuausgabe, Kdln, Berlin 1964. 290 Vgl. Mieck, Europaische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4, S. 773; Weber, Wirtschaft, Halbband 1, S. 214-227. 291 Ebd. Mit der Stadtreform Katharinas II. im Jahre 1785 wurde die Zunftverwaltung auf einem qualitativ anderen N i v e a u weiterentwickelt: „Es war ein Wesensmerkmal der groBen Reformen Katharinas II., daB sie den Versuch unternahmen, Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung dem gleichen Ordnungsprinzip zu unterwerfen. Sie suchten eine Hierarchie v o n den Standen und Korporationen, die j e d e Gliederung bestimmte [,..]" , 292 aufzubauen. Mit Recht haben die spateren Generationen der St. Petersburger Zunfthandwerker 1785 als das Grundungsjahr der Selbstverwaltung der Handwerker in St. Petersburg angesehen. Die Reform des Handwerkerstandes trug ihre Friichte viele Jahrzehnte spater, als die selbstbewuBte Haltung der Selbstverwaltung bzw. das StandesbewuBtsein der Zunfthandwerker so gestarkt worden war, daB sie zu einem wichtigen innenpolitischen Faktor wurden. E s ist ihrem starken Widerstand zuzuschreiben, daB die Zunfte in RuBland nicht ganzlich abgeschafft wurden, wobei das Bollwerk des Zunfthandwerks in diesem K a m p f urns Dasein die zahlreichen Zunfte in den beiden russischen Hauptstadten, St. Petersburg und M o s k a u , bildeten. Alle Zunfte, die vorher getrennt existierten, wurden als ein Stand unter der Leitung einer allgemeinen Handwerksverwaltung (obsdaja remeslennaja uprava) und einem Handwerksoberhaupt (renteslennyjgolova) zusammengefaBt. Dieser vertrat in seiner Person alle Zunfthandwerker der Stadt und n a h m an den Sitzungen der St. Petersburger Sechsstimmigen D u m a teil. AuBerdem hatten die Posad- und die kleinburgerlichen H a n d w e r k e r dort ihre Vertreter. Es gab in der Allgemeinen D u m a insgesamt 121 Deputierte, deren Anzahl 1797 auf 70 reduziert w u r d e . Unter den Deputierten waren u m diese Zeit zumeist Zunftmeister, Posadleute und Kleinbtirger vertreten. Uber ihre Aktivitat ist w e n i g bekannt. Z u dieser Zeit war die Duma eine Institution, die nur die Verordnungen der Gouvernementsverwaltung ausfuhrte und keine Eigenstandigkeit in finanziellen Fragen hatte. A m 12. September 1798 wurde sie abgeschafft, j e d o c h mit dem Manifest v o m 2. April 1801 z u s a m m e n mit dem Stadtstatut von 1785 wiederhergestellt . 293 294 Weil im weiteren wiederholt von der hauptstadtischen D u m a die Rede sein wird, soli hier kurz ihre Geschichte seit der Einfuhrung 1785 bis zu ihrer letzten Reform im Jahre 1892 erwahnt werden. V o n 1785 bis 1846 existierten in der Hauptstadt die Allgemeine Stadtduma (Obsdaja Gorodskaja duma) und die Sechsstimmige 292 Hildermeier, Burgertum, S. 307; s. auch S. 57-91: das Kapitel uber die Stadtreform Katharinas II. PSZ RI 1, Nr. 17841, in: Ditjatin, Gorodskoe, S. 117. PSZ RI 1, Nr. 18662 (12.09.1798), Nr. 19811 (2.4.1801), in: Ditjatin, Gorodskoe, S. 132. D u m a (Sestiglasnaja duma), wobei die erste nur zusammentrat, u m die Mitglieder der Sechsmigen D u m a zu warden. Die zweite unterstand formal der ersten. In die Sechsmige D u m a w u r d e n sechs Mitglieder aus den sechs Standen der stadtischen Bevolkerung gewahlt: 1. Immobilienbesitzer, 2. Kaufleute aller drei Gilden, 3. Zunftmeister, 4. AuBerstadtische und auslandische Groflkaufleute, 5. Ehrenbtirger und 6. Posadleute. Ihre Tatigkeit unterlag der Aufsicht des Gouverneurs. Mit dem Stadtstatut v o n 1846 w u r d e in St. Petersburg eine neue Selbstverwaltung eingefuhrt, die auf andere Stadte z. B . M o s k a u (1862), O d e s s a (1863) und reichsweit in leicht abgeanderter Form erst 1870 ubertragen w u r d e . Die Sechsmige D u m a w u r d e durch die Allgemeine D u m a (Obsdaja duma) ersetzt, in die jetzt Vertreter aus funf Standen der hauptstadtischen Gesellschaft gewahlt wurden: 1. Erblicher Adel, 2. Dienstadel, Ehrenbtirger u n d R a z n o c m c y , 3. Kaufleute, 4. Kleinbtirger und 5. Zunftmeister . So fanden im Wahlerkorpus einige Umschichtungen statt. Die hauptstadtischen Kaufleute aller drei Gilden, die zugereisten und auslandischen GroBkaufleute w u r d e n in einem Stand der Kaufleute vereinigt. Dafur gab es Vertreter aus zwei Adelsgruppen, die vorher z u m Teil in der Wahlergruppe „Immobilienbesitzer" vertreten gewesen waren. Im allgemeinen war der Adel wenig an einer Vertretung in der Sechsmigen D u m a interessiert, da er ebenfalls 1785 mit d e m Gnadenmanifest das Recht erhielt, die Gouvernementsadelsversammlungen (gubernskoe dvorjanskoe sobranie) zu w a h l e n . Die Exekutive lag in der K o m p e t e n z der Verwaltenden D u m a (RasporjaditeVnaja duma), die aus d e m Stadtoberhaupt, den zwolf Mitgliedern und Amtsangestellten bestand. Dabei wurde wahrend der Wahl der Dumamitglieder streng nach d e m Standesprinzip verfahren. D a s heiBt, daB die Zunftmeister ihre Kandidaten getrennt v o n den Kaufleuten, Kleinburgern und dem Adel in einer gesonderten V e r s a m m l u n g wahlten. 295 296 297 Mit der Stadtreform v o n 1870 w u r d e das standische Organisationsprinzip der Selbstverwaltung v o n St. Petersburg durch das gesamtstandische (vsesoslovnyj) ersetzt und das Kurienwahlrecht eingefuhrt, wodurch sich die Rolle der Zunftmeister in der hauptstadtischen Selbstverwaltung auf ein M i n i m u m 295 Hausmann, Universitut, S. 462. 296 Otecestvennaja istorija. Istorija Rossii s drevnejSich vremen do 1917 goda, torn 1. Moskau 1994, S. 597ff.; t. 2. Moskau 1996, S. 165. 297 Otecestevennaja istorija, torn 2, S. 165f. S. dazu:f. Diestelmeier, Der russische Adel im 19. Jahrhundert, in: JGO 26 (1978), S. 376-400; P. Dukes, Catherine the Great and the russian nobility, Cambridge 1967; Peter Hoffmann, Dvorjanstvo i krepostnoj stroj Rossii XVI-XVIII w . , in: sbornik statej posvjaSdennyj pamjati Alekseja AndreevicaNovosel'skogo. Moskau 1975; R. E. Jones, The Emancipation of the russian nobility. 1762-1785, Princeton 1973; S. A. Korf, Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie za stoletie 1762-1855 godov, St. Petersburg 1906; Ju. B. Solov'ev, Samoderzavie i dvorjanstvo, Leningrad 1973; S. M. Troickij, Russkij absoljutizm i dvorjanstvo v 18 veke. Formirovanie burokratii, Moskau 1974. verringerte. Desto m e h r konnten sie sich auf eigene Aufgaben in der standischen Handwerksverwaltung konzentrieren. Die Reformen der stadtischen Selbstverwaltung betrafen also die Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r nur bedingt, da sie immer eine Moglichkeit hatten, ihre Aktivitaten in die standische Verwaltung zu verlagern, w a s sie auch nach der Einfuhrung des neuen Stadtstatutes 1870 taten. A b diesem Zeitpunkt spaltete sich die Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r v o n der stadtischen Selbstverwaltung ab und existierte unabhangig davon. Diese Absonderung der Handwerksverwaltung von der Stadtduma bzw. das Ausscheiden der Zunftmeister aus der stadtischen Selbstverwaltung vollzog sich mit der Einfuhrung d e s a l l s t a n d i s c h e n P r i n z i p s u n d der Abschaffung der Handwerksabteilung bei der Smdtduma. Als Folge dieser Entwicklung wurden die Handwerksverwaltungen in den Stadten in den letzten zwei D e k a d e n des 19. Jahrhunderts nach und r a c h aufgelost. Dieser A b s o n d e r u n g s bzw. AuflosungsprozeB der Handwerksverwaltungen wurde durch zwei Prozesse herbeigefuhrt: einerseits wie gesagt durch die Aufhebung des Standesprinzips in der Organisation der stadtischen Selbstverwaltungsstrukturen, wodurch sie liberalisiert wurden, andererseits durch die allgemeine wirtschaftliche und soziale Entwicklung unter der stadtischen Bevolkerung, die besonders in St. Petersburg durch die Industrialisierung gepragt und beschleunigt wurde. Durch die A u s h o h l u n g des standischen Grundsatzes im Handwerk, nach d e m mit A u s n a h m e der Kaufleute nur Zunfthandwerker das H a n d w e r k in vollem Umfang ausuben durften, und nach der zum Teil nichtkodifizierten allmahlichen Einfuhrung der Gewerbefreiheit, verlor nach M e i n u n g der meisten Regierungsmitglieder die Handwerksverwaltung ihre Existenzberechtigung. In dieser Hinsicht war das neue Stadtstatut von 1892 fur die Handwerker St. Petersburgs eine logische Folge der frtiheren Regierungspolitik. Es soli im Z u s a m m e n h a n g mit der Diskussion tiber die Folgen der Reformen der stadtischen Selbstverwaltung in den Jahren 1870 und 1892 eine Ambivalenz erwahnt werden, die mehrere Forscher dazu verleitete, die letzte Reform als eindeutig „reaktionar" zu w e r t e n . Folgende Argumente w u r d e n vertreten. N a c h d e m die Wahlerschaft in den Stadten mit der Reform v o n 1870 wesentlich vergroBert worden war, fiel ihre Verringerung nach der Reform von 1892 ins A u g e : die Basis der Stadtdumen in der Bevolkerung reduzierte sich auf Kosten der 298 298 Boris Borisovid Veselovskij, Istorija Zemstva za sorok let, torn 1, 2. St. Petersburg 1909, torn 3, 4. St. Petersburg 1911; L. G. Zacharova, Zemskaja kontrreforma 1890 g, Moskau 1968; N. M. Pirumova, Zemskoe liberaTnoe dviienie: SociaPnye korni i evoljucija do naala XX veka, Moskau 1977; dies, Zemskaja intelligencija i её rol' v obScestvennoj bor'be do naiala XX veka, Moskau 1986; G A. Gerasimenko, Zemskoe samoupravlenie v Rossii, Moskau 1990, S. 25f. 299 Zunftmeister, der me§6ane und Bauern betrachtlich . AuBerdem w u r d e die Tatsache angeprangert, daB die Selbstverwaltung in ihren Rechten durch die Einfuhrung der Gouverneursvollmacht wesentlich beschrankt w o r d e n s e i . Peter Liessem zeigt allerdings, daB die Folgen der Reform v o n 1892 nicht einseitig negativ beurteilt w e r d e n sollten, weil sie in B e z u g auf die Funktionalitat der Selbstverwaltung „mehr Aktionsfreiheit, e n o r m e n Fortschritt fur die Systematisierung u n d Stabilisierung der gesamten zarischen L o k a l v e r w a l t u n g " bedeutete. Die doppelte Zustandigkeit der stadtischen Selbstverwaltung und der Gouvernementsverwaltung loste viele Konflikte zwischen beiden aus. D i e z u n e h m e n d e Intensitat aber, mit der die Konflikte verliefen, laBt die gestiegene Selbstandigkeit oder wenigstens N e i g u n g der Selbstverwaltung zu dieser erkennen. Ungeachtet der Tatsache, daB die Gouverneure, auch in St. Petersburg, die stadtischen Selbst- und Zemstvoverwaltungen ihrer Kontrolle unterwerfen w o l l t e n , w a s ihnen auch besonders in der Personalpolitik d a n k ihrer Vollmacht gelang, w u r d e das Prinzip der Doppelzustandigkeit v o n der stadtischen Selbstverwaltung immer mehr revidiert, w o d u r c h sie immer selbstandiger in „ihrem" Handlungsraum agierte. Welche A u s w i r k u n g e n die verstarkte Prasenz des Gouverneurs fur St. Petersburg hatte, laBt sich am Beispiel der St. Petersburger Handwerksverwaltung uberprufen. Deren Widerstandsgrad den Verordnungen des Staates gegentiber zeigt wiederum ihr gewachsenes SelbstbewuBtsein in ihrer Tatigkeit. 300 301 302 299 L. F. Pisar'kova, Social'nyj sostav gorodskich glasnych nakanune kontrreformy 1892 goda, in: ISSSR 1989 Nr. 6, S. 152-160; dies., NizSie, S. 9; dies., Moskovskoe obScestvennoe upravlenie s serediny 1880-ch gg. do pervoj russkoj revoljucii, Moskau 1982. 300 301 Vgl. Hufher, Stadtdumawahlen, S. 226. Liessem, Verwaltungsgerichtsbarkeit, besonders die Unterkapitel liber die „Bewertung der sogenannten Reform von 1890", S. 179-182, und iiber „Das Grundprinzip der beschrankten Gouverneursvollmacht", S. 183-188, hier S. 18If. 5.1 Die Selbstverwaltung der russischen Zunfte bis 1846 Die Handwerksverwaltung bestand von 1785 bis 1846 ohne groBe Anderungen. D a die Fragen der Selbstverwaltung immer eine zweitrangige B e d e u t u n g in der russischen Innenpolitik hatten, wurde die Handwerksverwaltung als ein Organ der stadtischen Selbstverwaltung i n St. Petersburg sich selbst uberlassen. Erst ab 1820 schenkte ihr die Regierung aufgrund fiskalischer Interessen eine groBere Aufmerksamkeit. In den 1830er und 1840er Jahren wurden dann mehrere Regierungskommisionen zusammengerufen, die die Handwerksverwaltung auch in Hinsicht ihrer allgemeinen Effizienz prtiften. Mit der weiteren Entwicklung des H a n d w e r k s und der Wirtschaft insgesamt k a m es immer haufiger zu Widerspruchen und Unstimmigkeiten sowohl zwischen Regierung und Selbstverwaltung der Handwerker als auch zwischen dieser und den Handwerkern in der Stadt. In diesem Z u s a m m e n h a n g bewilligte die Zunftverwaltung einige Regel ungen, die vom Stadtmagistrat nicht in Frage gestellt wurden, j e d o c h d e m Sinn des Handwerksstatutes widersprachen. Dies veranlaBte die Regierung im Oktober 1835, einen ErlaB uber die Wiederherstellung „der O r d n u n g " in der Handwerksverwaltung h e r a u s z u g e b e n . Es war notig, die Regelungen fur die Handwerksverwaltung, die seitens des Stadtmagistrates zusammengefaBt wurden, in Einklang mit der Gesetzgebung zu bringen. D a aber das Innenministerium schon seit den 1820er Jahren mit dem Projekt uber die hauptstadtischen Stadtdumen beschaftigt war, in dem auch die Frage der Handwerksverwaltung entschieden werden sollte, mied die Regierung eine A n d e r u n g des Status quo und verbot lediglich alle unerlaubten Geldsammlungen unter den Handwerkern. Diesbeziiglich ftihrte der Stadtmagistrat eine Ш в ф г й г ш ^ der Buchhaltung und der Zahl der Handwerker in den Zunften durch. V o n 1835 bis zur Einfuhrung cler neuen offentlichen O r d n u n g in den Hauptstadten 1846 ging die Regierung der Алагуве des Handwerksstatutes und der Erforschung der wirklichen Lage des H a n d w e r k s nach. Sie erarbeitete einige Grundprinzipien, nach denen sie sich bei der Einfuhrung der neuen offentlichen O r d n u n g in St. Petersburg 1846 richtete. Z u dieser Zeit erfreute sich die Handwerksverwaltung einer groBen A u t o n o m i c in inneren Angelegenheiten. Bei einer naheren Betrachtung der L a g e in der Verwaltung stellten die Inspekteure der Regierung fest, daB die Beschlusse der Handwerksversammlung weder der Stadtduma noch dem Stadtmagistrat zur Bestatigung vorgelegt wurden. Sie legte z. B . laut den Worten der Staatskontrolleure die H o h e des Gehaltes der Verwaltungsmitglieder „vollig eigenstandig" fest. Das Handwerksoberhaupt bekam demzufolge einen 303 303 Ukaz e.i.v. ot 12.10.1835, in: RGIA, f. 1286, op. 5, d. 200: Po ukazu praviterstvennogo Senata о ustrojstve zdesnich remeslennych uprav, hier 1. 26. L o h n von bis zu 4 0 0 Rubeln, die Altesten zwischen 100 und 4 5 0 Rubel, acht Verordnete j e 500 Rubel. Einer v o n ihnen erhielt sogar 1.500 R u b e l . Die kritische Analyse des Handwerksstatutes durch Staatsrat N . Smirnov im Jahre 1843 stellt eine B e s t a n d s a u m a h m e des Zunfthandwerks im Z u s a m m e n h a n g mit der Aktualitat des Handwerksstatutes dar. Seine B e m e r k u n g e n erlauben es, einige Schlusse zu ziehen, w a r u m in der Verwaltung AmtsmiBbrauch u n d unregelmaBige Beitragssammlungen uberhaupt moglich waren. Als erstes bemerkte er in seinem Bericht, daB die „Satzung seit Katharina II. nicht geandert worden war, w a h r e n d die Entwicklung des Handwerksstandes und der Techniken bei der Herstellung der Produkte weit fortgeschritten w a r " . Er empfahl, d e m Stadtmagistrat das Recht einzuraumen, bestimmte Zunftstatuten (obrjady) zuzulassen, diese sollten j e d o c h nicht d e m Handwerksstatut u n d der allgemeinen Gesetzgebung widersprechen, w a s ab 1850 sukzessive in die Tat umgesetzt w u r d e . Smirnov unterstrich, daB das Handwerksoberhaupt eine passive Rolle s p i e l t e . Es diente nur als Mittler zwischen der Deputiertenversammlung und der Stadtverwaltung. Seiner M e i n u n g n a c h war er nicht an Standesangelegenheiten interessiert, die ihm fremd waren. U m die Arbeit des Handwerksoberhaupts umfassender zu gestalten, sollten nach Smirnovs Vorschlag erstens die K o m p e t e n z e n des Handwerksoberhaupts und damit der Verwaltung erweitert werden. Zweitens sollte eine kollegiale Verwaltung eingefuhrt werden. U m das kollegiale Prinzip einzufuhren, schlug Smirnov vor, einen Beirat aus vier Mitgliedern unter d e m V o r s i t z des H a n d w e r k s o b e r h a u p t e s in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g zu bilden. AuBerdem sollten start einem drei Kandidaten auf den Posten des Handwerksoberhauptes gewahlt werden, w o d u r c h Willktir bei der Wahl verhindert werden sollte. Start der alljahrlichen Wiederwahl des Handwerksoberhaupts und der Zunftaltesten, die Smirnov fur zu umstandlich hielt, schlug er eine dreijahrige Legislaturperiode v o r . 304 305 306 307 308 Teilweise hatte Smirnov mit seinen B e m e r k u n g e n iiber die Lage der Handwerksverwaltung recht. Jedoch war die Rolle des Handwerksoberhaupts nicht so unbedeutend, wie es bei Smirnov klingt. Dieser Zeitabschnitt in der Geschichte der Handwerksselbstverwaltung stellt eine Monopolisierung der M a c h t in der Kanzlei der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g sowie eine verminderte EinfluBnahme der Zunfthandwerker in der Zunft- und allgemeinen Handwerksverwaltung auf 304 Raport ministra vnutrennich del Bludova, in: Ebd., 1. 7f. 305 О predostavlenii zamedanij na svod remeslennych postanovlenij ot 12 dekabrja 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172: Po zapiske statskogo sovetnika N. Smirnova, hier 1. 1. 306 Ebd., 1. 9f. 307 Ebd., 1. llf. standische Angelegenheiten dar. Die Zunftaltesten und das Handwerksoberhaupt fuhlten sich einem „demokratischen O r g a n " wie der Meisterversammlung zu w e n i g verpflichtet, obwohl sie durch diese Versammlung gewahlt wurden. Z w a r waren sie von ihren Standesgenossen angesehen u n d akzeptiert, verhielten sich ihrem Status gemafi aber oft v/ie Staatsangestellte und distanzierten sich so von den Handwerkern. In dieser Hinsicht achteten sie mehr auf die Verfugungen, die von Stadtmagistrat und Stadtduma ergingen, als auf die H a n d w e r k s v e r s a m m l u n g , die keine Kontrollfunktion austiben konnte. Die Kontrolle uber das H a n d w e r k s o b e r h a u p t fehlte j e d o c h nicht nur seitens der Handwerker, sondern auch seitens der Stadtverwaltung bzw. des Stadtmagistrats, die w e n i g auf die MiBstande in der Handwerksverwaltung achteten und es lieber vorzogen, mit dem H a n d w e r k s o b e r h a u p t ein ungestortes Arbeitsverhaltnis zu pflegen. Dies sollte sich aber ab 1846 andern. Bis dahin spielte die legislative Macht in Gestalt der allgemeinen Handwerksversammlung und der Zunftversarnmlung eine eher zweitrangige Rolle: Erstere versammelte sich einmal pro Jahr, um das Handwerksoberhaupt zu wahlen und den jahrlich v o n ihm vorge legten Finanzbericht zu verabschieden. Die Meister einer Zunft versammelten sich alle vier M o n a t e im Zunfthaus (gerberg), gingen internen Fragen wie der Aufhahme von Meistern, Gesellen und Lehrlingen in die Zunft, der L o s u n g v o n Streitfragen zwischen den Handwerkern einer Zunft nach und legten die Beitragssatze der Zunftkasse fest. D a aber nur sieben Zunfte, derer es in der Stadt zu diesem Zeitpunkt 65 gab, ein Zunfthaus hatten, sollten die Meister anderer Zunfte eine Moglichkeit haben, sich auBerhalb des Zunfthauses und des Hauses der Handwerksverwaltung zu v e r s a m m e l n . Die Recherchen S m i m o v s flnden ihre Bestatigung durch den deutschen Kurschner Michail Petrovskij, der drei Jahre spater, am 29. April 1843, d e m Innenminister ein Schreiben uber die MiBstande in den russischen Zunften z u k o m m e n lieB. Er auBerte seine Besorgnis uber die unvollstandige Ц Ь е ф г и г ш ^ der Verwaltung durch Smirnov, der als AuBenstehender nicht imstande sei, alle Fakten zu durchschauen. Petrovskij sah seine Aufgabe in der Aufklarung der MiBstande. Als erstes nannte er eine vollige Unkontrollierbarkeit des Handwerksoberhaupts, w o d u r c h spurbare Lucken in den Finanzen entstanden: 1843 fehlten 20.000 Silberrubel, die als Steuer an die Stadtduma zu zahlen w a r e n . D a s Handwerksoberhaupt fuhrte die Buchhaltung nur gelegentlich und trug die einund ausgegangenen S u m m e n willkurlich ein. Die Situation w u r d e durch die 309 310 309 310 Po zapiske Smimova, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172, Par. 401. Predlozenie mastera skornjaznogo nemeckogo cecha Michaila Petrovskogo ministru vnutrennich del, vom 29. April 1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii S. Peterburgskoj rossijskoj remeslennoj upravy i podvedomstvennych ej cechov (13.11.184219.1.1945), hierl. 16ff. doppelte Buchfuhrung der Zunftaltesten wahrend der Z a h l u n g und der Verteilung der Steuerbeitrage unter den Handwerkern noch undurchsichtiger. Der Teil der Handwerker, der meistens v o m Land k a m und nicht in eine Zunft eintreten konnte oder wollte, w u r d e trotzdem v o n den Zunftaltesten inoffiziell mit zehn bis zwanzig Papierrubel im Jahr besteuert. Dies geschah unter dem Vorbehalt einer „freiwilligen" Abgabe fur die Zunftkasse oder einer Steuersammlung fur den Staat. Der E i n g a n g dieser Beitrage wurde extra in den dafur vorgesehenen Btichern protokolliert. D a s Geld selbst wurde angeblich unter den Altesten, ihren Vertretern und den Zunftmeistern wahrend der Zunftversammlungen verteilt. Die vollstandigen Handwerkerverzeichnisse erhielt weder das Handwerksoberhaupt noch die Stadtduma. U m seine Beschuldigungen zu belegen, fugte Petrovskij die Quittungen der Kurschner russischer Zunfte fur die Jahre 1837 bis 1842 hinzu. Laut den Quittungen waren v o n den Meistern dieser Zunft 1842 1.000 Papierrubel eingesammelt worden, von denen die Halfte als Steuer an die D u m a gegangen sein sollten. A m 3. September befanden sich aber start 500 nur noch 27,5 Papierrubel in der K a s s e 311 . Fast alle Einnahmen, die in die Zunftkassen und in die Handwerkskasse eingingen, wurden als L o h n an die Verwaltungsmitglieder ausgegeben, so daB fur wohltatige Z w e c k e k a u m etwas iibrig blieb. Hingegen unterhielt die Zunftverwaltung in M o s k a u ein Pflegeheim, in d e m 2 0 0 alte Handwerker und 4 0 Kinder versorgt wurden. A m 6. September 1843 berichtete Smirnov iiber neue Untersuchungsergebnisse der russischen Verwaltung. Die Zunfte der Backer, Bottcher, Kattundrucker, Giirtler, Lederer, der deutschen Backer, Miitzenmacher, Kunstmaler, Topfer und Karrenbauer wiesen folgende Mangel auf: 1. Es gab keine Verzeichnisse iiber die in den Zunften vorhandenen Meister, Gesellen u n d Lehrlinge. 2. Die gesammelten 2.000 Silberrubel der Kopfsteuer w u r d e n nicht in die Biicher eingetragen. Es blieb offen, mit welchem Geld das Handwerksoberhaupt die Dumabeitrage fur die erste Jahreshalfte bezahlt hatte. 3. Bei einer Revision stellte sich heraus, daB die eingegangenen S u m m e n nicht in die Biicher eingetragen worden waren und keine Gelder in der Kasse waren. 4. Der Zunftalteste der Bottcher k o n n t e keinen Benefit iiber die 1842 gesammelten Summen erstatten. D a s H a n d w e r k s o b e r h a u p t schenkte den B e s c h w e r d e n der Zunftmeister angesichts der Reputation des Zunftaltesten 311 Predlozenie, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii, hier 1. 22f. keine B e a c h t u n g . Wahrscheinlich war er auf seine Stimme bei der nachsten 312 Wahl a n g e w i e s e n . Die Handwerksverwaltung hatte zu diesem Zeitpunkt eine informelle Ordnung, auf die die Regierung nur von Zeit zu Zeit mittels einer Kommission einen Blick warf. Diese Nachsicht seitens der Regierung und der Stadtverwaltung nutzte die Verwaltung aus und n a h m indirekt EinfluB auf den Stadtmagistrat. Der Stadtmagistrat brachte namlich am 31.8.1843 eine V e r o r d n u n g heraus, die verbot, die leibeigenen bauerlichen Handwerker ohne schriftliche Erlaubnis ihrer Gutsherren in die Zunfte einzuschreiben. Die neue V e r o r d n u n g schrankte die Aufhahme bauerlicher Handwerker in die Zunfte betrachtlich ein. Die Erlaubnis war nicht so leicht zu b e k o m m e n , da die meisten Gutsherren abwesend waren und ihre Verwalter die benotigten Formulare nicht bei der H a n d hatten. AuBerdem muBten die Erlaubnisscheine durch den Adelsmarschall von St. Petersburg bestatigt werden, w a s bei einer Anzahl v o n mehreren Zehntausend pro Jahr aus praktischen Griinden nicht moglich war. Der Stadtmagistrat uberschritt seine Befugnisse als gerichtliche Institution und ubernahm legislative Aufgaben, w a s 313 der Gesetzgebung w i d e r s p r a c h . E s ist ungewiB, ob die oben erwahnte Beschrankung des bauerlichen Handwerks seitens des Magistrats nach Absprache mit der Handwerksverwaltung offentlich bekannt wurde oder nicht. A u f j e d e n Fall geschah es im Interesse der Handwerksverwaltung, da sie mit einer Begrenzung der Zahl von neuen Zunftmeistern die Existenz der vorhandenen Zunftmeister gesichert sah. In der Fachliteratur wurde immer wieder die Frage zur Diskussion gestellt, o b die Zunfte rein pragmatisch aus Griinden der verbesserten Steuersammlung oder als Katalysator fur die Entwicklung der Wirtschaft ins Leben gerufen worden 314 w a r e n . Beides scheint richtig zu sein. Es hangt von Zeitpunkt und Situation ab, w a s konkret v o n der Regierung oder den Stadtbiirgern selbst bezweckt wurde. V o n Zeit zu Zeit anderten sich die Akzente in der Politik der Regierung: Fur Peter I. waren sowohl wirtschaftliche als auch steuerliche Aspekte bei der G r u n d u n g der 312 Doklad ministru vnutrennich del о besporjadkach v rossijskoj remeslennoj uprave, vom 6. September 1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii, hier 1. 43f. 3 . 3 Zapiska Smirnova ot 23.06.1844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii, hier 1. 46f. 3 . 4 Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie; ders., Ustrojstvo; Kizevetter, Posadskaja obSeina; LeSkov, Ocerk; ders., Russkij narod; Pazitnov, Problema, S. 52; Stepanov, Sravnitel'noistoriCeskij opyt. Zunfte v o n Gewicht. Dagegen bezweckte die Kankrinsche Gildenreform v o m 14. November 1824 lediglich eine verbessertes S t e u e r a u f k o m m e n . 315 5.2 Die V e r w a l t u n g der deutschen Zunfte N o c h vor der offiziellen Griindung der Zunfte 1722 gab es in St. Petersburg deutsche Zunfte. Der Z u z u g der auslandischen H a n d w e r k e r nach RuBland, hauptsachlich n a c h St. Petersburg oder M o s k a u , stieg durch den ErlaB v o m 16. April 1702 betrachtlich a n . Die meisten v o n ihnen lieBen sich in St. Petersburg nieder. Die weiteren Erlasse v o m 4. Dezember 1762 und v o m 2 2 . Juli 1763 sicherten einen stetigen Z u w a c h s an auslandischen H a n d w e r k e r n in der H a u p t s t a d t . Diejenigen Handwerker, die im Kontor fur Auslander (Kontora opekunstva inostrannych) den W u n s c h auBerten, in die Zunfte einzutreten, sollten auch ohne Schwierigkeiten in diese aufgenommen werden: 316 317 318 „Die Auslander sollen in die St. Petersburger Zunfte ihrem W u n s c h nach ohne Hindernisse aufgenommen w e r d e n " . 319 Angesichts der vielen Kommissionen, die v o n der Regierung zur Uberprtifung der russischen und der deutschen Handwerksverwaltungen zusammengerufen wurden, gibt es eine betrachtliche Anzahl v o n Akten, die aufschluBreiche Informationen iiber die deutschen Zunfte liefern. Eine Uberprtifung der deutschen Zunftverwaltung fand im Jahre 1842 start. Die Kommission, die auf Verfugung des Innenministers zusammengerufen worden war, stand unter der Leitung des 3 . 5 Vgl. Otnosenie ministra finansov Kankrina к s. peterburgskomu voennomu generalgubernatoru ot 30 ijulja 1825, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471,1. 18. 3 . 6 PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 1910 (16. April 1702): О vyzove inostrancev v Rossiju, s obe&aniem im svobody veroispovedanija, S. 192. 3 . 7 PSZ RI 1, Bd. 16, Nr. 11880 (22.07.1763): О dozvolenii vsem inostrancam, v Rossiju vezzaju§£im, poseljatsja v kotorych gubernijach oni pozelajut i о darovannych im pravach, S. 313f. Diesem ErlaB ging der weniger ausfuhrliche ErlaB vom 4. Dezember 1762 unter der Nummer 11720: Manifest „О pozvolenii inostrancam, krome zidov, vychodit' i selit'sja v Rossii i о svobodnom vozvraScenii v svoe otecestvo russkich ljudej, bezavSich za granicu" voraus, S. 126f. 318 PSZ RI 1, Bd. 16, Nr. 11879: Ob ucrezdenii Kanceljarii Opekunstva inostrannych kolonistov, S. 312f. 319 PSZ RI 1, Bd. 15, Nr. 12290 (9. Dezember 1764): О zapiske vychodjaSdich v Rossiju na poselenie inostrannych remeslennikov v magistratskoj kontore i о vydace im deneg na obzavedenie, S. 999: „Inostrancev dlja zapiski po ich zelanijam v S. Peterburgskie cechi prinimat bez vsjakogo otricanija". 4 Staatsrats Baron Julij Fedorovic Korf. Als AnstoB fur die Einberufung der Kommission diente die Klage des deutschen Meisters der Kurschnerzunft, Joseph Grunberg, der die deutsche Verwaltung und vor allem das Handwerksoberhaupt August Dittmar der fehlerhaften Buchfuhrung beschuldigte. Er verlangte von Dittmar einen Rechenschaftsbericht uber die Finanzen der Handwerksverwaltung, den dieser niemals vorlegte. Die Meister betrachteten Grunberg als einen Storenfried, der die traditionelle O r d n u n g in den Zunften, zu verandern suchte. Ihre MiBstimmung druckten sie nachhaltig in der Wiederwahl Dittmars 1840 aus. In der V e r s a m m l u n g erhob Grunberg als Stellvertreter des Zunftaltesten der Kurschner seine Stimme fur eine Uberprufung der Buchfuhrung und verlangte einen Bericht v o n Dittmar. Die Zunftaltesten, ihre Stellvertrete г und die Mitglieder des Stadtmagistrats waren uber den Vorschlag Grtinbergs emport. Die Altesten verlangten „schimpfend und schreiend" von ihm, zu schweigen und die V e r s a m m l u n g sofort zu v e r l a s s e n . Dittmar genoB unter den Meistern groBes Vertrauen. Seit 24 Jahren war er Oberaltester der evangelisch-lutherischen St. Peter-Kirche, einer zentralen Kirche fur die evangelisch-lutherische Glaubensgemeinschaft in RuBland. A u f die Fursprache des General-Ingenieurs Graf O p p e r m a n n hin b e k a m er die silberne Medaille am A n n e n b a n d und di e goldene Medaille als 14jahriges Ratsmitglied der Augenheilanstalt St. P e t e r s b u r g s . Dies bestatigt sein groBes offentliches E n g a g e m e n t und seine Autoritiit als angesehener Burger der Stadt. D e s w e g e n war die im Grunde g e n o m m e n richtige Forderung Grunbergs fur die Zunftaltesten und die Offentlichkeit fast schon Ketzerei, zumal die Zunftkasse voll war: 1840 enthielt sie rund 100.000 P a p i e r r u b e l . 320 321 322 Im Jahre 1820 beschlossen die Zunftmeister, daB j e d e r Zunfthandwerker jahrlich 10 Rubel an das Handwerksoberhaupt als eine Art Aufwandsentschadigung entrichten sollte. Diese Steuer w u r d e auBerdem fur den Unterhalt des 323 Verwaltungsgebaudes und fur die Kanzlei b e s t i m m t . D a s war aber nur ein Teil der Beitrage, die Dittmar verwaltete. K o r f konnte aus den luckenhaften Unterlagen der Verwaltungskanzlei, die v o m Handwerksoberhaupt gefuhrt w u r d e n , keinen SchluB uber die wirkliche Lage der Finanzen der deutschen Zunfte ziehen. Dies ruhrte daher, daB das Handwerkisstatut keine A n w e i s u n g e n zur Kanzleiordnung in der Handwerksverwaltung und zu den konkreten Aufgaben des 320 Pojasniternaja zapiska na zalobu ot skornjaznogo mastera I. Grjunberga ministru vnutrennich del ot 23 ijunja 1842 goda, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii Korfom inostrannoj remeslennoj upravy v Peterburge, hier 1. 46f. 321 Ebd., 1. 22. 322 Ebd., 1. 24. Raport barona Korfa ministru vnutrennich del, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hier 1. 17. Handwerksoberhaupts gab. Der Alltag diktierte ihm seine A u f g a b e n : Er war fur die Ziinfte Kurator, Fiirsprecher u n d Ordnungshiiter in einer Person. Seine M a c h t w a r autoritar u n d hatte einen groBen Wirkungskreis. Mit der Zeit w u r d e der R a h m e n seiner K o m p e t e n z immer groBer, sie umfaBte das Eintreiben u n d die V e r w a l t u n g der Steuern und offentlichen Gelder, die Registrierung der Meister, Gesellen und Lehrlinge, die Diplomvergabe, die Erlaubnis zur Griindung einer neuen Werkstatt, die er mit Verwaltungsmitteln fordern konnte. Das Handwerksoberhaupt fuhrte z u d e m die Korrespondenz mit hoheren A m t e m 324 . Korf schlug vor, die Zahl der Meister in den Zunften genau zu iiberpriifen, u m zu wissen, welche S u m m e iiberhaupt gesammelt werden sollte. Die Verzeichnisse sollten aktualisiert werden, u m sie in Ubereinstimmung mit d e m tatsachlichen Bestand der Meister zu bringen. Hier sind als Beispiel nur einige Meisterzahlen fur das Jahr 1840 angefuhrt (siehe T a b . 7) . N u r fur diese ausgewahlten Ziinfte betrug die Differenz 176 Meister, von denen formell 1.760 Silberrubel Steuergelder eingehen sollten. E s ist unwahrscheinlich, daB die beiden Handwerksoberhaupter zu ungeschickt oder unfahig waren, die vollstandigen Verzeichnisse der Zunfthandwerker zusammenzustellen und alle Beitrage korrekt in der Buchfuhrung zu registrieren. Wahrscheinlich taten sie dies bewuBt, u m einen Teil der E i n n a h m e n fur den Eigenbedarf und Kanzleiausgaben verwenden zu konnen. Die Versaumnisse in der Aktualisierung zuriickgefuhrt der Verzeichnisse konnten auch auf die Zunftaltesten werden. D a s Fehlen eines G r e m i u m s aus Meistern in der Verwaltung und innerhalb der Zunfte, das eine u n a b h a n g i g e Kontrolle der Buchfuhrung u n d eine Uberpriifung der H a n d l u n g e n der Altesten u n d des Handwerksoberhaupts hatte ausiiben konnen, ermoglichte den AmtsmiBbrauch in noch hoherem MaBe. K o r f entdeckte, daB Dittmar gleich seinem russischen Kollegen eine doppelte Buchfuhrung hatte. In St. Petersburg gab es eine ziemlich groBe Zahl auslandischer Meister, die v o n keiner Zunft aufgenommen wurden. Die Griinde dafur waren unterschiedlich: Die einen hatten kein Diplom, die anderen arbeiteten allein. Solche Handwerker, die in einem Sonderbuch aufgezahlt wurden, besteuerte das Handwerksoberhaupt personlich. Die Besteuerung der zunftfreien Handwerker stellte eine betrachtliche Einnahmequelle dar. Als Gegenleistung fur die bezahlten Beitrage erhielten die Meister von Dittmar die Erlaubnis, in der Stadt eine Werkstatt zu ftihren. U m sicher zu gehen, traf Dittmar eine Absprache mit dem Adresskontor, daB die auslandischen Meister ihre Passe nur dann verlangert bekamen, w e n n sie im Adresskontor eine vom Handwerksoberhaupt ausgestellte Pojasnitel'naja zapiska, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, 1. 17. Tabelle 7: Anzahl der Meister in ausgewahlten Zunften nach den A n g a b e n von Dittmar und K o r f 1840 Im Verzeichnis TatsSchlich Schmiede 17 26 Schneider 161 190 Posamentierer 6 15 Schreiner 35 66 Dreher 14 22 Meister 28 118 261 437 Gold- und Silberschmiede Gesamt Quelle: Pojasnitel'naj zapiska na zalobu ot skornjaznogo mastera I. Grjunberga ministru vnutrennich del ot 23 ijunja 1842 goda, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii Korfom inostrannoj remeslennoj upravy v Peterburge, hier 1. 50. 325 Quittung uber die bei ihm entrichtete Steuer v o r w i e s e n . Als bedenklich bezeichnete Korf die Tatsache, daB das Handwerksoberhaupt die Lage der 326 Gesellen und Lehrlinge in den Werkstatten nicht uberprufte . Die Ergebnisse v o n Korfs Untersuchung brachten ans Tageslicht, wie die Zunfte die E n t w i c k l u n g des H a n d w e r k s behinderten. Die Zunfte bestritten die Zugehorigkeit des einen oder anderen Meisters zu ihrem H a n d w e r k und verwiesen inn an andere Zunfte, w e s w e g e n viele Meister eine Werkstatt gar nicht in vollen Umfang eroffhen konnten. Zum einen strebten die Zunftmeister nach dem alleinigen M o n o p o l in der Stadt. D a s beweisen die schikanose Meisterprufung, die Schwierigkeiten bei der Aufhahme eines Meisters in die Zunft und die Vielzahl der Meister, die trotz ihrer Fahigkeiten nicht in die Zunft eingeschrieben wurden. Es wurde vollkommen auBer acht gelassen, daB einige von ihnen uber Zeugnisse verfiigten, die sie als Lieferanten beruhmter westeuropaischer Konigs- und Ftirstenhofe auswiesen. Z u m anderen gab es zwischen einzelnen Zunften standige Fehden. Die Meister beschuldigten sich gegenseitig, fremde Techniken a n z u w e n d e n . M a n c h m a l waren die Kosten der Gerichtsverfahren sehr hoch. So Ebd., 1. 18f.; Vgl. Ditjatin, Gorodskoe, S. 250f. Pojasniternaja zapiska, 1. 17. sollte beispielweise die Zunft der Musikinstrumentenbauer fur einen ProzeB gegen einen Meister 3.442 Rubel bezahlen. In einigen auslandischen Zunften kostete bereits das Einreichen einer Bittschrift bis zu 100 R u b e l 327 . In einer Verfugung des Innenministers an den St. Petersburger Generalgouverneur v o m 5. N o v e m b e r 1842 wurden weitere M a n g e l aufgedeckt. Beim Eintritt in die Zunft zahlten die Meister start 10 zwischen 100 und 400 Papierrubel. Die 164 Meister der Backerzunft, die nicht gerade die armsten waren, wurden v o n der Besteuerung ganzlich befreit. 1841 wurden v o m Handwerksoberhaupt 2.700 Silberrubel fur die Unterstutzung armer Meister bewilligt, wobei die Halfte davon fur das 25jahrige Jubilaum des Handwerksoberhaupts ausgegeben wurden. Bei j e d e r Meisterversammlung gab es bis zu 75 Rubel Sonderausgaben, die fur die 328 Bewirtung der Meister ausgegeben w u r d e n . Ein Ergebnis der Revision war die drastische Kiirzung der E i n n a h m e n der Verwaltung, w o d u r c h einige Engpasse entstanden, die aber mit der Zeit ausgeglichen wurden. Die A u s g a b e n im Jahre 1849 iiberstiegen die E i n n a h m e n von 5.500 Silberrubel u m 1.000 Silberrubel (siehe Tab. 8). 1850 waren die Ausgaben von 6.619 Silberrubeln dagegen durch die Einnahmen gedeckt (siehe T a b . 9). Im darauffolgenden Jahr waren die A u s g a b e n in H o h e von 6.660 mit E i n n a h m e n in H o h e v o n 6.850 Silberrubeln gedeckt. Es bleibt hier zu bemerken, daB die Kosten kontinuierlich anwuchsen, da der Verwaltungsapparat vergroBert wurde. U m die Kosten fur den Unterhalt der Handwerksverwaltung zu mindern, erbaten Petersburgs am die auslandischen 31. Mai 1862, Meister kunftig vom start Generalgouverneur drei nur noch St. zwei 329 Verwaltungsmitglieder wahlen zu dtirfen . Die Bemiihungen der auslandischen Handwerker, die Verwaltungskosten in Grenzen zu halten, hatten Erfolg, im Jahre 1868 blieb die Bilanz positiv. In diesem Jahr betrugen die A u s g a b e n der Verwaltung 6.710 Rubel u n d die E i n n a h m e n 6.760 Rubel. 327 Raport barona Korfa, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 92: О revizii, hier 1. 24. 328 Predpisanie ministra vnutrennich del Perovskogo S. Peterburgskomu general-gubernatoru, vom 5.11.1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hier 1. 61ff. 329 Doklad S. Peterburgskogo general-gubernatora ministru vnutrennich del, vom 11. Oktober 1862, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 215: Ob ogranicenii sostava ctenov S. Peterburgskoj remeslennoj upravy v vidach sokraSdenija raschodov na soderzanie sego ucrezdenija (Oktober 1862 - Dezember 1867), hier 1. 1. Tabelle 8: A u s g a b e n der Handwerksverwaltung im Jahre 1849 Ausgabeposten in Silberrubel Handwerksoberhaupt 1200 drei Stellvertreter 1050 Sekretar 800 Buchhalter 600 drei Schreiberje 180 Silberrubel 540 zwei Wachter 192 Kurier 120 Kanzleiausgaben 600 Miete 1000 Heizung und Beleuchtung 200 M6belbeschafrung 200 Gesamt 6502 Quelle: Otnosenie voennogo general-gubernatora к ministru vnutrennich del, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667: Ob ustrojstve Remeslennoj upravy (...), hier 1. 64f., 72f. Es wurden auch E i n n a h m e n aus festverzinstem Kapital in H o h e v o n 975 Rubeln aufgefuhrt, w a s auf eine Kapitalisierung des Verwaltungsvermogens hinweist. M e h r als die Halfte w u r d e fur die Instandhaltung des Verwaltungsgebaudes und Verwaltungskosten (jeweils 1.693 und 3.580 Rubel) ausgegeben. Weitere 655 Rubel wurden fur Kanzleiausgal^en, Wachter, Boten, A b o n n e m e n t s v o n Zeitungen, Inserate und anderes verwendet. D e n Rest von 781 R u b e l n b e k a m e n finanziell schwache H a n d w e r k e r in Form v o n Unterstutzungsgeldern . Analog zur russischen Handwerksverwaltung legte die Verwaltung der deutschen Zunfte den Jahreskostenvoranschlag bei der Stadtduma vor. E s gab aber einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Handwerksgesellschaften. Walirend die russische Handwerksgesellschaft eine 330 330 Doklad S. Peterburgskogo gubernatora ministru vnutrennich del, vom 28. Februar 1868, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 887: Po povodu utverzdenija smety dochodov i raschodov S. Peterburgskoj inostrarmoj remeslennoj upravy na 1868 god (vom 4. MSrz bis zum 25. April 1868), hierl. If. Tabelle 9: Einnahmen und Ausgaben der auslandischen Handwerksverwaltung 185Q Ausgabeposten Einnahmeposten funf Rubel pro Meister 5000 Handwerksoberhaupt 1200 ein Rubel pro Gesellen 1200 drei Stellvertreter 1050 Sekretar 800 - Buchhalter 600 - Registrator 300 - zwei Schreiber 360 - ein Wachter und zwei Kuriere 360 - Miete - Kanzleiausgaben 600 - Heizung und Beleuchtung 200 - M6belreparatur und anderes 50 - andere Ausgaben 19 30 Kopeken pro Lehrling 450 6650 1080 6619 Quelle: Otnosenie voennogo general-gubernatora к ministru vnutrennich del, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667: Ob ustrojstve Remeslennoj upravy (...), hier 1. 64f., 72f. legislative M a c h t in F o r m der Deputiertenversammlung hatte, die die Kostenvoranschlage der Verwaltung bestatigte, w o n a c h sie bei der Stadtduma zur Bestatigung vorgelegt wurden, tat dies die Verwaltung der deutschen Zunfte nur iiber die Bestatigung der Zunftaltesten, die genau wie die Verwaltung selbst eine exekutive M a c h t v e r t r a t e n . Die Revision der deutschen Zunfte brachte wesentliche Erfolge mit sich: Die Buchfuhrung w u r d e in O r d n u n g gebracht; ein Teil der E i n n a h m e n der Verwaltung w u r d e legalisiert, ein anderer Teil als iiberfliissige G e l d s a m m l u n g e n abgeschafft. Daraufhin erhielt der Generalgouverneur v o m Innenminister eine A n o r d n u n g , Dittmar von seinem Posten abzusetzen, der Stadtduma einen V e r w e i s zu erteilen, alle gesetzwidrigen Geldsammlungen zu verbieten, einen Bericht iiber die Steuersammlung aufzustellen und das gesetzwidrige M o n o p o l der Backerzunft aufzuheben. 331 331 Otnosenie S. Peterburgskogo gubernatora ministru vnutrennich del, vom 15. April 1868, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 887: Po povodu utveridenija smety, hier 1. 5. Seit Anfang der 1850er Jahre gab es keine groBen Schwierigkeiten mit den deutschen Zunften mehr, die viele Produktionsnischen fur sich nutzen konnten. D i e auslandischen H a n d w e r k e r waren gut in die Infrastruktur der Hauptstadt intergriert. Der gute Ruf, den sie hatten, sicherte eine stetige Nachfrage ihrer Waren durch die St. Petersburger Kundschaft: Sie uberstanden die Zeit bis 1914 o h n e groBe Turbulenzen. Ungeachtet dessen bedeutete der Erste Weltkrieg ihr E n d e . Die deutschen Zunfte wurden 1915 abgeschafft . Die verbliebenen Meister konnten zeitweilig in die russischen Zunfte eintreten oder aus d e m L a n d ausreisen, w a s viele von ihnen auch t a t e n . 332 333 5.3 Die Zeit v o n der Reform der offentlichen Selbstverwaltung Petersburgs im J a h r e 1846 bis z u m E n d e der 1850er J a h r e St. Die A b n e i g u n g der Bevolkerung gegen j e d e staatliche Verordnung und Beteiligung an den offentlichen Korperschaften der Stadt war eine Tatsache, gegen die die Regierung machtlos war, gleichgiiltig, ob es sich u m die Wahl in die „Burmisterskie palaty" Ende des 17. Jahrhunderts oder um die Tatigkeit in den Stadtdumen E n d e des 18. Jahrhunderts bis Ende des 19. Jahrhunderts oder um die Wahlbeteiligung bis Ende des 19. Jahrhunderts handelte. Die Regierung erkannte dies schon friih und brachte einige Erlasse heraus, die „wurdige Burger der Stadt" v o m Dienst befreiten. Der ErlaB v o m 2 8 . Juni 1731 befreite die Burger von der Wahl in verschiedene staatliche und offentliche Dienste. Dieses Privileg gait nur fur „Fabrikanten", die v o m Manufakturkollegium als wtirdig erachtet wurden. Die anderen, die diese Wahl als eine schwere Verpflichtung empfanden, muBten sich fugen . In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts anderte sich die Einstellung der Stadtbiirger zur T e i l n a h m e an der offentlichen Verwaltung wenig, sie blieb negativ. Es fehlte das gesellschaftliche Interesse, da eine Stadtgesellschaft kaum existierte und erst in der Entstehung begriffen war. Die Standesversammlungen w u r d e n nur unregelmaBig von den Standesmitgliedern b e s u c h t . Deswegen 334 335 332 Ob uprazdnenii Petrogradskoj upravy inostrannych remeslennych cechov (1915), in: RGIA, f. 1288, op. 11, d. 25, hier 1. 3f. 333 Predstavlenie iz kazennoj palaty v departament okladnych sborov, vom 14.10.1915, in: RGIA, f. 1288, op. 11, d. 60: Po otnoseniju departamenta ob§£ich del ot 13. Mai 1916 po voprosu о prave inostrannych poddgjinych vstupat vremenno v dislo Petrogradskich cechovych remeslennikov (23. Mai 1916-13. September 1917), hier 1. 2f. 4 334 L. O. PloSinskij, Gorodskoe ili srsdnee sostojanie russkogo naroda v ego istoriceskom razvitii ot nadala Rusi do novejSich vremen. St. Petersburg 1852, S. 202. Vgl. Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie, Bd. 2, S. 246. befreite die Regierung 1824 die Kaufleute der ersten und der zweiten Gilde v o n der Pflicht, in offentlichen Amtern zu dienen, da sie einsah, daB die w o h l h a b e n d e n und angesehenen Burger diesen Dienst als Verletzung ihrer Ehre ansahen. Sie konnten ohne j e d e n Grund, falls sie gewahlt wurden, den Dienst in einem offentlichen A m t abschlagen. A u s diesem Grund waren in der Sechsstimmigen D u m a fast ausschlieBlich Kaufleute der dritten Gilde, Kleinburger und Zunfthandwerker, die kein Risiko eingingen, ihre W u r d e zu verlieren. D a s A m t befreite den Amtstrager bzw. Deputierten nicht einmal v o n der korperlichen Zuchtigung, die erst 1857 abgeschafft w u r d e . Die Zunfthandwerker bildeten gegenuber den Kaufleuten und den Kleinburgern eher eine A u s n a h m e . Ihre Selbst- bzw. Handwerksverwaltung - die Zunftverwaltungen eingeschlossen - war ein gut entwickelter Verwaltungsapparat, der nicht nur den fiskalischen Z w e c k e n des Staates diente, sondern seine Aktivitaten mehr u n d m e h r auch in Richtung sozialer Sicherheit und Bildung ausbreitete. Ungeachtet aller bescheidenen Errungenschaften in der Handwerksorganisation der Hauptstadt laBt sich trotzdem sagen, daB die Zunfthandwerker eine Selbstverwaltung, wie sie im heutigen Sinne verstanden wird, nicht hatten. Erst seit der Reform der offentlichen Verwaltung v o n St. Petersburg im Jahre 1846 g e w a n n die Selbstverwaltung der Handwerker an Gestalt u n d B e d e u t u n g . Die Aktivitat der Zunfthandwerker in Wahlfragen stieg an, es entstanden verschiedene Institutionen wie die Sonntagsschule, die Malschule, die Unterstutzungskasse und das Altersheim. D a s Ansehen der Amtsinhaber der V e r w a l t u n g war ebenfalls groBer. Die Amtsstelle in der Handwerksverwaltung, die ein Teil der stadtischen Selbstverwaltung war, entwickelte sich zu einem Prestigeposten, der v o n einer immer groBeren Zahl wohlhabender Meister angestrebt wurde. Dieses Streben ist durch das Verlangen der Meister nach sozialem Ansehen bzw. nach der E r h o h u n g ihres sozialen Status zu erklaren. Nicht unbedeutend war auch die materielle Kompensation fur die offentliche Tatigkeit. Im Unterschied zu M o s k a u , w o die Zunftaltesten nicht mehr als 250 Papierrubel bekamen, envies sich der Dienst in der Handwerksverwaltung v o n St. Petersburg nicht nur aus sozialer, sondern auch aus materieller Sicht als durchaus lohnend. Hier erhielten die Verwaltungsmitglieder viel hohere Entgelte als in Moskau: Der Handwerksalteste bekam 6.000 Papier- bzw. 1.714 Silberrubel, die Zunftaltesten bis zu 1.500 Papier336 337 336 Ebd., S. 158f.; PSZ RI 2,1857, Nr. 15206: Uber die Abscrmffung der Zuchtigung der Dumadeputierten. 337 Uber die Einfuhrung der neuen Stadtordnung im Jahre 1846 s. Hildermeier, Burgertum, S. 272-278. bzw. 428,6 Silberrubel und ihre Stellvertreter bis zu 1.000 Papier- bzw. 285,7 Silberrubel im J a h r . Uberhaupt trat an die Stelle des Handwerksoberhauptes die Handwerksverwaltung, die aus dem Standesaltesten, seinen Stellvertretern und den Vertretern der zeitweiligen Handwerker bestand. Der Handwerkerstand unterstand nicht d e m Magistrat, sondern der Verwaltenden Stadtduma. In der Allgemeinen Stadtduma wurde eine Handwerksabteilung eingerichtet, die die G e s a m t v e r s a m m l u n g aller Zunftmeister ersetzte und unter dem Vorsitz des Handwerksaltesten ihre Versammlungen abhielt . Fur die ordnungsgemaBe Durchfuhrung der Reform w u r d e eine Kommission fur die Einfuhrung der neuen offentlichen Verwaltung ( K E N O V ) (kommissija po vvedeniju novogo obsdestvennogo upravlenija) einberufen. Das Kommissionsmitglied , Kollegienassessor Graf Sievers, sollte auf die korrekte Durchfuhrung der Wahl bei den zunftigen H a n d w e r k e r n achten. Gleichzeitig uberpriifte ein anderes Mitglied der Kommission, Grot, die Buchfuhrung der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g der deutschen Zunfte. Er fand etwa die gleiche Lage vor wie sein Vorganger Baron Korf: „Es sind keine Biicher, keine R e c h n u n g e n u n d keine Verzeichnisse zu finder", lautete sein Urteil. Fur die Aufbewahrung der D o k u m e n t e gab es kein Archiv. Die Altesten k a m e n selten in die Verwaltung, sondern verrichteten ihre dienstlichen Aufgaben zu Hause. Die Meister deutscher Zunfte beklagten des ofteren eine ungerechte Steuerverteilung. D e s w e g e n schlug Grot vor, das A m t des Kassierers und des Buchhalters einzufuhren . Die neue offentliche O r d n u n g vergroBerte vor allem den Verwaltungsapparat fur die daraus erwachsenen Aufgaben und fuhrte eine Deputiertenversammlung von 100 Deputierten ein, wodurch die schwierige Prozedur entfiel, die Meister eines ganzes Standes, u m j e n e Zeit etwa 1.000 an der Zahl, zu versammeln. AuBerdem bekamen die Handwerkerinnen das Recht, ihre Stimme mittels einer Vertrauensperson bei der Wahl abzugeben. Fur die Deputierten wurde in der Allgemeinen Stadtduma (Obsdaja gorodskaja Duma) eine besondere Handwerksabteilung eingerichtet, w o sie sich unter d e m Vorsitz des Standesaltesten trafen. Die Handwerksverwaltung unterstand in Gerichtsfragen d e m Stadtmagistrat und in administrativen Fragen der verwaltenden Stadtduma (Rasporjaditel 'naja Duma), in die drei Vertreter der H a n d w e r k e r gewahlt wurden. D a s Handwerksoberhaupt, das von nun an den N a m e n des H a n d w e r k s - bzw. 338 339 340 338 Predlozenie mastera skornjaznogo nemeckogo cecha M. Petrovskogo ministru vnutrennich del ot 29 aprelja 1843 goda, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii (...), hier 1. 16ff. 339 340 Ryckov, О cechach, S. 819. Kopija s zurnala komissii, vom 21. Februar 1849, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667: Ob ustrojstve remeslennoj upravy inostrannych cechov v S. Peterburge (12. April 1849 - 11. Dezember 1851), hier 1. 17f. Standesaltesten trug, wurde von zwei Stellvertretern und zwei Stellvertreterkandidaten k o n t r o l l i e r t u n d h i e l t m i t i h n e n in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g Rat. Die zwei Beisitzer der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g der zeitweiligen H a n d w e r k e r bildeten eine Art Aufsichtsrat, der allerdings keinen EinfluB auf den Handwerksaltesten nehmen konnte. Die Beisitzer konnten in Ausnahmefallen als einfache Beobachter mit Erlaubnis der D e p u t i e r t e n v e r s a m m l u n g in die V e r s a m m l u n g geladen w e r d e n . D e r Handwerksverwaltung bzw. dem Standesaltesten unterstanden alle Zunftverwaltungen, v o n denen es um diese Zeit rund 30 gab. Die jeweilige Zunftverwaltung (Cechovaja uprava) wurde von einem Zunftaltesten u n d den Sondermitgliedern (osobye deny) gefuhrt. Die Buchhaltung und Beglaubigung der Vertrage w u r d e einem Makler auferlegt. Hinzu kamen die Einsammler v o n Steuergeldern u n d ihre Gehilfen. Die V e r s a m m l u n g der vereidigten Meister fuhrte die Meisterprtifungen durch. Die letzteren untersuchten auBerdem die Streitigkeiten unter den Meistern, iiberpriiften die Handwerksbetriebe und die Warenqualitat. Die Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte bestand aus d e m Vorsitzenden u n d den Vertretem der Zunfte. Zu den Aufgaben der Standesverwaltungen gehorten die inneren Angelegenheiten des Standes, die ordnungsgemaBe S a m m l u n g der Jahressteuern fur den Staat und fur die Stadt sowie fur die Standesgesellschaft selbst. Die Verwaltung fuhrte miindliche Untersuchungen in Streitfragen und bei Beschwerden der Zunftmitglieder durch, die zu ihrer Gerichtsbarkeit gehorten. Die Handwerksverwaltung unterstand der verwaltenden D u m a und dem Kassenamt, das die Steuersammlungen k o n t r o l l i e r t e . Trotz aller Reformen blieb die stadtische Selbstverwaltung in einem hohen Grad an die Staatsverwaltung gebunden. So stand in der Instruktion iiber die Einfuhrung einer neuen Stadtordnung fur St. Petersburg 1846 unter § 1 1 , daB die S t a n d e s v e r w a l t u n g e n , die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eingeschlossen, einen bestimmten Platz im Staatsapparat innehatten: Die Angestellten der Verwaltung wurden denen im Staatsdienst gleichgestellt. A u c h spater, im Jahre 1858 bestatigte die Regierung in einer Sondererklarung, daB die stadtische Selbstverwaltung vor allem d e m St. Petersburger Generalgouverneur u n t e r s t a n d . Der Anteil der Handwerker, die ein passives und aktives Wahlrecht erhielten, war nicht groB: V o n 8.227 Wahlberechtigten in der Stadt waren nur 644 oder 7 , 8 % standige Zunfthandwerker. Das aktive Wahlrecht erhielten Meister, die mindestens 25 Jahre alt waren u n d iiber ein Kapital von mindestens 300 Silberrubel verfugten. D a s passive Wahlrecht erhielten Meister, die ebenfalls mindestens 25 Jahre alt waren und ein Kapital von mindestens 600 Silberrubel besaBen. U m das A m t des 341 342 341 Russkij Vestnik", 1863, Bd. 47, Nr. 11 (Oktober), S. 789-822, N.D. Rydkov, О cechach v Rossii i Zapadnoj Evrope, S. 819. Handwerksaltesten innehaben zu konnen, sollte ein Meister ein Kapital v o n mindestens 6.000 Silberrubel besitzen. In den Standesversammlungen wurden die Abgeordneten der D u m a und die Mitglieder der Handwerksverwaltung gewahlt. Die Wahl fand erstmals v o m 2 1 . bis zum 2 3 . Oktober 1846 im G l a z u n o v - H a u s statt. An der Wahl n a h m e n 387 standige Meister teil. Insgesamt sollten, w i e gesagt, 100 Standesvertreter gewahlt werden, w a s 1 7 , 1 % der Gesamtzahl der Dumamitglieder entsprach, die 586 betrug. Die Zunfte der Schreiner u n d der Schneider zahlten j e 14 Mitglieder, ihnen folgten Juweliere u n d Silberschmiede (je 8), dann die Malerzunft (5), die der BronzegieBer u n d Tapezierer (je 4), die der Schmiede, Dreher, Wagenbauer, Friseure und Arzthelfer (je 3), die der Hutmacher, Schuhmacher, Damenhe.lbstiefelmacher, Schlosser, Uhrmacher, Speisewirtschaftler, Fensterrahmenmacher, Metallstecher (je 2) und die der Kunstmaler, Ofensetzer, Damenschuhmacher, Buchbinder, Backer, Kurschner, Posamentierer, Kupferkessler, Bottcher, Klavierbauer u n d H a n d s c h u h m a c h e r (je ein Mitglied). Ihre Vertreter in der Standesversammlung u n d in der D u m a reprasentierten insgesamt 3 0 Z u n f t e . Z u m Zunftaltesten wurde P. M . Matveev, zu Stellvertretern F. M . Liman u n d I. V. Baulin g e w a h l t . Bei der N e u w a h l im Jahre 1850 standen 61 neue Deputierte zur Wahl. Ungewohnlich an dieser Wahl war, daB die Stelle d e s Standesaltesten, die fruher jahrelang ein u n d dieselbe Person innehatte, neu besetzt wurde. Z u m neuen Standesaltesten w u r d e der Meister der Tapeziererzunft D . I. Rosenberg, zu Stellvertretern der Schreinermeister S. I. Malkov u n d der Schneidermeister S. F. Siskin, als Kandidaten fur die Stellvertreter der Schuhmacher G. V . V a s i l ' e v u n d der Schneider К . I. Orlov g e w a h l t . 343 344 345 346 Ungeachtet dieser N e u e r u n g e n waren die zeitweiligen Zunfthandwerker nicht vollstandig in die Gesellschaf t der Zunfthandwerker integriert. Z w a r durften sie in den Zunftversammlungen anwesend sein, aber an den V e r s a m m l u n g e n der Deputierten n a h m e n sie nicht teil. Sie hatten w e d e r passives noch aktives Recht, w e n n es u m d i e Wahl d e s Handwerksaltesten oder der 100 Deputierten der H a n d w e r k s v e r s a m m l u n g ging, die in der Handwerksabteilung der Stadtduma ihre V e r s a m m l u n g e n hielten. Dementsprechend konnten die zeitweiligen Meister, die den groBten Teil der Steuern u n d Beitrage zur Zunftkasse beitrugen, nicht uber die Mittel verfugen, die z. B . zur sozialen Vorsorge verwendet wurden. In der ersten 343 Es handelt sich wahrscheinlich um das Haus des erblichen Ehrenbtirgers der Hauptstadt K. I. Glazunov, das sich auf der Kazaner StraBe 8-10 befand. 344 Ob§6ie gorodskie vybory v S. Peterburge po novomu ustrojstvu, in: 2MVD, Cast' 16 (Oktober-November 1846), S. 311-354. 345 Izvlecenie iz otdeta po S. Peterburgskoj gorodskoj obScej dume za pervoe trechletie (18471849), in: 2MVD, Nr. 4-6 (April-Juni 1852), S. 162. 346 Gorodskie vybory v Peterburge, in: 2MVD, Nr. 4-6 (April-Juni 1850), S. 267f. Zeit nach Einfuhrung der neuen Handwerksverwaltung waren die zeitweiligen Zunftmeister w e n i g daran interessiert, sich in die Standesangelegenheiten der standigen Zunftmeister einzumischen oder an irgendwelchen V e r s a m m l u n g e n teilzunehmen. Als sie im Winter 1846 in die K E N O V zur Verktindigung ihrer Rechte eingeladen wurden, erschien kein einziger zeitweiliger Meister. D e s w e g e n wurde d e m Standesaltesten noch einmal angetragen, sie zu versammeln, u m die Beisitzer in die Handwerksverwaltung und die Mitglieder der Zunftverwaltungen z u s a m m e n mit den standigen Meistern wahlen zu k o n n e n . Diese passive Einstellung der zeitweiligen H a n d w e r k e r zu den offentlichen Angelegenheiten dauerte aber nicht lange an. Wahrend ihre Zahl in der Stadt standig w u c h s , stieg seit Beginn der „groBen Reformen" in den 1860er Jahren auch ihr Anspruch auf EinfluBnahme in Fragen der Verteilung v o n Mitteln fur den Aufbau eines Systems sozialer Einrichtungen, wie z. B . Sonntagsschule und Altersheim, stetig an. Trotz aller Anstrengungen der Regierung blieben immer noch ungeloste Probleme bei der Steuersammlung bestehen. Im August 1848 zeigte ein zeitweiliger H a n d w e r k e r die Handwerksverwaltung an. Er beschuldigte sie, im Laufe v o n Jahrzehnten die Sonderabgaben seitens der zeitweiligen Zunfthandwerker eingetrieben zu haben. Dabei wurden die nichtnumerierten Quittungen fur die eingezahlten Beitrage fehlerhaft ausgestellt. Der Zunftalteste trug in die Biicher start der vollen S u m m e nur die Halfte ein. Die Zunftaltesten sammelten daruber hinaus jahrlich zwischen 10 und 15 Rubel ein, die angeblich fur die Stadt und die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bestimmt waren. In diesem Fall wurden nur 5.71 Rubel quittiert. Fur die Beitrage, die die Meister fur Lehrlinge und Gesellen einzahlten, wurden ihnen uberhaupt keine Quittungen ausgestellt. Z u den Sonderposten gehorten sogenannte 'freiwilligen A b g a b e n ' der zeitweiligen Handwerker. Als die K o m m i s s i o n von Grot allerdings eine Uberprtifung der H a n d w e r k s - und Zunftkassen v o r n a h m , fand sie keine Unstimmigkeiten. In der Handwerkskasse gab es Kreditscheine fur 18.498,7 Rubel und 544 Rubel in bar, so daB 9,98 Rubel m e h r als die in der Buchfuhrung verzeichnete S u m m e vorhanden waren. Die Kassen der Schlosserzunft (585,32 Rubel), der Schuhmacher (2.856,91), der Schneider (1983,26), der Schornsteinfeger (573,45) und der Kleinhandler in den Handelsstuben (1441,99 Rubel) wiesen keinen Fehlbetrag auf . D o c h nicht immer endeten die Revisionen so erfolgreich. Im Mai 1849 berichtete Grot, daB der Alteste der Schornsteinfegerzunft die Zunftkasse zu Hause aufbewahrte. N a c h Ш е ф ш г ш ^ der Kasse stellte sich heraus, daB 6.000 Rubel 347 348 347 Delo Gosudarstvennogo soveta i Departamenta ekonomii po voprosu о porjadke vybora cechovych maklerov v S. Peterburge (...) (1856), in: RGIA, f. 1152, op. 4, d. 65,1. 5. 348 Donos na imja ministra vnutrennich del Perovskogo ot 8 nojabrja 1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 610: О besporjadkach v Peterburgskoj rossijskoj remeslennoj uprave i о rassledovanii ich kollezskim sovetnikom Grotom, 1. 14, 17. 349 fehlten . In nur zweieinhalb Jahren war die Kommission mit den Musterbuchern fertig und am 24. Februar 1849 erstattete Grot, der Leiter der K E N O V , Bericht u n d schlug zehn Musterbucher fur die korrekte Buchfuhrung in den russischen Zunften vor. Die B u c h h a l t u n g der Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte w u r d e zu dieser Zeit in O r d n u n g gebraclit und in vorgeschriebener Form weitergefuhrt . Die finanziellen Angelegenheiten der Handwerksverwaltung waren nicht ihre einzige Aufgabe. Die Handwerksverwaltung war die erste Gerichtsinstanz fur die Handwerker, an die sie sich in Streitfragen w e n d e n konnten. D o c h die Verwaltung kam anscheinend mit der Vieb;ahl der Klagen nicht zurecht: Mitte der 50er Jahre stauten sich hier bis zu 15.000 ungeloste Falle a n . Diesbeztiglich wurden in St. Petersburg (1858) und M o s k a u (1860) versuchsweise die provisorischen Sonderkommissionen zur mundlichen Untersuchung dieser Streitfalle zwischen Arbeitnehmern und A r b e i t g e b e m zusammengerufen, die das Problem j e d o c h nur teilweise losen k o n n t e n . Die Einfuhrung der neuen offentlichen O r d n u n g im Jahre 1846 w a r das Ergebnis fruherer E n t w i c k l u n g e n , die ihren Anfang in den 1820er Jahren hatten, als sich die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Selbstverwaltungsorgane der Hauptstadte zuerst aus fiskalischen Griinden richtete. Allerdings stellte sich wahrend der Untersuchungen heraus, daB die Aufgabe einer ordentlichen Steuereintreibung mit der komplexen Aufgabe der Effizienzerhohung der Selbstverwaltung der Stadt im allgemeinen und der Handwerksverwaltung im besonderen zusammenhing. Wie Hildermeier zu Recht bemerkt, bedeutete die neue Stadtordnung v o n 1846 und die Einfuhrung der Gehalter fur die Selbstverwaltungsangestellten „die Abschaffung der Zwangsverpflichtung, des Dienstes in seiner alten F o r m " . Allerdings ist bezuglich der Handwerker von St. Petersburg zu bemerken, daB es, w e n n von den Zunften gesprochen wird, nicht nur u m die Zwangsverpflichtung z u m offentlichen Dienst gehen kann, sondern auch u m eine interessierte Teilnahme an den standischen Angelegenheiten. Beleg dafur ist die Tatsache, daB die Mehrheit in der St. Petersburger Stadtduma am Ende des 18. Jahrhunderts von den Zunfthandwerkern gestellt wurde. 350 351 352 353 3 )4 349 2urnal komissii ot 4 maja 1849, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667: Ob ustrojstve remeslennoj upravy inostrannych ceshov v S. Peterburge (12.4.1849-11.12.1851), hier 1. 46. 350 Zumal komissii ot 20 avgusta 1849, in: ebd., 1. 55. 351 Trudy komissii, ucrezdennoj dlja peresmotra ustavov fabridnogo i remeslennogo, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 374. 352 Ebd., S. 382f. 5.4 Die Selbstverwaltung der russischen Zunfte w a h r e n d der „groBen R e f o r m e n " 1860er J a h r e bis 1914 Die Liberalisierung der Stadtverwaltung, die seit 1846 in St. Petersburg ihren G a n g nahm, setzte sich besonders intensiv in der Zeit w a h r e n d und nach den „gro6en Reformen" fort. D i e A k t i v i t a t d e r Z u n f t h a n d w e r k e r in Standesangelegenheiten stieg rasch an. N a c h Ansicht des russischen Historikers I. Ditjatin wurde noch in den 1820er Jahren der Dienst in den offentlichen Anstalten, wie der D u m a oder den Standesverwaltungen, von den Biirgern der Stadt als ein schwerer Frondienst angesehen. D e m n a c h leisteten sie den offentlichen Dienst nicht fur die Gesellschaft, sondern fur den Staat. Die wohlhabenden Kaufleute der 1. und 2. Gilde verweigerten den Dienst in der Stadtduma oft ohne Grund, weil der Gewahlte in vollige Abhangigkeit von Sekretaren und Maklern, also den Fachbeamten der Handwerksverwaltung, g e n e t . W e n n aber irgendwelche Versaumnisse v o n den oberen Instanzen festgestellt wurden, z. B . in der Buchhaltung, w u r d e zuerst der Handwerksalteste danach gefragt. Der zweite Faktor, der sich negativ auf den Arbeitsablauf in der Verwaltung auswirkte, war die beinahe vollige Unkontrollierbarkeit des Handwerksaltesten durch die D e p u t i e r t e n v e r s a m m l u n g . D o c h dies sollte sich allmahlich andern. In den 1860er Jahren agierten die Deputierten der Handwerksabteilung der Stadtduma selbstbewuBt in ihrem Rechtsterrain und w e n n es notig war, setzten sie den Standesaltesten bzw. den Vorsitzenden der Verwaltung ab, falls letzterer seinen Pflichten nicht n a c h k a m . Es zeichnete sich ein klarer Trend zur „ V e r s e l b s t a n d i g u n g " der H a n d w e r k e r v e r w a l t u n g u n d b e s o n d e r s der Deputiertenversammlung ab. Die Initiative ging nach und nach v o m Staat in die H a n d e der Selbstverwaltung uber, z. B . was eine Verbesserung der R a h m e n b e d i n g u n g e n fur das H a n d w e r k oder die Uberprtifung der Buchfuhrung betraf. W a s frtiher die Regierungskommissionen bezweckten, erfullten jetzt die Standeskommissionen, die von der Deputiertenversammlung oder v o n der Handwerksverwaltung einberufen wurden. Die Selbstverwaltung tibernahm Kontrollftmktionen in einem immer groBeren Umfang. 355 5.4.1 Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die standigen Z u n f t h a n d w e r k e r Wie in diesem Kapitel noch zu sehen sein wird, benutzten die standigen H a n d w e r k e r die Selbstverwaltung fur ihre Z w e c k e , u m dem Druck seitens der zeitweiligen H a n d w e r k e r widerstehen zu konnen. Die standigen Handwerker miBbrauchten ihre Macht, indem die Mehrheit der Deputierten auch den Zunftaltesten, falls er Bereitschaft zeigte, mit den zeitweiligen H a n d w e r k e r n zu kooperieren, absetzte. So wurde 1864 der Standesalteste S. I. M a l k o v nach einer V e r o r d n u n g des Innenministers Petr Aleksandrovi£ Valuev seines A m t e s vortibergehend enthoben, weil er sich weigerte, einem BeschluB der Mehrheit der Verordneten, zu gehorchen. Gegen den Standesaltesten w u r d e ein StrafprozeB angeordnet, der nach dem SenatserlaB vom 19. Dezember 1866 eingestellt und mit einer Ordnungsstrafe beendet w u r d e . Malkov hatte darauf bestanden, auf einer Gedenktafel, die an einem G e b a u d e angebracht war und an dem Hausbau erinnern sollte, unter anderem auch die zeitweiligen Handwerker zu vermerken, womit die Mehrheit der Deputierten nicht einverstanden war. Allem Anschein nach befand es der Innenminister fur w e n i g sinnvoll, dem Grund des Zwistes zwischen einem Teil der Deputierten und d e m Altesten nachzugehen, und verfugte kurzerhand, M a l k o v von seinem A m t abzusetzen, bis das Gerichtsverfahren gegen ihn abgeschlossen ware. A u s diesem formalen Vorfall ergaben sich schwerwiegende K o n s e q u e n z e n fur M a l k o v . Seine Sympathien, die den zeitweiligen Handwerkern galten, kosteten ihn sein Amt. 356 Die Personlichkeit des Standesaltesten Grigorij Grigor'evic Petrovskij, der wahrend der Legislaturperioc e von 1868 bis 1871 tatig war, pragte diese Zeit nachdrucklich. Seit Jahren als Deputierter tatig, wies er standig auf die Probleme der zeitweiligen H a n d w e r k e r und auf die mangelhafte allgemeine Entwicklung des H a n d w e r k s hin. Seine Offenheit gegenuber den Problemen im H a n d w e r k und seine Bereitschaft sie zu losen, bereiteten ihm als dem Handwerksaltesten groBe Schwierigkeiten: Die standigen Handwerker lieBen ihn seine Projekte nicht durchfuhren und blockierten mit ihren Protesten die Standesversammlungen uber Jahre hinweg. Ihre Reaktion war auch nicht unerwartet, weil Petrovskij durch die Gleichberechtigung der zeitweiligen Handwerker den standischen R a h m e n sprengen wollte. Die Handlungen des Handwerksaltesten standen im Einklang mit den Ergebnissen der Arbeit der Stackelbergschen Kommission, da Petrovskij den Handwerkerstand zu reformieren versuchte, w a s ihm nicht gelang. Der Widerstand der konservativen bzw. konformistischen Seite der standigen Handwerker einerseits und der russischen Regierung andererseits verhinderte die Organisationsreform der St. Petersburger Handwerkerschaft nach dem Prinzip der Gleichheit aller H a n d w e r k e r der Hauptstadt oder wenigstens der standigen und zeitweiligen Mitglieder der Zunfte. Schon am Anfang seiner Tatigkeit gab es einige Komplikationen mit den standigen Meistern. Im M a r z 1868 wurden wie gewohnlich zwei Kandidaten ins A m t des Handwerksaltesten gewahlt. Petrovskij bekam zwei Stimmen weniger als sein Mitbewerber, wurde aber v o m Leiter des St. Petersburger G o u v e r n e m e n t s , 356 Prosenie ot 1 dekabrja 1864 goda ot glasnych remeslennogo otdelenija ObScej Dumy ministru vnutrennich del P. A. Valuevu, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 413: Delo po donosu glasnych Remeslennogo otdelenija S. Petersburgskoj gorodskoj ob§6ej dumy о rastrate summ zdesnego Remeslennogo upravlenija i о raznogo roda nepravil'nych dejstvijach remeslennogo starSiny Malkova (April 1864 - Sept. 1867), hier: 1. 10, 61. d e m Generaladjutant Graf Levasev, in seinem A m t bestatigt. Der G r u n d dafur war, daB gegen den zweiten Bewerber Fedor S e m e n o v ein Gerichtsverfahren lief. Petrovskij w a r seit 1848 offentlich tatig. N e u n Jahre zuvor w a r er z u m standigen Mitglied der Verwaltung und 1864 z u m Schatzmeister gewahlt worden. Der Vorganger von Petrovskij im Amt, Bljum, protestierte z u s a m m e n mit einigen anderen standigen Meistern gegen die Bestatigung des Gouverneurs und rief die V e r s a m m l u n g auf, sie nicht anzuerkennen. Die Deputierten wollten sich denn auch mit der Bestatigung Petrovskij s im A m t nicht abfinden. Zunachst driickte sich dies nur in Form von U n g e h o r s a m einzelner Zunftaltester aus, die j e d o c h nach und nach eine Front gegen den Standesaltesten bildeten. Die Radelsfuhrer der Opposition waren der fruhere Standesalteste Bljum und die Verwaltungsangestellten, die aufgrund ihrer Kompetenz in der Buchhaltung und ihrer in der Regel hoheren Ausbildung in der Verwaltung die O b e r h a n d b e B a s e n . In diesem Falle w a r e n es die Gebriider Pavel und Fedor Aleksandrov. D e r erste war Schriftfuhrer der Deputiertenversammlung und Kunstmaler v o n Beruf, der zweite als Makler in der Verwaltung tatig. G e g e n die Gebriider lief ein Gerichtsverfahren w e g e n Aufhetzung der Deputierten und des ganzen Standes. D e s weiteren waren die gewahlten Mitglieder der Handwerksverwaltung Pompej M o s k v i n , Karp M a k a r o v , der Backer Daniil Polozov, der fruhere Beisitzer und Kaufmann Nikolaj Gibner, der Schreiber der Rekrutenabteilung Gavriil Brjunin und selbst der fruhere Anwarter auf das A m t des Standesaltesten und das Verwaltungsmitglied Fedor Semenov in der Opposition a k t i v . Die Eskalation des Konfliktes zwischen dem Standesaltesten und der Deputiertenversammlung fuhrte dazu, daB die Deputierten die A n w e i s u n g e n v o n Petrovskij ignorierten. Standesversammlungen unter seinem Vorsitz konnten nicht stattfinden. D e s w e g e n war Levasev gezwungen, das Stadtoberhaupt (Gorodskoj golovd) zu bitten, die V e r s a m m l u n g e n unter seinem Vorsitz zu fuhren. Im Herbst 1869 lehnte er es aus Zeitmangel allerdings ab, den Vorsitz zu tibernehmen. W a h r e n d der V e r s a m m l u n g e n ergriff der M a k l e r Aleksandrov standig das Wort und widersprach d e m Standesaltesten „frech und u n a n s t a n d i g " . A m 12. M a r z wies ihn der Vorsitzende darauf hin, seinen unmittelbaren Pflichten als Protokollfuhrer nachzugehen und sich nicht in die Debatten einzumischen. Die V e r s a m m l u n g w u r d e in einer Weise aufgeheizt, daB der Vorsitzende sich g e z w u n g e n sah, sie zu schlieBen. Als Anfang April 1869 Pavel Aleksandrov nach der Verfugung des Leiters des St. Petersburger Gouvernements, Generaladjutant Levasev, seines Amtes enthoben wurde, konnte fast keine Deputiertenversammlung bis zu E n d e gefuhrt werden. Die Deputierten versuchten zu beweisen, daB die Bestatigung Petrovskijs seitens des Generalgouverneurs im 357 358 359 Vgl., Ditjatin, Gorodskoe, S. 245ff., 363. Doklad ot 13.09.1869, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1058: О vozbuidenii, hier 1. 1. Ebd. 1. If. A m t des Standesaltesten nicht richtig gewesen war und deswegen, ihren Worten nach, keine Rechtskraft hatte Der suspendierte Pavel Aleksandrov und sein Bruder, der Makler der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g Fedor, gaben sich hiermit nicht zufrieden. Sie unterminierten die Arbeit der Handwerksverwaltung, indem sie in verschiedenen Gaststatten V e r s a m m l u n g e n der Handwerker organisierten, u m unter den Mitgliedern der Handwerksverwaltung und unter den Handwerksmeistern MiBtrauen gegenuber dem Standesaltesten zu schiiren. Die W i r k u n g der Gebriider auf die Teilnehmer der Depuliertenversammlung w a r so groB, daB sich von den 145 Deputierten nur 17 ihrem EinfluB entziehen konnten. Die ubrigen hatten sich in einer Korporation unter der Fuhrung der Gebriider Aleksandrov zusammengeschlossen, die weiterhin an den Deputiertenversammlungen aktiv teilnahm . 360 Die nachsten Deputiertenversammlungen v o m 12. August und v o m 15. September 1869 scheiterten. D a s letzte Mai, als Petrovskij von der Gegenpartei g e z w u n g e n wurde, die V e r s a m m l u n g zu schlieBen, bat m a n ihn, den R a u m zu verlassen, w o n a c h die Deputierten die Sitzung fortsetzten und ein Schreiben an den Stadthauptmann (gradonadal'nik) verfaBten . Das neue Jahr brachte keine A n d e r u n g e n in der Lage. Als Petrovskij die V e r s a m m l u n g am 12. M a r z 1870 eroffhen wollte, traten die Deputierten Bljum, der fruhere Standesalteste, Polozov, der Nachfolger v o n Petrovskij, M o s k v i n und Pavel Aleksandrov vor und verkundeten in ultimativer Form, daB sie unter keinen Umstanden unter seinem Vorsitz tagen w u r d e n . Diese Protestaktionen trugen dazu bei, daB Petrovskij friiher oder spater abgesetzt werden konnte. 361 362 Alle Versuche der Obrigkeit, diesen Streit zu schlichten, brachten keinen Erfolg. D e m W u n s c h des Innenministers gemaB wurden vor der V e r s a m m l u n g v o m 16. Juli von j e d e r Zunft die Altes:en und Deputierten zur B e s p r e c h u n g eingeladen. Der wirkliche Staatsrat Lutkovskij versuchte sie zu iiberreden, dem Standesaltesten zu gehorchen. Trotzdem faBten die Deputierten wahrend der nachsten Versammlung den BeschluB, sich in Zukunft nur unter d e m Vorsitz des Stadtoberhaupts oder der 2'unftaltesten zu versammeln. D a s anwesende stellvertretende Stadtoberhaupt, Staatsrat Preis, der diesmal den Vorsitz hielt, argumentierte, daB dieser BeschluB keine Rechtskraft haben konne, w a s die 360 Ebd. 361 Doklad S. Peterburgskogo gubernatora ministru vnutrennich del ot 28.09.1869, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1058: О vozbuzdenii, hier 1. 15f. 362 Doklad S. Peterburgskogo gubernatora upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del ot 06.05.1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1072: О naznacenii dlja prisutstvovanija v sobranii vybornych meS£anskogo i remeslennogo soslovij S. Peterburga za uprazdneniem dolznosti uezdnogo strjapcego osobogo lica (Oktober 1869-Juli 1870), hier 1. 9. Deputierten aber nicht zurtickhielt, weiter gegen den Vorsitz des Handwerksaltesten zu protestieren. Zur Aufklarung der Ursachen des U n g e h o r s a m s der Deputierten w u r d e im September 1869 der Prokuror des Kreisgerichtes eingeschaltet, der eine Untersuchung anordnete. Der stellvertretende Innenminister Furst L o b a n o v Rostovskij machte einige Zugestandnisse an die Deputierten u n d lieB V e r s a m m l u n g e n unter dem Vorsitz des Stadtoberhaupts zu, bis die Ermittlungen gegen die Schuldigen Bljum, Aleksandrov und andere abgeschlossen wurden. Allerdings stellte das Kreisgericht das Gerichtsverfahren mit d e m BeschluB v o m 2 1 . Juli 1870 ein, so daB die administrative M a c h t in Person des G o u v e m e u r s kein Mittel fand, den Streit zu s c h l i c h t e n . D a s fuhrte zu einem vollstandigen Stillstand der standischen A n g e l e g e n h e i t e n . D i e Anfuhrer der Opposition fuhlten sich jetzt n o c h sicherer. Eine weitere Anfrage des Innenministeriums an die gesetzgebende Abteilung (zakonodatel 'noe otdelenie) des Justizministeriums brachte keinen Erfolg. In der Antwort an den geschaftsfuhrenden Stellvertreter des Innenministers hieB es: ,JDas Justizministerium hat keine Mittel, die Unruhen zu b e s e i t i g e n " . D o c h das Schreiben des Justizministeriums war nicht das letzte Wort. Im Januar 1871 baten 21 sta'ndige Zunftmeister, die Petrovskij Beistand leisten wollten, den Innenminister, MaBnahmen zu ergreifen: 363 364 365 „Die U n r u h e n in unserem Stand lassen nicht nach. Im Z u s a m m e n h a n g mit der Einfuhrung der neuen Stadtordnung und sich nahernden Wahlen in unserem Handwerkerstand werden sie immer groBer. Dies geschieht w e g e n der unangemessenen Anspriiche einiger Deputierter auf den ehrenvollen Platz des Standesaltesten. [...] Die Beschuldigungen gegen den ehrlichen und fahigen Standesaltesten Petrovskij haben keine Grundlage. Durch seine vernunftige und ehrliche Arbeit wurden einige nutzliche Wohltaten vollbracht. Unter anderem initiierte u n d verfaBte er das Projekt der ,Neuen St. Petersburger Gesellschaft der Handwerksindustrie'. W e n n Petrovskij w e g e n der Unruhestifter seines A m t e s enthoben wird, wird die Handwerksgesellschaft einen groBen Verlust e r l e i d e n " . 366 363 Dokladnaja zapiska, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1058: О vozbuzdenii, hier 1. 60f. 364 Doklad S. Peterburgskogo gubernatora ot 6 maja 1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1072: О naznacenii, hier 1. 8. 365 Otnosenie ministra justicii к upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del ot 9 ijulja 1870, in: Ebd., 1.2If. 3 6 6 Prosenie vecno-cechovych masterov ministru vnutrennich del v janvare 1871, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1058: О vozbuzdenii, hier 1. 78. Anscheinend w u r d e Petrovskij fur die nachste Legislaturperiode nicht mehr v o m Innenminister im A m t bestatigt oder, w a s in Anbetracht der feindlich gesinnten Mehrheit in der Deputiertenversammlung am wahrscheinlichsten ist, nicht wiedergewahlt. Mit ihrer Vei-weigerungshaltung hatten die Deputierten ihr Ziel erreicht: Petrovskij war der letzte Handwerksalteste, der versuchte, die Interessen der zeitweiligen Handwerker zu vertreten. Nach der neuen Stadtordnung von 1870 wurden alle standischen Verwaltungen, unter ihnen auch die der Handwerker, unmittelbar der Gouvernementsverwaltung unterstellt. V o n nun an gingen alle Klagen gegen die Angestellten der Handwerksverwaltung nicht ал die Allgemeine D u m a , sondern unmittelbar an die Gouvernementsverwaltung. Dies verursachte einige MiBverstandnisse bezuglich der Zustandigkeit beider Insti tutionen. Zur Verwirrung trug das Handwerksstatut von 1876 bei, das die W a h l o r d n u n g von 1846 als abgeschafft bestatigte. Das bedeutete z. В., daB an der Wahl der Beisitzer neben ihren Stellvertretern auch die zeitweiligen H a n d w e r k e r selbst, rund 6.000 an der Zahl, teilnehmen durften. Das fuhrte zu verschiedenen D e u t u n g e n des Gesetzes seitens der Deputierten, des Standesaltesten und der Gouvernementskammer fur Stadtangelegenheiten (prisutstvie po gorodskim delam), die sich an der neuen Stadtordnung von 1870 orientierte. A u s diesem Grund erkannte die G o u v e r n e m e n t s k a m m e r fur Stadtangelegenheiten die Wahl des Standesaltesten v o m 2 1 . Dezember 1878 nicht an, die nach der alten Stadtordnung von 1846 durchgefuhrt wurde. Dies fuhrte zu standigen N a c h w a h l e n , so daB ab 1878 die Mitglieder der Selbstverwaltung, die Deputierten und der Standesalteste mehrere Jahre nicht gewahlt wurden. Die Amtszeit des Standesaltesten Daniil I. Polozov (1874-1877) zeichnete sich durch eine weitere Verschuldung der Selbstverwaltung aus, die am Ende seiner Amtszeit die riesige Summe von 288.156 Rubeln betrug. Teilweise wurde die hohe Verschuldung durch die Kreditaufhahme fur den Bau neuer Schulen und eines Armenhauses, noch mehr aber durch die unordentliche Buchfuhrung verursacht. Als die Deputiertenversammlung den Finanzbericht fur 1877 nicht entlastete, geriet die Buchfuhrung ins S t o c k e n . 367 368 Inzwischen verordnete der Stadthauptmann dem Standesaltesten, die Altestenwahl nach der neuen W a h l o r d n u n g durchzufuhren, d.h., alle Standesmitglieder sollten zur Wahl eingeladen werden. D a aber die Wahl nach der alten O r d n u n g in der J b / Cirkuljar ministerstva vnutrennich del vsem gubernatoram ot 14.12.1877, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1402: Po voprosu с torn kakie ucrezdenija dolzny rassmatrivat zaloby na dolznostnych lie remeslennogo upravlenija i podvergat ich predaniju sudu v gorodach, v koich wedeno v dejstvie Gorodskoe poloienie 16 ijunja 1870 goda (1872-1881), hier 1. 32. 4 4 368 Novoe vremja, Nr. 1233 (1879) und Peterburgskij listok Nr. 132 (1879), in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1954: Po dokladnoj zapiske vremenno-cechovych masterov S. Peterburgskogo remeslennogo obS6;stva §ubbe, Michel sona, Svensona i drugich ob ucrezdenii, v vidach prizrenija v stolice neimuS£ich 6lenov iz vremenno-cechovych remeslennikov, osobych dlja ozna£ennych cechovych kass (7.3.1879-21.9.1887), hier 1. 12. 4 Deputiertenversammlung durchgefuhrt worden war, ordnete der Stadthauptmann N a c h w a h l e n an. Interessant ist, dafi die Deputiertenversammlung sich weigerte, die V e r o r d n u n g der Obrigkeit auszufuhren. D e r Konflikt zwischen der Deputiertenversammlung und d e m Standesaltesten bzw. d e m Stadthauptmann weitete sich aus und griff auf die Stadtverwaltung uber, in der ebenfalls keine Einigkeit beztiglich der N e u w a h l bestand: die Minderheit der K a m m e r mit d e m Stadthauptmann Trepov an der Spitze war fur die N e u w a h l , die Mehrheit dagegen erkannte die Wahl an. Ungeachtet dessen befahl Trepov m e h r m a l s , die Wahl zu wiederholen. Die Spaltung in d e r G o u v e r n e m e n t s k a m m e r fur Stadtangelegenheiten zeugt einerseits von relativer Unabhangigkeit der K a m m e r m i t g l i e d e r , andererseits v o n m o g l i c h e r W i l l k u r seitens des Stadthauptmanns, der seine Macht manchmal miBbrauchte und durch U m g e h u n g der Kammerbeschlusse auf administrativem W e g e die N e u w a h l e n anordnete. Die Mehrheit der Kammermitglieder leisteten der Aufforderung Trepovs keine Folge, w o d u r c h ein langwieriger Streit zwischen dem Stadthauptmann u n d der Mehrheit der Kammermitglieder entstand. Demzufolge sind die Aussagen der Z e m s t v o v e r w a l t u n g e n uber die vollige Abhangigkeit der gemischten K a m m e r n v o m Stadthauptmann zu relativieren. Die Lage war von Fall zu Fall unterschiedlich . 369 370 Der EinfluB des Stadthauptmanns wurde nicht nur durch den S e n a t , sondern auch durch die legislative M a c h t der Deputiertenversammlung der Zunfthandwerker begrenzt, die die Handwerksverwaltung daran hinderte, die Verfugungen des Stadthauptmanns auszufuhren. Polozov konnte also die A n w e i s u n g e n tiber die N a c h w a h l e n v o n Trepov nicht ausfuhren, weil die Deputiertenversammlung darauf beharrte, die 14 neu gewahlten Deputierten im A m t zu belassen. Mit anderen Worten n a h m die legislative Macht - die Deputiertenversammlung - ihre Rechte wahr und weigerte sich, die Verordnungen des Stadthauptmanns - der exekutiven Macht - auszufuhren, obwohl letzterer per Dekret die Entscheidungen dieser Versammlung, wenigstens fur einige Zeit, auBer Kraft setzen konnte. Es bestand fur die Deputiertenversammlung eine weitere Moglichkeit, Einspruch gegen die Verordnungen v o n Trepov beim Senat zu erheben, w a s sie auch tat. Es dauerte aber manchmal Jahre, bis die Falle endlich gelost waren, w o d u r c h der Stadthauptmann seine Ziele doch erreichen konnte. Dieser Zeitfaktor trat in diesem konkreten Fall der Selbstverwaltung der Zunfthandwerker besonders deutlich zu Tage. Wie schon erwahnt, k a m die Verwirrung durch die veranderte Wahlordnung fur die stadtische Selbstverwaltung zustande, die in der Gesetzsammlung von 1876 im Artikel 586 des elften B a n d e s beschrieben wird. N a c h diesem Artikel sollte an der Wahl die ganze stadtische Gesellschaft bzw. der ganze Stand teilnehmen. Liessem, Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 216ff. Ebd., S.219. D e s w e g e n erkannte das A m t fiir die stadtischen Angelegenheiten die Wahl, die nach den alten Regeln durchgefuhrt wurde, nicht an, w a s Polozov w a h r e n d der Versammlung bekanntgab. Die Deputierten Lebedev, Cistjakov, Filipov, Gorodskoj und Vorozbickij schlugen vor, eine Anfrage an den Stadthauptmann zu richten, ob die 14 n e u gewahllen Deputierten im A m t bleiben durften oder nicht. N a c h einer negativen Antwort des Standesaltesten u n d seinem Hinweis auf die V e r o r d n u n g der Obrigkeit bezuglich der N e u w a h l brach unter den Deputierten ein Tumult aus. D i e Unstimmigkeiten, die uber die Verordnungen d e s Amtes fur die stadtischen Angelegenheiten herrschten, fuhrten dazu, daB die V e r s a m m l u n g eine Kommission zusammenstellte, welche die Verzeichnisse der Deputiertenkandidaten zusammenfassen und uberpriifen sollte, wobei diese Entscheidung v o m Stadthauptmann als gesetzwidrig eingestuft wurde. Die V e r m i s c h u n g der Kompetenzen v o n Stadtverwaltung u n d v o n Regierung einerseits u n d der Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r andererseits, sorgten fur einen langen Rechtsstreit. Polozov lieB fur die nachste Legislatuфeгiode von 1877 bis 1880 aus oben angefuhrter) Griinden keinen neuen Standesaltesten u n d keine Deputierten wahlen. D e r Nachfolger v o n Trepov, der Stadthauptmann GeneralMajor Aleksandr Elpidiforovie Zurov, lieB mehrere an ihn gerichtete Bittschriften der Deputierten, die sich zwischen Herbst 1878 und Winter 1879 sechsmal bei ihm beschwerten, unbeantwortet. Er leitete sie an die L e i t u n g der stadtischen Angelegenheiten weiter, und hier verschwanden sie im Rachewerk des Verwal tungsapparates. D e r nachste Schritt der Deputierten w a r eine Bittschrift v o m 2 8 . Februar an d e n geschaftsfuhrenden Innenminister (upravljajuscy ministerstvom vnutrennich del), Lev Savi6 M a k o v , der weitere Gesuche am 7. Marz, 14. M a i u n d 2 2 . September 371 f o l g t e n . In den Gesuchen wurden die ublichen Versaumnisse der Verwaltung und des Standesaltesten aufgezahlt, die auch seine Nachfolger, w i e z. B . Nikanor Afanas'evic Lebedev, betrafen. D a Polozov schon anderthalb Jahre nicht wiedergewahlt worden war, k a m es immer ofter zu Konflikten zwischen d e m Standesaltesten u n d d e n Deputierten. A m 5. Juli 1878 erschien Lebedev „in angetrunkenem Z u s t a n d " in der Versammlung, w a n d t e sich mit „unflatigen 371 „Pro§enie masterov S. Peterburgskich cechov", ot 28 fevralja, und „Dokladnye zapiski masterov S. Peterburgskich cechov" ot 7 i 14 maja i 22 sentjabrja 1879 upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del L. S. Makovu, in: Delo po proseniju S. Peterburgskich masterov raznych remeslennych cechov tistjakova, Polikarpova i drugich ob ustranenii ot dolznosti starSiny remeslennoj upravy Polozova i о naznaeenii na etu dolznost novych vyborov. Tut ze о besporjadkach po remeslennomu upravleniju i о revizii onogo, RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952,1. 1-25. 4 Schimpfreden" an die Deputierten und behauptete, einer der Deputierten sei ein Dieb . 372 K a u m eine einzige Vereammlung verging ohne Ausschreitungen, die durchaus mit denen in den Jahren 1869/70 vergleichbar waren. W a s z. B . wahrend der Deputiertenversammlung am 29. September 1879 in der S t a d t d u m a am Nevskij Prospekt geschah, schilderte die Zeitung „ N o v o e Vremja" folgendermaBen: „Die V e r s a m m l u n g stellte einen chaotischen, larmenden Auflauf dar, in dem Larm und Geschrei v o n Zeit zu Zeit in einen heftigen Wortwechsel tibergingen, der wiederum j e d e Minute drohte, in eine Schlagerei auszuarten. Im Gegensatz zu den fruheren V e r s a m m l u n g e n erschienen 186 Deputierte, die hauptsachlich die RechtmaBigkeit der Wahl in die Handwerksverwaltung v o m 2 1 . Dezember 1878 interessierte" . 373 Auffallig an diesem Textabschnitt ist, daB fast alle Deputierten in der V e r s a m m l u n g erschienen, weil sie „die RechtmaBigkeit der W a h l " interessierte. E s muB daran erinnert werden, daB die H a n d w e r k e r die Vertreter „der unteren Schicht" des Wirtschaftsburgertums waren, die noch im 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kein besonderes Interesse an der Selbstverwaltung hatten. Jetzt konnte der Standesalteste nicht, wie es noch in den 1840er Jahren der Fall war, seinen Amtsgeschaften fast unkontrolliert nachgehen. Es gab seitens der Handwerksverwaltung keine Berichterstattungen an die Deputiertenversammlung und es fand keine Ц Ь е ф г и й н ^ der Buchfuhrung seitens der Deputiertenversammlung mehr start. Fur das Jahr 1879 w u r d e kein Kostenvoranschlag aufgestellt. D a n k der Nachsicht des Standesaltesten konnte der korrupte stellvertretende Buchhalter Chaneckij weiter im A m t bleiben. Die drei Deputiertenversammlungen, die Polozov bis z u m Februar 1879 einberufen lieB, brachten kein Ergebnis, so daB insgesamt etwa 1.000 Rubel oder rund 300 Rubel pro V e r s a m m l u n g ohne j e d e n Erfolg ausgegeben w u r d e n . Erst am 2 3 . Oktober 1879 erfolgte ein Benefit des Stadthauptmanns an das Wirtschaftsdepartement des Innenministeriums, in dem die eigentlichen G r u n d e fur die Verzogerung der Amtsgeschafte festgestellt wurden. Im September und Oktober 1879 w u r d e Polozov mehrmals angewiesen, die V e r s a m m l u n g der Deputierten zusammenzurufen, w a s er auch einmal tat. Die oben erwahnte 374 372 ProSenie masterov S. Peterburgskich cechov к upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del L. S. Makovu ot 28 fevralja 1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, hier 1.1. 373 Der Zeitungsausschnitt aus „Novoe Vremja" Nr. 1291 (1879), in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952,1. 34. 374 ProSenie masterov (...) ot 28 fevralja 1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, hier 1. 1. Versarnmlung a m 2 9 . September war seine letzte. Polozov gestand schlieBlich selbst ein, daB die letzten anderthalb Jahre seiner Amtszeit der Gesellschaft wenig Nutzen gebracht h a t t e n . Symptomatisch ist, daB sowohl Polozov als auch alle nachfolgenden Standesaltesten seit den 1870er Jahren, als die Handwerksselbstverwaltung unmittelbar der Gouvernementsverwaltung unterstellt wurde, sich uber die Deputiertenversammlung erhoben und die Beschlusse der Deputierten miBachteten, v o n der sie gewahlt wurden. Sie folgten den Befehlen des Gouverneurs, der sie im A m t bestatigte. N o c h groBeres AusmaB erreichte die Willkur der Handwerksverwaltung gegenuber der Deputiertenversammlung wahrend der Amtszeit des Nachfolgers von Polozov. Der Schneider N i k a n o r Afanas'evic' Lebedev ubernahm nach der B e s t i m m u n g der Deputiertenversammlung am 20. Oktober 1879 zeitweilig den Vorsitz in der Handwerksverwaltung noch vor der Veroffentlichung des Senatserlasses. Allerdings durfte er als stellvertretender Vorsitzender der Verwaltung nicht den Vorsitz wahrend der Deputiertenversammlung ubernehmen. Lebedev, der sich schon frtiher in der Opposition gegen Petrovskij auBerst aggressiv verhalten hatte, handelte so eigenmachtig und eigensinnig, daB diese wahre „Plage" mit den Altesten in der Handwerksverwaltung kein E n d e zu nehmen schien. Der Stadthauptmann А. Ё. Zurov charakterisierte die Handlungen von Lebedev folgendermaBen: 375 „ Wahrend der V e r s a m m l u n g am 1. Dezember 1879 lieB Lebedev aus eigennutzigen Griinden nicht zu, die Verfugung der Leitung der stadtischen A n g e l e g e n h e i t e n in der Deputiertenversammlung vorzulesen, wofur er entlassen werden muB. Er lieB grobe Storungen der W a h l o r d n u n g wahrend der Wahl des Handwerksaltesten am 11. D e z e m b e r zu, indem er beide Kasten mit den Stimmballen herausnahm und sie vermischte. Als die Stimmen gezahlt wurden, vermiBte m a n einen Ball, w o n a c h Lebedev die fehlende Stimme eigenmachtig fur sich zahlte. Die Forderung der Deputierten, die Wahl fur nichtig zu erklaren, wurde von Lebedev nicht b e a c h t e t " . 376 Ungeachtet dieses Pladoyers des Stadthauptmanns fur eine Entlassung Lebedevs, blieb er dank seiner Wiederwahl am 9. Januar 1880 weiter im A m t und ktindigte zwolf der ihm nicht g e n e h m e n Verwaltungsmitglieder, von denen einige seit mehr als zwolf, j a sogar bis zu zwanzig Jahren im Dienst gewesen waren. A u s unerklarlichen Griinden anderte der Stadthauptmann spater seine negative 375 376 Ebd. zturnal S. Peterburgskogo po gorodskim delam prisutstvija ot 8 janvarja 1880, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju £istjakova, Polikarpova, hier 1. 58. M e i n u n g uber L e b e d e v und befurwortete beim Innenminister im September dieses Jahres seine U n t e r s t u t z u n g . Im S o m m e r 1880 g e n e t die Verwaltung in eine noch tiefere Krise. Die U n o r d n u n g in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g vergroBerte sich standig. Einige Handwerker auBerten ihre M e i n u n g g e g e n u b e r dem Innenminister, daB die Selbstverwaltung nicht imstande sei, uber alle Angelegenheiten der Handwerksgesellschaft weiterhin kollegial zu entscheiden. N . Lebedev, der von den Meistern nicht als Handwerksaltester, sondern als ein Meister der Schneiderzunft genannt und anerkannt wurde, behielt illegal den Vorsitz in der Handwerksverwaltung. Infolge seiner willkurlichen Handlungen w u r d e die Standeskasse im Laufe der vorangegangenen M o n a t e nicht uberpruft. Lebedev trug in die Akten der Buchhaltung unzulassige Anderungen und B e m e r k u n g e n ein, w a s eine Uberprufiing der ein- und ausgegangenen S u m m e n nicht m e h r moglich machte. Sitzungen in der Handwerksverwaltung fanden nicht statt, und Kollegialitat g e n e t in Vergessenheit, weil die Entscheidungen allein v o n Lebedev getroffen wurden. Er wies die Angestellten der Verwaltung an, alle eingehenden Papiere den beiden Stellvertretern der standigen sowie den beiden Beisitzern der zeitweiligen Handwerker vernzuhalten. Infolgedessen ignorierten die niederen Verwaltungsmitglieder vollkommen die A n o r d n u n g e n ihrer Vorgesetzten, der Stellvertreter des Handwerksaltesten und der Beisitzer. Es schien, daB die Streitereien kein E n d e n e h m e n sollten. Der Konflikt zwischen der Legislative, also der Deputiertenversammlung, und der Exekutive, dem Handwerksaltesten, gewann immer mehr an Scharfe. 377 Infolge dieser Ereignisse verlor Lebedev in den A u g e n der Deputierten j e d e Legitimation und durfte den Vorsitz in der Deputiertenversammlung nicht mehr behalten, sondern muBte ihn widerwillig seinen Stellvertretern uberlassen. Dies war j e d o c h nicht der Fall in der Verwaltung, w o er sich behaupten konnte. Die eingereichten Einspriiche seitens der Deputierten wurden v o n ihr nicht a n g e n o m m e n und w e n n sie dagegen protestierten, ignorierte die Verwaltung sie. Der Verwaltungsbetrieb k a m z u m Stehen. Die AnmaBung Lebedevs w a r so grenzenlos, daB er wahrend der V e r s a m m l u n g am 22. Mai die Deputierten selbst des AmtsmiBbrauchs b e s c h u l d i g t e . Der SenatserlaB v o m 6. April 1881 klarte die Streitigkeiten zwischen legislativer und exekutiver M a c h t in der Handwerkerselbstverwaltung endgiiltig und setzte die V e r o r d n u n g von Trepov bzw. den BeschluB der Minderheit von Amtsmitgliedern der Gouvernementskammer fur Stadtangelegenheiten mit Trepov an der Spitze von 1878 auBer Kraft. Das hieB, daB die Deputiertenversammlung der 378 377 Doklad S. Peterburgskogo gradonaeal'nika ministru vnutrennich del ot 15 sentjabrja 1880, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, hier 1. 101. 378 Dokladnaja zapiska cechovych masterov ministru vnutrennich del ot 8 ijulja 1880, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, 1. 74f. Zunfthandwerker Recht behieit und die gesonderte W a h l o r d n u n g von 1846 fur St. Petersburg und M o s k a u nicht abgeschafft wurde, sondern in Kraft blieb, w a s auch im Handwerksstatut v o n 1879 bestatigt worden war. Dementsprechend sollte die Wahl in die Verwaltung genauso wie fruher, d. h. nicht bei einer Vol 1 v e r s a m m l u n g der wahlberechtigten Handwerker, sondern wahrend einer Deputiertenversammlung durchgefuhrt w e r d e n . Der Standesalteste sollte in einer geschlossenen V e r s a m m l u n g gewahlt werden, an der die Zunftaltesten und j e zwei standige Meister v o n j e d e r Zunft teilnehmen durften . Im Hinblick auf die in diesem Unterkapitel angesprochene Problematik des Handlungsraumes zwischen der Regierung und Handwerksselbstverwaltung sowie der aktiven Beteiligung der Zunfthandwerker in den Standesangelegenheiten ist es notig, etwas ausfuhrlicher iiber den allgemeinen Hintergrund zu sprechen. A u c h in westeuropaischen Stadten erreichten die Zunfte nicht immer eine unabhangige Stellung gegenuber der Obrigkeit. Die Zunfte verfaBten zwar ihre O r d n u n g e n und Statuten selbst, der Rat muBte sie aber bestatigen. Ahnlich wie in St. Petersburg konnten die Behordenvertreter in Lubeck in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts eine EinfluBnahme in den Zunftversammlungen vornehmen. Die Zunftvorsteher w u r d e n ebenfalls von der Obrigkeit im A m t b e s t a t i g t . Die St. Petersburger Zunfte verfaBten einige Regelungen und bestatigten sie beim Stadtmagistrat. Die Statuten und die Zunftbrauche wurden im Innenministerium verfafit und den Zunften gegeben. Die Zunfte durften zwar auf den Zunftversammlungen die Paragraphen des Handwerksstatutes andern, ihre rechtliche Bestatigung aber blieb den oberen stadtischen bzw. staatlichen Behorden, dem Stadtmagistrat oder der Stadtduma bzw. dem Innenministerium, vorbehalten. 379 380 381 Weitere Einschrankungen brachte die Stadtordnung von 1892 mit sich. Artikel 89 des neuen Stadtstatutes erlaubte der Handwerksverwaltung, die legislative M a c h t zu u m g e h e n und ein Aktenstuck an die Gouvernementsverwaltung weiterzuleiten, w e n n die Deputiertenversammlung wegen mangelnder Besetzung zweimal nacheinander die Entscheidung iiber eine Frage nicht treffen k o n n t e . Infolge der 382 379 Ukaz Senata ot 6 aprelja 1881 о porjadke proizvodstva vyborov v soslovnych ucrezdenijach, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, 1. 185f. 380 Po raportu S. Peterburgskogo gradonafiaTnika о nesoglasii ego s postanovleniem gubernskogo po gorodskim delam prisutstvija i otnositerno porjadka proizvodstva vyborov v S. Peterburgskoe remeslennoe obScestvo ot 16 ijulja 1880, in: RGIA, f. 1341, op. 145, d. 480, 1.3,8. 381 Reinald Ennen, Zunfte und Wettbewerb. Mftglichkeiten und Grenzen ziinftlicher Wettbewerbsbeschrankungen im stadtischen Handel und Gewerbe des Sputmittelalters (Neue Wirtschaftgeschichte, Bd. 3). K6ln-Wien 1971, S. 9. Reformen wurde die Verordnetenzahl in der Stadtduma standig gekurzt: im Jahre 1873 betrug ihre Anzahl statt wie frtiher 750 (Stadtordnung von 1870) nur noch 2 5 0 Verordnete u n d 1893 blieben laut Stadtordnung von 1892 nur noch 160 Verordnete tibrig. Dies hatte flir die Deputiertenversammlung der Zunftmeister erkennbar w e n i g B e d e u t u n g . A u c h w e n n die Zahl der Verordneten der Stadtduma im Jahre 1894 weiter auf 88 absank, blieb die Zahl der Deputierten in der Selbstverwaltung der Handwerker unverandert bei etwa 160. Das heiBt, daB mit der Verringerung der Teilnahme der Zunfthandwerker an der Stadtduma von 6 6 % am E n d e des 18. Jahrhunderts auf weniger als 1% am Ende des 19. Jahrhunderts ihre Aktivitaten fast ausschlieBlich auf Standesangelegenheiten begrenzt wurden. Die unterschiedliche Einstellung zur Wahl unter den drei Gruppen der Wahlberechtigten - Kaufleute, Kleinburger und Zunfthandwerker - laBt sich an einem Vergleich verdeutlichen: Die Wahlbeteiligung bei der Stadtdumawahl wies im Laufe der 1890er Jahren eine steigende T e n d e n z auf, war aber geringer als bei den Zunfthandwerkern; 1893 nahmen an der Wahl 2 8 % der Wahlberechtigten, 1897 3 4 , 6 % und 1898 4 6 , 4 % teil. A b e r auch 1898 waren die H a n d w e r k e r mit nur zwei D u m a m i t g l i e d e r n oder mit weniger als 1% deutlich unterprasentiert. Dies hing mit zwei Faktoren zusammen: Erstens verhinderte der hohe Wahlzensus v o n 3.000 Rubeln an Immobilienwert, der im Jahre 1870 noch 300 Rubel b e t r u g , die 383 384 385 383 Semenov, Gorodskoe samoupravlenie, S. 246; APbom glasnych S. Peterburgskoj gorodskoj dumy. St. Petersburg 1903, S. 5. 384 Die Namen der beiden Meister, die in die Stadtduma gewahlt wurden, sind bekannt. Es waren Ermil Vasil'evii Vasil'ev und Vasilij Anisimovid Rachmanov. E. V. VasiPev war Meister der Wagenbauer- und Tapeziererzunft. Seine Offentliche Tatigkeit auflerhalb der Betatigung als Abgeordneter fand ihren Ausdruck in der Beteiligung an verschiedenen stadtischen Kommissionen wie der fur die Uberprtifung der Handels- und Industriebetriebe (komissija po kontrolju za promySlennymi i torgovymi predprijatijami) sowie der Kommission Шг die Zusammenstellung der Verzeichnisse der Geschworenen Beisitzer in das Kreisgericht (komissija po sostavleniju spiskov prisjainych zasedatelej okru&iogo suda). Er war auch Kandidat der Revisions- und Sanitatskommissionen (revizionnaja i sanitarnaja komissii), sowie Handelsdeputierter (torgovyj deputat). Seine Beteiligung an den wohltatigen Anstalten St. Petersburgs wie an „der Gesellschaft fur die Unterstutzung der Armen" (ObSdestvo vspomoSdestvovanija bednym) bei der „Christus-Auferstehungs-Kirche" (cerkov' Voskresenija Christova) und als Ratsmitglied in der Gesellschaft Шг Wohltatigkeit (blagotvoritel 'noe bSdestvo) in der „Kleine Kolomna" (Malaja Kolomna) verlieh seinem Engagement in der stadtischen Gesellschaft Ausdruck. Der zweite Abgeordnete der Stadtduma, V. A. Rachmanov, beteiligte sich an der stadtischen Kommission bei der Anlagestelle fur die Getreide (gorodskaja komissija pri chlebnoj pristani) am Nevakai. Er nahm an der Kommission fur die Zusammenstellung von Verzeichnissen der vereidigten Beisitzer Шг das Kreisgericht teil. Soziales Engagement fand Ausdruck in seiner Beteiligung an den wohltatigen Anstalten des heiligen FUrsten Vladimir, in: AT bom glasnych, S. 37, 53. 385 Nardova, Samoderiavie, S. 15 und 24. Teilnahme von mehreren Kandidaten der Handwerker an der D u m a w a h l , zweitens war die Aufmerksamkeit der Handwerker mehr auf ihre eigene Selbstverwaltung gerichtet, die ihren Interessen naher stand. Allgemein betrachtet war die schon erwahnte geringe Wahlbeteiligung bei der Wahl in die Selbstverwaltungsorgane fur die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts typisch. W e n n aber die drei Gruppen der Wahler verglichen werden, stellen sich bedeutende Unterschiede heraus. Wahrend die Wahlbeteiligung bei den Kleinburgern und Kaufleuten gering w a r , nahmen die Handwerker aktiv an der Wahl in ihre Selbstverwaltung teil. Es wurden z. B . mehrere N a c h w a h l e n in M o s k a u w e g e n ungentigender Anzahl von Wahlern in den Standversammlungen der Kleinburger und Kaufleute angeordnet. Die Handwerker wiesen dagegen in den beiden Hauptstadten eine hohere Wahlbeteiligung auf. E s sollte mindestens ein Drittel der Wahlberechtigten bei der Wahl e r s c h e i n e n . Beispielweise waren in St. Petersburg in den Jahren 1888 bis 1890 von 9 3 0 , 979 und 1205 stimmberechtigten Handwerkern j e 339, 476 und 709 oder im prozentualen Verhaltnis 3 6 % , 4 8 % und 5 8 % an der Deputiertenwahl beteiligt. Die Zahl der Beteiligten stieg also stetig an und erreichte 1890 einen beachtlichen Prozentsatz von 5 8 % . Dieser Prozentsatz spiegelt sich auch in den W a h l e n fur die Zunftamter wider. So fand am 24. Oktober 1889 unter Vorsitz des Zunftaltesten der Schneiderzunft, I.D. Chrustalev, die Wahl von vier Stellvertretern des Zunftaltesten, vier Steuereinnehmern und zehn vereidigten Meistern, entsprechend den zehn Schneiderkunstarten, start. Von den 785 stimmberechtigten standigen und zeitweiligen Meistern erschienen am Stichtag 341 bzw. 4 3 , 4 % . In diesem prozentualen Unterschied der Wahlbeteiligung zwischen den Handwerkern einerseits und den ubrigen Burgern der Stadt andererseits spiegelt sich die lOOjahrige Entwicklungsgeschichte der Handwerksverwaltung in St. Petersburg wider, die mit der Reform der Stadtverwaltung 1846 neue Impulse bekam. Die unteren Schichten der Bevolkerung der beiden russischen Hauptstadte wiesen im Vergleich zu den Kaufleuten, dem Beamtentum und d e m Adel eine hohere Wahlaktivitat und einen starkeren Organisationsgrad auf. So bezeugt Pisar'kova, daB die Moskauer Kleinburger bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine seriose Konkurrenz fur die iuhrende Macht der Kaufleute in der M o s k a u e r 386 387 3 8 8 389 386 Vgl., Nardova, Samoderzavie, S. 92. 387 Raport S. Peterburgskogo gradonacal'nika ministru vnutrennich del vom 12. Marz 1891, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2375: Ob ustranenii zatrudnenij, voznikajuS£ich pri izbranii vybornych po soslovijam kupeceskomu, meSdanskomu i remeslennomu v gorodach Moskve i S. Peterburge, hierl. 18. 388 Raport S. Peterburgskogo gradonacal'nika, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2375: Ob ustranenii, hier 1. 26. 389 Protokol cechovogo schoda masterov portnogo cecha vom 24. Oktober 1889, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju (...) Cistjakova, hier 1. 179. 390 Stadtduma darstellten . Die Frage, o b "die neue Munizipalverfassung der Hauptstadt die Erwartungen rechtfertigte, die m a n in sie s e t z t e " , laBt sich nicht eindeutig negativ beantworten, wie es Ditjatin und WeiB t u n . Hildermeier schlieflt sich ihrer M e i n u n g uber die fehlgeschlagene Reform an: „ S o miBlang der Versuch, die Allgemeine D u m a zu b e l e b e n " . Dieser Schlufl kann fur die Allgemeine Stadtduma durchaus gelten, nicht aber fur die Handwerksverwaltung, die sich unmittelbar u m die Standesangelegenheiten der Meister kummerte. Diese Unterschiede in der Entwicklung der stadtischen Selbstverwaltung fuhrt zu der Notwendigkeit, ihre Entwicklung differenziert zu betrachten. D i e Vielfalt der standischen Angelegenheiten wurde nicht in der Allgemeinen Stadtduma, sondern w a h r e n d der Zunft- u n d Deputiertenversammlungen deutlich, die im Vergleich zu den Dumasitzungen auch wesentlich ofter stattfanden. In Anbetracht des starken Interesses der Meister an den Standesfragen laBt sich sagen, daB die B e m u h u n g e n des Gesetzgebers in der Herausbildung des Handwerkerstandes nicht ohne Folgen blieben. Die Beteiligung an den Deputiertenversammlungen war fur die Meister keine Zwangsverpflichtung mehr, sondern eine Ehrenaufgabe, die ihnen eine soziale Artikulation ermoglichte. D o c h sollte die Regierung in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts weitere Reformen durchfuhren, u m mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt halten zu konnen. Mit der Bauernbefreiung 1861, den folgenden groBen Reformen und mit der Einfuhrung der Stadtordnungen v o n 1870 und 1892 anderte sich die Gestalt der stadtischen Gesellschaft wesentlich. Die standische Institution der Zunfthandwerker blieb aber ungeachtet dessen bestehen und bewies ihre Fahigkeit, sich zu entwickeln, indem sie versuchte, sich sogar als eine politische Vertreterin aller H a n d w e r k e r der Hauptstadt zu etablieren und bis 1917 bestand. 391 392 393 Es laBt sich aber auch nicht bestreiten, daB die Handwerksverwaltung wesentliche Ztige einer Auftragsverwaltung trug, da sie die Eintreibung der staatlichen S t e u e m durchfuhrte. Allerdings verliert die These uber die starke Abhangigkeit der Verwaltung v o m Staat wesentlich, wenn wir beriicksichtigen, daB diese Steuereintreibung parallel mit der S a m m l u n g der A b g a b e n fur die Unterhaltung der Selbstverwaltung durchgefuhrt wurde, w a s fur j e d e Selbstverwaltung eine unter anderen Primaraufgaben war. Die Tatigkeit der Verwaltung zwischen 1890 und 1905 ist eng mit dem N a m e n von Timofej Afanas'evid Zagrebin verbunden, der 1893 als Mitglied der 390 Pisar'kova, NizSie, S. 6f. 391 Hildermeier, Burgertum, S. 278. 392 Ditjatin, Ustrojstvo, dast' 2, S. 492; G. Weifi, Die russische Stadt zwischen Auftragsverwaltung und Selbstverwaltung. Zur Geschichte der russischen Stadtreform von 1870. Phil. Diss. Bonn 1977, S. 104. Revisionskornmission, 1897 als ihr Vorsitzender und Stellvertreter des Standesaltesten und v o n August 1897 bis 1905 als Standesaltester tatig war. In seine Amtszeit fielen die H a n d werksausstel lung von 1899 und der allrussische HandwerkerkongreB von 1900, die in ganz RuBland auf eine breite Z u s t i m m u n g der H a n d w e r k e r stieBen. Die Handwerker aus den verschiedensten russischen Stadten, nutzten diese GroBereignisse zu einem regen Informationsaustausch. Es war eine Zeit des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwunges, der nicht nur die GroB-, sondern in einem noch hoheren AusmaB die klein- und mittelstandische Industrie, das H a n d w e r k eingeschlossen, erfaBte. Dies alles entlastete das St. Petersburger Zunfthandwerk nicht v o n den inneren Problemen in der Selbstverwaltung, eher verstarkte es die Intensitat und die Dauer der Konflikte. Die Vielzahl der Gerichtsverfahren, gegenseitigen Beschuldigungen und ZusammenstoBe kann aber auch positiv als Entstehung einer Streitkultur gewertet werden, die fur eine „demokratische" Fortentwicklung des Handwerkerstandes und seiner Institutionen unabdingbar war. In diese Richtung weist eine B e m e r k u n g des Stadthauptmannes im Jahre 1880: „Es m a g sein, daB die Erfahrungen, die in den letzten Jahren gemacht wurden, nicht folgenlos 1ш die Vertreter des Standes bleiben werden, die gewahlt werden und denen die Gesellschaft ihr Vertrauen schenken wird" . 394 A u c h in spateren Zeiten fander. ZusammenstoBe zwischen der Verwaltungskanzlei und der Deputiertenversammlung start, was ein Ausdruck der Verselbstandigung beider Gremien war. Das neue Stadtstatut v o m 11. Juni 1892, das alle Angestellten der Verwaltung zu Staatsbeamten erhob und dem Gouverneur das Recht gab, unter bestimmten U m s t a n d e n die Amter in der Standesverwaltung mit seinen Kandidaten zu besetzen, sorgte fur Aufruhr im Stand der Handwerker. Als von der Deputiertenversammlung Mitte der 90er Jahre gravierende Versaumnisse in der Buchfuhrung festgestellt wurden, ordnete sie eine Revisionskornmission an, die aus einigen Mitgliedern des Standes bestand und unter dem Vorsitz von T. A. Zagrebin arbeitete. 1897 schlug er konkrete MaBnahmen fur die ordentliche Zusammenstellung der Buchhaltung vor und wurde zum Vorsitzenden der Revisionskornmission gewahlt. Ihre Mitglieder waren unter anderem der Oberbuchhalter der Bauernbank (Krest'janskij pozemel 'nyj bank) Piskunov, der Dozent fur das Buchhaltungswesen Epifanov und der Angestellte der Gerichtsabteilung in der Direktion der Kazaner Eisenbahnlinie Afanas'ev. Die Aktivitat Zagrebins schien nur ein taktischer Schritt vor und wahrend der W a h l k a m p a g n e des Vorsitzenden der Verwaltung und des Standesaltesten 394 Doklad S. Peterburgskogo gradonacal'nika ministru vnutrennich del ot 15 sentjabrja 1880, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju (...) Cistjakova, hier 1. 103. gewesen zu sein. Als er im August 1897 gewahlt wurde u n d sein A m t antrat, beendete er prompt das U b e ф r u ш n g s v e r f a h r e n . Er lieB den Buchhalter I. Tatarinov trotz mehrerer Beschlusse der Deputiertenversammlung uber seine Absetzung einen Finanzbericht fur das Jahr 1895 mit dem Z w e c k anfertigen, die widerrechtlichen H a n d l u n g e n der Verwaltungsmitglieder zu vertuschen. Ungeachtet dessen setzte die Revisionskommission ihre Tatigkeit fort. In den 36 Sitzungen, v o n denen zwolf mit auswartigen Experten stattfanden, w u r d e die ganze Buchhaltung der Verwaltung nochmals gepruft. Die K o m m i s s i o n stellte die Mustervorlagen zusammen, die die korrekte Erfassung aller Steuerschulden seitens der Zunftaltesten und ein ordentliches R e c h n u n g s w e s e n in den wohltatigen Anstalten des Standes ermoglichen sollten. Die Zunftmakler sollten zu ihren Jahresberichten Belege einfuhren, die eine Kontrolle des Eingangs der S c h u l d s u m m e n gewahrleisten sollten. Alle neuen Regeln der K o m m i s s i o n bestatigte die Deputiertenversammlung im N o v e m b e r 1897, wodurch der Standesalteste die Moglichkeit bekam, die neue v o n ihm selbst vorgeschlagene Buchfuhrung ab d e m 1. Januar 1898 einzufuhren und sie in O r d n u n g zu bringen, was er aber nicht tat. AuBerdem muBten die Beschlusse der V e r s a m m l u n g v o n der administrativen Macht, also d e m Stadthauptmann, bestatigt werden, w a s ein zusatzliches H i n d e m i s fur eine effiziente Politik der Deputiertenversammlung war. Zagrebin bezog sich darauf, daB der Stadthauptmann die Beschlusse der Deputiertenversammlung nicht bestatigte, wodurch sie fur ihn keine obligatorische M a c h t hatten. Der Standesalteste benutzte diesen rechtlichen Umstand, u m sich der legislativen M a c h t der Deputiertenversammlung, deren Beschlusse fur ihn als obligatorisch galten, zu e n t z i e h e n . 395 Der Vorsitzende der Revisionskommission, P. A. Alekseev, und ihre Mitglieder N . A. Andrijanov, A. Ja. Ioganson, A. M . K o m a r o v und S. V. N a z a r o v entlasteten Tatarinovs Finanzbericht fur 1895 nicht. Es wurden unabhangige Sachverstandige eingeladen, die den Bericht noch einmal unter die L u p e nahmen. D a z u gehorten der Oberinspekteur der wohltatigen Anstalten der Kaiserin Maria, der Staatsrat A. Ja. Romanovskij und der Inspekteur der Russischen Handels- und Industriebank (Russkij torgovo-promyslennyj bank) I. P. Djukov. Sie stuften Tatarinovs Finanzbericht fur das Jahr 1896 als nicht korrekt e i n . Dieser Streit konnte bis 1903 nicht beigelegt werden. Die Revisionskommission, die jetzt unter der Leitung eines Silberschmiedes n a m e n s A.F. Makarov-Junev stand, der v o n 1909 bis 1912 der Standesalteste war, legte a m 7. Juli 1903 dem BeratungsausschuB (sovesdatel'noe prisutstvie) beim Stadthauptmann einen Bericht vor, in d e m alien Verwaltungsmitgliedern die Verantwortung an den 396 395 Doklad komissii dlja predvaritel'nogo rassmotrenija ob'jasnitePnoj zapiski, in: RGIA, f. 23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, kasajuSeimsja S. Peterburgskoj remeslennoj upravy (8. September 1906-3. September 1913), hier S. 46, 49. MiBstanden in der Buchfuhrung zugesprochen wurde. Der BeratungsausschuB k a m zu d e m SchluB, daB nur die Kassierer die vorgeschriebenen F o r m e n miBachteten und schlug vor, der V e r w a l t u n g gegenuber eine Erklarung bezuglich des Berichtes abzugeben. Daraufhin sollte die Deputiertenversammlung bestimmen, in welchem Grad sich j e d e s einzelne Milglied der Verwaltung strafbar gemacht hatte. Die Verwaltung legte eine Erklarung vor, in der sie alle Beschuldigungen mit d e m Hinweis zuruckwies, daB auch das fruhere Personal der V e r w a l t u n g die Geschafte auf diese Weise gefuhrt habe. Der Kommissionsvorsitzende Makarov-Junev erkannte eine Erklarung solcher Art nicht an und beschuldigte die Verwaltung, den Sachverstandigen des Beratenden Ausschusses bestochen zu haben. Die Verwaltung hatte namlich dem Sachverstandigen einen Scheinauftrag fur 1000 Rubel angeboten, der schon fruher von den oben erwahnten Sachverstandigen fur 3 0 0 Rubel ausgefuhrt worden war. Trotz aller Bemtihungen der Verwaltung bewertete der Sachverstandige den Sachbericht der Verwaltung v o m 10. September 1903 fur die Jahre von 1893 bis 1900 als nicht k o r r e k t . U m Zeit zu gewinnen, bat die Verwaltung die Deputiertenversammlung, eine andere K o m m i s s i o n aus den Deputierten zusammenzusetzen, die die Erklarungen der Verwaltung noch einmal auswerten sollte. A m 3 1 . Oktober 1903 wurde diese Kommission gegrundet, bestehend aus folgenden Mitgliedern: A. A. Aleksandrov, P. A. Andreev, О. V. B o g d a n o v , I. T. Bojcov, V. I. Dysko, K. A. Zil'berg, F. I. Kozakevic, A. M . K o m a r o v , M . A. Leonov, К . I. Prostakov, A. F. Rumjancev, F. V. Semenov, F. I. Timofeev, M. V. Tru und A. K. J u r ' e v . A m 20. N o v e m b e r wurden die Mitglieder dieser Kommission vom Standesaltesten fur die Wahl des Vorsitzenden der K o m m i s s i o n eingeladen und wahlten einstimmig V. I. D y s k o und sein Stellvertreter M. V. Tru. Die Hoffhung der Verwaltung, den Streit zu schlichten, ging nicht in Erfullung. Im Gegenteil, die neue Kommission bestatigte die Beschuldigungen von MakarovJunev an den neuen Standesaltesten und die Verwaltungsmitglieder. Wahrend des Verfahrens weigerte sich die Verwaltung, den Kommissionsmitgliedern die angeordneten D o k u m e n t e zur Einsicht vorzulegen oder schob Formalitaten vor, die einer A b s a g e gleichkamen. Es gab keine Moglichkeit, u m an die benotigten Unterlagen h e r a n z u k o m m e n . Ungeachtet dieser Schwierigkeiten stellte die K o m m i s s i o n fest, daB die Verwaltung bis zum 3 1 . Mai 1901 nichts unternommen hatte, u m die Buchhaltung in O r d n u n g zu bringen. V o n 1893 bis 1899 wurden der Handwerkskasse Verluste von m e h r als 5.000 Rubel zugefugt. Dieses Geld sollten nun die Schuldigen doppelt zuriickzahlen, also 10.000 Rubel aufbringen . 397 398 397 Doklad komissii dlja predvaritel'nogo rassmotrenija ob'jasnitePnoj zapiski, in: RGIA, f. 23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, kasaju§6imsja S. Peterburgskoj remeslennoj upravy (8. September 1906 - 3. September 1913), hier S. 46. Die Frage w a r nun, w e r dieses Geld bezahlen sollte. A n s c h e i n e n d w u r d e dieser Konflikt mit der letzten Erklarung der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g v o m 3 . M a r z 1904 beigelegt. Der Standesalteste Timofej Zagrebin blieb bis 1906 im Amt. U n d obwohl das E n d e der Amtszeit Zagrebins nicht allein mit d e m Ausbruch der Revolution von 1905 zu erklaren ist, ist es doch berechtigt, sie als wichtige Ursache zu nennen, die fur die rasante A n d e r u n g der Einstellungen und Werte unter den H a n d w e r k e r n u n d den Deputierten verantwortlich w a r u n d fur einen frischen Wind in den Standesangelegenheiten sorgte. Dadurch w u r d e mehr B e w e g u n g in den Stand der Handwerker gebracht, die dann letztlich ihren Ausdruck in der G r u n d u n g einer R e i h e von Berufsgenossenschaften und einer Handwerkerpartei f a n d . 399 5.4.2 Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die zeitweiligen Z u n f t h a n d w e r k e r U m die angespannte Situation der zeitweiligen Zunfthandwerker anzusprechen, erinnerte der Verordnete der Handwerksabteilung der Stadtduma und zukunftige Standesalteste, G.G. Petrovskij, die A n w e s e n d e n in der V e r s a m m l u n g v o m 6. N o v e m b e r 1864 daran, daB es 6.000 zeitweilige Zunftmeister bzw. etwa funfmal so viel wie standige Meister gebe. Seiner M e i n u n g nach ware es verfehlt, sie und ihre Bedtirfhisse zu ignorieren. Sie brachten den groBten Teil des Geldes in die gesellschaftliche Kasse ein und zahlten demzufolge fur das 200.000 Rubel teuere Mietshaus, das Mitte 1861 fertiggestellt worden sei, am m e i s t e n . Petrovskij betonte, daB es nicht im Interesse des Standes sei, w e n n die Mehrheit der zeitweiligen Zunfthandwerker w e g e n der Verachtung, die sie v o n den standigen Meistern erfuhren, abwanderten: 400 399 S. Peterburgskaja remeslennaja uprava. Vozzvanie, [SPb. 1906]; Remeslennaja partija, [SPb. 1906]; Max Weber zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 19051912, hrsg. v. Wolfgang Mommsen in Zusammenarbeit mit Dittmar Dahlmann, MWG I/Bd. 10, Tubingen 1989, S. 65, 556f. 400 Entsprechend dem Vorschlag des ehemaligen Standesaltesten N. M. Komarov im Jahre 1858 wurde von der Deputiertenversammlung beschlossen, ein steinernes vierstuckiges Haus zu bauen. FUr den Bau des Hauses und des Fliigels, die 1861 fertiggestellt worden waren, wurden rund 200.000 Rubel verbraucht. Im Haus gab es 25 Wohnungen und 6 Ladenraume, aus: Prigovor S. Peterburgskoj gorodskoj obScej dumy ot 23 marta 1862, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 413: Po donosu glasnych remeslennogo otdelenija S. Peterburgskoj gorodskoj ob§£ej dumy о rastrate summ v zdesnej remeslennoj uprave i о raznogo roda nepravil'nych dejstvijach remeslennogo starSiny Malkova (April 1864-September 1867), hier 1. 23. S. uber die Rolle der zeitweiligen Handwerker in: Dokladnaja zapiska kollezskogo sovetnika M. Machova, RGIA, f. 1287, op. 8, d. 1554: О vspomogatel'noj kasse peterburgskich remeslennikov, 1. 2. „Wie werden wir dann unsere Handwerksverwaltung erhalten k o n n e n und w a s werden unsere N a c h k o m m e n uber uns sagen, w e n n wir zulassen, daB unsere Gesellschaft gespalten wird?", 401 war seine pathetische, aber berechtigte Frage am Ende seines P l a d o y e r s . Symptomatisch war, daB er sich spater, als er Vorsitzender der Verwaltung war, fur die Abschaffung der Zunfte aussprach. Er initiierte ein Projekt iiber die Griindung einer neuen „Gesellschaft der Handwerksindustrie", in der alle Handwerker der Stadt den richtigen Ansprechpartner finden sollten. In seiner Person fanden die zeitweiligen Handwerker ihren Fursprecher. D o c h fur Petrovskij entstanden daraus verhangnisvolle Folgen. N a c h der Erlauterung der Rechte und der Lage der zeitweiligen Handwerker soil iiber die Tatigkeit Petrovskijs ausfuhrlicher berichtet werden. Seit der Einfuhrung der Stadtordnung von 1846 in St. Petersburg durften auch zeitweilige H a n d w e r k e r Amter in der Zunftverwaltung innehaben. Sie konnten ihre Kandidaten fur die folgenden Amter in der Zunftverwaltung vorschlagen: Zwei Beisitzer in der Handwerksverwaltung, die Zunftaltesten und ihre Stellvertreter, Steuereinehmer und vereidigte Meister (prisjaznye mastera). Sowohl standige als auch zeitweilige Zunftmeister konnten in die H a n d e l s - und Wirtschaftspolizei (torgovaja i chozjajstvennajapolicija), in die Auktionskammer und andere Stadtamter (gorodskie prisjaznye sluzby) gewahlt werden. In der Tat monopolisierten die standigen Handwerker diese Amter. Im Jahre 1870 g a b es in der Zunftverwaltung 302 zeitweilige und 57 standige Handwerker. Die wichtigsten A m t e r hatten allerdings immer die standigen H a n d w e r k e r inne. So blieben die zeitweiligen Handwerker v o n den beiden wichtigsten Institutionen des Handwerkerstandes, der Verwaltung und der Deputiertenversammlung, ausgeschlossen. In der Handwerksverwaltung gab es nur zwei Vertreter der zeitweiligen Handwerker ohne Stimmrecht, die zwei Beisitzer. Die Forderungen der zeitweiligen Handwerker nach Zulassung in die Standesversammlungen fanden Z u s t i m m u n g beim Stadtoberhaupt, das dem Innenminister im Jahre 1870 schrieb, es sei sinnvoll und berechtigt, den Forderungen der zeitweiligen Handwerker entgegenzukommen, d. h. ihnen das aktive und passive Wahlrecht zu gewahren. Das Innenministerium lehnte diese Gesuche regelmaBig mit der Begriindung ab, daB die G e s e t z g e b u n g es nicht zulasse. Laut Gesetz gehorten die zeitweiligen H a n d w e r k e r nicht zur stadtischen Gesellschaft und z u m Stand der stadtischen bzw. standigen Handwerker. 401 Mnenie glasnogo Petrovskogo, eitannoe 6 nojabrja 1864 goda v sobranii remeslennogo otdelenija obScej dumy, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 413: Po donosu, hier 1. 16. D e s w e g e n wurden sie nicht in das stadtische Burgerbuch (Gorodskaja obyvatel 'skaja kniga) e i n g e t r a g e n . Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen in St. Petersburg sowohl die Konflikte innerhalb der Handwerkerschaft, zwischen den standigen und den zeitweiligen Handwerkern, als auch zwischen der staatlichen Burokratie und den H a n d w e r k e r n und ihrer Selbstverwaltung. Einige der Konfliktpunkte sollen n u n genannt werden. Unter den standigen H a n d w e r k e r n der Stadt gab es nur wenige, die wirklich als H a n d w e r k e r tatig waren, 1870 w a r e n es von 17.528 nur 2.727. Die Mehrheit, in diesem Fall also 8 4 , 4 % , gehorte dem Stand nur formal an. Dafur g a b es mehrere Grtinde. D e r soziale Aufstieg oder der Wechsel in einen anderen nicht handwerklichen B e r u f ermoglichte es den Kindern der standigen Handwerker, ihren Lebensunterhalt aus anderen Quellen zu beziehen. D a aber die Standeszugehorigkeit vererbt wurde, blieben sie weiter im Stand aufgelistet . Eine weitere Ursache fur die groBe Zahl der eingetragenen, aber nicht tatigen H a n d w e r k e r war ein massiver Zustrom an nichthandwerklichen Zuwanderern, die durch den E r w e r b der Standeszugehorigkeit ein dauerndes Wohnrecht in der Stadt erhielten. Obwohl diese Standesangehorigen keine H a n d w e r k e r waren, n a h m e n sie im Unterschied zu den zeitweiligen Zunftmeistern soziale Leistungen in Anspruch, w a s zu Unstimmigkeiten in den Zunften fuhrte: Im Gesamtverhaltnis v o n Meistern, Gesellen und Lehrlingen gab es 1870 2.727 standige und 25.092 zeitweilige Handwerker, wobei letztere z u s a m m e n bis zu 60.000 Rubel Steuer jahrlich z a h l t e n . 402 403 404 D e s w e g e n konnten die standigen Meister mit Hilfe der zeitweiligen Meister zwar ein A r m e n h a u s , eine Schule und ein Asyl fur a r m e Kinder unterhalten, die zeitweiligen Meister konnten diese Leistungen aber nicht in Anspruch nehmen. Sie bekamen keinerlei Unterstutzung, obgleich sie zwischen 1854 und 1870 1.068.125 Rubel ( 8 3 , 4 % der Gesamtbeitrage, der Rest fiel auf die standigen Meister) in die H a n d w e r k s k a s s e einzahlten. Z u m 1. Januar 1871 wurden v o n 1.002 standigen Zunfthandwerkern, davon 845 Meister und 157 Meisterinnen, 4.008 Rubel und v o n den 5.525 zeitweiligen Zunfthandwerkern, davon 4.864 Meister und 661 Meisterinnen, 21.568 Rubel in die Handwerkskasse e i n g e z a h l t . 405 402 Po chodatajstvu vremenno-cechovych masterov S. Peterburgskogo remeslennogo soslovija о predostavlenii im prava udastija v delach sobranija vybornych remeslennogo soslovija naravne s vecno-cechovymi masterami; Po zalobe S. Peterburgskich masterov-kupcov Bogdanova, Osokina i drugich na nedopuScenie zdesnej remeslennoj upravoj proizvodstva vyborov v zasedateli etoj upravy inogorodnych kupcov, me§6an i remeslennikov naravne s vecno-cechovymi, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281,1. 9, 50. 403 Ebd., 1. 1-3. 404 Ebd. N a c h der Stadtreform von 1870 entwickelte sich eine neue Art der allstandischen Selbstverwaltung in den Stadten. Die Befehlsfunktionen u n d die Exekutive wurden g e t e i l t . Das Wahlrecht bekamen alle Burger, die die russische Staatsangehorigkeit sowie Immobilien in der Stadt besafien. A u c h solche Personen, die Handels- oder Industriebetriebe besaBen, und in der Stadt mindestens seit zwei Jahren wohnten und an die Stadt bestimmte Beitrage entrichteten, g e n o s s e n das Wahlrecht. In der St. Petersburger D u m a g ab es von n u n an 2 5 0 gewahlte Mitglieder, die besonders aktiv im Bereich der Stadtwirtschaft tatig waren. Die Dumamitglieder wahlten ihrerseits die Exekutive bzw. die Stadtverwaltung und das S t a d t o b e r h a u p t . Allerdings fuhrte die Regierung E n d e der 1880er bis zum Anfang der 1890er Jahre einige Gegenreformen in den Stadt- und Landesverwaltungen durch, um diese Organe enger an die Regierungsamter zu b i n d e n . Als 1873 die neue Stadtordnung in St. Petersburg eingefuhrt wurde, wurden die Deputierten in die stadtische Selbstverwaltung nach V e r m o g e n und nicht nach Standesprinzip gewahlt. Die 2:eitweiligen Zunfthandwerker wollten dieses Recht in Anspruch n e h m e n , da sie auch zahlenmaBig im Ubergewicht waren: Z u j e n e r Zeit ga b es in der Standesversammlung 145 Deputierte der 9 9 4 standigen Zunftmeister, die uber die Schicksale der rund 26.000 zeitweiligen Zunfthandwerker e n t s c h i e d e n . Die zeitweiligen H a n d w e r k e r erhoben sich gegen die Standesordnung, u m die Gleichberechtigung aller Mitglieder der Handwerkerschaft anzustreben und verlangten eine Zulassung zu den Ver sam m lu n g en der Deputierten und zur Teilnahme an den Wahlen in d i e H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und Deputiertenversammlung. Sie argumentierten damit, daB es in ganz RuBland keine anerkannte Gesellschaftsgruppen gabe, die nicht das Recht hatten, ihre eigenen Angelegenheiten zu besprechen und zu bestimmen: 406 407 408 409 „Die zeitweiligen Zunfthandwerker j e d o c h haben kein Recht auf eine eigene V e r s a m m l u n g , w a s dem Stadtstatut (gorodskoe polozenie) eigentlich nicht entspricht. Die V e r s a m m l u n g der Deputierten ist eine rein standische Institution, die nur ihre Standesinteressen und nicht die Interessen aller stadtischen Handwerker vertritt" . 410 406 Nardova, Samoderzavie, S. 8. 407 Ebd., S. 9. 408 Ebd. 409 ProSenie vremenno-cechovych masterov S. Peterburgskogo remeslennogo soslovija, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, 1. 4; Dmitrij Dmitrievid Semenov, Gorodskoe samoupravlenie: ocerki i opyty. St. Petersburg 1901, S. 2. D e r Widerspruch bestand darin, dafi auf einer niederen E b e n e in den Zunftverwaltungen die Zunftaltesten meist aus den zeitweiligen Zunfthandwerkern gewahlt wurden, weil in den Zunften alle H a n d w e r k e r an der Wahl fur die Zunftamter einschlieBlich des Zunftaltesten teilnehmen durften. A u f einer oberen E b e n e in der allgemeinen Handwerksverwaltung, der die gesamte Leitung der Zunfte oblag, konnten die zeitweiligen H a n d w e r k e r dagegen nur zwei Stellen besetzen, der Amtsinhaber keine Stimme in der Deputiertenversammlung hatten. In der V e r s a m m l u n g durften sie nicht als gleichberechtigte Mitglieder, schon gar nicht als Deputierte teilnehmen: „Mehrmals erschienen die Deputierten in der V e r s a m m l u n g nicht und sabotierten die Erorterung der Vorschlage der zeitweiligen Zunfthandwerker wegen ihrer personlichen, egoistischen I n t e r e s s e n " . 411 Die standigen Meister versuchten, den damaligen Handwerksaltesten und den Vorsitzenden der V e r s a m m l u n g der Deputierten, G. G. Petrovskij, der sich schon seit Jahren fur die Gleichberechtigung der zeitweiligen H a n d w e r k e r einsetzte, abzusetzen und eine andere Person zu wahlen, die ihren W u n s c h e n besser entsprach. Sie schurten so den Streit unter den Handwerkern. Die oben aufgefuhrten Zitate wurden einer Bittschrift entnommen, die 53 Zunfthandwerker unterschrieben, unter ihnen prominente standige H a n d w e r k e r und Kaufleute zweiter Gilde. Es unterzeichneten unter anderem n e u n Wagenbauer, 18 Meister, die tiberwiegend in die zweite kaufmannische Gilde eingeschrieben waren und sechs standige Zunfthandwerker, unter denen es ein Mitglied der Deputiertenversammlung und zwei Ehrenbtirger der Hauptstadt g a b . Die Z u s a m m e n s e t z u n g der Bittsteller zeugt von einer breiten Unterstutzung der zeitweiligen Handwerker, deren schlechte Position innerhalb der Zunfte mittlerweile zu einem allgemein beachteten Problem der Stadtpolitik geworden war. 412 Die Unruhe, aber auch die Aktivitat der zeitweiligen Zunfthandwerker wurde noch starker, als a m 2 8 . Juni 1870 ein BeschluB des Reichsrates durch den Zaren bestatigt wurde, der besagte, daB die Zunfte in naherer Zukunft abgeschafft wurden. Innen- und Finanzminister wurden eine Absprache treffen, wie sich dies optimal durchfuhren lieBe. Charakteristisch ist, daB dieser BeschluB des Reichrates im Rahmen der neuen Stadtordnung getroffen und noch am gleichen T a g bestatigt wurde. Dies entsprach den allgemeinen Optionen der Regierung in den Fragen der Reorganisation des Stadtewesens. DaB dieser BeschluB fur die zeitweiligen Handwerker von ausschlaggebender B e d e u t u n g w a r und noch Jahre danach zu ihren zentralen Anliegen gehorte, bestatigt ein Schreiben des Leiters des 411 Ebd., 1. 4. 4 , 2 Ebd., 1. 4f. Innenministeriums (Upravljajusdij Ministerstva vnutrennich del) Furst L o b a n o v Rostovskij an den Oberverwalter (Glavnoupravljajusdij) der 2. A b t e i l u n g der Kaiserlichen Kanzlei im August 1874: „Die standigen Zunfthandwerker beziehen sich darauf, daB die zeitweiligen Handwerker an den Versammlungen teilnehmen konnen. Ihrer M e i n u n g nach wurden die gesellschaftlichen Turbulenzen durch den BeschluB des Reichsrates v o m 16. Juni 1870 verursacht, in dem uber die Abschaffung der Zunfte gesprochen w u r d e " . 413 A u s dem Schreiben geht auch hervor, dass die Aussage der standigen Handwerker rein taktischen Charakter trug, weil sie schon bereits vor drei Jahren, am 27. April 1871, alle Forderungen der zeitweiligen Handwerker strikt abgelehnt hatten. Der BeschluB des Reichsrates von 1870 wurde zu einem h e m m e n d e n Faktor bei der L o s u n g des Problems der Gleichberechtigung der zeitweiligen Handwerker. Alle darauf folgenden Versuche der zeitweiligen Handwerker, das Zunftsystem in St. Peterburg zu reformieren, wurden von den hoheren Instanzen mit der Begriindung abgelehnt, daB die Regierung Bescheid wisse und daran arbeite. Die beteiligten Seiten, ein Teil der Regierung, die Kanzlei des MilitarGeneralgouverneurs, der Stadthauptmann und der Vorsitzende der Stadtduma, waren sich darin einig, daB es sinnvoll und berechtigt sei, den Forderungen der zeitweiligen H a n d w e r k e r e n t g e g e n z u k o m m e n und ihnen das passive und aktive Wahlrecht zu erteilen, wodurch die standigen Streitigkeiten zwischen beiden Gruppen und der umfangreiche Briefwechsel aufhoren miiBten. Der BeschluB des Reichsrates blockierte eine Reform des Standes. In Anbetracht der „baldigen" Abschaffung der Zunfte war es nach Ansicht der Regierung nicht sinnvoll, das Handwerksstatut, das die R a h m e n b e d i n g u n g e n des H a n d w e r k s und die Zunftordnung bestimmte, zu a n d e r n . 414 Es ware aber falsch, die Unzufriedenheit der zeitweiligen Handwerker nur auf die Erlasse und Intentionen der Regierung zviruckzufuhren. N o c h vor dem BeschluB des Reichsrates im Jahre 1870 unternahmen die zeitweiligen H a n d w e r k e r mit dem Standesaltesten Petrovskij an der Spitze mehrere Versuche, ihre L a g e zu verbessem. D a n k ihrer Initiative erlaubte ihnen der Stadthauptmann, im Dezember 1869 eine K o m m i s s i o n zusammenzurufen, die iiber die Moglichkeiten der Bekampfung der A r m u t unter den zeitweiligen Handwerkern beraten sollte. A m 12. Januar 1870 n a h m die Kommission aus zwolf zeitweiligen Meistern ihre Arbeit auf und kam nach Analyse der tatsachlichen Lage und der Gesetzgebung 413 Ob-jasnitel'naja zapiska upravljajuscego ministerstvom vnutrennich del stats-sekretarja knjazja Lobanova-Rostovskogo glavnoupravljajuscemu 2-m otdeleniem e.i.v. kanceljarii ot 28 avgusta 1874, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 72. zu dem Ergebnis, daB es unter den vorhandenen R a h m e n b e d i n g u n g e n unmoglich sei, etwas fur die Verbesserung der L a g e der zeitweiligen H a n d w e r k e r zu tun. Die K o m m i s s i o n sah keinen anderen A u s w e g , als allein diese R a h m e n b e d i n g u n g e n zu andern und arbeitete ein Projekt uber die „St. Petersburger Gesellschaft der Handwerksindustrie" (St. Peter burgs кое obsdestvo remeslennoj promyslennosti) aus, das den Ersatz der Zunfte durch eine genossenschaftsartige Vereinigung der Handwerker, die auf dem Berufsprinzip beruhen sollte, vorsah. Die anscheinend w e n i g zueinander passenden Worte wie „ H a n d w e r k " und „Industrie" wurden bewuBt zusammengesetzt und sollten den Wandel im H a n d w e r k z u m A u s d r u c k bringen . Es sind hier einige wichtige Punkte des Projektes zu nennen. Es sah vor, aus alien vorhandenen Handwerkern der Stadt eine Korporation zu bilden. Z u j e n e r Zeit gab es in der Stadt die nicht zunftig organisierten Einzelhandwerker und Gesellen, deren Anzahl die der zunftig organisierten H a n d w e r k e r weit ubertraf. N a c h Paragraph vier des Projektes wurden wahrend der ersten zehn Jahre des Bestehens dieser Gesellschaft alle Handwerker der Stadt verpflichtet, in sie einzutreten. N a c h Ablauf dieser Zeit stand es j e d e m frei, in der Gesellschaft zu bleiben oder nicht. N a c h M e i n u n g der Verfasser des Projektes konnte die Gesellschaft o h n e die Festsetzung dieser Frist nicht zustande k o m m e n , weil 415 „allgemein bekannt ist, daB das russische Volk eine solche Verfassung hat, daB ihm j e d e Vergesellschaftung fremd ist. E s empfindet MiBtrauen gegenuber alien genossenschaftlichen Bildungen und ist es gewohnt, in einer patriarchalischen Form zu l e b e n " . 416 Bezogen auf die damaligen Verhaltnisse in der Stadt scheint diese B e h a u p t u n g richtig zu sein. Sie stammt v o n einem Meister bzw. einem Verfasser des Statutes, dem die Sitten des „russischen V o l k e s " wohlbekannt waren. Diese Aussage steht aber in krassem Widerspruch zu den Einsichten der liberal-demokratischen Schichten der russischen Gesellschaft, die den Gemeinschaftsgeist des Volkes idealisierten. So schrieb der Autor eines Artikels im „Golos", daB „dem russischen Volk die Worter ,tovaris£' oder ,аЛеГпое n a c a l o ' nicht fremd und unter ihm sehr v e r b r e i t e t " seien, w a s an die Leitsatze der Volkstiimler (narodniki) erinnert. 417 415 Prosenie vremenno-cechovych remeslennikov ot 22.12.1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1301 (28. Dezember 1870 - 17. April 1871): Po proektu ustava „Ob§cestva remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge", sostavlennogo nekotorymi vremenno-cechovymi remeslennikami, hier 1. 4. 416 Golos, gazeta politi6eskaja i literaturnaja, Nr. 223 vom 14. (26.) August 1871, S. 1, aus: Ob-jasniternaja zapiska ot 13 fevralja 1871, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1301: Po proektu ustava, hier 1. 7. Z w a r wird hier nicht die betrachtliche Verbreitung der Begriffe ,tovaris£' und ,artel'noe nacalo verneint. Sie galten aber vielmehr fur die Kaufleute und die bauerliche Schicht. W a s die gewerbliche Bevolkerung v o n St. Petersburg, in diesem Fall die Handwerker bzw. die kleinen Produzenten betrifft, so gilt es, eher den Autoren des Projektes Recht zu geben. Die Mitglieder der Handwerksgesellschaft wurden von den Autoren des Projektes in die drei Kategorien Meister, Gesellen und Lehrlinge eingeteilt, w o m i t die standigen Meister uberhaupt nicht einverstanden waren. Damit ware die aktuelle Einteilung der Gesellen in zwei Gruppen aufgehoben worden. Zu j e n e r Zeit gab es unter den Gesellen diejenigen, die einen Lehrgang bei einem Meister abgeschlossen hatten und v o n der Handwerksverwaltung ein D i p l o m erhalten hatten und die eigentlichen Arbeiter, die weniger qualifizierte Arbeit verrichteten. Bei einer A n d e r u n g dieser Einteilung hatte die Handwerksindustrie der Stadt erhebliche Einschrankungen erlitten. AuBerdem sollte die Handwerksverwaltung nicht d e m Finanzministerium unterstellt werden, da dadurch die fiskalischen Aufgaben der Handwerksverwaltung in den Vordergrund gertickt wurden. D a s wichtigste Anliegen der neuen Gesellschaft war also, das stadtische H a n d w e r k unter neuen Prinzipien zu reorganisieren und die freie handwerkliche Arbeit einzufuhren, die von dieser Gesellschaft unterstutzt werden sollte. U m diesen Z w e c k zu erreichen, wollte sie sich eine breite und stabile Basis unter den Handwerkern verschaffen. Die Handwerker sollten eine Untersttitzung bekommen, u m mit den groBeren Industriebetrieben konkurrieren zu konnen. Dieses Projekt einer „St. Petersburger Gesellschaft der Handwerksindustrie" wurde nun w a h r e n d der allgemeinen V e r s a m m l u n g der zeitweiligen Zunfthandwerker am 15. Dezember 1870 bewilligt und an das Innenministerium weitergeleitet . D a s Vorhaben der zeitweiligen Handwerker blieb v o m Stand der standigen Zunfthandwerker nicht unbemerkt. Sie leisteten heftigen Widerstand und versuchten auf verschiedenen Wegen, das Projekt zu verhindern. U m ihr Ziel zu erreichen, baten sie den Innenminister, das Projekt aus dem Innenministerium an die Deputiertenversammlung weiterzuleiten, die es priifen sollte. Sie brachten dabei ein schwerwiegendes A r g u m e n t vor, gegen welches die R e g i e r u n g k a u m etwas einwenden konnte. Es ging um das Eigentum, sprich die Immobilien und das Kapital des Standes der standigen Handwerker der Hauptstadt, die auf keinen Fall ihr Eigentum mit den ubrigen Handwerkern der Stadt teilen w o l l t e n . Die Handwerkergesellschaft w u r d e gespalten und die Auseinandersetzung artete in offene Feindschaft aus. Die Situation verscharfte sich durch die Parteinahme der Verwaltung und eines Teiles der Deputiertenversammlung zugunsten der zeitweiligen Handwerker. Der Handwerksalteste und Vorsitzende der Kommission G. G. Petrovskij, sein Stellvertreter A. Osokin, fiinf Deputierte und ein standiger 4 418 419 418 Prosenie ot 22.12.1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1301: Po proektu ustava, hier 1. 4f. 4 , 9 Ob-jasnitePnaja zapiska ot 12 fevralja 1871, in: Ebd., 1. 7. Meister (I. Sobolev) reichten zusarnmen mit elf Mitgliedern der K o m m i s s i o n ein Gesuch an den Innenminister ein, mit der Bitte, das Projekt zu unterstutzen, das allerdings in Anbetracht der oben ausgefuhrten Grtinde nicht v o r w a r t s k o m m e n wollte . Als Petrovskij nicht wiedergewahlt wurde und sein A m t niederlegen muBte, verloren die zeitweiligen H a n d w e r k e r ihren Fursprecher. Die Situation w u r d e dadurch kompliziert, daB sowohl der Stand der standigen H a n d w e r k e r gespalten w u r d e , als auch auBerhalb des Standes die ubrigen zeitweiligen H a n d w e r k e r nach gleichen Rechten verlangten, wobei Petrovskij ihnen Beistand leistete. Ein Schreiben der zeitweiligen Handwerker an den Innenminister v o m 2 9 . N o v e m b e r 1870 bestatigte, daB es ihr Hauptanliegen war, EinlaB in die V e r s a m m l u n g der Deputierten sowie Teilnahme an den Wahlen zu erlangen. D a s Innenministerium w a r nicht daran interessiert, das Statut zu andern oder gar den Stand der standigen H a n d w e r k e r aufzulosen. D e s w e g e n wurden alle Gesuche der zeitweiligen H a n d w e r k e r an die Handwerksverwaltung zuriickgeschickt, die sie der Deputiertenversammlung zur Debatte vorlegte. Die Deputiertenversammlung lehnte ihrerseits am 27. April 1871 alle Forderungen der zeitweiligen H a n d w e r k e r ab . 420 4 2 1 D e r Stadthauptmann (gradonadal'nik) Trepov und der stellvertretende St. Petersburger Gouverneur, Geheimrat Luzkovskij 1874, sowie sein Vorganger, Graf Levasev 1 8 7 1 , hielten den BeschluB der Deputiertenversammlung uber die Nichtzulassung der zeitweiligen Handwerker in die Standesversammlungen mit d e m Zustimmungsrecht in den Standesangelegenheiten fur nicht korrekt, doch anderte dies die Einstellung der Deputierten n i c h t . Symptomatisch ist, daB das Problem der Gleichberechtigung der zeitweiligen H a n d w e r k e r mit den standigen nicht nur in St. Petersburg, sondern auch im sudlichen ZentralruBland in Voronez auf der Tagesordnung stand. Der dortige Standesalteste M o r o z o v lud am 12.10.1873 alle Handwerker der Stadt ohne A u s n a h m e zur Wahl ein. Allerdings HeBen die standigen Meister die Wahl nicht zu u n d v e r l a n g t e n eine V e r s c h i e b u n g d e r s e l b e n . B e i m nachsten Versammlungstermin, am 2 3 . November, waren nur die standigen Meister versammelt. M o r o z o v appellierte erneut an sie, die zeitweiligen Meister zur Wahl zuzulassen. Seine Argumente fanden im Unterschied zu St. Petersburg eine positive Resonanz. Die letzte Wahl wurde v o n der V e r s a m m l u n g fur nichtig erklart, weil die zeitweiligen H a n d w e r k e r an der Wahl v o m 9. D e z e m b e r j e n e s 422 420 Prosenie ot 22.12.1870, in: Ebd., 1. 5. 421 Doklad postojannoj revizionnoj о роГгасЬ i nuzdach remeslennogo obScestva komissii, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu vremenno-cechovych masterov [...] о predostavlenii im prava udastija v delach sobranija vybornych remeslennogo soslovija naravne s vecno-cechovymi masterami, hier 1. 49-52. RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 8f. Jahres nicht teilgenommen hatten. Eine Anfrage an den Innenminister blieb j e d o c h u n b e a n t w o r t e t . Alle Bittschriften dieser Art wurden v o n der Kaiserlichen Kanzlei und v o m Innenministerium mit dem Hinweis auf den BeschluB des Reichsrates v o m 16. Juni 1870 iiber die Abschaffung des Zunftsystems abgelehnt . So wurden 1879 in St. Petersburg zur Wahl der zwei Beisitzer v o n den zeitweiligen H a n d w e r k e r n in die Handwerksverwaltung nur 50 finnische und aus den Ostseeprovinzen stammende Meister eingeladen, die vorher in ihren Stadten als standige Meister in die Ziinfte eingeschrieben waren. Die russischen zeitweiligen Meister waren daruber emport, nicht an der Wahl teilnehmen zu konnen. Sie waren nicht damil einverstanden, daB ihnen die letzte Moglichkeit, in der V e r w a l t u n g vertreten zu sein, g e n o m m e n w u r d e . Z u d e m manipulierte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g die Wahl, indem sie H a n d w e r k e r zur Wahl stellte, die, bevor sie nach St. Petersburg g e k o m m e n waren, in ihren Stadten standige Meister gewesen waren und dadurch potentielle Verbundete fur die standigen Handwerker in der Deputiertenversammlung darstellten. 423 424 425 Trotz aller Versuche, die zeitweiligen H a n d w e r k e r von Verwaltungsamtern fernzuhalten, gelang ihnen zumindest ansatzweise eine Teilnahme an den Privilegien der standigen Handwerker. So erhielten sie 1879 einige Platze in der Handwerksschule (32 von insgesamt 263), und im A r m e n h a u s (12 von 170), eingeraumt. Im Vergleich mit der Anzahl der zeitweiligen H a n d w e r k e r in der Stadt war die ihnen eingeraumte Anzahl an Platzen in diesen gemeinnutzigen Anstalten verschwindend g e r i n g . Mit der Wahl der beiden Beisitzer in die Verwaltung am 24. Juli 1880 wiederholten sich die Aktionen Lebedevs gegen die zeitweiligen Handwerker. Er lieB folgende MiBstande zu: 1. Start 6000 Einladungen wurden nur 2000 gedruckt, von denen nur 500 verschickt wurden. 426 423 2urnal Voronezskogo gubernskogo po gorodskim delam prisutstvija ot 4 marta 1874, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 55f. 424 Zakljudenie chozjajstvennogo departamenta ministerstva vnutrennich del v sentjabre 1881, in: Ebd., 1. 96ff. 425 Dokladnaja zapiska masterov S. Peterburgskich cechov ministru vnutrennich del L. S. Makovu ot 7 marta 1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, hier 1. 5. 426 Doklad S. Peterburgskogo gradonacal'nika ministru vnutrennich del ot 17.8.1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1954 (7. Marz 1879-21. September 1887): Po dokladnoj zapiske vremenno-cechovych masterov S. Peterburgskogo remeslennogo obscestva Subbe, Michel'sona, Svensona i drugich ob ucrezdenii, v vidach prizrenija v stolice neimuscrch 61enov iz vrmenno-cechovych remeslennikov, osobych dlja oznacennych cechovych kass, hier 1. 9. 2. Lebedev versaumte es, die Handwerkerinnen einzuladen. 3. Die Wahlzettel wurden nicht direkt, sondern in einem anderen R a u m gezahlt. 4. E s wurden keine Verzeichnisse der Wahlberechtigten und derjenigen, die kandidieren wollten, zusammengestellt. Infolgedessen war es fur die 300 anwesenden Wahler unmoglich, die N a m e n der Kandidaten zu erfahren. Es ist durchaus wahrscheinlich, daB Lebedev w a h r e n d der Zusammenstellung der Verzeichnisse sogar fremde Personen eintrug, die uberhaupt kein Recht hatten, an der Wahl teilzunehmen bzw. nur in seinem Interesse handelten. Die V e r m u t u n g e n der zeitweiligen H a n d w e r k e r bestatigten sich. Unter den Kandidaten befand sich der Kaufmann Trifachin, der 1880 aus d e m Stand der standigen Zunfthandwerker ausgeschieden war. Jetzt kandidierte er als zeitweiliger Zunfthandwerker. Trifachin w a r v o n Lebedev unmittelbar abhangig, weil er einen zweijahrigen Vertrag mit der Verwaltung abgeschlossen hatte, nach dem er seit Mai j e n e s Jahres das A r m e n h a u s der Handwerker mit Schuhen belieferte. E s hieB, daB er in einer Person Lieferant und gleichzeitig Empfanger der Schuhe sein sollte. Dementsprechend konnte keiner die Qualitat der v o n ihm gelieferten Schuhe nachprtifen . Ein Beisitzer solcher Art war eine w i l l k o m m e n e Kandidatur fur den Standesaltesten, der nach den Worten der Korrespondenten der St. Petersburger Zeitungen den zeitweiligen H a n d w e r k e r n „die Stiefel mit d e m B a s t s c h u h " (pereobuvat' remeslennoe obsdestvo iz sapog v lapti) - eine Anspielung auf ihre bauerliche Herkunft - tauschen w o l l t e . Dies war ein besonders klarer A u s d r u c k der Teilung der Petersburger Handwerker in die beiden groBen Gruppen der „Stadter" einerseits und der „Landbevolkerung" andererseits. W a h r e n d der V e r s a m m l u n g lieB es Lebedev nicht zu, daB die V e r o r d n u n g des Stadthauptmanns v o m 16. August 1879 uber die Einberufung einer Kommission, die aus den jeweils standigen und aus den zeitweiligen Zunfthandwerker bestehen sollte, verlesen w u r d e . Der Stadthauptmann w a r der M e i n u n g , daB die armen zeitweiligen Handwerker genauso wie die standigen berechtigt seien, die sozialen Einrichtungen des Standes in Anspruch zu nehmen. Lebedev erklarte allgemein, w o r u m es sich im D o k u m e n t handelte. Er interpretierte die Worte des Stadthauptmanns in d e m Sinn, daB eine K o m m i s s i o n a u s standigen und zeitweiligen Meistern zusammengerufen werden sollte, u m uber die Mittel fur die Versorgung der armen zeitweiligen Handwerker zu beraten. L e b e d e v meinte, daB die soziale V e r s o r g u n g einzig durch die Erhohung der Steuern moglich s e i . V o n einer berechtigten Verteilung der schon vorhandenen offentlichen Mittel, die 427 428 429 427 Prosenie upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del ot vremenno-cechovych masterov v S. Peterburge ot 27 avgusta 1880, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, 1. 87f. 428 Ebd., 1. 88. groBtenteils von den zeitweiligen Handwerkern stammten, konnte hier keine Rede sein. Die Wahl w u r d e abgebrochen und bis z u m nachsten Termin verschoben. W a h r e n d der nachsten Versammlung, am 2 1 . August 1880, auf der die zwei Beisitzer in die Verwaltung gewahlt werden sollten, wurden wieder einige Versaumnisse konstatiert. Die zeitweiligen Handwerker beschwerten sich, daB „nur" 1.500 v o n 6.000 zeitweiligen Handwerkern eingeladen worden waren, wobei die Halfte der Wahlberechtigten, die an der V e r s a m m l u n g am 24. Juli teilgenommen hatten, nicht hineingelassen wurde. Lebedev stellte a m Eingang zur D u m a Wachter auf, die dafur sorgen muBten, daB kein ungeladener Handwerker in die V e r s a m m l u n g gelangte, so daB, w e n n es notig war, auch mit Gewalt der Eingang versperrt w u r d e . Hier ereigneten sich emporende Szenen: Die Wachter faBten die Wahler am Kragen und versperrten ihnen den Weg. In der Versammlung warnte der Schreiber Cerepovic die A n w e s e n d e n : „Meine Herren, falls sich irgend j e m a n d erkuhnt, den Vorsitzenden hinauszujagen, wird derjenige gleich zur Polizei geschickt. Die Polizeibeamten sind auf ihren P l a t z e n " . U m seine Z w e c k e zu erreichen, lud Lebedev alle 1500 Wahler zur gleichen Zeit ein: das Gedrange sollte es ihm erleichtern, eigene Kandidaten ins A m t der Beisitzer wahlen zu lassen. D e m Gesetz nach sollten so viele V e r s a m m l u n g e n mit j e 600 Wahlern stattfinden, bis alle Stimmberechtigten teilgenommen hatten. Die V e r s a m m l u n g lieB sich j e d o c h nicht einschuchtern und verlangte von Lebedev einstimmig, von seinem A m t abzutreten. Die Meister beschuldigten ihn, daB er im Jahre 1876 als Stiefellieferant fur die armen und hochbetagten Handwerker im Altersheim bei einer Betriigerei ertappt worden sei. D e n Worten der zeitweiligen H a n d w e r k e r nach waren die standigen Meister schuld daran, daB sie nicht zur Wahl der Kandidaten in die Verwaltung zugelassen wurden. Sie bezogen sich dabei auf die Stadtordnung von 1870, die bestimmte, daB alle Einwohner der Stadt, die in das Burgerbuch eingetragen waren, an der Wahl der Standesverwaltung teilnehmen durften. Diese B e s t i m m u n g gait nicht fur die z e i t w e i l i g e n H a n d w e r k e r , mit d e n e n gema'B den R e g e l u n g e n des Handwerksstatutes verfahren wurde. In diesem Fall handelte Lebedev im Interesse der standigen Handwerker, die die zeitweiligen Handwerker auf keinen Fall in die standischen Gremien hineinlassen wollten. Die zeitweiligen Handwerker interpretierten die Grtinde fur die Handlungsweise Lebedevs richtig. Formell hatten sie aber keine Handhabe, denn fur sie gait die W a h l o r d n u n g von 1846, die ihnen die Teilnahme an der Wahl u n t e r s a g t e . Im M a r z 1875 und a m 2 5 . August 1881 gab es ahnliche Bittschriften der zeitweiligen Handwerker, mit erneuten 430 431 430 Ebd. Vorschlagen das Zunftsystem zu reformieren, denen wiederum keine B e a c h t u n g geschenkt w u r d e . E s ist unbekannt, mit welchen Ergebnissen diese Wahl endete. Eines steht fest: Die restriktive Politik der Handwerksverwaltung gegen die zeitweiligen H a n d w e r k e r in den 70er u n d 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte zur Folge, daB sie mitsamt ihren Forderungen vollig zuruckgedrangt wurden. Der Handwerksalteste Polozov versuchte, die A m t e r in den Zunftverwaltungen vollig in den H a n d e n der standigen Meister zu usurpieren. Er ordnete an, die Zunftamter nur an standige Meister zu vergeben, wodurch er die Gesellschaft noch mehr spaltete. Sein Nachfolger L e b e d e v anderte seine V o r g e h e n s w e i s e in F r a g e n der Verwaltungspolitik nur u n e r h e b l i c h . Die Taktik, die schon 1879 angewandt worden war, bewahrte sich wahrend der Wahl 1884 noch einmal. Die Handwerksverwaltung setzte die Wahl v o n zwei Beisitzern auf den 15. und 22. Juni 1884 an. Es wurden w i e d e r u m nicht alle, sondern 518 zeitweilige Handwerker v o n insgesamt 7.070 eingeladen. Diese 518 H a n d w e r k e r waren schon fniher als Zunfthandwerker in anderen Stadten, in Finnland und in den Ostseeprovinzen, eingeschrieben worden. Unter ihnen gab es nur vier Meister und drei Meisterinnen russischer Nationalitat. Alle neun Kandidaten waren Kaufleute der dritten Gilde, unterhielten Werkstatten und waren im G r u n d e g e n o m m e n ihrer Ausbildung nach keine H a n d w e r k e r . Sie stellten Meister ein, die den Betrieb leiteten. V o n diesen Kandidaten wurden zwei Kaufleute der dritten Gilde, namlich Daniil Andreev u n d Fedor Verchovcev gewahlt und v o m Generalgouverneur im A m t bestatigt. Eine Vielzahl v o n B e s c h w e r d e n der zeitweiligen H a n d w e r k e r an die Leitung der stadtischen Angelegenheiten iiber die inkorrekt durchgefiihrte Wahl bewirkte das Gegenteil, so daB die Leitung mit BeschluB v o m 3. September 1884 die Rechtskraft der Wahl bestatigte. Daraufhin legte der Silberschmied und zeitweilige Meister Vasilij Ivanov Protest b e i m Senat ein. Bemerkenswert ist, daB im Unterschied zu friiheren Bittschriften, die juristisch beurteilt unbeholfene Gesuche waren, d a s Schreiben von Ivanov ein D o k u m e n t war, in d e m alle wichtige Gesetze sachlich aufgezahlt w u r d e n . Er argumentierte und bewies sein Recht, w a s eine betrachtliche W a n d l u n g des RechtsbewuBtseins unter den Handwerkern widerspiegelt. Ivanov zog das Stadtstatut v o n 1785, den SenatserlaB v o n 1796, die Vorschrift der K E N O V v o m 2 1 . Juni 1847 und das Handwerksstatut v o n 1879 als Beweismaterial heran. Er stellte fest, daB 1847 zur Wahl der zwei Beisitzer nur die zeitweiligen Meister zugelassen worden waren, die in St. Petersburg wohnhaft waren. D a g e g e n erweiterte das Handwerksstatut von 1879 den Kreis der 432 433 432 433 RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 72f., 88ff., 96f. ProSenie masterov S. Peterburgskich cechov к upravljajuscemu ministerstvom vnutrennich del L. S. Makovu ot 28 fevralja 1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju [...] Cistjakova, Polikarpova, hier 1.1. Wahlberechtigten, da es besagte, daft alle Meister, die eine Werkstatt in der Stadt hatten, an der Wahl teilnehmen durften, ohne Rucksicht darauf, o b ein Meister in der Hauptstadt wohnhaft war oder n i c h t . Wahrend der Zusammenstellung des Wahlerverzeichnisses wurden die Worte des Gesetzes uber die standische Selbstverwaltung von 1879: „die Beisitzer der Handwerksverwaltung werden von den zugewanderten zeitweiligen Handwerkern gewahlt" (zasedateli remeslennoj upravy opredeljajutsja po vyboru ot vremenno pricislennych inogorodnich remeslennikov), so interpretiert, daB unter einem „inogorodnij" ein H a n d w e r k e r aus einer anderen Stadt und nicht generell ein auswartiger H a n d w e r k e r zu verstehen war. D e r Gesetzgeber meinte dagegen, daB in diese Kategorie alle H a n d w e r k e r ohne Unterschied - ob aus einer anderen Stadt oder aus d e m Inneren des Landes - gehorten. Der Innenminister hielt die Klage von Ivanov fiir berechtigt und leitete sie weiter, worauf der Senat mit ErlaB v o m 8. Mai 1886 die Bestatigung der Wahl durch die Leitung der stadtischen Angelegenheiten v o m 3. September 1884 a n n u l i e r t e . 434 435 Diese Vorfalle belegen einerseits den starken W u n s c h der zeitweiligen Handwerker, in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g reprasentiert zu sein, u m ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen, auch mit Hilfe ihrer Beisitzer, durchsetzen zu konnen. Andererseits war die Perspektivlosigkeit des Kampfes fur die Gleichberechtigung mit den standigen Handwerkern offenkundig. Diese hatten alle Mittel in der Hand, u m die leitende Rolle in der Handwerksverwaltung und in den Standesangelegenheiten zu behalten. Die Deputierten und die Handwerksverwaltung wuBten sehr gut, wie sie die Beisitzer der zeitweiligen H a n d w e r k e r beeinflussen und sie fur eigene Z w e c k e benutzen konnten. In den 1890er Jahren wurden die Beisitzer vollig in die Interessensphare der Verwaltung einbezogen. D e n Grad der Verwicklung der Beisitzer in die Angelegenheiten der Handwerksverwaltung zeigt die Laufbahn von A. V. N o v i k o v und K.G. Skvorcov, die 1893-1899 bei den Zunftverwaltungen angestellt waren und seit 1900 als Beisitzer in der Handwerksverwaltung tatig waren. A m 12. M a r z 1904 faBte die Deputiertenversammlung einen BeschluB, nach d e m N o v i k o v und Skvorcov beschuldigt wurden, in den Jahresberichten von 1893 bis 1899 Falschungen v o r g e n o m m e n глд haben, wofur sie vor Gericht gebracht werden sollten. Der Stadthauptmann setzte diesen BeschluB der Deputierten auBer Kraft. D e r Verwaltung w a r es gelungen, diese Beisitzer uber funf Jahre ohne Wiederwahl im A m t zu lassen. Als im Juli und August 1906 die Wiederwahl stattfand und andere Beisitzer gewahlt wurden, lieB die Verwaltung die N a m e n der neu 434 Delo po ukazu Senata po zalobe S. Peteburgskogo vremenno-cechovogo remeslennika Ivanova na ostavlenie S. Peterburgskim gorodskim prisutstviem v sile nepravirnych vyborov zasedatelej v mestnoe remeslennoe upravlenie ot pricislennych к vremennym cecham remeslennikov (1885-1886), in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2254,1. 10. 436 gewahlten Beisitzer nicht veroffentlichen . SchlieBlich w u r d e n N o v i k o v u n d Skvorcov aus ihrem A m t entlassen. Allerdings ware es verfehlt, mit dieser Entlassung v o n N o v i k o v u n d Skvorcov alle MiBstande in der allgemeinen Handwerksverwaltung erklaren zu wollen. GewiB trug die Handwerksverwaltung als eine obere Instanz einen Teil der Verantwortung. Sie wies aber darauf hin, daB die Zunftverwaltungen den groBeren Anteil an der Verbreitung des AmtsmiBbrauchs hatten. Tatsachlich verfugte die Handwerksverwaltung an die Zunftverwaltungen mehrmals, namlich am 14. Marz, 3 1 . M a i , 15. Juni, 2 6 . Oktober und 26. November, am 20. und 2 8 . D e z e m b e r 1901, am 16. und 2 3 . Januar, 5. Februar und 7. Juni 1902 und am 2. und 16. Januar 1903, die Verzeichnisse der Lehrlinge und Gesellen korrekt zusammenzustellen. Diese Verzeichnisse w u r d e n schlieBlich von den Zunftversammlungen genehmigt, so daB nach der Vorstellung der Handwerksverwaltung keiner daran schuld war, daB die Steuern nicht vollstandig eingetrieben worden waren. D a s klingt w e n i g tiberzeugend, da die Handwerksverwaltung selbst die obere Kontroll- und Verwaltungsstelle und somit mitverantwortlich w a r . Die Frage, wie es den Beisitzern gelungen war, funf Jahre lang o h n e Bestatigung im A m t zu bleiben, kann nur dadurch erklart werden, daB sie starke R u c k e n d e c k u n g durch Handwerksverwaltung und Stadthauptmann hatten. Deren Beistand garantierte den Beisitzern Straflosigkeit: V o n 1901 bis 1906 fand uberhaupt keine Wahl der Beisitzer start. A n dieser Stelle ware es im Z u s a m m e n h a n g mit der Problematik der zwei Beisitzer v o n seiten der zeitweiligen H a n d w e r k e r a n g e b r a c h t zu b e m e r k e n , daB die zustandegekommene Gleichberechtigung der zeitweiligen H a n d w e r k e r in den Standesangelegenheiten nicht dazu fuhrte, die AmtsmiBbrauche in der Handwerksverwaltung zu beseitigen. Dies war ein gesamt soziales P r o b l e m , das sich nur im Z u g e der Reform des Standes der Zunfthandwerker bzw. seiner Beseitigung teilweise losen lieB und wofur viel Zeit gebraucht wurde. Uberhaupt war es ein Btindel von Problemen, das durch patriarchale Mentalitat, vetternwirtschaftliche Gewohnheiten und nationale Z u - bzw. A b n e i g u n g e n spezifiziert und kompliziert wurde. A m 2 5 . Januar und am 15. Mai 1901 ging der Handwerksalteste Timofej A. Zagrebin mit d e m Vorschlag z u m Stadthauptmann, alle Handwerker mosaischen Glaubensbekenntnisses nicht mehr zur Wahl in die H a n d w e r k s - und 437 436 ztaloba S. Peterburgskogo vremenno-cechovogo mastera perepletnogo remesla Aleksandra Aleksandrovica Villeval'da к ministru torgovli i promySlennosti ot 20 avgusta 1906, in: RGIA, f. 23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, kasaju&imsja S. Peterburgskoj remeslennoj upravy (8. September 1906-3. September 1913), hier 1. 2f. 437 Ob'jasnenie v sobranie vybornych S. Peterburgskogo remeslennogo ob§6estva ot predsedatelja, 61enov i zasedatelej S. Peterburgskoj remeslennoj upravy ot 3 marta 1904, in: Ebd., 1. 60. 438 Zunftverwaltungen z u z u l a s s e n . Als die G e n e h m i g u n g v o m Stadthauptmann gegeben wurde, n a h m die Verwaltung sie z u m AnlaB, alien zeitweiligen Handwerkern dieses Wahlrecht zu entziehen. Erst a m 7. D e z e m b e r 1904 fiel die Entscheidung des Senats uber die Zulassung der zeitweiligen H a n d w e r k e r zur Wahl in die Amter der Zunftverwaltungen. Dagegen w u r d e ihnen das Teilnahmerecht an der Wahl in die Amter der Handwerksverwaltung und der Deputierten - wie auch fruher - v e r w e h r t . Das heiBt, daB die zeitweiligen Handwerker, n a c h d e m sie ihre Rechte zuruckerhalten hatten, w i e d e r z u m Stand des Jahres 1846 zurtickgekehrt waren, als sie das Recht b e k o m m e n hatten, die zwei Stellen der Beisitzer in der allgemeinen Handwerksverwaltung zu besetzen. 439 5.5 Die Gerichtsbarkeit der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g Seit Einfuhrung der Zunfte 1722 oblag die Bestrafung der H a n d w e r k e r allein dem Stadtmagistrat, wobei die Zunftaltesten, w e n n sie z u m dritten Mai die Zunftregelungen verletzten, zur Galeerenstrafe verurteilt w u r d e n . N a c h dem Handwerksstatut von 1785 konnte die Meisterversammlung neben dem Verhangen von Geldstrafen bei VerstoBen gegen den Qualitatsstandard und gegen die V e r w a l t u n g Gesellen und Lehrlinge fur ein halbes Jahr in eine Verwahranstalt schicken. Diese Strafe sollte die Meisterfrauen und Tochter vor d e m „verbotenen U m g a n g " (zapresdennoe obchozdenie) mit Gesellen und Lehrlingen s c h u t z e n . Die Befugnisse der Meisterversammlung lagen also sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht. In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts wurden die Befugnisse des Standesgerichtes im Strafrecht erweitert. Leider laBt sich das nicht mit einem entsprechenden Gesetz belegen, ist aber aus den Beschltissen des Standesgerichtes zu ersehen, das Meister oder Gesellen zu Gefangnisstrafen und auch zur V e r b a n n u n g verurteilen konnte. 440 441 Die hohen Befugnisse des Standesgerichtes der Zunfthandwerker trugen dazu bei, daB die Handwerksverwaltung unter den Handwerkern der Stadt hoch angesehen war, wodurch auch die Wirksamkeit der Verwaltungsentscheidungen hoher war. 438 Raport ministra vnutrennich del v pravitel'stvennyj Senat ot 6 ijunja 1902, in: RGIA, f. 1287, op. 44, d. 860: Po zalobe vremenno-cechovych masterov Andreja Karpenko, Konstantina Burkevica, Nikolaja Basova, Alekseja Ivanova, Georgija Kruglova i drugich na nedopuScenie udastija v vyborach na dolznosti po S. Peterburgskomu remeslennomu upravleniju (15. Marz 1902 - 15. Juni 1905), hier 1. 2. 439 Vypiska iz proekta praviterstve:inogo Senata ot 7 dekabrja 1904, in: RGIA, f. 1287, op. 44, d. 860: Po zalobe Andreja Karpenko, hier 1. 7. 440 PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 3980, S. 664f. 441 PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 16187, paragraf 123, punkt 99, 107, 111, S. 378f. Bis 1850 konnte das Schwurgericht (sud prisjaznych) Handwerksversammlung gewahlten 24 Geschworenen mit den v o n der (dobrosovestnyjprisjaznyj) aus dem Handwerkerstand den schuldigen H a n d w e r k e r zur Bestrafung in die A r m e e schicken, nach Sibirien verbannen, zu einer dreimonatigen Gefangnishaft verurteilen oder eine administrative Strafe verfugen. Damit die Entscheidung des Standesgerichtes Gultigkeit b e k a m , sollte eine absolute Mehrheit bzw. 2/3 der G e s c h w o r e n e n der Strafe zustimmen. Im Jahre 1850 begrenzte das n e u e Handwerksstatut ihre Gerichtsbarkeit und lieB nur administrative Verfahren zu, die 442 als auBerste Bestrafung den AusschluB des Schuldigen aus der Zunft v o r s a h e n . Der Trend in der Standespolitik seit der Einfuhrung der neuen stadtischen Selbstverwaltung 1785 war es, die staatliche Verwaltung mit der Verlagerung eines Teils ihrer K o m p e t e n z e n auf die Standesverwaltungen zu entlasten, w o d u r c h 443 sie Teil des Staatsapparates w u r d e n . Mit den Selbstverwaltungsreformen vollzog sich aber seit 1785 ReformationsprozeB nicht nur ihre Verstaatlichung, auch ein die Verbesserung des des „Fur-alles-zustandig-sein" der des Verwaltungssystems Verwaltungsmanagements. Das Prinzip bzw. sondern zarischen Autokratie fuhrte sich selbst ad absurdum: so sollten z. B . in den 1820er Jahren Beurlaubungsgenehmigungen fur die Schauspieler der kaiserlichen Truppen per Zarenresolution ratifiziert werden, w a s den Zaren von ungleich wichtigeren Staatsgeschaften abhielt. Ahnliches trifft auch fur die Minister zu, v o n den niederen Organen gar nicht zu sprechen. E s begann eine Zeit, in der das rechtliche System und die Staats- und Selbstverwaltungsamter aus innerer Notwendigkeit heraus umstrukturiert wurden. Mit der Gerichtsreform, der Einfuhrung des des Zivilgerichtes im Jahre 1861 und der Abschaffung Stadtmagistrates im Jahre 1866 wurden endgultig die Befugnisse des Standes- und Zivilgerichtes deutlich abgegrenzt. E s wurden klare Grenzen zwischen Zivil-, Straf- und A d m i n i strati v r e c h t gezogen, Handwerksverwaltung und Rechtsprechung laut dem Prinzip der funktionalen Gewaltenteilung auseinander dividiert, das Standesgericht verlor seine B e d e u t u n g und w u r d e in seinen Kompetenzen deutlich beschnitten. Das Bestreben der Regierung, die Staatsverwaltung groBtmoglich zu entlasten, laBt sich mit einer A n t w o r t des Justizministers belegen, als er bezuglich der Frage, ob die Meister der Malerzunft den BeschluB der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bei der Stadtduma revidieren durften, erklarte, daB es sinnvoll ware, den Streit ohne groBen Zeitverlust bei der Handwerksverwaltung direkt zu losen. Der BeschluB 2MVD, dast' 2, 1853, S. 105. der Handwerksverwaltung gait also fur die Handwerker der Malerzunft als 444 bindend . Seit dem Anfang der burgerlichen Reformen in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts verloren etliche Paragraphen der Handwerkssatzung an Aktualitat. Unter anderem w u r d e , wie gesagt, die Gerichtsbarkeit der Handwerksverwaltung begrenzt, wodurch das Standesgericht der Handwerker z u n e h m e n d an Bedeutung verlor. Als der Stadtmagistrat mit der Reorganisation der Stadtduma 1866 abgeschafft w u r d e , u b e r n a h m e n zivile Institutionen wie das Kreisgericht seine Gerichtsfunktionen, w o der GerichtsprozeB im Beisein von Staatsanwalt, Richter und Beisitzer stattfand . Die Handwerksverwaltung durfte z. B . nicht m e h r uber die Fragen der V e r b a n n u n g und der Gefangnisstrafe fur H a n d w e r k e r entscheiden. Die hochste Prioritat der Handwerksverwaltung blieb es, die Meister in den Stand der Zunfthandwerker aufzunehmen, bzw. sie wegen „standeswidrigen B e n e h m e n s " aus d e m Stand auszuschlieBen. Als die K o m p e t e n z der stadtischen Selbstverwaltung mit der neuen Stadtordnung von 1870 begrenzt und unter starkere Kontrolle des Staates gestellt wurde, wurde die standische Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r aus der K o m p e t e n z der Stadtduma h e r a u s g e n o m m e n und unmittelbar der Gouvernementsverwaltung unterstellt . Letztere entschied daruber, ob ein Mitglied der Handwerksverwaltung sich strafbar gemacht hatte und vor Gericht gestellt werden muBte. Als diese Reformen durchgefuhrt wurden, reagierte der Handwerkerstand empfindlich auf die Kompetenzbegrenzung des Standesgerichtes, was seinen Niederschlag im BeschluB der Deputiertenversammlung im Frtihling 1871 uber die Wiederaufhahme derannullierten Artikel 235 bis 247 ins Handwerksstatut f a n d . A u c h diesmal antwortete der Justizminister, daB es 445 4 4 6 447 „der allgemeinen Richmng der Rechtsreform entspreche, die Gerichtskompetenz der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g nach Moglichkeit zu 444 Peterburgskij generalgubernator ministru vnutrennich del ot 30.9.1862, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 208: О porjadke obzalovanija postanovlenij ob§£ich remeslennych uprav po sporam remeslennikov odnogo cecha, 1. 1-4, hier 1. 2. 445 PSZ RI-2, Nr. 16282, aus: I. Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie, Bd. 2, S. 172. 446 Cirkuljar ministra vnutrennich del TimaSeva vsem gubernatoram ot 14.12.1877, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1402: Po voprosu о torn, kakie ucrezdenija dolzny rassmatrivat' ialoby, hierl. 1,32. 447 Eine ahnliche, hochst negative Einstellung zu den neu eingefiihrten Zivilgerichten hatten die Moskauer Zunftmeister, die ihre kategorisch abweisende Haltung wahrend des Kongresses der Funktionare der technischen Ausbildung in St. Petersburg im Jahre 1889 auBerten, in: Iordan, Udeniki, S. 14. begrenzen, im weiteren die Standesgerichte uberhaupt abzuschaffen und ihr die L o s u n g aller wichtigen Fragen wie z. B . gegenseitige Anklagen der Meister, der Gesellen und der Lehrlinge zu e n t z i e h e n " . 448 Symptomatisch ist, daB in dieser Frage die zeitweiligen H a n d w e r k e r die gleiche Einstellung wie die standigen hatten und ebenfalls vorschlugen, ein H a n d w e r k s bzw. Standesgericht bei der prqjektierten „St. Petersburger Gesellschaft der 449 Handwerksindustrie" einzufuhren . D e m Standesgericht blieb nur die Kontrolle iiber die korrekte Ausfuhrung des H a n d w e r k s und das Recht, die Handwerker im Fall von Gesetzeswidrigkeiten gegen die Handwerksverwaltung z u m Wohl der Handwerkskasse zu bestrafen. Die Untersuchung aller anderen Angelegenheiten unterlag der K o m p e t e n z allgemeiner Gerichte. A l s Folge dieser Reformen wurden die Beziehungen zwischen dem Meister einerseits und den Gesellen und Lehrlingen andererseits wesentlich gelockert. Die fruhere Benachteiligung der Gesellen und Lehrlinge zugunsten der Meister schlug in eine andere Richtung aus. Die Zivilgerichte stellten sich jetzt fast immer auf die 450 Seite der „unterdriickten" Lehrlinge und G e s e l l e n . Die B e s c h n e i d u n g der Gerichtskompetenzen der Handwerksverwaltung und die Ubergabe der wichtigsten Entscheidungen in Streitfragen des H a n d w e r k s an die Kreisgerichte, die z u d e m w e n i g K o m p e t e n z in dessen spezifischen Fragen besaBen, fuhrte zu einer Verschlechterung der Betriebsdisziplin. Nach den Worten eines Zeitgenossen im Jahre 1900 waren die Meister den Launen der Gesellen und Lehrlinge schutzlos ausgeliefert. Die letzteren gehorchten den A n w e i s u n g e n der Meister nicht und hielten sich k a u m noch an die Vertragsbedingungen. Die fehlende klare A b g r e n z u n g der R e c h t e der Meister einerseits und der Lehrlinge und Gesellen andererseits schuf den N a h r b o d e n fur standige MiBverstandnisse zwischen ihnen. Die Meister bemangelten eine angebliche Einseitigkeit, da ihren Angestellten „viel zu viel Freiheit und R e c h t e " gegeben wurden. Allerdings hatten sie zumindest teilweise Recht, da der eigenwillige und plotzliche Abbruch des Vertrages und ein 448 Po chodatajstvu sobranija vybornych remeslennogo soslovija о razresenii remeslennomu upravleniju prinimat' к svoemu razbiratel'srvu dela po prostupkam, oznacennym v stat'jach 235-247 remeslennogo ustava, in PSZ RI-2, Bd. 11, in:f. 1287, op. 38, d. 1283 (1870-1871), 1. 2. 449 450 Golos 13.8.1871, S. 1. Vgl. A. I. Jadrov, Golos remeslennika. Ob upadke remeslennoj promySlennosti. St. Petersburg 1900. vorzeitiger A b g a n g der Lehrlinge und Gesellen zu anderen Meistern an der T a g e s o r d n u n g war. 5.5.1 Das RechtsbewuBtsein der H a n d w e r k e r Ein Indikator dafur, inwieweit sich die Lage des H a n d w e r k s in bezug auf die Verrechtlichung der Verhaltnisse zwischen Meister und Gesellen bzw. Lehrlingen anderte, ist die Arbeit der provisorischen K o m m i s s i o n in St. Petersburg in den Jahren 1858/1859 zur Untersuchung der Streitfalle zwischen A r b e i t g e b e m und Arbeitnehmern. E s ist unbestri tten, daB die Handwerker eine bestimmte Form v o n RechtsbewuBtsein hatten. Hier geht es darum, welcher Art dieses BewuBtsein war. Im Allgemeinen laBt sich sagen, daB ihr RechtsbewuBtsein noch stark an patriarchalischen Werten orientiert war und sie schriftliche V e ф f l i c h t u n g e n bzw. schriftliche F o r m e n v o n rechtlichen V e ф f l i c h t u n g e n g e g e n u b e r Gesellen und Lehrlingen vermieden. Die Einberufung v o n Sonderkommissionen war eine tibliche Form, die staatlichen Gerichtsinstitutionen, die mit ihrer Aufgabe vollig uberfordert waren, zu entlasten. D e s w e g e n w a r die oben genannte nicht die einzige Kommission, sondern eine von vielen, die sich in mtindlichen Schlichtungsverfahren (slovesnyj annahm 451 sud) der Streitfalle . In unserem Fall w u r d e n 936 Klagen mit einem Streitwert von 497.362 Rubeln untersucht. 4 6 0 Verfahren fuhrten zu einer gultigen Einigung, der Streitwert dieser Falle lag bei 399.362 Rubel. Insgesamt wurden rund 4.000 Klager und 1.000 Beklagte gezahlt. Unter den Klagern waren meistens die Artelmitglieder, die saisonal im Baugewerbe tatig waren, aber auch die Handwerker bzw. Handwerksgesellen aus den Werkstatten der Zunftmeister, weil das Standesgericht es vermied, sich in die „inneren Betriebsangelegenheiten" der Zunftmeister 452 e i n z u m i s c h e n . Interessant ist, wie sich die Klager und Beklagten verhielten, welche Mentalitat sie hatten und welche Faktoren das Schlichtungsverfahren erschwerten bzw. erleichterten. Generell bleibt festzustellen, daB der M a n g e l „an 451 Eine Shnliche Kommission untersuchte 1881 nur in St. Petersburg uber 3000 Klagen der Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen gegen ihre Arbeitgeber: RGIA, f. 1405, op. 70 (1872 g.), d. 7290,1. 184;f. 20, op. 2, d. 1802,1. 41, in: Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 192. j e d e r elementaren rechtlichen K e n n t n i s " erschwerte. 453 die Arbeit der K o m m i s s i o n enorm Die Klager fugten in der Regel selbstgefertigte fehlerhafte Berechnungen als unwiderlegbaren Beweis bei, die nicht v o m Arbeitgeber bestatigt w u r d e n , und „bekraftigten" sie mit eigenen Aussagen. M a n c h m a l kannten sie nicht einmal den N a m e n oder die Adresse des Beklagten. Wahrend des Schlichtungsverfahrens sahen die Klager nicht ein, daB zwischen der gerichtlichen und polizeilichen Obrigkeit ein prinzipieller Unterschied bestand, so daB der Klager nach d e m Schlichtungsverfahren vollig verstort und sehr unzufrieden war, w e n n er keine Ruckerstattung seitens des Beklagten erhielt. Es war unmoglich, ihm zu erklaren, daB die anderen Klager ihr Geld sofort erhielten, weil ihre Falle gutlich geschlichtet wurden. D a g e g e n sollte in ihrem Fall entweder die Polizei eingreifen oder das Gericht das Geld eintreiben. M i t den Beklagten w a r es nicht viel besser bestellt. Bevor sie ihre Erklarungen zum Streitfall auBerten, schalten u n d beschimpften sie den Klager leidenschaftlich. Der K o m m i s s i o n gegenuber auBerten sie ihre MiBstimmung und das Unverstandnis dafur, daB sie als allseits geachtete und solide M e n s c h e n gestort und unnotig vor die Kommission geladen wurden, wobei ihre Erwiderungen manchmal uber die zulassigen Grenzen hinausgingen und sie sich unanstandig b e n a h m e n . Uberhaupt war unter den mittleren und niederen Schichten der Bevolkerung eine negative Einstellung zu den Gerichten ublich. Im Jahre 1894 schrieb V. Iordan: 454 „Im allgemeinen verabscheut das einfache Volk die Gerichte und alles, w a s mit ihnen zu tun hat. [...] Der gerichtliche Btirokratismus schreckt es ab. AuBerdem ist zu bemerken, daB ein einfacher M e n s c h , der kein Geld hat, den GerichtsprozeB vermeidet, weil er mit G e l d a u s g a b e n verbunden i s t " . 455 Infolge des oben Genannten wird verstandlich, mit welchen Schwierigkeiten die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g es zu tun b e k o m m e n hatte, w e n n sie alien Streitfallen unter den Zunfthandwerkern nachgegangen ware, deren es in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts u m die 50.000 gab. AuBerdem w u r d e die Ausfuhrung der Bestimmungen des Standesgerichtes durch die patriarchale D e n k w e i s e der Handwerker erheblich erschwert. Diese fand ihren A u s d r u c k z. B . in der mundlichen Form des Vertragsabschlusses zwischen Gesellen, Lehrlingen und 453 О dejstvijach vremennoj komissii [...] dlja razbora del mezdu nanimateljami i rabodimi, so vremeni её otkrytija do 1 maja 1859 goda, in: 2MVD, 1859,6. 38, otd. 2, S. 1-12, hier S. 11. 454 Ebd. Meistern, die bis ins spate 19. Jahrhundert weit verbreitet war. Die traditionelle Regelung von rechtlichen Angelegenheiten in mundlicher F o r m fuhrte dazu, daB den schriftlichen Vertragsregelungen bzw. den Vorschriften der Handwerksverwaltung wenig Beachtung geschenkt wurde. D e s w e g e n ist es kein Zufall, w e n n der Leiter der Sonderkommission, Stackelberg, betonte, daB die neuen Regeln fur den Handwerksbetrieb genug Freiraum geben sollten, u m das Volksleben nicht zu beengen, d e m der Formalismus in den rechtlichen Fragen fremd s e i . DaB eine A b n e i g u n g gegen schriftliche Regelungen und Vertrage nicht nur fur den Handwerkerstand typisch war, erlautert an dieser Stelle ein Beispiel aus den Geschaftspraktiken der St. Petersburger Kaufleute. Im Jahre 1843 gingen an den Innenminister gleichzeitig zwei Vorschlage uber die Einrichtung eines Maklerkontors fur den AbschluB schriftlicher Vertrage am Viehmarkt auf der Petersburger Seite, da durch die uberwiegend mundliche Absprachen zwischen Handlern und K u n d e n Betriigereien Ttir und Tor geoffhet waren. Der Verkaufer lieB sich nach der Ablieferung der Ware im besten Fall eine Quittung bzw. einen Wechsel v o m Kaufer geben oder g a b sich mit einer mtindlichen Absprache zufrieden. N a c h d e m Ablauf der Zahlungsfrist zogerte der Kaufer die Z a h l u n g so weit wie moglich hinaus und zahlte letztlich nur 1/3 des abgesprochenen Preises, womit sich der Verkaufer abfinden sollte, weil er keine schriftlichen Beweise in der Hand hatte. Diese Geschaftspraktiken riefen Verunsicherung auf dem Markt hervor und trieben manche Kaufleute in den Ruin, w a s der Fall der Kaufmannsfamilie Panov verdeutlicht . 456 457 In der sozialen und wirtschaftlichen Schicht der Handwerker, j a selbst in der Selbstverwaltung der Handwerker, wurden rechtliche Regelungen der oberen Regierungsstellen oft durch „Nichtstun" blockiert. Die patriarchalen Denkmuster der Meister fuhrte zu einer Stagnation des Handwerksbetriebes, die v o n der Offentlichkeit nicht mehr geduldet wurde. Die unzureichende rechtliche Lage begunstigte das Handwerksstatut selbst, in dem einige Artikel veraltet waren. So bemerkte Staatsrat Smirnov 1843, daB es eine Z u m u t u n g sei, den Paragraphen 619 im H a n d w e r k s s t a t u t weiter bestehen zu lassen. Er gestattete dem Handwerksoberhaupt, Meister, die gegen das Handwerksstatut verstoBen hatten, auf besonders perfide Weise zu bestrafen. So konnten sie mit einem an ihrem 456 457 Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 317. Vgl. die Vorschlage des Kollegienregistrators Michajlov und des B6rsenmaklers und Kaufmanns Ivan Samojlov uber die Einrichtung des Maklerkontors auf dem Mytnyj dvor (Vieh- und Lebensmittelmarkt auf Petersburger Seite) in 1840er Jahren, aus: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 122: Po predlozeniju kolezskogo registratora Michajlova, ob ustrojstve na Mytnom dvore v S. Peterburge maklerskoj kontory dlja zajavlenija sdelok meidu pokupS£ikami i prodavcami raznych tovarov optom (1843-1850), 1. 6; Ebd., d. 128: Ob opredelenii na skotoprigonnyj dvor v S. Peterburge osobogo maklera dlja zajavlenija sdelok meidu pokupateljami i prodavcami prigonjaemogo v stolicu skota (1843), 1. 5. Кбгрег angebrachten Schild, auf dem ihr Vergehen angegeben war, vor dem Verwaltungshaus offentlich zur Schau gestellt w e r d e n . 458 5.6 Die finanzielle Lage der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die Entwicklung des V e r w a l t u n g s a p p a r a t e s Die VergroBerung der Anzahl der Zunfte vollzog sich von 1722 bis zu den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts kontinuierlich. 1722 gab es 19 Zunfte mit 1566 Handwerkern, 1766 - 53 Zunfte mit 1159 Handwerkern, 1789 - 57 Zunfte mit 7102 Handwerkern, 1815 55 Zunfte mit 10168 H a n d w e r k e r n und 1825 67 Zunfte mit 12126 Handwerkern. In der Zeit danach vollzog sich dann eine Verringerung der Anzahl der Zunfte, obwohl in der Stadt m e h r als 100 Gewerbearten vorhanden waren. 1840 gab es 65 Zunfte, 1850 - 3 5 , 1861 - 34, 1866 - 23 (117 Gewerbearten), 1880 - acht (112 Gewerbearten) und 1916 neun Ziinfte . In einer Zunft wurden mehrere H a n d w e r k e vereinigt. Mit dieser MaBnahme beabsichtigte die Regierung, den nach ihrer Vorstellung zu groBen Verwaltungsapparat der H a n d w e r k e r zu verkleinern, u m die Kosten fur dessen Unterhalt zu senken. Etwa 3 5 0 Angestellten waren in der H a n d w e r k s - und Zunftverwaltung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beschaftigt. 1870 waren in der Verwaltung 302 durch die zeitweiligen Meister u n d 57 durch die standigen Meister oder insgesamt 359 Amtsstellen besetzt. 1877 gab es 350 Angestellte, unter ihnen acht Alteste (funf standige und drei zeitweilige), acht Steuereinehmer (5:3), acht Stellvertreter der Zunftaltesten (4:4), 242 vereidigte Meister (27:215), 81 Zehnerfuhrer (desjatskij) (7:74) und drei M a k l e r (2:1) oder im Gesamtverhaltnis 50 standige Meister zu den 3 0 0 zeitweiligen Meistern. Ein Verwaltungsapparat mit 359 Angestellten fur rund 30.000 Zunfthandwerker im Jahre 1870 und mit 350 Angestellten fur etwa 45.000 Zunfthandwerker im Jahre 1877 scheint nicht so groB zu sein, wie es seitens der Regierung immer betont wurde. A u f einen Angestellten gab es 1870 dementsprechend 84 Handwerker und 1877 sogar 129 Handwerker. Es wurden trotzdem drastische Ktirzungen im Verwaltungsapparat vorgenommen. Im Jahre 1880 bestand das A m t der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g aus einem Vorsitzenden b z w . einem Standesaltesten, zwei Mitgliedern der standigen Handwerker und zwei Beisitzern der zeitweiligen Handwerker. Die Kanzlei der Verwaltung w u r d e mit den zwei Abteilungsleitern und ihren beiden Stellvertretern, einem Buchhalter und seinem Stellvertreter, einem Zehnerfuhrer des offentlichen Hauses, einem Archivar u n d Journalisten in einer Person, einem Registrator, acht Schreibern, einem Pfortner und funf 459 Po zapiske (..) Smirnova, 1. 91. RGIA, f. 1286, op. 5,d. 200; Wachtern besetzt. D i e Zunftverwaltungen bestanden aus acht Zunftaltesten, acht Steuereinehmern, acht Stellvertretern des Zunftaltesten, acht Zehnerfuhrern und drei Maklern. Insgesamt gab es 53 Amter, die v o n 50 standigen u n d v o n nur drei zeitweiligen Handwerkern (zwei Beisitzer und ein Makler) besetzt wurden. Die zeitweiligen H a n d w e r k e r wurden aus der Verwaltungssphare, die sich jetzt ganzlich in den H a n d e n der standigen Handwerker befand, fast vollig verdrangt. Bei einer Gesamtzahl der Zunfthandwerker von rund 47.000 k a m e n jetzt auf einen Angestellten 887 Handwerker. Die Zahl der Zunfthandwerker stieg kontinuierlich an, womit die E i n n a h m e n der Verwaltung wesentlich anwuchsen, wobei die A n g a b e n v o n Jahr zu Jahr erhebliche Unterschiede aufweisen, was auf eine uneinheitliche Buchfuhrung der Verwaltung гшйскгигйпгеп ist. In den Jahren 1874 und 1886 betrugen z. B . die Gesamteinnahmen 761.787 bzw. 364.134 Rubel. Mit groBer Wahrscheinlichkeit wurden in diesen Jahren die Immobilienwerte und die E i n n a h m e n addiert. W e n n die Immobilienwerte 1874 und 1886 abgezogen werden, ist es moglich, die Einnahmen der Handwerksverwaltung zu ermitteln. Sie betrugen fur das Jahr 1874 164.134 Rubel und fur das Jahr 1886 142.056 R u b e l 460 . Seit 1880 vermehrte sich das V e r m o g e n der Verwaltung rasant. Dies geschah vor allem deswegen, weil die Finanzen der Handwerksverwaltung verstarkt kapitalisiert waren, w a s einer allgemeinen Entwicklung des Geldmarktes und des privaten B a n k w e s e n s entsprach. Die Verwaltung fing an, Wertpapiere zu erstehen und das Geld in der B a n k zu verzinsen. In der Tabelle im Tabellenanhang wird 461 diese Entwicklung fur die Jahre 1886 bis 1890 v e r a n s c h a u l i c h t . Folglich w u c h s das Kapital der Handwerksverwaltung in Wertpapieren in nur sechs Jahren v o n 7.797 auf betrachtliche 85.056 Rubel an und sank dann in den folgenden zwei Jahren auf74.561 Rubel. D a s heiBt, daB die Handwerksverwaltung die Vorteile und die daraus resultierenden Moglichkeiten der Zusammenarbeit mit der Bank.wahrnahm. Es ermoglichte ihr z. В., Kredite fur den Bau von Hausern aufzunehmen, wodurch die Handwerksverwaltung in den Besitz einiger Immobilien gelangte. Fur die Jahre 1886 bis 1891 gibt es dann eine detaillierte Darstellung des 462 V e r w a l t u n g s v e r m o g e n s . In nur funf Jahren stieg das V e r m o g e n der Verwaltung um 179,5% von 104.171 auf 186.976 Rubel im Jahre 1886 an. Dieses W a c h s t u m s t e m p o kann j e d o c h nicht auf die ganze Zeitperiode v o n der Mitte des 460 Vgl. Tabelle 50 im Tabellenanhang. 461 Siehe Tabelle 51 im Tabellenanhang. 19. Jahrhunderts bis 1914 bezogen werden, weil es j e nach Jahr wesentliche Unterschiede gab. Eine A u s n a h m e stellt z. B . das Jahr 1890 dar, da die Vorjahressumme nach einem kontinuierlichen A n w a c h s e n bis auf 167.062 Rubel plotzlich auf 115.712 zuriickfiel. In der Darstellung der finanziellen Lage der Handwerksverwaltung lassen sich in der Entwicklung ihrer Finanzen drei Perioden erkennen. W a h r e n d der ersten Periode zwischen 1785 und 1846 waren die Finanzen der Handwerksverwaltung vollig in den Handen der Handwerksoberhaupter, die unkontrolliert iiber die Mittel verfugten und halbwegs fur eine ordentliche Buchfuhrung sorgten. M i t der Einfuhrung der n e u e n offentlichen Verwaltung nach 1846 bekam die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eine ordentliche Buchfuhrung oder sie konnte sich wenigstens nach den Musterbiichern richten. Der Handwerksalteste wurde dabei der Kontrolle der Deputiertenversammlung unterworfen. Seit den 1860/70er Jahren bzw. w a h r e n d der dritten Periode erfuhren die Finanzen der Handwerksverwaltung, wie gesagt, eine erhohte Kapitalisierung, da sich der prozentuale Bargeldanteil in der Handwerkskasse generell verminderte und der Anteil an festverzinslichen Wertpapieren und fliissigen Geldmitteln in der B a n k vergroBerte . 463 In den 1860er Jahren fing die Verwaltung an, einige Hauser zu bauen, w o d u r c h sie in den Besitz einiger wertvoller Immobilien im Zentrum der Stadt kam. In den 80er Jahren war die Verwaltung ein groBer Immobilienbesitzer. Der Wert zweier Hauser am Vladimirplatz, in denen das A r m e n h a u s und die Alexandrinische Schule untergebracht waren, betrug im Jahre 1881 365.552 Rubel, im Jahre 1886 498.360 Rubel u n d 1888 499.310 Rubel. Insgesamt betrug 1886 das V e r m o g e n der Verwaltung mit Immobilien, beweglichem Eigentum und Bargeld 761.787 Rubel. Der Wert von vier Hausern betrug 1888 619.731 Rubel und funf Jahre spater schon 664.371 R u b e l . Insgesamt belief sich das V e r m o g e n der Handwerksverwaltung im Jahre 1893 auf 858.435 Rubel. V o n 1905 bis 1908 vollzog sich eine deutliche Verbesserung der finanziellen Lage der russischen Handwerksverwaltung, die dem neuen Standesaltesten A . A . Ivanov, der 1905 Zagrebin in seinem A m t abloste, zu verdanken war. In drei Jahren wurde das Kapital der Handwerkskasse auf 113.781 Rubel vergroBert. D a n k eines geordneten Wirtschaftens u n d einer strengen Kontrolle wurden rund 50.000 Rubel eingespart . In den darauffolgenden Jahren, als die Buchhaltung in Ordnung gebracht wurde, w i e s e n d i e E i n n a h m e - u n d A u s g a b e b i i c h e r d e r St. Petersburger 464 465 463 Siehe Tabelle 53 im Tabellenanhang. 464 Doklad Konstantina DmitrieviCa Kudrjavceva, in: Trudy vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promyslennosti 1900 goda, torn 2, St. Petersburg 1900, S. 225. 465 Otdet remeslennoj upravy za 1907 god. St. Petersburg 1908, S. VI-VIII. H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eine durchaus positive Bilanz auf. D a s Guthaben der Verwaltung bewegte sich in einem R a h m e n zwischen 64.577 Rubel im Jahre 1908 und 78.555 Rubel im Jahre 191 1 . Eine Vorstellung davon, wie bedeutend die Einnahmen der St. Petersburger Verwaltung waren, kann durch deren Vergleich mit den E i n n a h m e n der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g in M o s k a u vermittelt werden. Im Jahre 1910 betrug das V e r m o g e n der St. Petersburger Handwerksverwaltung bereits 2.158.600 Rubel und im Jahre 1886 761.787 Rubel, w a s 2 8 3 , 6 % Z u w a c h s bedeutete. Diese S u m m e setzte sich im Jahre 1910 aus folgenden Anteilen z u s a m m e n : 1. Immobilien 2.000.000 Rubel, 2. Kapital - 109.600 Rubel, 3. anderes V e r m o g e n - 50.000 Rubel. Z u m Vergleich betrug das V e r m o g e n der M o s k a u e r Handwerksverwaltung im Jahre 1910 487.550 Rubel und bestand aus folgenden Teilen: Immobilien 399.464 Rubel u n d Kapital - 88.086 Rubel. Die Einnahmen betrugen 1908 80.047 Rubel, 1909 - 79.783 Rubel, 1910 - 90.497 Rubel, 1911 - 94.266 Rubel und 1912 113.565 R u b e l , wobei die St Petersburger Handwerksverwaltung im Jahre 1910 250.166 Rubel E i n n a h m e n hatte, w a s im Vergleich mit M o s k a u weitaus mehr war. 4 6 6 467 Seit 1910 wurden die Jahresberichte der St. Petersburger Handwerksverwaltung nicht regelmaffig verlegt. So erschien der Jahresbericht fur dieses Jahr erst 1913. Seit dem Anfang des Ersten Weltkrieges und in den Jahren der darauffolgenden Revolution sind fast keine Materialien uber die Handwerksverwaltungen zu finden. Es fehlen vor allem die Jahresberichte der Handwerksverwaltung, die reiches statistisches Material bieten. Dies ist damit zu erklaren, daB es zu j e n e r Zeit wichtigere Probleme fur das Zunfthandwerk gab, wie z. B . die Ausfuhrung der Staatsauftrage zur Herstellung von Munition, Kleidung und sonstiger Armeeausrustung. Die Regierung selbst richtete ihre Aufmerksamkeit fast ganzlich auf die Kriegsaufgaben. Es ist zu vermuten, daB sich die Anzahl der Handwerker, besonders der zunftigen, mit der M o b i l m a c h u n g von 1914 stark reduzierte, hatten eine bessere A u s b i l d u n g im Vergleich zur ersten Halfte des 19. Jahrhunderts, wodurch ihre K o m p e t e n z weit hoher war. 5.7 Zusarnmenfassung Die geschilderte Entwicklung der Selbstverwaltung der Zunfthandwerker zeigt, daB der Regierung nicht vollkommen gelungen war, die offentlichen Anstalten ihrer umfassenden Kontrolle zu unterwerfen, indem sie die Selbstandigkeit der Siehe Tabelle 54 im Tabellenanhang. Remeslenniki i remeslennoe upravlenie v Rossii. Pg. 1916, S. 38ff. 468 stadtischen Selbstverwaltung bestandig verringerte . Die starke Burokratisierung der offentlichen Anstalten laBt sich j e d o c h nicht bestreiten: die verbeamteten Verwaltungsmitglieder und der Standesalteste selbst, der einen Grad der zivilen Rangtabelle innehatte, verselbstandigten sich dermaBen, daB sie die Beschlusse der D e p u t i e r t e n v e r s a m m l u n g m e h r m a l s i g n o r i e r t e n . D i e s e n ProzeB der Verselbstandigung der Verwaltung begunstigte die neue Stadtordnung v o n 1870, da sie festlegte, daB die Handwerksverwaltung aus der administrativen Kontrolle der Stadtduma h e r a u s g e n o m m e n und unmittelbar der Gouvernementsverwaltung mit d e m Stadthauptmann an der Spitze unterstellt werden s o l l t e . Eine starke Abhangigkeit der Deputiertenversammlung von den oberen Regierungsstellen selbst laBt sich aber bezweifeln. Die Deputierten bewiesen mehrmals, w i e z. B . zwischen 1869 und 1871, daB sie auBerst entschlossen ihre Privilegien und Rechte verteidigen konnten, so daB sogar die Regierung manchmal machtlos war, etwas gegen sie zu unternehmen. 469 W a s das Problem der Gleichberechtigung der zeitweiligen H a n d w e r k e r anbetrifft, so gelang es diesen nicht, den Widerstand der standigen H a n d w e r k e r zu brechen und den Unwillen der Regierung bei der L o s u n g dieser Frage zu uberwinden. Die Erfolge der zeitweiligen Handwerker, so hatten z. B . zwischen 1846 und 1876 mehrere v o n ihnen das A m t des Zunftaltesten i n n e , konnten die allgemeine Situation der sozialen Benachteiligung nicht verandern. M e h r noch, die zeitweiligen H a n d w e r k e r wurden aus der Selbstverwaltung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fast vollig verdrangt. Dieser VerdrangungsprozeB vollzog sich bei gleichzeitiger Kurzung des Verwaltungsapparates. W e n n die Jahre 1 8 5 9 und 1880 miteinander verglichen werden, ist festzustellen, daB in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g einige Umschichtungen bzw. Kurzungen v o r g e n o m m e n wurden. Start der 37 Altesten und ihren Stellvertretern blieben 16, die acht Altesten und ihre Stellvertreter, ubrig. V o n 36 Steuereinnehmern u n d ihren Stellvertretern verblieben noch acht; von 61 Zehnerfuhrern ebenfalls nur noch acht. Die K u r z u n g des Verwaltungsapparates wurde wahrscheinlich aufgrund v o n SparmaBnahmen durchgefuhrt, die die standigen Handwerker zur M i n d e r u n g der EinfluBnahme der zeitweiligen Handwerker in den Zunften nutzen. Die KompromiBlosigkeit der standigen Meister spaltete den h a n d w e r k l i c h e n 470 471 468 Vgl. Nardova, Samoderzavie, S. 6. 469 Cirkuljar ministra vnutrennich del vsem gubernatoram ot 14 dekabrja 1877 g., in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1402: Po voprosu о torn, kakie utrezdenija dolzny rassmatrivat' ialoby na dolznostnych lie remeslennogo upravlenija i podvergat' ich predaniju sudu v gorodach, v koich wedeno v dejstvie Gorodovoe polozenie ot 16 ijunja 1870, hier 1. 32. 470 Jadrov, V zaSditu, S. VI. 472 Tragerkreis in zwei feindliche L a g e r " , w a s auch in Deutschland nach der EinfUhrung der neuen G e w e r b e o r d n u n g von 1849 der Fall war. Dieser sozialer Konflikt, der sich im K a m p f zwischen den standigen und zeitweiligen Handwerkern auBerte, war ahnlicher Natur. Die angespannte innenpolitische Situation RuBlands seit den 1870er Jahren und die sehr vorsichtige und zuriickhaltende Position der Regierung, in der konservative Krafte die Oberhand behielten, schafften auBerst ungunstige R a h m e n b e d i n g u n g e n fur eine soziale Reform des Handwerkerstandes von St. Petersburg. Die Zunfthandwerker hatten seit 1846 demokratische Erfahrungen gesammelt, v o n denen auch die Regierung hatte profitieren konnen, w e n n sie daran interessiert gewesen ware. Diese demokratischen bzw. liberalen Erfahrungen hatten namlich in das Organisationsprinzip der gewerbetreibenden Bevolkerung umgemiinzt werden konnen, wodurch die Abschaffung des Handwerkerstandes zumindest in den groBen Stadten nicht unbedingt notig gewesen ware. Eine B e d i n g u n g fur einen Neuaufbau der Handwerksselbstverwaltung ware die Gleichstellung von zeitweiligen und standigen Meistern gewesen. D a z u war die Regierung aber nicht bereit. 1901 kommentierte der russische Historiker D.D. Semenov die H a l t u n g der Regierung wie folgt: „Die stadtische Gesellschaft verlor den Glauben an bessere Zeiten. Schon seit vier Jahrzehnten [seit 1861, A.K.] wartet die Gesellschaft auf eine W a h l o r d n u n g in die D u m a und andere offentliche Anstalten, die nach d e m Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes begriindet w i r d " . 473 Dieses von der liberalen Intel ligenz lang ersehnte Prinzip der Allgemeinheit, das der Standegesellschaft widersprach, wurde nicht verwirklicht. W a r u m die Regierung die Zunfte ungeachtet heftiger Kritik an ihren „MiBbrauchen", besonders seit der Stackelbergschen Kommission, nicht abschaffte, m a g daran liegen. daB die Zunfte als ein Pfeiler der St. Petersburger Sozialordnung angesehen wurden, die auch als ein Mittel zur Bekampfung der Pauperisierung der Bevolkerung St. Petersburgs betrachtet w u r d e . Die Zunfte stellten einen wichtigen Teil der Standeordnung dar und wurden in konservativen 472 Vgl. Bergmann, Berliner, S. 130: „Ihr [die meisten Formen der ztinftigen Lebensgestaltung] Absterben verstarkte Шг viele Bereiche des Handwerks zwar zunachst die allgemeine Verzweiflung und Venvirrung sowie die durch Egoismus und Unverstandnis verscharfte Spaltung des handwerklichen Tragerkreises in zwei feindliche Lager, machte jedoch auch den Weg frei fur die Neuorientierung des Handwerks unter den veranderten Bedingungen des modernen Wirtschaftslebens und fur die Errichtung einer neuen berufsstandischen Ordnung". 473 Semenov, Gorodskoe samoupravlenie, S. 34. 474 Regierungskreisen als ein systemstabilisierendes Element w a h r g e n o m m e n . Es ist nicht zu vergessen, daB die russischen Regierungskreise sehr aufmerksam die Entwicklungen in Westeuropa verfolgten und letzten Endes doch selbst iiber die Zukunft der Ziinfte in RuBland entscheiden wollten. Die Entwicklung des Zunftwesens in Westeuropa verlief z. B . im deutschsprachigen R a u m sehr unterschiedlich. N a c h der Abschaffung der Ziinfte 1810/1811 wurden sie z u m Teil wiedererrichtet, u m 1859 endgtiltig abgeschafft zu werden. Nicht v o n ungefahr wurde in diesem Jahr in St. Petersburg die K o m m i s s i o n v o n Stackelberg einberufen, die ihre M e i n u n g iiber die Zukunft des Zunfthandwerks ausarbeiten sollte. Wobei nicht zu vergessen ist, daB z. B . in H a m b u r g die Ziinfte mit einiger Verzogerung erst im Jahre 1865 aufgehoben wurden. Die Abschaffung der Ziinfte in Deutschland w u r d e v o n der russischen Regierung aufmerksam verfolgt und mit den russischen Verhaltnissen verglichen. Die russische Regierung befand sich in einer gespaltenen Situation. Sie sah durchaus ein, daB die Gewerbefreiheit nicht nur eindeutige Vorteile, sondern auch Nachteile, wie z. B . eine z u n e h m e n d e Proletarisierung und Polarisierung unter den Handwerksmeistern im deutschsprachigen R a u m , mit sich brachte. So kamen z. B . im Jahre 1846 auf 100 Meister in der preuBischen Provinz Sachsen 95 Hilfskrafte, im Konigreich Sachsen entsprechend 141, in PreuBen 8 3 , in Bayern 105 und in N a s s a u gar 3 5 . Im Jahre 1839 k a m e n in Wiirttemberg auf 115.000 ziinftige und nichtziinftige H a n d w e r k e r nur noch 33.000 Gesellen oder ein Geselle auf 3,5 M e i s t e r . In Anbetracht dieser Entwicklungstendenzen in Westeuropa und der Tatsache, daB das H a n d w e r k in RuBland weiterer Unterstiitzung des Staates bedurfte, zogerte die Regierung, das H a n d w e r k durch eine allumfassende Gewerbefreiheit d e m freien Spiel des Marktes zu iiberlassen, auf d e m es in der Konkurrenz mit der GroBindustrie nicht bestehen konnte. Die neue Stadtordnung von 1870 gestand zwar alien Stadtbiirgern, die in das Biirgerbuch eingetragen worden waren, eine Immobilie besaBen oder eine Handwerksstatte unterhielten, formell das Wahlrecht zu. In der Praxis aber war dieses Recht mit den vier Standen des Adels, der Kaufleute, der Kleinburger und der Zunfthandwerker eng verbunden. Die zeitweiligen H a n d w e r k e r konnten nicht in die Stadtduma gewahlt werden, bevor sie an einer Standewahl teilgenommen hatten. Der hohe Wahlzensus von 3.000 Rubel schaffte eine zusatzliche untiberwindliche Barriere. Dies fuhrte dazu, daB die gewerbetreibende Bevolkerung die standische Geschlossenheit der standigen Handwerker nicht akzeptierte. Dies fand ihren Ausdruck unter anderem in dem W u n s c h der zeitweiligen Handwerker, eine eigene Organisation der H a n d w e r k e r zu griinden. Angesichts des MiBerfolges waren die zeitweiligen Zunfthandwerker in ihrem K a m p f u m Gleichberechtigung miBtrauisch 475 Vgl. Herzig, Kontinuitat, S. 298f. Remeslennik, izdannyj drugom remeslennika, St. Petersburg 1863, S. 12, 21. geworden und betrachteten ihre mogliche Standeszugehorigkeit mit Skepsis. Dies manifestierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Gesuchen der Handwerker, in denen sie den W u n s c h auBerten, v o m Eintritt in die Zunfte befreit zu werden. Im September 1908 reichten die Bauern des N o v g o r o d e r und T v e r ' e r Gouvernements beim Handels - und Wirtschaftsminister ebenfalls eine Anfrage ein, o b sie v o m Zunfteintritt befreit werden konnten. D a s Ministerium erkundigte sich zuerst bei der Handwerksverwaltung, und nach abschlagiger Antwort, benachrichtigte es auch die Bauern, daB dies unmoglich s e i . Im Unterschied z u m 19. Jahrhundert anderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einstellung der H a n d w e r k e r zur Zunftmitgliedschaft. W a h r e n d sich die H a n d w e r k e r fruher dartiber beschwert hatten, daB ihnen der Zunfteintritt v o n der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g verboten wurde, bat nun der Zunfthandwerker N o v i k o v im N o v e m b e r 1908 den Handels- und Wirtschaftsminister u m die Erlaubnis, aus der Zunft austreten zu dtirfen. A u c h diesmal schickte das Ministerium zuerst eine Anfrage an die Handwerksverwaltung, ob die Handwerker berechtigt seien, uber einen Zunftaustritt frei zu entscheiden. Die Handwerksverwaltung teilte mit, daB N o v i k o v mehrere Gesellen beschaftigte und deswegen nicht von der Einschreibung in eine Zunft befreit werden konne. Dabei bezog sie sich auf das Industriestatut von 1 8 9 3 . Die russische Handwerksverwaltung hielt an der Regel fest, nach der alle, die ein H a n d w e r k betreiben wollten, in die Zunft eingeschrieben sein muBten u n d entsprechende Gebiihren entrichten s o l l t e n . Damit bezog sie sich immer noch auf Richtlinien, die im Handwerksstatut v o n 1785 festgelegt worden waren. 476 477 478 Die industriellen und gesellschaftlichen Entwicklungen in St. Petersburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts beeinfluBten die Handwerksverwaltung in ihrer Selbstakzeptanz in betrachtlichem MaBe. Dies fuhrte dazu, daB die Handwerksverwaltung der russischen Zunfte die Eigeninitiative ergriff und im Februar 1906 die G r u n d u n g einer Handwerkerpartei a n r e g t e . Sie w a r w e g e n des fehlenden Interesses unter den zunftigen Meistern, Gesellen und den auBerhalb der Zunfte stehenden Handwerkern nur kurzlebig. Dennoch w a r es ganzlich ungewohnlich, daB die Standesorganisation der standigen Zunftmeister, die 479 476 Zapros ministerstva torgovli i promySlennosti v S. Peterburgskuju remeslennuju upravu vom 29. September 1908, in: RGIA, f. 23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, hier 1. 80. 477 Otvet ministerstva torgovli i promySlennosti masteru V. A. Novikovu v nojabre 1908, in: Ebd., 1. 79. 478 Mnenie S.-Peterburgskoj remeslennoj upravy po proektu polozenija ob ustrojstve i soderzanii promy§lennych zavedenij i о nadzore za proizvodstvom v nich rabot, St. Petersburg 1897, S. 2. 479 S. Peterburgskaja remeslennaja uprava. Vozzvanie organizacionnogo komiteta „Remeslennoj partii", [SPb. 1906]; Remeslennaja partija, [SPb. 1906]; Max Weber, Zur Russischen Revolution, S. 65, 556f. jahrzehntelang ihre Privilegien zu verteidigen suchte, ohne jeglichen standischen R a h m e n alle H a n d w e r k e r ohne A u s n a h m e zu politischer Aktivitat b z w . z u politischer Arbeit aufrief. Nicht neu waren die P r o g r a m m p u n k t e der Handwerkerpartei, die schon wahrend des ersten Handwerkerkongresses im Jahre 1900 diskutiert w o r d e n waren. Ihre politische Forderungen waren mit denen der Partei der Oktobristen identisch. E s sollte eine „politische M i t t e " gebildet werden, die alle „Feinde der Reaktion u n d der Revolution" vereinigen sollte. N u r konnte sich diese „politische M i t t e " nicht organisieren, weil keine sozialen Schichten vorhanden waren, aus denen die neue Partei ihre A n h a n g e r b z w . Mitglieder rekrutieren konnte. AuBerdem erschienen am politischen Horizont die einfluBreichen sozialen Gruppen der Kaufleute, GroBindustriellen, GroBgrundbesitzer, Bankiers und der Intelligenz. Sie waren in den KonstitutionellDemokratischen u n d Oktobristen-Parteien organisiert. AuBerdem existierte zu diesem Zeitpunkt schon die Sozialrevolutionare Partei, die unter d e m Bauerntum groBe Sympathien g e n o B . Der Versuch der St. Petersburger Handwerksverwaltung, die Handwerker auf einer neuen Basis zu vereinigen, schlug fehl. Die meisten H a n d w e r k e r sahen keinen Sinn in einer politischen Betatigung. Viel mehr waren die Handwerker an d e n Berufsgenossenschaften oder Gewerkschaften interessiert, die v o r allem o k o n o m i s c h e Ziele verfolgten. N a c h der ersten russischen Revolution 1905/06 wurden in RuBland z u m ersten Mai professionelle V e r b a n d e gegrundet, die einige wichtige soziale Funktionen der Handwerksverwaltung tibernahmen. Unter ihnen gab es die Berufsverbande der Gold- und Silberschmiede, der Schreiner, der Wagenbauer, der Textilarbeiter, der Backer, der Schuster, der Konfektmacher, der Pharmazeuten u n d andere. Spater w u r d e n weitere Berufsgenossenschaften wie die ,3erufsgenossenschaft der Arbeiter fur die Lederverarbeitung" im Jahre 1909, die „Berufsgenossenschaft der Arbeiter fur die Metallverarbeitung" im Jahre 1908 u n d die ,3erufsgenossenschaft der Arbeiter der Schmiedewerkstatten" gegrundet. 1910 gab es in St. Petersburg 16 Berufsgenossenschaften, die z u r Halfte aus Handwerkern bestanden und ein gemeinsames Organ - die Z e i t u n g , JRabocee e c h o " - hatten. 480 480 S. dazu: Dittmar Dahlmann, Die Provinz waUt: RuBlands Konstitutionell-Demokratische Partei und die Dumawahlen 1906-1912 (Beitrage zur Geschichte Osteuropas 19), Koln/Weimar/Wien 1996; Lutz Hufher, Die Partei der Linken Sozial-Revolutionare in der Russischen Revolution von 1917/18 (Beitruge zur Geschichte Osteuropas 18), Koln/Weimar/Wien 1994. 6. P e r Fiskus und d a s H a n d w e r k D i e Besteuerung der Handwerker, die H o h e der Steuern, die RegelmaBigkeit ihrer Entrichtung, ihre E r h o h u n g oder Senkung k o n n e n zur Aufklarung verschiedener Aspekte des L e b e n s der Handwerker, vor allem ihres Lebensstandards, beitragen. E s gilt hier vor allem, mit Hilfe Entwicklungsdynamik und des -tendenzen Steuersatzes uber in der die Jahre wirtschaftlichen Lage die der H a n d w e r k e r zu klaren. 6.1 Die B e s t e u e r u n g d e r auslandischen H a n d w e r k e r W i e aus d e m Kapitel uber die Selbstverwaltung der Zunfthandwerker hervorgeht, existierten die deutschen Zunfte getrennt von der russischen H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und waren kraft der Petrinischen G e s e t z g e b u n g von der Besteuerung befreit. Ungeachtet dessen versuchten die russische H a n d w e r k s - und die St. Petersburger Stadtverwaltung die deutschen Zunfte ihrem Hoheitsgebiet zuzurechnen und die auslandischen Meister zur Steuerzahlung zu verpflichten. Die deutschen Zunfte widersetzten sich mit Erfolg den Bestrebungen der russischen Handwerksverwaltung. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts richtete die Regierung ihre Aufmerksamkeit mehr u n d mehr auf m o g l i c h e Quellen zur Auffullung der Staatskasse, w o d u r c h die auslandischen H a n d w e r k e r wiederholt ins Blickfeld der R e g i e r u n g gerieten. Die erhohten Kriegsausgaben verursachten eine immer hohere Staatsverschuldung. 1810 betrug das Haushaltsdefizit bereits 65 Millionen Rubel, die Folge w a r eine steigende Emission des Papiergeldes (assignacii), w o d u r c h seine Kaufkraft nur 7 0 % des nominellen Wertes betrug. N a c h dem Krieg mit N a p o l e o n schnellten die Staatsschulden und mit ihnen die Inflation hoch. 1815 betrug die Schuld RuBlands 481 gegenuber den Niederlanden bereits 836 Mill. Rubel in A s s i g n a t e n . Als 481 Klaus Heller, Die Geld- und Kreditpolitik des Russischen Reiches in der Zeit der Assignaten (1768-1839/43), Wiesbaden 1983, S. 110; s. Literatur zur Finanzpolitik russischer Regierungen: S. Ja. Borovoj, Kredit i banki Rossii (seredina XII V.-1861), Moskau 1958; J. N. Bozerjanov, Graf Egor Francevid Kankrin, ego zizn\ literatumye trudy i dvadcatiletnjaja dejatel'nost' upravlenija Ministerstvom finansov, St. Petersburg 1897; N.D. Ceculin, Oderki po istorii russkich finansov v carstvovanie Ekateriny П., St. Petersburg 1906; I. F. Gindin, Gosudarstvennyj bank i ekonomideskaja politika carskogo pravitel'stva (1861-1892 gody), Moskau 1960; W. M. Pintner, Russian Economic Policy unter Nicolas I., Ithaca/USA 1967; A. P. Pogrebenskij, Ocerki istorii finansov dorevoljucionnoj Rossii (XIX-XX w.), Moskau 1954; S. M. Troickij, Finansovaja politika russkogo absoljutizma vo vtoroj polovine XVII i XVIII v., in: Absoljutizm v Rossii (XVII-XVIII w.), Moskau 1964, S. 281-319. Warenproduzenten litten die Handwerker unter der erhohten Inflation, die sie ihres Wohlstandes b e r a u b t e . 482 Einsicht in die Besteuerungsmechanismen der auslandischen H a n d w e r k e r gewahren einige Archivdokumente, aus denen hervorgeht, daB die okonomische Abteilung (ekonomiceskaja ekspedicija) des Senats 1808 nach einer fast hundertjahrigen Existenz der deutschen Zunfte in St. Petersburg mit Erstaunen bemerkte, „daB es in der Hauptstadt abgesonderte deutsche Zunfte gibt, [...] die ohne j e d e Erlaubnis der russischen Handwerksverwaltung gegrundet worden sind. [...] Es ist unbekannt, welche Statuten, V e r s a m m l u n g e n und rechtlichen Grundlagen sie haben, die ihre Existenz in der Stadt zulassen" . 483 W a r u m die auslandischen Handwerker rund hundert Jahre lang steuerfrei arbeiten konnten, muB hier erlautert werden. D i e auslandischen Handwerker, die ihre Rechte und Privilegien mit Gesetzen zu begriinden wuBten, verwiesen die Obrigkeit auf zwei Erlasse, die sie v o n der Besteuerung befreiten. Der ErlaB v o m 3. D e z e m b e r 1723 fuhrte ein neues R e g l e m e n t fur das Manufakturkollegium ein und bekraftigte das Recht von Auslandern, frei nach RuBland einzureisen und ihrem H a n d w e r k ohne Steuerabgaben nachzugehen. Es waren allerdings nur die nichtzunftigen auslandischen Handwerker, die dem Manufakturkollegium u n t e r s t a n d e n . Der zweite ErlaB v o m 16. Dezember 1743 iiber die Volkszahlung befahl freilich, die H a n d w e r k e r in den deutschen Zunften zu zahlen, untersagte aber der stadtischen Verwaltung, sie zu besteuern und mit den russischen Zunften zu v e r e i n i g e n . Im ErlaB w u r d e das Verbot damit begriindet, daB die auslandischen H a n d w e r k e r es als eine Beleidigung empfinden wurden, mit leibeigenen Bauern in einer Zunft organisiert zu sein. Ferner w u r d e darauf aufmerksam gemacht, daB Auslander eine andere Sprache, Religion, andere Sitten und vor allem eine freie Natur hatten, w a s 484 485 482 Manifest о merach к umen'Seniju gosudarstvennych dolgov; о prekraScenii vypuska v oborot novych summ assignacijami i о vozvysenii nekotorych podatej i po§lin, in: PSZ RI 1, Bd. 31, Nr. 24116 (2. Februar 1810), 1. 53-60. 483 Doklad kazennoj palaty senatoru i gosudarstvennomu kaznaceju Fedoru Aleksandrovicu Golubcovu ot 30.11.1808, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati s inostrannych remeslennikov v Peterburge i Moskve (1808-1827), hier 1. 1. 484 485 PSZ RI 1, Bd. 7, Nr. 4378 (3. Dezember 1723), S. 173. PSZ RI 1, Bd. 11, Nr. 8835 (16. Dezember 1743): О general'noj revizii i Instrukcija poslannym dlja udinenija vnov' revizii; punkt 18 - v podusnyj oklad veleno ne pisat' inozemcev, prinjavSich pravoslavie, punkt 19 - nepravoslavnych inozemcev perepisat' osobo, S. 962-977. die Vereinigung in einer Zunft mit russischen Handwerkern unmoglich m a c h e . Damit wurde indirekt darauf hingewiesen, daB die auslandischen H a n d w e r k e r weiterhin steuerfrei bleiben s o l l t e n . Die spateren Erlasse v o m 22. Februar 1784 und 26. Oktober 1797 k o n n e n zwar als Versuch gewertet werden, die Besteuerung der auslandischen H a n d w e r k e r einzufuhren, erfaBten sie aber nicht in ihrer G e s a m t h e i t . Im ErlaB v o m 2 2 . Februar 1784 w u r d e n nur die Auslander erwahnt, die die russische Staatsangehorigkeit erworben hatten und entweder in die handwerkliche Zunft oder kaufinannische Gilde eingetreten waren. Sie sollten entsprechend ihrem Stand Steuern entrichten. Diejenigen, die ihre friihere Staatsangehorigkeit behielten und ihrem Stande nach Auslander blieben, waren weiterhin befreit. D e r ErlaB v o m 26. Oktober 1797 war regional begrenzt. Er bezog sich nur auf die Bevolkerung in den z u m Russischen Reich neu- oder zurtickgewonnenen Gebieten in SudruBland und Polen. D a s Kameraldepartement (Kameral 'nyj departament) versuchte seit Ende 1798 entschieden, den Status quo, nach dem die auslandischen Handwerker steuerbefreit waren, zu andern und hielt dies im BeschluB v o m 10. Januar 1799 fest. Das Kameraldepartement ging in seinem Vorhaben so weit, daB es die Legitimitat einer getrennten Existenz der deutschen Zunfte von den russischen verneinte. Unter anderem bekraftigte das Kameraldepartement seine M e i n u n g uber die Unzulassigkeit der getrennten Existenz der deutschen Zunfte damit, daB es pro Handwerksart eine statt zwei Zunfte geben sollte. D e s weiteren wurde argumentiert, daB die auslandischen Meister mit russischen Fachkraften in ihren Werkstatten zusammenarbeiteten und daraus auch Vorteile ziehen wurden. So sprache auch nichts dagegen, sie mit den Russen in einer Zunft zu organisieren. W e n n die Vereinigung der russischen und deutschen Zunften gelingen wiirde, waren die auslandischen Meister dem Vorhaben des Kameraldepartements nach automatisch mit der gleichen Steuer belegt worden. Die auslandischen Meister konnten diesmal der Besteuerung noch entgehen, obwohl sie gezwungenermaBen dem St. Petersburger Militargeneralgouverneur v o n der Pahlen im Jahre 1800 vorschlugen, ktinftig eine ihren finanziellen Moglichkeiten angemessene Steuer zugunsten der Stadt zu entrichten. A u s unbekannten Griinden blieb ihr Vorschlag unbeantwortet. Die weiteren Versuche v o n verschiedenen Seiten, der L o s u n g dieses Problems naher zu k o m m e n , blieben o h n e Erfolg. Die auslandischen Meister hatten einige machtige Fursprecher in den 486 487 486 Zurnal S. Peterburgskoj gorodskoj dumy ot 9 janvarja 1803, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 7. 487 PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 15935 (22. Februar 1784): О svobodnoj torgovle v gorodach Chersone, Sevastopole i Feodosii, S. 50f.; Bd. 24, Nr. 18223 (26. Oktober 1797): О rasprostxanenii na vse vozvraSfcennye i priobretennye vnov* oblasti uzakonenija, 64oby vsjakij prebyvaju§6ij v Rossii izbral nepremenno rod zizni i daby sovokupno s tern kazdyj neizemlemo po zvaniju svoemu nes povinnosti, zakonom opredelennye, S. 7791T. hoheren Regierungskreisen und entkamen dadurch der Besteuerung. So blieb auch eine weitere Anfrage der auslandischen H a n d w e r k e r an den Generalgouverneur v o n St. Petersburg unbeantwortet, so weit dies aus dem vorliegenden Material ersichtlich i s t . D a s Kameraldepartement versuchte die B e h a u p t u n g der auslandischen Meister in ihrem Antrag an Graf v o n der Pahlen von 1800, daB es fur ihre v o n den russischen Zunften getrennte Existenz eine gesetzliche Grundlage gabe, zu widerlegen, w a s ihm nicht gelang. E s erklarte namlich, daB diese getrennte Existenz beider Zunftverwaltungen nicht qua Gesetz, sondern aufgrund „einer Untatigkeit" der Regierung zustande g e k o m m e n s e i . Diese „Untatigkeit" der Regierung sei wiederum d e m Widerstand der auslandischen H a n d w e r k e r zuzuschreiben, der sich stets als bewahrte M e t h o d e erwiesen hatte, Steuerabgaben zu vermeiden. Er auBerte sich z. B . in der Form der V e r w e i g e r u n g der Zahlenangaben uber die auslandischen Zunfthandwerker in der Hauptstadt und in der strikt abweisenden Einstellung zu den Versuchen, sie zu besteuern. Diese Taktik habe bewirkt, daB bis in die j u n g s t e Zeit die Steuerabgaben hatten vermieden werden konnen. N a c h den B e r e c h n u n g e n des Kassenamtes gingen der Staatskasse jahrlich 7.650 Rubel (3.000 Zunfthandwerker multipliziert mit 2,55 Rubel jahrlich hatten 7.650 Rubel pro Jahr ergeben) oder 38.050 Rubel in funf Jahren verloren. Im Gegensatz zu den auslandischen Meistern in den deutschen Zunften zahlten diejenigen, die die russische Staatsangehorigkeit erworben hatten, laut ErlaB v o m 14. Januar 1798 2,50 Rubel Steuer jahrlich. Im Jahre 1803 k a m die Initiative fur die Besteuerung der auslandischen Meister von anderer Seite. A m 9. Januar 1803 schlug das Stadtoberhaupt (gorodskoj golova) Nikolaj Dmitrievic' Men'Sikov in der Deputiertenversammlung der stadtischen D u m a e m e u t vor, die auslandischen Meister in den deutschen Zunften zu besteuern. Infolge dieses Vorschlages verfugte die D u m a , die auslandischen H a n d w e r k e r zu zahlen, u m ihre Besteuerung durchfuhren zu konnen. Die Stadtduma wies in ihrem Sitzungsprotokoll von 1803 darauf hin, daB 488 489 „die auslandischen Meister zwar einige A u s g a b e n zugunsten der Stadt unregelmaBig entrichtet hatten, dies j e d o c h mit groBer Mtihe von der Stadtverwaltung erreicht wurde, die die deutschen Meister dazu zwingen muBte. Bis heute bestehen [die auslandischen Meister] auf dem Recht, keine Steuern zahlen zu mussen. Daruber hinaus weigerten sie sich, sich w a h r e n d der vierten und funften Volkszahlung in die Listen einzutragen" . 490 488 Doklad Kazennoj palaty ot 30 nojabrja 1808,1. 2. 489 Zurnal, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 5ff.; s. dazu FuBnote 1. 490 2urnal S. Peterburgskoj gorodskoj dumy ot 9 janvarja 1803 g., in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 5. Die Berichte der Stadtduma kamen zu dem SchluB, daB die Nichtbesteuerung auslandischer H a n d w e r k e r ein MiBverstandnis und keine v o m Gesetz geregelte Sache war: Sie w u r d e als eine Selbstverstandlichkeit aufgefaBt . Einige Jahre spater stand die Etesteuerung der auslandischen Meister aufgrund der schwierigen finanziellen Lage der russischen Regierung wieder zur Disposition. D a s St. Petersburger Kassenamt (kazennaja palata) uberprufte 1808 die rechtlichen Grundlagen einer moglichen Besteuerung auslandischer Handwerker bzw. ging der Frage der rechtlichen Daseinsberechtigung der deutschen Zunfte nach und legte d e m Schatakammerleiter (gosudarstvennyj kaznacej) Fedor Aleksandrovic Golubcov einen Bericht vor, demzufolge die Verpflichtung der auslandischen H a n d w e r k e r zur Steuerzahlung auf den ErlaB vom 26. Oktober 1797 zuruckzufuhren sei. G e n a u betrachtet, bezog sich der genannte ErlaB nur auf die B e v o l k e r u n g in den neu g e w o n n e n e n Gebieten, die zum Russischen Reich nach den Kriegen mit der Tiirkei hinzukamen. Die Bevolkerung dieser Gebiete sollte die gleichen Steuerverpflichtungen wie die Bevolkerung in den ubrigen Teilen des Reiches h a b e n . U b e r die Besteuerung der auslandischen H a n d w e r k e r in den beiden Hauptstadten, die von der russischen Regierung immer gesondert behandelt worden waren, fand sich im ErlaB nichts. 491 492 Es bedurfte des Zarenmanifestes v o m 2. Februar 1810, das die Besteuerung der auslandischen Meister endlich klarte, wobei sich dies automatisch mit anderen Fragen wie z. B . der einer getrennten Existenz der deutschen und russischen Zunfte u b e r l a p p t e . Dieses Manifest legte in den beiden Hauptstadten fur einen auslandischen Meister 100, fur die Gesellen 4 0 und fur die Lehrlinge 20 Rubel fest, also h o h e Steuern, wobei der kaiserliche ErlaB v o m 2 3 . Februar 1810 erlaubte, daB die Handwerksverwaltung die Steuer entsprechend der E i n k o m m e n s l a g e des jeweiligen Handwerkers modifizieren k o n n t e . Die Eintreibung der Steuer sollten v o m Generalgouverneur St. Petersburgs und der Stadtduma kontrolliert werden. 493 494 Es fallt auf, daB der Steuersatz der auslandischen Handwerker denjenigen ihrer Kollegen, die die russische Staatsangehorigkeit a n g e n o m m e n hatten, jeweils urns 40fache, 16fache u n d achtfache ubertraf. Die Stadtduma, die schon seit Jahren 491 Ebd., 1. 4f. 492 О rasprostranenii na vse vozvra£6ennye i priobretennye vnov' oblasti uzakonenija, 6toby vsjakij prebyvajuScij v Rossii izbral nepremenno rod zizni, daby sovokupno s tem kazdyj neiz-emlemo po zvaniju svoemu nes povinnosti, zakonom opredelennye, in: PSZ RI 1, Bd. 24, Nr. 18223, S. 779-781. 493 Raport general-gubernatora S. Peterburga Komitetu ministrov , vom 2. August 1816, in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 137. 494 Predstavlenie S. Peterburgskoj remeslennoj upravy nemeckich cechov v departament podatej i sborov i ministru finansov D. A. Gur'evu, vom 20.11.1814, in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 16. vorgeschlagen hatte, die Auslander zu besteuern, setzte den ErlaB unverzuglich in die Praxis u m und verlangte anfangs von 3.234 spater v o n 2.753 H a n d w e r k e r n oder 1.527 Meistern, 727 Gesellen und 469 Lehrlingen, die Steuer zu entrichten, obwohl auch diese Zahl nicht mit dem wirklichen Bestand der H a n d w e r k e r ubereinstimmte, da die Stadtduma sich fur ihre Berechnungen veralteter Vorlagen bediente, weshalb die Zahl der Meister deutlich uberhoht war. N a c h den Berechnungen des Handwerksoberhaupts der deutschen Zunfte, Gottfried Simon G u n t e r , waren fur das Jahr 1810 4 8 0 Meister, 2 3 6 Gesellen und 2 3 9 Lehrlinge - also insgesamt 955 - v o n der Gesamtzahl der 2.753 zu besteuernden H a n d w e r k e r abzuziehen. D a s waren diejenigen Handwerker, die die russische Staatsangehorigkeit erworben hatten und deswegen zu den russischen Zunften gewechselt oder in den Staatsdienst aufgenommen w o r d e n waren. D e s weiteren waren diejenigen, die kein Handwerk mehr ausubten oder keine Auskunft iiber sich gaben und deswegen unbekannt blieben, v o n der Besteuerung auszuschlieBen. Dementsprechend sollten nach d e m Vorschlag Giinters 1810 v o n 1047 Meistern, 521 Gesellen und 2 3 0 Lehrlinge oder 1.798 insgesamt j e 104.700, 20.840 und 4.600 Rubel oder 130.140 Rubel Steuer entrichtet werden. D i e Stadtduma bewilligte diese Aufzahlung nicht und lieB 4 6 Meister, die russische Untertanen waren und dementsprechend eine Kopfsteuer zahlten, abziehen. Somit verlangte sie die Einzahlung v o n 187.760 Rubeln. Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g w a r mit den Berechnungen der Stadtduma nicht einverstanden und schlug ihr vor, die Handwerker, die nicht mehr der Verwaltung unterstanden und deswegen nicht in die Berechnungen einbezogen werden sollten, in acht Kategorien aufzuteilen: 1. Handwerker, die Kopfsteuer entrichteten, 2. Handwerker, die die russische Staatsangehorigkeit b e k o m m e n hatten und die in die Kaufmannschaft, den Kleinbiirgerstand oder in die russischen Zunfte aufgenommen worden waren, 3. Handwerker, die sich im Staatsdienst befanden, 4. Handwerker, die sich nicht mehr bei der Zunft oder bei der Verwaltung meldeten oder unbekannt verzogen waren, 5. Freiwillige der Biirgerwehr oder in anderen Diensten der A r m e e , 6. Handwerker, die keinem H a n d w e r k mehr nachgingen, 7. Handwerker, die im Laufe der letzten drei Jahre verstorben waren und 8. Verarmte u n d alte Handwerker. Beziiglich unbekannt verzogener Meister beteuerte die Handwerksverwaltung, daB sie kein Recht hatte und auch nicht im Stande war, solche Meister als unabhangige und freie Auslander gegen ihren Willen in die Zunft zu zwingen. A u c h die Meister, die nicht m e h r ihrem H a n d w e r k nachgingen, unterstanden nicht mehr der Verwaltung. Viele von ihnen waren als Kiister, Lehrer oder Beamte der 495 Gunter hatte eine Lederfabrik in Karetnaja-Viertel. Zollbehorde beschaftigt gewesen. AuBerdem traten die ausgeschiedenen H a n d w e r k e r oft in den Staatsdienst ein. Unter anderem waren sie in der St. Petersburger Erziehungsanstal t (S. Peterburgskij vospitatel 'nyj dom), die von Ivan Ivanovic Beckoj gegrundet worden war, im deutschen Theater, in verschiedenen Instituten, in der Lehranstalt fur Handel (Kommerdeskoe udilisde), in der A r m e e und in Staatsamtern angestellt . Es gibt auch genauere Zahlen uber die in der Periode von 1811 bis 1817 aus den Zunften Ausgeschiedenen: 574 Handwerker waren verstorben, 28 wechselten in den Militardienst, 192 waren im staatlichen Zivildienst tatig, uber 176 Handwerker konnten die Zunfte keine Auskunft geben. Es war unbekannt, o b die letzteren noch in der Hauptstadt a n w e s e n d oder schon langst des Landes verwiesen worden waren, und 1470 gingen nicht mehr ihrem H a n d w e r k nach. Insgesamt waren 2440 Handwerker in diesen Jahren aus den deutschen Zunften ausgeschieden und 1817 belief sich der Gesamtbestand auf 810 Handwerker oder 3 9 9 Meister, 279 Gesellen und 132 L e h r l i n g e . Trotzdem beschloB die Stadtduma, die Steuer in voller H o h e zu verlangen, woraufhin sich der St. Petersburger Generalgouverneur Aleksandr Dmitrievic Balasev einschaltete und dem St. Petersburger Oberpolizeimeister GoleniscevKutuzov befahl, die Altesten der deutschen Zunfte so lange unter B e w a c h u n g zu halten, bis sie mit der Steuerverteilung fertig seien. Dies war ein nie da gewesener U m g a n g mit den Auslandern in St. Petersburg, der wahrscheinlich mit dem aufflammenden Patriotismus und der allgemeinen Feindseligkeit gegenuber alien Auslandern w a h r e n d der Kriegszeit zu erklaren ist. Wahrend die Steuern verteilt wurden, war von den durchfuhrenden Beamten die M e i n u n g zu horen, daB die Steuern fur die auslandischen Meister auf 200 bis 2.000 Rubel zu erhohen s e i . Es wurden 172.665 Rubel v o m verlangten Gesamtbetrag in H o h e von 187.760 Rubeln bezahlt, wobei Gunter unterstrich, daB die Mehrheit der auslandischen Handwerker der deutschen Zunfte verarmt und nicht begutert sei oder tiberhaupt kein H a n d w e r k ausubte. Insgesamt wurden fur das Jahr 1810 227.280 Rubel Steuer bezahlt, die von den hypothetischen 3.234 auslandischen Handwerkern in den deutschen und russischen Zunften zu entrichten w a r e n . Die Vorgehensweise der Stadtduma wiederholte sich j e d e s Jahr und v o m H a n d w e r k s o b e r h a u p t als zu streng kritisiert. 1811 hatte die D u m a die Verzeichnisse der zu besteuernden Meister mit dem V e r w e i s auf ihre Unvollstandigkeit der Handwerksverwaltung mehrmals zuriickgegeben. Es steht zu vermuten, daB die Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte immer 496 497 498 499 496 Predstavlenie ot 20.11.1814, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 23ff. 497 Balans gorodskoj dumy о podatjach po manifestu s inostrannych remeslennikov s 1811 po 1817 god, in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 58f. 498 Predstavlenie ot 20.11.1814, in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 18f. niedrigere Meisterzahlen vorgab, u m weniger Steuern entrichten zu miissen. Die Gouvernementsverwaltung (Gubernskoepravlenie), die als exekutives Organ dem Militar-Generalgouverneur v o n St. Petersburg unterstand, legte dem Departement fur verschiedene Steuern u n d A b g a b e n (departament raznych podatej i sborov) a m 13. M a r z 1812 einen BeschluB vor, in d e m sie endgultig verfugte, alle auslandischen Handwerker, seien sie n u n in russischen oder deutschen Zunften, zu besteuern. A u c h verarmte Meister, die zu dieser Zeit als Gesellen bei anderen beschaftigt waren, wurden von den Steuern nicht befreit. Das Departement machte eine A u s n a h m e fur die Handwerker, die vor 1811 eingereist waren, die russische Staatsangehorigkeit erworben und sich als Kaufleute, Kleinburger oder standige Zunftmeister eingeschrieben h a t t e n . Die Gouvernementsverwaltung bemangelte ihrerseits eine fehlerhafte Registrierung der Handwerker, die unter anderem dadurch zustande kam, daB die auslandischen H a n d w e r k e r in die russischen und wiederum die russischen in die deutschen Zunfte eintraten, wodurch oftmals einzeln daruber entschieden werden muBte, o b der Handwerker steuerpflichtig war oder nicht. 500 Die Stadtduma ging unermudlich der Eintreibung der Steuern nach und verfugte im Jahre 1813, solange eine W a c h e in der Handwerksverwaltung aufzustellen, bis die Verzeichnisse der Handwerker fertig waren. AuBerdem kommandierte die G o u v e r n e m e n t s v e r w a l t u n g im Jahre 1814 den Fiskal Korneev a b , der im Laufe von vier M o n a t e n die Verzeichnisse tiberprufte. Er verlangte von den Kaufmannsgilden und der russischen Handwerksverwaltung Auskunfte daruber, w i e viele Auslander sie von 1811 bis 1813 aufgenommen hatten. Als Ergebnis dieser Arbeit wurden die Verzeichnisse fur drei Jahre aufgestellt . Im N o v e m b e r 1814 beschwerte sich Gunter beim Finanzminister Dmitrij Aleksandrovi£ G u r ' e v , daB die D u m a bei einer uberhohten Zahl v o n Meistern, namlich 1811 bei 1.311 Meistern, 1812 bei 1.174, 1813 bei 1.124 und 1814 bei 1.086 Meistern Steuern eingetrieben hatte. Die D u m a verlangte nach ihren B e r e c h n u n g e n 570.585 Rubel Steuer einschlieBlich 101.085 Rubel fur die S t u n d u n g . T a t s a c h l i c h g a b es 1814 aber n u r 822 Meister. Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g der deutschen Zunfte w a r f der D u m a daraufhin Willkur in den Besteuerungsfragen vor. Gtinter wies darauf hin, daB die auslandischen H a n d w e r k e r der Regierung auch einige Dienste wahrend der Kriegszeit geleistet hatten. Sie hatten die R e g i e r u n g wahrend des Krieges mit N a p o l e o n fmanziell unterstutzt. 1807 hatten sie 40.000 Rubel fur die „ M i l i z " gespendet. 1812 hatten die Meister der Zunfte der Sattler, Wagenbauer, Schmiede, Tischler, Schlosser und Schneider einige Regierungsauftrage fur die Armee ausgefiihrt. Die auslandischen H a n d w e r k e r waren auch in die Burgerwehr eingetreten. AuBerdem hatte die 501 500 Raport S. Peterburgskogo gubernskogo pravlenija v departament ministra finansov ot 13.03.1812, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 1 If. H a n d w e r k s v e r w a l t u n g beschlossen, 70 Rekruten zur Verfugung zu stellen, die auf ihre Kosten (etwa 35.000 Rubel) eingekleidet und munitioniert w o r d e n w a r e n . D a s Kassenamt n a h m keine Rucksicht auf diese Argumente und errechnete fur die Jahre von 1811 bis 1817 die gewaltige S u m m e v o n 772.440 Rubel, hinzu kamen noch die Zinsen fur die Stundung der ausstehenden Steuerbeitrage in H o h e v o n 279.824 Rubel, die die H a n d w e r k e r der deutschen Zunfte zu entrichten hatten. Insgesamt ergab sich also die stolze S u m m e von 1.052.264 Rubel. Dieser Betrag war so verteilt, daB auf die Meister 689.900 Rubel, auf die Gesellen 64.040 und auf die Lehrlinge 18.500 Rubel entfielen. Der mittlere Wert pro Jahr betrug j e 98.557, 9.148 und 2.643 Rubel. Entsprechend diesem Steuersatz sollten im Durchschnitt 985 Meister, 2287 Gesellen und 925 Lehrlinge die Steuer entrichten . 502 503 Die Steuerbeitrage von den auslandischen Meistern, die zeitweilig in die russischen Zunfte eintraten, waren entsprechend ihrer niedrigen Anzahl viel geringer, obwohl es auch hier um diejenigen Meister ging, die nicht die russische Staatsangehorigkeit besaBen. Sie sollten ebenfalls 100 Rubel im Jahr pro Meister e n t r i c h t e n . In der ersten Spalte der Tabelle 32 im Tabellenanhang sind die von der Stadtduma errechneten Steuerbeitrage fur die auslandischen Meister in den russischen Zunften aufgefuhrt. In der dritten Spalte sind eingegangene Beitrage verzeichnet. Zur Veranschaulichung ist dann aus diesen Steuerbeitragen die Anzahl der Meister errechnet, die in der zweiten und in der vierten Spalte aufgefuhrt ist. D a d u r c h ist zu ersehen, wie sich die Zahl der steuerpflichtigen Meister sowohl in der Soli- als auch in der Ist-Spalte standig verringerte. Weshalb so groBe Differenzen zwischen dem Soil- und dem Ist-Wert vorhanden waren, ist dadurch zu erklaren, daB die Stadtduma die aus den Zunften ausgeschiedenen Meister in ihren Berechnungen auBer Acht lieB bzw. die Meisterverzeichnisse nicht mehr aktualisierte. In der achten Spalte ist schlieBlich die an die Stadtduma zu zahlende restliche S u m m e aufgefuhrt, wobei hier die Beitrage von den verstorbenen Meistern, die von der Stadtduma gestrichen wurden, bereits abgezogen sind. Die fehlenden Steuerbeitrage in der siebten Spalte beziehen sich auf Meister, die inzwischen aus den Zunften ausgeschieden waren. Nichtsdestotrotz forderte die S t a d t d u m a d i e s e B e i t r a g e v o n der Handwerksverwaltung ein. 504 A u s den B e r e c h n u n g e n der Stadtduma ist zu ersehen, daB die Anzahl der auslandischen H a n d w e r k e r in den russischen Zunften drastisch absank und von 2 2 0 Meistern im Jahre 1811 im Jahre 1816 nur noch 116, also etwa die Halfte, tibriggeblieben waren. Ihre Anzahl war mit groBer Wahrscheinlichkeit noch 502 503 Predstavlenie ot 20.11.1814, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 32. 4 Rospis nalogam i nedoimkam, ohne Datum, in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 125. geringer, weil die Berechnungen der Stadtduma in der Regel uber der Zahl der tatsachlich vorhandenen Handwerker lag. Meister, die die Steuern entrichteten, g a b es noch weniger. Waren es im Jahre 1811 noch 134 Meister, blieben im Jahre 1816 nur noch elf Meister ubrig. E b e n s o verhielt es sich mit den Gesellen; von 153 im Jahre 1811 blieben nur noch 29 im Jahre 1816 ubrig. Die Anzahl der Gesellen, die die Steuer v o n 40 Rubel entrichteten, verringerte sich v o n 34 im Jahre 1811 auf zwei im Jahre 1 8 1 6 . V o n 28 Lehrlingen im Jahre 1811 blieben nach den Berechnungen der Stadtduma im Jahre 1816 nur sechs ubrig. Die Steuern wurden j e w e i l s v o n funf Lehrlingen im Jahre 1811 und v o n keinem im Jahre 1816 b e z a h l t . Die starke Verringerung der Anzahl der auslandischen H a n d w e r k e r - sowohl in den russischen als auch in den deutschen Zunften - ist unter anderem auf den ErlaB v o m 22. Mai 1807 zuruckzufuhren, der ihnen den Eintritt in die Zunfte verwehrte. 1816 waren nach den Berechnungen des Kassenamtes von den auslandischen Handwerkern in den russischen Zunften insgesamt 116.160 Rubel zu zahlen, hingegen gingen nur 46.520 Rubel ein. N a c h d e m A b z u g der Zahl der verstorbenen Meister u n d Gesellen, v o n denen 4.495 Rubel einzuzahlen waren, blieben noch 65.145 Rubel im Soil. D a s Departement fur verschiedene Steuern und A b g a b e n des F i n a n z m i n i s t e r i u m s beschloB am 26. A u g u s t 1816, den geforderten Beitrag auf 60.124 Rubel zu ktirzen, wobei der Rest bis z u m Jahr 1820 eingetrieben war. U m neuen Meistern den Z u g a n g zu den deutschen Zunften zu ermoglichen, w u r d e der ErlaB von 1807 im Jahre 1818 wieder aufgehoben, brachte aber nicht sofort das erhoffte A n w a c h s e n der deutschen Zunfte mit sich. Bis z u m Jahre 1821 verringerte sich die Anzahl der Meister in den deutschen Zunften sogar auf 589, v o n d e n e n jetzt 4 5 4 oder 7 7 % zahlungsfahig waren. Spater stieg die Anzahl der H a n d w e r k e r in den deutschen Zunften leicht an, blieb aber das ganze 19. Jahrhundert bei 1300 H a n d w e r k e r n oder weniger stehen: 1840 g a b es in den 30 deutschen Zunften 1250 Handwerker und im Jahre 1893 751 Meister und 552 Gesellen oder 1303 Handwerker i n s g e s a m t . Weshalb die deutschen Zunfte nicht 505 506 507 508 505 S. Tabelle 33 im Tabellenanhang. 506 S. Tabelle 34 im Tabellenanhang. 507 Das Finanzministerium wurde im Zuge der Reform des Staatsapparates von Michail Michajlovid Speranskij am 8. September 1802 gegrundet. 1817 iibernahm es vom Innenministerium das Manufaktur- und Innenhandelsdepartement, das am 29. Oktober 1864 in Handels- und Manufakturdepartement umbenannt wurde. Seit 1828 unterstand dem Finanzministerium der neu gegrundete Manufakturrat. Vgl. Enciklopediceskij slovar', Brokgauz und Efron, Bd. 35, Halbband 69, St. Petersburg 1902, S. 365ff. S. dazu: Cibirjaev, Velikij russkij reformator; Eroskin, Istorija; Raeff, Michael Speransky. 508 Raport barona Korfa ministru vnutrennich del, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii inostrannoj remeslennoj upravy Korfom v Peterburge, hier 1. 23; v o n einem groBen Zulauf neuer Mitglieder profitierten, lag indirekt daran, daB der ErlaB v o m 30. September 1825 den auslandischen H a n d w e r k e r n erlaubte, sich in alien Stadten des Kaiserreiches a n z u s i e d e l n . AuBerdem traten viele v o n ihnen zu den russischen Zunfte uber, w a s dazu beitrug, daB m a n c h e dieser Zunfte in der Mehrzahl aus auslandischen Meistern bestanden. Zur Veranschaulichung dieses P h a n o m e n s kann das AdreBbuch von Samuel Aller tur das Jahr 1822 hinzugezogen werden. Bei ihm sind 2.230 Meister in den russischen und 701 in den deutschen Zunften aufgefuhrt. Dabei wiesen einige russische Zunfte, besonders die mit speziellen H a n d w e r k e n , auffallig viele auslandische Meister auf. Es soli angemerkt werden, daB diese A n g a b e n nicht ganz exakt sein konnen, weil die Zugehorigkeit zu den russischen bzw. auslandischen Handwerkern nach den N a m e n ermittelt wurde, die in zwei Gruppen geteilt waren: W a h r e n d der Recherchen wurden alle russischen von anderen N a m e n meist westeuropaischer Herkunft getrennt und jeweils in einer G r u p p e aufgelistet. AuBerdem sind bei Aller nicht alle Handwerker aufgefuhrt, sondern nur ausgewahlte. So gab es in der russischen Musikinstrumentenbauerzunft 14 Meister, v o n denen aber nur zwei russische Meister waren. In der Uhrmacherzunft gab es 26 Meister im Verhaltnis 23 zu drei. Die weiteren ausgewahlten Zunfte zeigten folgende Verhaltnisse zwischen auslandischen und russischen Meistern: Gold- und Silberschmiede 76:53, Backerzunft 33:9, Schneiderzunft 61:230, Schuhmacherzunft 66:182, Tapetenmacherzunft 15:76, Schmiedezunft 9:3, Konditorenzunft 10:1, Buchbinder- und Etuimacherzunft 32:5, Kupfer-, Bronzeund ZinngieBerzunft 3 2 : 6 1 , Schlosserzunft 1 1 : 1 . 509 510 Die zu hohe Steuer veranlaBte das Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte und 32 Zunftalteste, am 2 5 . Juli 1816 eine Bittschrift an den Finanzminister D.A. G u r ' e v zu verfassen. Laut der Bittschrift sollten 800 vorhandene Meister fur die 1.457 im Verzeichnis angefuhrten aufkommen und eine Steuer in H o h e von 300.000 R u b e l n zahlen. Gunter berechnete, daB, wenn diese S u m m e bezahlt w u r d e , ein Drittel der Meister 300 Rubel und die anderen v o n 600 bis 8.000 Rubeln zahlen muBten, w a s unter den herrschenden Umstanden unmoglich ware und fur sie den finanziellen Ruin bedeuten w u r d e . Die weiteren Gesuche an die Obrigkeit bewirkten die Ausarbeitung eines Erlasses, der am 12. August 1818 bekannt gegeben w u r d e . Der ErlaB befreite die auslandischen Gesellen und 511 Pazitnov, Problema, S. 188. 509 PSZ RI 2, Nr. 30513 (30. September 1825): О dozvolenii inostrancam zanimat'sja remeslami vo vsech gorodach Rossijskoj imperii, S. 501. 510 Samuel Aller, Ukazatel' ziliSc i zdanij S.-Peterburga ili adresnaja kniga. St. Petersburg 1822. 511 Prosenie remeslennogo glavy inostrannych cechov i starsm ministru finansov D.A. Gur'evu, vom 25. Juli 1816, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 83f. Lehrlinge v o n der Steuer, die ihnen laut Manifest v o n 1810 auferlegt worden war. In Zukunft sollten nur vorhandene Meister besteuert werden, wobei diese auf drei Klassen verteilt wurden. Die H a n d w e r k e r erster Klasse sollten 150, die zweiter Klasse 100 und die dritter Klasse 50 Rubel im Jahr z a h l e n . Dementsprechend blieb der mittlere Steuersatz v o n 100 Rubeln immer noch sehr hoch. Die H o h e der zu entrichtenden Steuer hing auch v o m V e r m o g e n eines Meisters ab und wurde durch die Zunftaltesten und d a s Handwerksoberhaupt festgelegt. Wie aus der nachsten Tabelle zu ersehen ist, waren 1818 und 1819 6 7 , 3 % , 1820 9 2 , 6 % und 1821 7 7 , 1 % der Meister in den deutschen Zunften fahig, die Steuer zu entrichten . Folglich schuldeten die auslandischen Meister der D u m a und dem Staat laut Berechnung des Kassenamtes insgesamt 74.850 Rubel. Ein Teil davon w u r d e v o m Kassenamt aufgehoben. So wurden im Jahre 1820 4.200 Rubel Steuerschulden gestrichen. Eine differenzierte Verteilung der Steuer, j e nach Wohlstand des Handwerkers, erlaubte es, die Steuerpolitik besser zu gestalten. Trotzdem waren v o n den 590 Meistern nur 4 3 6 imstande, eine Steuer zu entrichten. Folglich w u r d e n 154 Meister oder 2 6 % der Gesamtzahl v o n der Besteuerung befreit. D e r ersten Klasse gehorten 145, der zweiten 146 u n d der dritten 145 Meister an. Sie zahlten insgesamt 43.600 Rubel. AuBerdem gaben die 3 6 Meister der ersten Klasse insgesamt 1.800 Rubel oder 50 Rubel pro Meister fur die verarmten H a n d w e r k e r aus. Letztlich w u r d e n alle Steuerschulden in H o h e v o n 74.850 Rubeln gestrichen, da sich herausstellte, daB die D u m a , wie so oft, einen uberhohten Steuerbeitrag errechnet h a t t e . 512 513 514 U m die Steuerschulden besser eintreiben zu konnen, wurden 1820 in den Hauptstadten besondere Komitees eingefuhrt, die dafiir effizientere M e t h o d e n ausarbeiten s o l l t e n . D o c h wurde mit dem ErlaB v o m 14. N o v e m b e r 1824 ein Teil der Steuerschulden der Kleinburger und Handwerker erlassen, u m diese Gruppen der stadtischen Bevolkerung finanziell zu e n t l a s t e n . N a c h der Kankrinschen Gildenreform von 1824 gab es Versuche, die Besteuerung von einer Vielzahl auslandischer Meister, die in keiner Zunft standen und keine Steuern entrichteten, effizienter zu gestalten. Z u diesem Z w e c k erarbeitete Finanzminister E g o r FranceviC Kankrin (Georg L u d w i g Cancrin) Plane, mit d e m 515 516 512 PSZ RI 1, Bd. 35, Nr. 27467 (12.08.1818): О podati s inostrannych remeslennikov v stolicach, S. 432f.; Raport barona Korfa, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hier 1. 18. 513 S. Tabelle 35 im Tabellenanhang. 5 , 4 S. Peterburgskaja Kazennaja palata v Ekspediciju о gosudarstvennych dochodach, vom 28. Februar und 21. MSrz 1821, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 114, 116. 515 5 , 6 Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie Bd. 2, S. 140. PSZ RI-1, Bd. 39, Nr. 30114: Ob oblegdenii me&an i remeslennikov v plateie nedoimok, S. 587f. Ziel, eine Weberzunft zu griinden. Diese Vorgehensweise des Finanzministeriums ist verstandlich, da es nicht an der Entwicklung des H a n d w e r k s , sondern an der Steigerung der Steuereinnahmen interessiert war. Kankrin bestatigte sein Vorhaben in einem Schreiben an den St. Petersburger Generalgouverneur: „1825 und 1826 habe ich mich an Sie in B e z u g auf die Auslander gewendet, die in ihren W o h n u n g e n kleine Werkstatte haben, und bat Sie, die S t a d t d u m a damit zu beauftragen, die Griindung einer Weberzunft zu veranlassen. Als AnlaB dazu diente die Tatsache, daB die W e b e r zu keiner gewerbetatigen Bevolkerungsgruppe hinzugezahlt wurden und dementsprechend keine Steuer entrichteten" . 517 In d i e s e m Fall war es fur die wenigen W e b e r nicht sinnvoll, eine Zunft zu griinden, da die Kosten fur ihre Unterhaltung den erhofften N u t z e n zunichte gemacht hatten. AuBerdem waren die Weber in den meisten Fallen nicht wohlhabend. Ihre A r g u m e n t e gegen die Griindung der Weberzunft iiberzeugten den Finanzminister davon, daB die Vereinigung der W e b e r der Stadt in einer Zunft noch verfriiht w a r e . U n d tatsachlich lieB sich die Regierung Zeit. Zehn Jahre spater, 1837, w u r d e diese Frage erneut behandelt. Es wurden Verzeichnisse sowohl ziinftiger als auch nichtziinftiger Weber erstellt und 1840 die Weberzunft gebildet. A u c h jetzt waren die Weber der Stadt nicht besonders daran interessiert, eine eigene Zunft zu griinden. Als sie v o m Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte iiber die Meisterversammlung benachrichtigt wurden, folgten dieser Aufforderung nur 19 Weber. A u f die Frage des Handwerksoberhaupts: „ W o sind denn die anderen Fabrikanten?", antwortete Friedrich Rudert, der schon friiher zum Zunftaltesten gewahlt worden war, daB die iibrigen W e b e r ihre Werkstatten auBerhalb der Stadt hatten und nicht in die Zunft gehorten. Dies waren meist groBere Betriebe, die Manufakturen ahnelten. Aber auch in der Stadt gab es viel mehr Weber, als g e k o m m e n waren. Sie waren nicht besonders an der Griindung einer eigenen Zunft interessiert, da auch unter den 19 A n w e s e n d e n nur drei imstande waren, die Steuer zu entrichten. Rudert betonte, daB in der V e r s a m m l u n g „sogar die Strumpfwirker anwesend waren: Alle armsten S t a n d e s " . Der Nachfolger v o n Simon Gunter als Standesaltester war der Meister August 518 519 517 Otnosenie ministra finansov Kankrina к voennomu general-gubernatoru ob osvobozdenii inostrannych tkackich masterov, ot sostavlenija mezdu soboju cecha ot 15 marta 1827, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471: Po proseniju zde§nich tkackich masterov i vydace im vidov na polucenie svidetePstv dlja svobodnogo proizvodstva rabot na ich nebol'Sich zavedenijach i ob ucrezdenii inostrannogo cecha (1825-1841), hier 1. 42. 5 . 8 Prosenija tkackich masterov ot 3 ijunja 1825 i 22 ijunja 1826; otnosenie Kankrina (...) ot 15 marta 1827, Ebd., 11. 4, 19, 42. 5 . 9 Zapiska tkackogo mastera Ruderta, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471: Po proseniju, 1. 106. Dittmar. Er wies die Stadtduma und die Staatskasse standig auf die Zahlungsunfahigkeit der auslandischen H a n d w e r k e r hin und bat das Finanzministerium, die Steuerschulden zu streichen oder zu senken. D a s fuhrte dazu, daB der Steuersatz in den 1820er Jahren tatsachlich gesenkt w u r d e , weil auch das Finanzministerium die schlechte wirtschaftliche Situation der auslandischen H a n d w e r k e r erkannt hatte. Die erste Steuerklasse wurde mit 43 Rubel, die zweite mit 29 und die dritte mit 14,50 Rubel veranschlagt, denen die Meister j e nach ihrem Vermogensverhaltnissen zugeordnet waren. Jeder vierte der gut beguterten Meister leistete eine A b g a b e z u g u n s t e n der armen Handwerker. AuBerdem zahlten sie eine Gildenabgabe, eine zehnprozentige Akzisesteuer, die A b g a b e n fur die U n t e r h a l t u n g der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g u n d der Zunftverwaltungen, 1,5 bis 10 Rubel in die Sterbekasse, die A b g a b e n fur die Eintragung in das AdreBbuch und in die russische Handwerksverwaltung fur die russischen Gesellen u n d Lehrlinge. AuBerdem zahlten die Meister beim Eintritt in die Zunft start 10 Rubel zwischen 100 und 4 0 0 Rubel ein, w a s enorm hoch war. M i t diesem Besteuerungssatz arrangierten sich die auslandischen Handwerker nicht. Eine Bittschrift der Zunftaltesten der deutschen Zunfte bewirkte, daB mit dem ErlaB v o m 15. M a r z 1843 fur die auslandischen Meister eine Progressivsteuer eingefuhrt w u r d e . V o n nun an w u r d e fur sie das Dreiklassenbesteuerungssystem abgeschafft. Die H o h e des Steuerbeitrages konnte sich in den Grenzen des festgesetzten Steuersatzes zwischen 14,5 und 43 Silberrubel bewegen. Dermittlere Steuersatz sollte d e m n a c h 29 Silberrubel betragen. Die oben genannten Steuerbeitrage waren fur den Staat bestimmt. Insgesamt zahlte j e d e r auslandische Handwerker viel hohere Summen, die in sich verschiedene Beitrage einschlossen, so daB im Jahre 1843 die H o h e der Gesamtabgaben 256,48 Rubel betrug. E i n e n so hohen Steuersatz konnte 1/8 der H a n d w e r k e r nicht z a h l e n . In Anbetracht der Unfahigkeit eines Teils der Meister, die Steuer zu zahlen, versuchte die Handwerksverwaltung die fehlenden Beitrage mit anderen Mitteln aufzutreiben. Sie legte z. B . d e m kursachsischen Schneidermeister Ranft 32 Silberrubel auf, der seinem H a n d w e r k w e g e n seines schlechten Gesundheitszustandes nicht m e h r nachging u n d v o n den Einkunften lebte, die er durch die Vermietung seines Hauses erwirtschaftete. Die Mieteinnahmen betrugen jahrlich 350,14 Silberrubel. N a c h M e i n u n g des Generalgouverneurs von St. Peterburg, der sich in einem Bericht an den Innenminister bezuglich der Vorgehensweise der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g auBerte, war die Ranft auferlegte Steuer unberechtigt, w o r a u f hin er von der Besteuerung uberhaupt befreit 520 521 520 PSZ RI 2, Bd. 18, Nr. 16624 (15. Marz 1843): О izmenenii porjadka vnutrennej raskladki podatej s inostrannych masterov, S. 137f. 522 w u r d e . Durch diesen standigen KlarungsprozeB wurde ein realer Steuersatz herausgearbeitet, der den jeweiligen finanziellen Moglichkeiten der Meister entsprach . In Zukunft aber sollte die Kooperation zwischen der D u m a und der Handwerksverwaltung verbessert und die Differenzen in den Verzeichnissen der zu besteuernden Meister beseitigt werden, die zu den uberhohten Steuersatzen gefiihrt hatten. Dies loste einen standigen Konflikt zwischen der Stadt- u n d H a n d w e r k s v e r w a l t u n g besonders in den 1810er Jahren aus. Die Verteilung der Steuer seit d e m ErlaB v o m 12. August 1818 auf drei Klassen von jeweils 50, 100 und 150 Rubeln half wenig, die Zahlungsunfahigkeit der Meister zu iiberwinden . Die K o m m i s s i o n zur Uberprtifung der Buchfuhrung der deutschen Zunfte fing im Jahre 1842 unter der Leitung des schon erwahnten Staatsrats Baron J.F. Korf mit ihrer Arbeit an. Der Kommissionsbericht stellte im Oktober 1843 fest, daB „infolge unregelmaBiger und unordentlicher G e l d s a m m l u n g der Staatskasse in den letzten 24 Jahren 60.000 Rubel S t e u e r g e l d e r " verloren gegangen waren, w a s im Jahr durchschnittlich 2.400 P a p i e m i b e l ausmachte. Korf gab zu, daB er aus den Btichern, die v o m H a n d w e r k s o b e r h a u p t gefiihrt wurden, zu keinem endgultigen SchluB uber die wirkliche Lage der Finanzen der deutschen Zunfte k o m m e n konnte, insofern muBte er den Fehlbetrag schatzen. Er stellte aber fest, daB Dittmar die Steuer und die offentlichen Gelder selbst sammelte und sie auch verwaltete. Da im Zunftstatut von 1785 nichts bestimmtes uber die H o h e der von den Handwerkern zu sammelnden Gelder fur die Unterhaltung der Verwaltung und fur wohltatige Z w e c k e gesagt wurde, bestimmten die Zunftmeister 1820, von j e d e m Zunfthandwerker jahrlich zehn Rubel zugunsten des Handwerksoberhauptes zu s a m m e l n . Dieses Geld verwendete Dittmar fur die Unterhaltung des 523 524 525 526 522 Otnosenie St. Peterburgskogo general-gubernatora ministru vnutrennich del, vom 30. November 1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 171: Po otnoSeniju S. Peterburgskogo voennogo general-gubernatora ob osvoboidenii saksonskogo poddannogo mastera portnogo cecha Ranfta ot plateza podatej, hier 1. 1. 523 Raport barona Korfa ministru vnutrennich del, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii inostrannoj remeslennoj upravy Korfom v Peterburge, hier 1. 24. 524 Mnenie Gosudarstvennogo soveta ot 12.8.1818, in: О podati, hier 1. 102f. 525 Raport barona Korfa, hier 1. 18. 526 PSZ RI 1, Nr. 16187, Bd. 22, S. 78ff., Artikel 123, Punkt 407,408. Unter diesen Punkten sind nur die Eintrittsgelder von den Meistern und Lehrlingen erwuhnt. AuBerdem wurden unter Punkt 43 ftinf Rubel fur die Stadtkasse ftir die Kirche bestimmt. Nur mit dem ErlaB vom 16. April 1852 (PSZ RI 2, Nr. 26171) wurde der allgemeinen Handwerksversammlung erlaubt, zum Beginn jedes Jahres die H6he der Beitrage in die allgemeine Handwerkskasse zu bestimmen, die zusetzlich zu den Eintrittsgeldem bezahlt werden sollten. Verwaltungsgebaudes, fur die Kanzleikosten und einen Teil davon fur sich selbst. D a s letzte war als Aufwandsentschadigung fur seine B e m u h u n g e n gedacht. A b e r iiber die H o h e der jeweiligen Ausgaben entschied das Handwerksoberhaupt alleine. Es fehlte j e d e Kontrolle, w a s spater V e r m u t u n g e n iiber mogliche Veruntreuungen bei K o r f aufkeimen l i e B . Sie sahen sich in ihrem Verdacht bestatigt, als sie im v o n Dittmar zusammengestellten Verzeichnis fur 1840 eine Differenz in der H o h e von 2.291,5 Rubeln zwischen d e m von den Zunftaltesten berechneten und d e m eingegangenen Geld entdeckten. N a c h den Berechnungen von Korf sollten 92.200 Rubel Steuer von den auslandischen Handwerkern eingetrieben werden. V o n den Zunftaltesten wurden dann 35.537 Rubel zur S a m m l u n g vorgeschlagen und von Dittmar letztlich 32.916 Rubel v o r g e w i e s e n . U m zu erklaren, w a r u m so viele Verzeichnisse aufgestellt wurden, ist es notig zu erwahnen, daB sie zuerst v o n den Zunftaltesten zusammengestellt u n d dann an das Handwerksoberhaupt weitergegeben wurden. Dieser korrigierte sie und legte sie zur Bestatigung der Stadtduma vor. Die Steuerbetrage, die Dittmar einerseits selbst berechnete u n d andererseits als eingegangen verzeichnete, stimmen nahezu iiberein: Die Differenz betrug nur 142 R u b e l . Sie ist aber deutlich groBer, w e n n die von den Zunftaltesten zusammengerechnete S u m m e mit der S u m m e verglichen wird, die das Handwerksoberhaupt als eingegangen v e r z e i c h n e t e . Bei der verzeichneten S u m m e fehlte ein Betrag von 2291,5 Rubeln. Die groBe Differenz von 66.244 Rubel zwischen den von Korf errechneten 99.300 Rubel der G e s a m t s u m m e und der v o m Handwerksoberhaupt aufgewiesenen S u m m e von in die Kasse eingegangenen 33.056 Rubeln laBt sich teilweise dadurch erklaren, daB Dittmar e t w a 2/3 der Meister als „ a r m " einstufte und sie v o n der Besteuerung befreite. K o r f hingegen ging davon aus, daB alle H a n d w e r k e r in den deutschen Zunften auch zahlen konnten. 527 528 529 530 Die Differenz konnte auch von einer unregelmaBigen Buchfuhrung herriihren, da einige A u s g a b e n vermutlich nicht eingetragen wurden. Allerding ist die fehlende S u m m e zu groB, u m sie nur mit UnregelmaBigkeiten zu erklaren. Eine unordentliche Buchfuhrung konnte m a n nicht nur dem Handwerksoberhaupt, sondern auch den Zunftaltesten vorwerfen. Letztere machten nur gelegentlich 531 Eintrage in die ziinftigen Einnahme- und A u s g a b e b i i c h e r . AuBerdem k o n n e n die 527 Raport barona Korfa, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hierl. 17. 528 Vgl. Tabelle 31 im Tabellenanhang. 529 Ebd., Spalten 4, 5 und 6. 530 Ebd., Spalten 3 und 6. 531 Raport barona Korfa, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hier 1. 19 fehlenden Steuerbeitrage dadurch erklart werden, daB die Zunftaltesten die Meister ihrem V e r m o g e n entsprechend mit 10 bis 250 Rubel besteuerten, start sie in drei proportionale G r u p p e n aufzuteilen, die laut d e m Gesetz v o n 1818 j e 50, 100 und 150 Rubel zu entrichten hatten. D a d u r c h w u r d e der mittlere Steuerbetrag stark herabgesetzt, so daB im Endeffekt viel niedrigere Summen, als v o n K o r f und v o n 532 der D u m a berechnet, z u s a m m e n k a m e n . Letztlich haben die deutschen Zunfte diese Steuerpolitik durchgesetzt, so daB 1842 die d e m Wohlstand der auslandischen Handwerkern entsprechende Besteuerungsweise bei allgemeiner Senkung des Steuersatzes auf zwolf Rubel eingefuhrt w u r d e . Trotz der B e s c h w e r d e n des Handwerksoberhaupts uber die schwierige finanzielle Lage der Zunfte waren 1842 bei einer Revision der Zunftkassen insgesamt 100.000 533 Papierrubel in bar v o r h a n d e n . Bei dem geringen Z u s t r o m der auslandischen Meister in die Stadt und einem dementsprechend kleinen Z u w a c h s der deutschen Zunften war es problematisch, die Verwaltung der deutschen Zunfte aufrecht zu erhalten. Nach den B e r e c h n u n g e n des Handwerksoberhaupts waren 1849 von 1300 Meistern 1100 in der Lage, Steuer zu zahlen. Jeder Meister sollte in die Handwerkskasse funf Silberrubel einzahlen. A u f diese Weise wurden 5500 Silberrubel eingetrieben. Die A u s g a b e n fur 1849 betrugen aber 6500 Silberrubel, so daB noch 1000 Silberrubel fehlten. Die Handwerksverwaltung richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gesellen und Lehrlinge, die keine A b g a b e n zahlten und legte ihnen eine Steuer auf, 534 w o d u r c h die E i n n a h m e n gesteigert werden k o n n t e n . N a c h der Verordnung des Vorsitzenden der K E N O V , Kollegienrat Grot, erfolgte 1850 eine erneute Uberprufung der Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte. Diesmal zog die Bilanz Kollegienassessor О к е Г . Er stellte fest: 1. Die Altesten sammelten die Beitrage fur die Zunftkasse nicht von alien Meistern in gleicher H o h e von 2,40 Silberrubeln. Die Schneidermeister zahlten 1850 z. B . 5,20 Silberrubel, die Blechner und U h r m a c h e r dagegen nur 1,50 Silberrubel. 2. O b ein Meister so arm war, daB er v o n der Steuer befreit werden konnte, entschied nicht die Meisterversammlung, sondern allein der Zunftalteste. 3. Nicht von alien Lehrlingen und Gesellen wurden Aufhahmegebuhren bezahlt. 532 Ebd., 1. 18. 533 Raport barona Korfa, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hier 1. 24. 534 Ob ustrojstve remeslennoj upravy inostrannych cechov v S. Peterburge (12.04.184911.12.1851), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667,1. 64ff. S. Tabelle 36 im Tabellenanhang. 4. Die Ausgaben, die die Zunftaltesten machten, wurden von den Zunftversammlungen nicht schriftlich bestatigt. 5. Fur die Meisterdiplome wurden v o n den Gesellen der Backerzunft start 535 eines Rubels 74 Silberrubel gefordert . N a c h offiziellen A n g a b e n wurde der Steuerbeitrag eines auslandischen Meisters etwas r e d u z i e r t . O h n e Beriicksichtigung der einmaligen A b g a b e n fur das Meisterdiplom und fur den Zunfteintritt betrug die Steuer im Jahre 1849 7 , 1 , im Jahre 1850 8,7 u n d im Jahre 1851 3,5 Rubel. Auffallend ist, daB die Steuer fur die allgemeine Handwerksverwaltung v o n 0,6 auf 5 Rubel erhoht und fur die Zunftkasse v o n 5 auf 2,4 Rubel reduziert wurde. Die V e r m i n d e r u n g der E i n n a h m e n in den Zunftkassen und die E r h o h u n g derselben in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g konnen moglicherweise auf die Zentralisierungstendenzen bzw. B u n d e l u n g der Macht in der Handwerksverwaltung zuruckgefuhrt werden. 536 6.2 Die B e s t e u e r u n g russischer H a n d w e r k e r Die Steuerbeitrage der russischen H a n d w e r k e r waren anderer N a t u r als die der auslandischen u n d beinhalteten andere Posten bzw. wurden starker differenziert. So bestand die S u m m e der bezahlten Steuerbeitrage eines russischen Handwerkers aus einer Kopfsteuer, einer Post- und Landabgabe, einer A b g a b e an die Handwerkskasse u n d einer Steuer fur die Gesellen und Lehrlinge. Betrug die Kopfsteuer im Jahre 1798 noch 2,50 Papierrubel und 1818 2,55 Papierrubel, w u r d e sie 1825/26 fur die standigen Meister auf acht und fur die zeitweiligen Meister gar auf 20 Papierrubel e r h o h t . Die zeitweiligen H a n d w e r k e r a u s g e n o m m e n , wich die H o h e der Kopfsteuer der standigen H a n d w e r k e r nicht besonders v o n derjenigen der ubrigen Stadter a b . Seit 1824 w u r d e n die russischen Handwerker zusatzlich mit einer Akzisesteuer (akciznyj nalog) belastet. A m 7. Januar 1826 schickten die zeitweiligen Meister der Zunfte der Wagenbauer, Schmiede und Karrenbauer eine Bittschrift an das Departement des Finanzministeriums fur Steuern und A b g a b e n {Departament 537 5 3 8 535 Zurnal KENOV o.D., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667: Ob ustrojstve remeslennoj upravy inostrannych cechov v S. Peterburge (12. April 1849 - 11. Dezember 1851), hier 1. 87. 536 537 S. Tabelle 37 im Tabellenanhang. Doklad kazennoj palaty, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 3. S. Tabelle 38 im Tabellenanhang. 539 raznychpodatej i sborov), in der sie baten, sie v o n der Akzise zu befreien . D o c h ihr Gesuch w u r d e zurtickgewiesen. Die Stadtduma kontrollierte durch die Kaufmannsdeputation, daB die zeitweiligen Handwerker entsprechend dem Gesetz uber die Gilden v o n 1824 j e nach Zahl der Beschaftigten besondere Handelslizenzen in der Kaufmannsverwaltung abholten u n d dementsprechend Steuer zahlten. Die nichtzunftigen Handwerker sollten laut Gesetz v o m 30. Juni 1826 im AdreBkontor eine zusatzliche Bescheinigung fur zehn Papierrubel fur sich und fur drei Papierrubel fur Lehrlinge k a u f e n , w a s fur sie eine unerwunschte zusatzliche Belastung bedeutete. Die Besitzer der Kaffeehauser fiihlten sich durch eine erhohte Steuer ebenfalls benachteiligt. Die Handelsstuben fur Konditorwaren hatten namlich den Vorteil, daB sie mit einer niedrigeren Akzisesteuer zwischen 20 und 100 Papierrubeln im G e g e n s a t z zu den Kaffeehausern mit 4 5 0 bis 9 0 0 Papierrubel belegt wurden. AuBerdem beklagten die Kaffeehausinhaber die starke E r h o h u n g dieser Besteuerungsart. Sie war zwischen den Jahren 1835 und 1838 u m 1 5 0 % erhoht worden . Die Meister, b e s o n d e r s unter den zeitweiligen Handwerkern, w u r d e n durch die sich von Jahr zu Jahr andernden „Freibeitrage" fur die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g verunsichert, obwohl es laut Handwerksstatut in den H a n d e n der Handelsversamm l u n g lag, u b e r die H o h e dieser Beitrage nach Bedarf zu entscheiden. Diesbezuglich beklagten sich die zeitweiligen Handwerker beim Finanzministerium, weshalb im J a h r e 1827 das Mitglied der Gouvernementsverwaltung Tichij in die russische Handwerksverwaltung zur LFberprufung geschickt wurde. E r sollte untersuchen, o b der Standesalteste, die Zunftaltesten und ihre Stellvertreter in den Jahren 1814 bis 1827 gesetzwidrige G e l d s a m m l u n g e n u n d Geldausgaben durchgefuhrt h a t t e n . In seiner Untersuchung stellte er eine freizugige und willktirliche Steuerpolitik des H a n d w e r k s o b e r h a u p t s Trubicyn fest, die er als „AmtsmiBbrauch" bezeichnete. Dies ruhrte daher, daB in der Gesetzgebung weder die H o h e der Beitrage fur die Zunftkassen, die Handwerkskasse und die freiwilligen Beitrage fur die soziale Unterstutzung der „Schwacheren" des Standes noch die Gehalter der V e r w a l t u n g s m i t g l i e d e r u n d A n g e s t e l l t e n festgelegt w a r e n . D a das 540 541 542 539 Po pros'be masterovych v S. Peterburge о predpolagaemoj s nich podati pod nazvaniem akciza, in: RGIA, f. 560, op. 6, d. 441 О prosenii nachodja§£ichsja v Peterburge masterovych о predpolagaemoj, jakoby, s nich podati pod naimenovaniem akciza v 1826 g., hier 1. If. 540 Postanovlenie Departamenta raznych podatej i sborov ministerstva finansov ot 7 janvarja 1826g., in: Ebd., 1. 2f. 541 542 S. Tabelle 40 im Tabellenanhang. Doklad ministra inostrannych del senatu, vom 28. Februar 1835, in: RGIA, f. 1286, op. 5, d. 200: Po ukazu pravitePstvujuScego Senata о ustrojstve zdesnich remeslennach uprav (1834-1835), hier 1.5. Handwerksoberhaupt 201 dem nur mangelhaft von der Obrigkeit kontrolliert w u r d e , k a m es i m m e r w i e d e r zu „ U n g e n a u i g k e i t e n " in d e r K a s s e der Handwerksverwaltung . A m 16. August 1829 berichteten die mit der Inspektion der Zunftverwaltungen beauftragten Magistratsmitglieder Zajcev und Sobolev d e m Magistrat, daB sie nicht im Stande waren, die Bestandsaufhahme rechtzeitig durchzufuhren, da es zur Zeit in St. Petersburg 4 6 offene russische Zunfte und dementsprechend genauso viele Zunftverwaltungen gabe. Die Zunftaltesten und ihre Stellvertreter waren nur zweimal pro W o c h e in den Zunftverwaltungen anwesend, wodurch die Uberpriifimg nur langsam voranging. Die Ergebnisse der U n t e r s u c h u n g waren folgende: 543 1. 2. 3. 4. D a s Handwerksoberhaupt tatigte Z a h l u n g e n nur auf Weisung der Meisterversammlung. Die Steuern w u r d e n nur v o n den tatsachlich vorhandenen H a n d w e r k e r n entrichtet. Die alte Praxis, nach der die Kopfsteuer ausgehend v o n der letzten Volkszahlung bestimmt worden war und bis zur nachsten Z a h l u n g nicht aktualisiert wurde, w a r fur die Zunfte nicht mehr akzeptabel. Die durch einen Betriebsunfall Verungluckten, Verarmte, hochbetagte und minderjahrige Handwerker w u r d e n durch die Verwaltung von der Steuer befreit. In m a n c h e n Zunften wurden bei Eintritt „freiwillige" Beitrage in H o h e v o n 23 bis 50 Rubel von den Meistern bezahlt. Dieses Geld w u r d e fur wohltatige Z w e c k e verwendet. Verarmte Handwerker, die W i t w e n der Meister und die Waisen konnten dadurch eine finanzielle Unterstutzung in Anspruch nehmen. Allerdings wurden fur die meisten der eingezahlten Beitrage keine Belege ausgestellt, w a s Hinterziehungen ermoglichte. A u s der Handwerkskasse wurde nach Bewilligung der Meisterversammlung folgende jahrliche Gehalter bezahlt: dem Handwerksoberhaupt 400, seinen beiden Stellvertretern 100 bzw. 4 5 0 , sieben verordneten jeweils 500 und einem Verordneten 1.500 Silberrubel. AuBerdem erhielten die Witwen der Meister jahrlich eine Unterstutzung in Gesamthohe von 964,6 Silberrubeln. Die Tatsache, daB die Beschlusse der Versammlung nicht dem Stadtmagistrat und der Stadtduma zur Bestatigung vorgelegt wurden, bezeugt den h o h e n Grad der Unabhangigkeit der legislativen M a c h t in Gestalt der M e i s t e r v e r s a m m l u n g . Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g nutzte den Umstand, daB die niederen Ebenen der stadtischen V e r w a l t u n g wie der Stadtmagistrat und die Gouvernementsverwaltung nicht gut g e n u g miteinander kooperierten. Im D e z e m b e r 1833 erstattete der Generalgouverneur v o n St. Petersburg, Graf Essen, Bericht an den Senat uber die 544 Raport ministra vnutrennich del Senatu ot 28 fevralja 183 5g., in: Ebd., hier 1. 11. Ebd., 1. 7f. durchgefuhrte 1 % е ф ш г и п £ der Handwerksverwaltung, in d e m er unter anderem erklarte, daB die Gouvernementsverwaltung schon a m 29. N o v e m b e r 1829 d e m 1. D e p a r t e m e n t des Stadtmagistrats die A u f g a b e auferlegt hatte, die Handwerksverwaltung zu uberprufen. Diese Aufgabe der Prufung der Handwerkskasse und der Zahl der Handwerker sei nicht ausgefuhrt worden. Der Stadmagistrat fing erst nach der zweiten Weisung durch die Gouvernementsverwaltung v o m 18. August 1830 mit der Ш е ф ш г л и ^ a n . Die Einfuhrung der neuen offentlichen O r d n u n g in St. Petersburg im Jahre 1846 bedeutete einen groBen Sennit in der Entwicklung der offentlichen Verwaltung der Hauptstadt, sie fuhrte auch zu Verbesserungen in der Buchfuhrung und zur Errichtung einer Kanzlei der Handwerksverwaltung. Die Steuerriickstande, die in den 20er bis 40er Jahren auf der Tagesordnung standen u n d sich z. B . bei der Schneiderzunft auf 22.000 Rubel angehauft hatten, konnten durch eine geregelte Buchfuhrung reduziert w e r d e n . Seit 1846 gait fur die russischen Zunfthandwerker folgende Besteuerung: N e b e n der Kopfsteuer entrichteten die zeitweiligen Zunfthandwerker A b g a b e n an die Zunft- und Handwerksverwaltung. Seit 1846 zahlten sie zusatzlich eine Steuer an die Stadtduma. Im Jahre 1846 wurden von einem zeitweiligen Meister 5,72 Silberoder 17,16 Papierrubel, einem Gesellen 58 K o p e k e n oder 2,03 Papierrubel und von einem Lehrling 29 K o p e k e n oder 1,01 Papierrubel bezahlt. V o n den 5,72 Silberrubeln gingen 1,43 an die Stadtduma, 1,43 an die Handwerkskasse und 2,86 Silberrubel an die Zunftkasse. AuBerdem sollten die zeitweiligen Handwerker als Leibeigene einen Grundzins an ihren Grundherren zahlen. Fur die standigen Handwerker, die zu den Stadtburgern gehorten, gait wiederum ein anderer Steuersatz. Jeder standige Meister zahlte eine Kopfsteuer bis z u m Jahre 1827 in H o h e v o n 15,3 Papierrubeln, ab 1828 10,3 Papierrubel, seit 1834 12,7 Papierrubel, in den 40er Jahren 4,32 Silberrubel oder 15,2 Papierrubel und im Jahre 1850 2,38 Silberrubel oder 8,26 P a p i e r r u b e l . Der Steuerbetrag blieb folglich von 1827 bis 1850 mit etwa 15 Papierrubel nahezu konstant. AuBer der Kopfsteuer zahlten die standigen Meister eine Poststeuer v o n 6,25 Rubeln, eine StraBensteuer v o n 25 K o p e k e n und eine Wassersteuer von 5 Kopeken. Seit d e m Jahre 1828 entrichteten sie noch eine Zemstvosteuer (zemskij sbor) von 2 R u b e l n . Der in St. Peterburg bekannte Schneidermeister R e z a n o v berichtete, daB er als Schneidergeselle 1834 24,3 Papierrubel Steuer gezahlt hatte. D a g e g e n zahlte 545 546 547 548 Raport S. Peterburgskogo General-Gubernatora grafa Essena v Senat ot 30 dekabrja 1833g.; Raport ministra vnutrennich del Senatu ot 28 fevralja 1835 g., in: Ebd., 1. 19. 546 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1. S. 40. 547 Ebd. er 1842 als Schneidermeister insgesamt fur drei Gesellen und drei Lehrlinge 31,56 Papierrubel Steuer, w a s viel weniger als friiher w a r 549 . Ungeachtet der allgemeinen S e n k u n g der Steuern bedienten sich trotzdem m a n c h e standigen Meister bei der Zunftkasse und liefien ihre Steuern teilweise mit dem Geld der zeitweiligen H a n d w e r k e r zahlen, obwohl sie im Durchschnitt ein hoheres E i n k o m m e n hatten. DaB dies die ubliche Praxis war, laBt sich aus mehreren zeitgenossischen Berichten zwischen 1840 u n d 550 1850 e r s e h e n . Dieser MiBbrauch ist durch die Vormachtstellung der standigen Meister in den Zunften zu erklaren, die bei j e d e r Gelegenheit versuchten, die zeitweiligen H a n d w e r k e r auszunutzen. Die Besteuerung der zeitweiligen H a n d w e r k e r fuhrte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g dagegen rigoros durch. A m 29. D e z e m b e r 1847 und am 12. Januar 1848 machten die Handwerksverwaltung und die kaufmannische Deputation der Stadtduma bekannt, daB die zeitweiligen Meister die Gewerbe- und Handelslizenzen bis zum 1. Februar einholen sollten. Dabei bezogen sich beide Institutionen auf ihr Recht, gegen diejenigen Meister Sanktionen anzuwenden, die keine Erlaubnisse fur 1848 vorweisen konnten, w a s bedeutete, daB alle gefundenen Waren und Instrumente bei der generellen Inspektion der kaufmannischen Deputation am 1. Februar 1848 konfisziert werden konnten. Daruber hinaus wurden die Meister mit einer G e b u h r 551 v o n 65,72 Silberrubeln bestraft . A m 22. Januar 1848 uberreichte der Alteste der Kleinhandler- bzw. Backerzunft, Gavrila D e m i d o v , d e m Innenminister L. A. Perovskij bei einer A u d i e n z eine Bittschrift, in der er bat, den zeitweiligen H a n d w e r k e r n den Termin fur die Steuerabgabe bis z u m 15. M a r z aufzuschieben. Diese Verzogerung war durch die Stadtduma provoziert. Im N o v e m b e r und D e z e m b e r 1847 gaben die zeitweiligen Meister ihre Passe und die notigen Steuern fur den Staat ab und erhielten so die Handelslizenz. D a n a c h legten sie ihre Passe der verwaltenden Stadtduma vor und zahlten die Steuer zugunsten der Stadt. D a aber die Meister bis E n d e Januar ihre Passe immer noch nicht von der D u m a z u r u c k b e k o m m e n hatten, weigerte sich die Handwerksverwaltung, die Steuer von den Meistern ohne die Passe in Empfang 549 Proekt vecno-cechovogo mastera portnogo cecha Rezanova ot 15.10.1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 93: Po proektam masterov portnogo cecha Rezanova i Kessnera ob obucenii mal'dikov portnomu masterstvu (Oktober 1842-Januar 1842), hier 1. 11. 550 Predlozenie Michaila Petrovskogo, in: Ob obrevizovanii (...), RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100,1. 22f. 551 Vedomosti S. Peterburgskoj gradskoj policii, Nr. 283 (Dezember 1847) und Nr. 8 (Januar 1848), aus: Dokladnaja zapiska starsmy bulocnogo melocnych lavodnikov cecha G. Demidova s tovariScami Perovskomu ot 22.01.1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 567: Po zapiske starsmy melocnych lavodnikov po bulocnomu cechu Demidova ob otlozenii sroka peremeny svidetePstv do 15 marta 1848 g. (21. Januar - 5. April 1848), hier 1. If. zu nehmen und Gewerbescheine an sie zu vergeben. Ungeachtet der Unschuld der Meister, erreichten sie keine offizielle Verlangerung mit alien daraus resultierenden Folgen. O h n e Gewerbeschein war ihnen fortan untersagt, ihr Handwerk auszuuben . 552 Im Unterscheid zu d e m standigen Schneidermeister Rezanov meinte der Gutsherr Nikolaj Evreinov, daB seine Bauern, die in St. Petersburg als H a n d w e r k e r tatig waren, zu h o h e Steuern entrichteten. Seinem Gesuch entsprechend, das er a m 12. Februar 1848 wahrend einer A u d i e n z beim Innenminister L. A. Perovskij abgab, wurden viele seiner Bauern in St. Petersburg als zeitweilige H a n d w e r k e r in verschiedene Zunfte eingeschrieben, wie z. B . die Pelzmantelschneider in die Ktirschnerzunft, die BronzegieBer in die Bronzezunft und die Korbflechter in die Tischlerzunft. Als N . Evreinov die Steuerunterlagen seiner Leibeigenen uberprufte, stellte er fest, daB sie neben 5,72 Silberrubeln noch 2,68 Silberrubel als „freiwilligen" Beitrag in die Zunftkasse zahlten. Naturlich durfte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g die zeitweiligen Handwerker nicht dazu zwingen, diesen Beitrag von 2,68 Silberrubeln zu zahlen. Evreinov meinte aber, daB grundsatzlich alle A b g a b e n an die Verwaltung gesetzeswidrig seien. Er schrieb: „Die zeitweiligen H a n d w e r k e r sind verpflichtet, zugunsten der Stadt 5,72 Rubel zu zahlen. Dartiber hinaus fordert die Handwerksverwaltung willktirlich unter dem V o r w a n d eines freiwilligen Beitrags in die Zunftkasse 2,68 Rubel. AuBerdem werden in einigen Zunften noch die Beitrage fur den Schreiber b e z a h l t " . 553 Die Beitrage, die zusatzlich fur die Handwerkskasse und fur Verwaltungskosten v o n der H a n d w e r k s v e r s a m m l u n g festgesetzt wurden, sah er als unrechtmaBig an. Evreinov ging es insbesondere um die „freiwilligen B e i t r a g e " von 2,68 Silberrubeln, die eine betrachtliche Belastung fur seine Bauern bedeuteten. Diesbezuglich wandte sich Evreinov am 1. Februar 1848 an die Handwerksverwaltung, um das „unterdruckte Arbeitervolk zu schtitzen" . Er fuhrte einige Artelsleiter der Korbflechter mit sich, die bestatigten, einen 554 552 Dokladnaja zapiska, in: RGIA, f 1287, op. 37, d. 567: Po zapiske Demidova, hier 1. 2f. 553 Povinnosti, „kotorye oni objazany kazdyj po svoemu cechu vnosit' v pol'zu goroda po rasporjazeniju Gradskoj dumy. Okazalos', dto uzakonennaja povinnost* est' 5,72 rublja serebrom, no takovoju povinnost'ju Remeslennaja uprava ne dovol'stvovalas', a sverch togo polozila samoproizvorno pod vidom dobrovol'noj skladki 2,68 rublja serebrom, krome togo berut e§ce na pisarja po nekotorym cecham", aus: Zapiska Nikolaja Evreinova ministru vnutrennich del ot 12.02.1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 574: О sborach s remeslennikov v S. Peterburge po zalobe otstavnogo rotmistra Evreinova (14. Februar 1848 - 23. Marz 1849), hier 1. 1. 554 „V za§£itu ugnetennogo rabocego naroda", in: Ebd., 1. If. 555 „freiwilligen" Beitrag entrichtet zu h a b e n . D a s anwesende Verwaltungsmitglied Komarov befurwortete die Anspriiche v o n E v r e i n o v . D a s andere Verwaltungsmitglied K u z ' m i n entgegnete darauf, daB die G e l d s a m m l u n g e n legitim seien. Er suchte aber vergeblich nach Gesetzen, die seine B e h a u p t u n g hatten sttitzen konnen. Das Handwerksoberhaupt K o m a r o v lud die Zunftaltesten der Tischler- und Kurschnerzunfte ein und verbot ihnen v o n nun an, die umstrittenen Beitrage zu sammeln. Er verfugte, in diesen Zunften Sonderbucher einzufuhren, in die alle freiwilligen Geldgeber die S u m m e n eintragen sollten, die sie gegeben hatten. D i e oben genannten Zunftaltesten wollten j e d o c h dieser Verfugung der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g nicht Folge leisten. N a c h kurzer Zeit beschwerten sich die H a n d w e r k e r wieder. Die Zunftaltesten hatten sie gezwungen, 2,68 Silberrubel als „freiwillige" A b g a b e zu zahlen. Der Zunftalteste der Schreiner stellte fur den Betrag Quittungen aus, wahrend der Zunftalteste der Kurschner zusatzlich (lisnee) etwas Geld fur den Schreiber und das Papier forderte. Dieser AmtsmiBbrauch ereignete sich nach den Worten von Evreinov noch in 50 anderen Zunften. AuBerdem zahlten die zeitweiligen H a n d w e r k e r z. B . im Jahre 1848 bei Zunfteintritt bis zu 20 Silber- bzw. 70 Papierrubel Eintrittsgelder in die Zunftkassen . 556 Die Beschwerde v o n Evreinov loste im Jahre 1848 eine Untersuchung der russischen Zunfte aus. Der Innenminister befahl dem Generalgouverneur v o n St. Petersburg, eine Uberpriifung der Verwaltung zu veranlassen. D a s Mitglied der K E N O V , Kollegienrat Grot, wurde mit der Kontrolle beauftragt. Er stellte fest, daB die Zunfte neben den 5,72 Silberrubel, wie Evreinov berichtet hatte, noch 2,86 Silberrubel freiwillige Gelder v o n den zeitweiligen H a n d w e r k e r n gesammelt hatten. Daruber hinaus fuhrten die zeitweiligen Handwerker die Beitrage fur die Gesellen und Lehrlinge von j e 0,59 und 0,29 Silberrubeln an die Zunftkasse ab. Ein Jahr zuvor, 1847, war noch eine zusatzliche A b g a b e fur das neu errichtete A r m e n h a u s fur die H a n d w e r k e r erfolgt. Die Zunftaltesten verlangten v o n den H a n d w e r k e r n Geld fur Kanzleiausgaben, wie Lampchenol etc., so daB ein zeitweiliger Meister mit seinen Gesellen und Lehrlingen m a n c h m a l bis zu 15 Silber- bzw. ca. 52 Papierrubel zahlen m u B t e . In den meisten Fallen konnten sich aber die Zunfte auf die H a n d w e r k s - und Zunftstatuten v o n 1785 und 1799 berufen, in denen stand, daB die Meisterversammlungen der Zunfte die H o h e der A b g a b e n jahrlich bestimmten, die fur die Gehalter der Zunftaltesten und ihre 557 555 Die Tatsache, daB die Handwerksverwaltung auch einige bauerlichen Handwerker, die in den Artels organisiert wurden, mit den Steuerbeitragen verpflichtete, legt Zeugnis darilber, inwieweit die Ziinfte ihre Anspriiche geltend machen konnten bzw. daB ihre Macht sehr weit reichte. 556 Zapiska Evreinova, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 574: О sborach, hier 1. 2f. Stellvertreter sowie fur die Kanzleiabgaben und die sozialen Z w e c k e verwendet w u r d e n . Diese A b g a b e n konnen als zusatzliche Steuer fur den Unterhalt der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eingestuft werden. Der Einspruch v o n Evreinov war nicht rechtmaflig, weil er grundsatzlich keine Geldsammlungen seitens der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g a n e r k a n n t e . Die Handwerksverwaltung durfte j e d o c h bestimmte G e l d s a m m l u n g e n anordnen, dariiber sollte sie aber korrekt B u c h fuhren u n d Bescheinigungen an die Geldgeber ausstellen. D a die Meister fur ihre Zahlungen keine oder falsche Belege ausgestellt bekamen und auch keinen Einblick in die Bucher hatten, keimte bei ihnen die V e r m u t u n g auf, daB die Zunftaltesten diese Gelder fur sich behielten: 558 „Seit Jahren werden durch die Zunftaltesten Steuern fur die Stadt und fur die Zunftkasse in H o h e von 10 bis 15 Silberrubeln von den zeitweiligen Handwerkern eingetrieben. Quittungen werden aber nur fur 5,72 Silberrubel ausgestellt" . 559 V o n 5,72 Silberrubeln gingen 2,86 in die Zunftkasse. Die verbleibende S u m m e w u r d e noch einmal geteilt: 1,43 Silberrubel b e k a m die D u m a und 1,43 die Handwerksverwaltung. Quittungen wurden den Gesellen und Lehrlingen entweder nicht ausgestellt oder sie wurden nicht ordentlich numeriert. Die zeitweiligen Handwerker behaupteten, daB die Altesten, das H a n d w e r k s o b e r h a u p t und der Sekretar, sich an den „freiwilligen" Beitragen bereicherten und ihre Hauser damit bauten. Die Altesten hielten es fur nicht notig, fur die Summen, die fur die Zunftund Handwerksverwaltung bestimmt waren und als Kanzleiausgaben galten, Quittungen a u s z u s t e l l e n . Die finanziellen Versaumnisse waren aber nicht fur alle russische Zunfte typisch. Als Grot die Zunftkassen der russischen Schlosser-, Schuhmacher-, Schneider-, Schornsteinfeger- u n d Kleinhandlerzunfte uberpriifte, wiesen sie keinen Ruckstandauf . U m kunftig Undurchsichtigkeiten in der Buchhaltung zu vermeiden, schlug Grot vor: 1. grundsatzlich fur alle Geldabgaben Quittungen auszustellen, 560 561 558 Svod zakonov Rossijskoj imperii, cast' 2, SPb. 1913, hier Ustav о promySlennosti fabricno-zavodskoj i remeslennoj, torn 11, cast 2, S. 56-92, stat'i 315, 407-409. 4 559 Donos na imja Perovskogo ot 8 11.1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 610: О besporjadkach, hier 1. 17. 560 Kopija s zurnala komissii ot janvarja 1849 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 574: О sborach, hierl. 1 If. 561 Donos na imja Perovskogo ot 8.11.1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 610: О besporjadkach, hier 1. 17. Die Zunftkassen wiesen jeweils 585, 2.857, 1.983, 573 und 1.442 Silberrubel auf. 2. fur eine leichtere Erledigung der Formalitaten S o n d e r v o r d r u c k e zur Verfugung zu stellen, 3. u m j e d e n H a n d w e r k e r vollstandig zu informieren, w a s u n d wofur er zahlen sollte, Verzeichnisse in der Verwaltung auszuhangen, in denen alle Abgaben, die von der G e s a m t v e r s a m m l u n g der H a n d w e r k e r bestimmt worden waren, festgehalten wurden, 4. fur die Zunftmakler Gehalter in H o h e v o n 5 0 0 Silberrubeln pro Jahr zu bestimmen, 5. fur j e d e n ausgestellten Vertrag dem Makler 50 Silberkopeken Provision z u k o m m e n zu l a s s e n . Fur eine E n t s p a n n u n g der Situation sorgte die E n t s c h e i d u n g der Handwerksverwaltung, anlaBlich der 25-jahrigen Regierungszeit v o n Nikolaus I. die Steuerschulden der armen und alteren H a n d w e r k e r fur 1850 in H o h e v o n 52.367 Silberrubeln aus der Handwerkskasse zu b e z a h l e n . Dies wurde auch weiterhin praktiziert, da 1855 - jetzt anlaBlich der 30-jahrigen Regierungszeit des Zaren - 5.837 Silberrubel zum Ausgleich der Steuerruckstande derselben G r u p p e bezahlt w u r d e n . Auffallig ist, daB die Schulden merklich gesunken waren, w a s dafur spricht, daB in der Verwaltung eine wohlgeordnete Buchfuhrung zustande g e k o m m e n war. Dies konnte w i e d e r u m durch die Professionalisierung der Verwaltung erreicht werden, denn hier waren endlich erfahrene, in Buchhaltung versierte Verwaltungsmitglieder tatig geworden. 562 563 564 Die Erfahrungen der letzten Jahre schlugen sich in einer differenzierteren Besteuerung nieder. U m die Steuerpolitik flexibler gestalten zu konnen, wurde der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g erlaubt, eine Progressivsteuer einzufuhren. W a s bei den auslandischen H a n d w e r k e r n seit 1818 praktiziert w u r d e , fuhrte die K E N O V erst 1852 fur die russische Handwerksverwaltung - zunachst probeweise - ein. Fur j e d e Zunft wurde eine K o m m i s s i o n aus den Altesten und ihren Stellvertretern zusammengestellt. N a c h d e m alle Verzeichnisse bei der Handwerksverwaltung eingegangen waren, wurde ein allgemeines Verzeichnis erstellt, das dann an die verwaltende D u m a weitergeleitet wurde. Die Steuern wurden j e d o c h ungeachtet des E i n k o m m e n s der Handwerker festgesetzt, w a s nicht den A n w e i s u n g e n der K E N O V entsprach. Die russische Handwerksverwaltung verfiel in die alte Gewohnheit, die durchschnittliche Steuer aus der Gesamtzahl der zu b e s t e u e m d e n Meister zu errechnen. Dabei wurden einige Meister ganz v o n der Steuer befreit, da ihre Steuerbeitrage, wie gesagt, durch die Zunftkassen beglichen wurden. 562 Kopija s zurnala, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 574: О sborach, hier 1. 1 If. 563 Razresenie ministra vnutrennich del Perovskogo к voennomu general-gubernatoru ot 9.12.1850, in: RGIA, f. 1238, op. 37, d. 932: Po otnoseniju S. Peterburgskogo generalgubernatora о slozenii nedoimki s bednych remeslennikov v S. Peterburge (4. - 9. Dezember 1850), hier 1.3. 564 2MVD, t. 13 (1855) Juli-August, S. 158. Die Zunftverwaltungen hatten keine leichte Aufgabe. Die russischen Meister muBten sich erst daran gewohnen, einige Aufgaben selbstandig - ohne A n w e i s u n g von oben - auszufuhren. „ R o b k o i n e o c h o t n o " (schuchtem und unwillig) traten sie an die neue Aufgabe h e r a n . Die Kommissionsmitglieder furchteten, j e m a n d e n mit zu niedriger oder zu hoher Steuer zu belegen. AuBerdem muBten sie sich an den G e d a n k e n gewohnen, Steuerruckstande nicht mit Geldern aus der Zunftkasse, d.h. auf Kosten anderer Meister, zu begleichen, sondern mit Hilfe einer ordentlichen Steuereintreibung. Die Meister muBten lernen, daB die Zunftkasse „nicht dafur da ist, Steuern zu entrichten, sondern fur andere Bedurfhisse der Zunfte" bestimmt war. Der Innenminister unterstrich im Schreiben an den Finanzminister v o m 8. Januar 1855, daB dieser Versuch im groBen und ganzen von N u t z e n fur die Entwicklung einer korrekten und gerechten Besteuerung sei. E r betonte, daB die diesmal aus der Zunftkasse e n t n o m m e n e S u m m e fur die Begleichung der Steuerruckstande in H o h e v o n 1.634 Rubeln viel niedriger als die in fruheren Jahren gewesen sei, als sie noch eine H o h e von bis zu 565 566 7.000 Rubel e r r e i c h t e . 1853 und 1854 w u r d e die Arbeit der Steuerkommissionen in der V e r w a l t u n g weiter optimiert; es wurden noch bessere Ergebnisse erzielt. 1853 entnahm die K o m m i s s i o n der Zunftkasse fur verstorbene und erwerbsunfahige Handwerker 143,4 Rubel. 1854 wurden fur die Steuer in H o h e von 26.661,7 Rubeln nur noch 9.1 Rubel aus der Zunftkasse g e n o m m e n . Im Jahre 1853 zahlten die zeitweiligen H a n d w e r k e r schlieBlich die Steuern in voller H o h e von 21.272 Rubeln ein, wodurch kein Ruckstand b l i e b . In Anbetracht der durchaus gelungenen MaBnahmen beschloB die Regierung, die Verteilung der Steuer in Zukunft speziellen Steuerkommissionen in den Ztinften zu uberlassen. Die Kommissionen sollten aus den Zunftaltesten, ihren Stellvertretern, den Steuereirmehmern und drei erfahrenen standigen Meistern bestehen. M i t den Reformen der 1860er Jahre anderte sich die Besteuerungsweise der Handwerker. 1863 und 1865 wurden neue Bestimmungen fur die Handelssteuer eingefuhrt: Die Gewerbetreibenden sollten erst die Handelslizenz kaufen, u m ihr H a n d w e r k ausuben zu konnen. In diesem Z u s a m m e n h a n g wurde 1863 verfugt, daB alle Handwerksbetriebe, die nicht mehr als 16 Arbeitnehmer beschaftigten, eine 567 568 565 Otnosenie ministra vnutrennich del ministru finasov, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 28 (21.0130.04.1855): Po otnoseniju ministra vnutrennich del, kasatel'no raskladki i vzimanija podatej i povinnostej s S. Peterburgskich vecno-cechovych remeslennikov, hier 1. If. 566 Ebd., 1. If. 567 Ebd., 1. 2. 568 ObScestvennoe chozjajstvo Peterburga, in: 2MVD, б. 1, Nr. 7-8 (Juli-August 1853), S. 121. Handelslizenz fur den Kleinhandel in H o h e v o n 20 Silberrubeln im j e d e n Jahr kaufen sollten. Mit dem ErlaB v o m 9. Februar 1865 wurden die Handwerksbetriebe auf drei Gruppen verteilt. Z u r ersten G r u p p e gehorten die Betriebe mit zehn bis 16 Hilfskraften und einem Ladenraum. Sie zahlten 20 Silberrubel fur die Handelslizenz und zehn Silberrubel fur den Handelsschein. Die Betriebe mit funf bis neun Angestellten sollten 20 Silberrubel fur die Handelslizenz zahlen. Die Betriebe mit einem bis vier Angestellten zahlten zehn S i l b e r r u b e l . AuBerdem zahlten die Inhaber der Handwerksbetriebe mit m e h r als 16 Beschaftigten 3 0 K o p e k e n fur j e d e n weiteren Beschaftigten im J a h r . O b alle H a n d w e r k e r Handelslizenz und Handelsschein jahrlich gekauft hatten, sollte die Handelsdeputation uberprufen. Bei einer Uberprtifung im Jahre 1870 stellte sich beispielweise heraus, daB die W i t w e eines Meisters der Wagenbauerzunft nur eine Handelslizenz fur 20 Rubel vorweisen konnte, obwohl sie noch einen Handelsschein fur zehn Rubel hatte kaufen mussen. Die Strafe betrug in diesem Fall nach der B e s t i m m u n g von 1865 zehn R u b e l . M a n c h m a l hatten auch Initiativen der Handwerker fur eine Steuerreduzierung Erfolg. Die Deputiertenversammlung der Handwerker beschloB am 2 3 . Juli 1871, daB die Steuer in H o h e von jahrlich 60 Silberkopeken, die zur Unterstutzung eines K r a n k e n h a u s e s fur Arbeiter erhoben worden war, nicht entrichtet werden muBte. Z w e i fruhere G e s u c h e v o m 1. September 1869 und v o m 12. Februar 1870 waren n o c h abgelehnt worden. 1871 wurde zur L o s u n g dieser Frage von der Deputiertenversammlung der H a n d w e r k e r eine Kommission eingesetzt, die aus vier Mitgliedern, A.I. Bljum, M.P. Polikarpov, F.K. Resetnikov u n d P.E. Knjazev bestand. Die K o m m i s s i o n legte ein Verzeichnis der gezahlten Steuern vor, w o n a c h der Rat der wohltatigen Anstalten (Popeditel 'nyj sovet zavedenij obsdestvennogo prizrenija) der K o m m i s s i o n Recht gab, eine Befreiung zu bewilligen. Ftir die Lehrlinge und Gesellen sollten die Meister allerdings weiterhin 60 Silberkopeken pro Person e i n z a h l e n . 569 570 571 572 N e b e n d e m Erwerb v o n Gewerbescheinen und Handelslizenzen entrichteten die standigen Meister 1864 insgesamt vier Rubel, ihre Gesellen 60 K o p e k e n und die 569 Donesenie S. Peterburgskoj rasporjaditePnoj dumy S. Peterburgskomu gubernatoru ot 12.04.1867, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 783: Po chodatajstvu vybornych remeslennogo soslovija v S. Peterburge ob umen'senii plateza ustanovlennych poSlin za soderzanie remeslennych zavedenij (Mai 1867-November 1868), hier 1. 3f. 570 Istoriceskij ocerk oblozenija torgovli i promyslov v Rossii. St. Petersburg 1893, S. 161. 571 Raport St. Peterburgskogo gubernatora ministru vnutrennich del, vom 17. November 1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1185: Po zalobe vdovy mastera teleznogo cecha Kudrjavcevoj na stesnenie её torgovym nadzorom (7. Juli - 12. November 1870), hier 1. 3. 572 Doklad komissii, naznacennoj sobraniem deputatov, vom 6. November 1870, in: RGIA, f. 1287, op. 14, d. 1321: Ob osvobozdenii cechovych masterov i ich semejstv ot 60-kopeecnogo sbora na soderzanie bol'nic dlja dernorabodich v Peterburge (1871-1872), hier 1. 3ff. Lehrlinge 30 K o p e k e n Steuer. Die Beitrage der letzteren u b e r n a h m der Meister. Die zeitweiligen H a n d w e r k e r zahlten sieben Rubel fur sich, 60 K o p e k e n pro 573 Gesellen und 30 K o p e k e n pro L e h r l i n g . Folglich fuhrten die zeitweiligen Handwerker an die Zunft- und Handwerkskasse fast soviel ab wie die standigen Meister. In Anbetracht ihrer absoluten Uberzahl war die Differenz zwischen dem Gesamtbetrag beider Gruppen der Zunfthandwerker betrachtlich. AuBerdem zahlten die Meister beim Eintritt in die Zunft drei Silberrubel, die Gesellen 1,5 Silberrubel und die Lehrlinge einen Silberrubel, wobei v o n diesen jeweils 50 K o p e k e n fur die Zunftmakler und 50 in die Zunftkasse entrichtet wurden. Falls die Meister nicht alle Steuern entrichteten, bekamen sie von den Zunftaltesten keine schriftliche (remeslennoe svidetel'stvo), Handwerkserlaubnis die jahrlich zusatzlich zu der G e w e r b e - bzw. Handelslizenz neu ausgegeben wurde. Diese Erlaubnis gab dem Meister das Recht, 574 in der Stadt eine Werkstatt zu f u h r e n . Fur das Jahr 1870 betrug das Verhaltnis zwischen standigen und zeitweiligen )75 Handwerkern 2.727 zu 2 5 . 0 9 2 . Die zeitweiligen Handwerker zahlten zusammen mit den Gesellen und Lehrlingen jahrlich rund 60.000 Rubel Steuern. A m 1. Januar 1871 gab es 845 standige Zunftmeister und 157 standige Zunftmeisterinnen, die 4.008 Rubel in die Handwerkskasse zahlten, sowie 4.864 zeitweilige Zunftmeister und 661 Zunftmeisterinnen, die insgesamt 21.568 Rubel in die Handwerkskasse einzahlten. Die Frauen wurden im H a n d w e r k vermutlich seit 1847 aufgelistet, als sie das aktive Wahlrecht in der Selbstverwaltung der 576 H a n d w e r k e r e r h i e l t e n . Sie konnten folglich an der Wahl des Handwerksaltesten, der Zunftaltesten, der Verwaltungsmitglieder und der Deputierten in die Deputiertenversammlung der Handwerker teilnehmen. Allerdings gaben sie ihre W a h l s t i m m e nicht personlich ab, sondern ubertrugen dieses Recht auf einen Meister. Die Meisterfrauen oder die Ehefrauen eines verstorbenen Meisters, die seinen Handwerksbetrieb geerbt hatten, durften die Wahlversammlungen nicht besuchen. 1870 gait fur einen standigen Meister folgende Steuer: 1. 573 Drei Silberrubel zugunsten der Stadt, Vgl. Tabelle 41 im Tabellenanhang. 574 Doklad komissii, naznacennoj sobraniem deputatov ot 6.11.1870, in: RGIA, f. 1287, op. 14, d. 1321: Ob osvobozdenii cechovych masterov i ich semejstv ot 60-kopeecnogo sbora na soderzanie bol'nic dlja cernorabodich v Peterburge (1871-1872), hier 1. 3ff. 575 Prosenie, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 1-3. 2. vier Rubel fur die H a n d w e r k s - und Zunftkasse, 3. Heizungssteuer zugunsten der Stadt in H o h e v o n 5 bis 1 0 % der Miete, 4. Gebuhren fur die Gewerbe- und Handelserlaubnis v o n 10,60 bis 31,80 Silberrubel, 5. fur die Lehrlinge 30 Silberkopeken und 6. fur die AdreBscheine der Lehrlinge j e 30 Silberkopeken. Im Durchschnitt sollte es eine Steuer von 35 Silberrubeln sein. D e n Quellen ist zu entnehmen, daB es n o c h andere Steuern gab, die hier nicht aufgefuhrt sind, so daB ein standiger H a n d w e r k e r insgesamt bis zu 75 Silberrubeln Steuer im Jahr zahlen 577 m u B t e . Ein so hoher Steuersatz uberstieg deutlich die Grenzwerte der durchschnittlichen Steuerlast pro K o p f der Bevolkerung, der in dieser Periode zwischen 3,1 und 4,69 Rubel l a g 578 . Mit der neuen B e s t i m m u n g v o m 5. Juni 1884 wurden die Handelslizenzen durch ( die Gewerbescheine (promyslovye svidetel stva) ersetzt. Die H o h e des Beitrages fur die Gewerbescheine hing von der Anzahl der Beschaftigten in einer Handwerksstatte ab. Betriebe mit zehn bis 16 Beschaftigten zahlten 30 Silberrubel. Betriebe mit einem Meister bzw. Gesellen, der allein oder nur mit Familienmitgliedern arbeitete, w u r d e n v o m K a u f des Gewerbescheins befreit. Die Handwerker, die bei der Handwerksstatte eine Handelsstube (torgovaja lavka) 579 eingerichtet hatten, muBten allerdings eine Handelserlaubnis k a u f e n . 6.3 Die B e s t e u e r u n g nicht zunftig organisierter H a n d w e r k e r Es ist durchaus verstandlich, daB die Handwerker, die neu in die Hauptstadt kamen, w e g e n der hohen Besteuerung nicht in eine Zunft eintreten wollten. 1826 zahlten die nichtzunftigen Handwerksmeister nur zehn Papierrubel und ihre Lehrlinge drei Papierrubel an das 580 AdreBkontor , wodurch sie eine Aufenthaltserlaubnis erhielten. In der Tatsache, daB ein nichtzunftiger Handwerker einen oder mehrere Lehrlinge beschaftigen konnte und dafur nur bestimmte Beitrage an das AdreBkontor entrichten sollte, liegt ein Widerspruch, weil das 577 Ebd., 1. 6. 578 Vgl. Tabelle 42 im Tabellenanhang. 579 Istorideskij обегк oblozenija torgovli i promyslov v Rossii. St. Petersburg 1893, S. 256f. 580 AdreBkontor - Adresnaja kontora. Die eingereisten Handwerker bauerlichen Standes muBten ihre Passe beim AdreBkontor abgeben, wofur sie gegen Gebtihr eine Wohnerlaubnis in der Hauptstadt bekamen. Handwerksstatut besagte, daB nur der Handwerker mit einem Meisterdiplom, das v o n der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g ausgestellt worden war, Lehrlinge ausbilden 581 durfte . Dies ermoglichte vielen bauerlichen Handwerkern eine zunftfreie Arbeit in der Stadt. AuBer Bauern gab es in der Stadt Armeehandwerker, Hofhandwerker und die Handwerker v o n verschiedenen staatlichen Ressorts. Ein Beispiel fur diese Vielfalt liefert eine G e g e n d in der N a h e von St. Petersburg, die Ochta, die fast ausschlieBlich v o n H a n d w e r k e r n bewohnt war. Hier arbeiteten uberwiegend Zimmerleute, Schreiner, Holzvergolder und Mobelmeister, die das Privileg hatten, ihr H a n d w e r k frei ausuben zu dtirfen. Sie waren dem Marineministerium und der Direktion der kaiserlichen Theater unterstellt. Diese H a n d w e r k e r zahlten keine Steuern an die Handwerksverwaltung, sondern Kopf- und andere Steuern. Mit dem ErlaB v o m 3 1 . Mai 1860 wurden diejenigen, die ihr 60. Lebensjahr erreicht hatten und noch im Dienst waren, von der Besteuerung vollstandig befreit und bekamen eine Rente. Der Ochtensker Zimmerer Aleksej Rogov, der seit 30 Jahren bei der Theaterdirektion arbeitete, beschwerte sich beim Militar-Generalgouverneur von St. Petersburg, daB die Verwaltung der Ochtensker Vorstadt ihn mit Steuern belegte, obwohl er im Dienst war und zur Zeit nur 85,71 Silberrubel Rente im Jahr bekam. Es bedurfte des Senatserlasses vom 1. Dezember 1861, um Rogov von den Steuern zu befreien . Eine andere G r u p p e der gewerbetreibenden Bevolkerung, die Kaufleute, Kleinburger und Bauern, bildete seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Wirtschaftsfaktor, der fur das Zunfthandwerk eine ernstzunehmende Konkurrenz bildete. D a die Kaufleute eine oder mehrere Handwerksstatten errichten konnten, werden hier die Besteuerungssatze der Kaufleute fur drei Gilden aufgefuhrt . V o n 1807 bis 1863, als die Gilden im Z u g e der „GroBen Reformen" abgeschafft wurden, blieb die H o h e des Kapitals unverandert. Entsprechend ihrem Steuerbetrag durften die Kaufleute der 1. und 2. Gilde unbegrenzt Fabriken und Meister unterhalten. Die Kaufleute der 3. Gilde durften W e r k b a n k e (stony) haben und verschiedenen H a n d w e r k e n nachgehen. Die Kleinburger zahlten die Kopfsteuer und durften ebenfalls Werkbanke besitzen. A m 14. N o v e m b e r 1824 w u r d e mit der Gildenreform des Finanzministers Kankrin ein anderes Besteuerungssystem eingefuhrt, das bis 1863 bestehen blieb. Die 582 583 581 Raz-jasnenie departamenta raznych podatej i sborov ministerstva finansov vom 8. November 1826, in: RGIA, f. 560, op. 6, d. 441: Po pros'be masterov v S. Peterburge о predpoloiennoj jakoby s nich podati pod nazvaniem akciza, hier 1. 2f. 582 OtnoSenie S. Peterburgskogo voennogo general-gubernatora к upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del vom 28. Juni 1861, in: Ob osvoboidenii ot plateia podatej otstavnogo plotnika imperatorskich S. Peterburgskich teatrov Rogova (3. Juli - 12. Dezember 1861), hier 1. If., 15. Kaufleute sollten, start 1% von ihrem Kapital zu zahlen, Handelslizenzen kaufen, die an das Patentsystem in Frankreich erinnern, auf deren Grundlage sie ihre Handelstatigkeit ausiiben durften. Zusatzlich b e k a m e n sie kostenlos besondere Gewerbescheine, mit denen sie Fabriken bzw. Werksstatten unterhalten durften. Kleinburger sollten ebenfalls besondere Handelslizenzen erwerben, w e n n sie d e m Kleinhandel nachgingen. Sie zahlten 120 Silberrubel fur eine Handelserlaubnis im Jahr und durften in ihren Handwerksstatten bis zu acht H a n d w e r k e r beschaftigen. Die Kleinburger, die keine Handelserlaubnis kauften und nur die Kopfsteuer zahlten, durften eine Handwerksstube mit bis zu drei Beschaftigten fuhren . Fur Bauern wurden Handelslizenzen in sechs Klassen eingeteilt, die j e 2.600, 1 . 1 0 0 , 4 0 0 , 1 5 0 , 4 0 und 25 Papierrubel kosteten. Die Bauern mit Handelslizenzen erster bis funfter Klasse durften in der Stadt alle H a n d w e r k s a r t e n betreiben u n d Werkstatten haben, wobei die Bauern der ersten drei Klassen sowie die Kaufleute der ersten drei Gilden j e drei Gewerbekarten fur die Handelsstuben bekamen. Fur j e d e n zusatzlichen Gewerbeschein zahlten sie j e 100 P a p i e r r u b e l . Die Kleinburger und die Bauern mit einer Handelslizenz der vierten Klasse b e k a m e n j e einen Gewerbeschein fur eine „lavka". Der Begriff „lavka" beinhaltete in der Gesetzgebung ein sehr breites Bedeutungsspektrum. In der U m g a n g s s p r a c h e bedeutete „lavka" ein „ B a n k c h e n " oder eine,,Handelsstube". Im Gesetzeskontext hatte „lavka" j e d o c h auch folgende Bedeutungen: Weinkeller, Hotel, Restaurant, Cafe, Gasthaus, Speisewirtschaft, Herberge, Fabrik, B a d e h a u s und eigentlich j e d e kleine Betriebsstatte . 584 585 586 Mit d e m Gesetz v o m 3 1 . August 1825 wurde der Beitrag fur eine Handelserlaubnis fur die Kleinburger v o n 120 auf 60 Papierrubel halbiert. Die B a u e r n zahlten fur die vierte Klasse nicht mehr 150, sondern 100 Papierrubel und fur die Gewerbekarten 4 0 Papierrubel. Mit den Erlassen v o m 11. Juli 1826 (PSZ RI 2, Nr. 4 5 8 ) und v o m 2 1 . Dezember 1827 ( P S Z RI 2, Nr. 1631) wurden weitere Erleichterungen fur diese zwei Gruppen der gewerbetreibenden Bevolkerung geschaffen. Die B e g r e n z u n g der Betriebsgrofle fur die Kaufleute dritter Gilde und die Handelslizenzen fur die Bauern funfter und sechster Klasse wurden abgeschafft. Die Kleinburger waren von n u n an nicht m e h r verpflichtet, Handelslizenzen zu k a u f e n . 587 Ungeachtet einer standigen Senkung des Steuersatzes gab es immer noch eine Vielzahl v o n B e s c h w e r d e n seitens der Kleinburger und Bauern w e g e n einer zu hohen Besteuerung und der Hindernisse, die mit d e m Standessystem verbunden 584 Istorideskij ocerk oblozenija torgovli i promyslov v Rossii. St. Petersburg 1893, S. 126f.; s. dazu: PSZRI2,Nr. 30115. 585 Ebd., S. 128f. 586 Ebd., S. 129. waren. N a c h dem Gesetz v o m 13. Oktober 1855 sollten die kaufmannischen Gilden abgeschafft und die gewerbetreibende Bevolkerung in funf G r u p p e n eingeteilt werden, u m die Wirtschaft zu liberalisieren. Je nach Art der G r u p p e wurde die Anzahl der Beschaftigten in den Betrieben festgelegt. V o n besonderem Interesse sind hier die letzten zwei Gruppen: die Betriebe mit einer Beschaftigtenzahl von bis zu 16 und die mit einer bis zu 50 Hilfskraften. Diese Betriebe gehorten jeweils zu der vierten und zu der funften Gruppe und waren, mit wenigen A u s n a h m e n , nichts anderes als Handwerksstatten. In St. Petersburg lag der Steuersatz fur diese Betriebe mit j e 30 und 75 Rubeln etwas hoher als im ubrigen RuBland. D a s Gesetz v o m 1. Juni 1863 fuhrte folgende Beitrage fur die Handelslizenzen ein: Fur die erste G r u p p e 30 Rubel, fur die zweite 20 Rubel und fur die dritte Gruppe zehn Rubel. Mit d e m Gesetz v o m 4. Juni 1884 wurde ein noch differenzierterer Steuersatz eingefuhrt: Die Betriebe mit zehn bis 16 Beschaftigten zahlten 30 Rubel, mit funf bis neun Beschaftigten 20 Rubel und die Betriebe mit zwei bis vier Beschaftigten 10 R u b e l . Die bauerlichen Handwerker, die auBer Zunft standen, nutzten das Recht, ihr H a n d w e r k in einem geringen Umfang zu betreiben und zahlten dabei niedrigere Steuern als ihre Kollegen in den Zunften. 588 6.4 D i e A u f g a b e n der r u s s i s c h e n B e s t e u e r u n g der H a n d w e r k e r H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bei d e r Eine wichtige Aufgabe, die der Handwerksverwaltung seit 1824 auferlegt wurde, bestand im Verkauf der Handelslizenzen, w e l c h e die Meister j e d e s Jahr neu erwerben muBten. Die Erlossummen waren bedeutend. 1873 wurden 5.559 Erlaubnisse fur 67.723 Rubel und 1891 7.348 Erlaubnisse fur 102.030 Rubel verkauft. DaB diese S u m m e n sich nicht in den E i n k o m m e n der Verwaltung nachweisen lassen, laBt v e n n u t e n , daB diese Einnahmen an die Stadtduma weitergegeben und fur die Bedurfhisse der stadtischen Wirtschaft verwendet wurden . 589 In den Jahren v o n 1873 bis 1884 blieb der Durchschnittswert einer Handelslizenz mit A u s n a h m e der Jahre 1878 und 1884, als der Wert auf 9 6 , 4 % u n d 9 7 , 8 % v. H. zuriickfiel, etwa auf dem gleichen Niveau. Dies bezeugt indirekt ein stagnierendes Wachstum der mittelgroBen Handwerksbetriebe, da der Wert der Handelserlaubnis durch die Anzahl der Beschaftigten im Betrieb bedingt war. AuBerdem war fur die Stagnation ein verminderter Warenabsatz verantwortlich, weil j e n e Betriebe, die bei der Werkstatt einen Laden hatten, Handelslizenzen v o n erhohtem Wert kaufen m u B t e n . In d e n d a r a u f f o l g e n d e n Jahren, wahrend der zweiten Ebd., S. 182, 256. Industrialisienmgsphase in der zweiten Halfte der 80er und in den 90er Jahren, gab es eine erhohte Wachstumsrate des Lizenzwertes mit 110,6% im Jahre 1885 u n d 114% im Jahre 1 8 9 1 . Detaillierte A n g a b e n uber die verschiedenen Klassen der Lizenzen, die v o n der Verwaltung verkauft wurden, sind nur fur die Jahre 1873 und 1909 v o r h a n d e n , wobei fur 1873 noch die Gewerbeerlaubnisse fur die Kleinburger registriert wurden. Die Klassen wurden 1873 wie folgt eingeteilt: 1. Handelszeugnis erster Klasse fur ein Jahr zu 20 Rubeln - 1479 Stuck -„fur ein halbes Jahr zu 10 Rubeln - 13 Stuck Handelszeugnis zweiter Klasse fur ein Jahr zu 10 Rubeln - 3 0 6 6 Stuck -„fur ein halbes Jahr zu 5 Rubeln - 60 Stuck 2. Handelszeugnis fur ein Jahr zu 10 Rubeln - 697 Stuck -„fur ein halbes Jahr zu 5 Rubeln - 10 Stuck 3. Gewerbescheine fur Kleinburger fur ein Jahr zu 2,5 Rubeln - 231 Stuck -„fur ein halbes Jahr zu 1,25 Rubeln - 3 Stuck 590 591 A u s der Statistik ist zu ersehen, daB es im Jahre 1873 3.126 Betriebe mit einer Beschaftigtenzahl v o n funf bis neun, 1.492 Betriebe mit einer Beschaftigtenzahl von zehn bis 16 Personen oder 4.618 Werkstatten und 941 kleinere Betriebe, bzw. 5.559 insgesamt gab, deren Inhaber die Handelslizenzen bzw. Gewerbescheine fur insgesamt 68.271,25 Rubel bei der Handwerksverwaltung erwarben. Dementsprechend betrug die Zahl aller Beschaftigten in alien Betrieben mit einer Handelserlaubnis erster Klasse 19.396, zweiter Klasse 21.882 und in den ubrigen Betrieben rund 1.900 oder insgesamt 43.178 Handwerker. Mit der Zeit stiegen diese A b g a b e n etwas an, so daB im Jahre 1909 5.766 Zeugnisse fur 73.585,5 Rubel v o n der Handwerksverwaltung verkauft w u r d e n . Z w i s c h e n 1873 und 1909 laBt sich ein beinahe konstanter Durchschnittswert der Gewerbezeugnisse bzw. -scheine feststellen. Der Durchschnittswert eines Gewerbezeugnisses blieb mit einem leichten Anstieg fast konstant und betrug in den Jahren 1873 u n d 1909 12,18 bis 12,76 Rubel. Dies war der ausgeglichenen Steuerpolitik der russischen Regierung zu verdanken, die seit 1852 in den russischen Zunften eine Progressivsteuer eingefuhrt hatte, w o n a c h die Steuerlast immer proportional zur GroBe des Betriebes festgesetzt wurde. D a s gait auch fur die Gewerbezeugnisse bzw. -scheine, die in verschiedene Klassen, j e nach GroBe 592 590 591 Otcety S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1873-1882, 1884 und 1886-1891 gody. Otdet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1873 god. St. Petersburg 1874, S. 6. NatUrlich lafit sich diese Zeitltlcke schlieBen, wenn die Archivbestande der Handwerksverwaltung im Stadtarchiv von St. Petersburg an der Pskovskaja Strafle erschlossen werden. Der Autor konnte leider aus technischen Griinden dieses Material nicht einsehen, weil das Stadtarchiv wegen Renovierung fur langere Zeit geschlossen blieb. des Betriebes, eingeteilt wurden, so daB immer ein etwa gleicher Mittelwert zustande kam. Die Steuerklassen VII u n d VIII im Jahre 1909 sind durchaus mit den Steuerklassen I u n d II v o m Jahr 1873 vergleichbar. 1873 wurden 1.479 Gewerbezeugnisse fur 20 Rubel und 3.066 Gewerbeerlaubnisse fur 10 Rubel u n d 1909 1.363 Gewerbeerlaubnisse fur 15 Rubel und 3.170 fur sechs Rubel verkauft. Zu diesen Gruppen k a m noch die dritte Gruppe der groBen Handwerksbetriebe hinzu, die eine Obergangsform zur Fabrik darstellten. E s gab 277 solcher Betriebe, die 30 Rubel pro Gewerbeerlaubnis zahlten. U m die Dynamik d e s W a c h s t u m s zu verdeutlichen, kann z u m Vergleich ein Zwischenwert v o m Jahr 1891 herangezogen werden. In der Zeit v o n 1873 bis 1891 w u c h s die Gesamtzahl der verkauften Zeugnisse v o n 5.559 a u f 7.348 oder u m 3 2 , 2 % . D i e GroBe des Gesamtbetrages w u c h s zwischen 1873 und 1891 v o n 67.723 auf 102.030 Rubel oder u m 5 0 , 7 % . Dies besagt, daB die mittlere BetriebsgroBe wesentlich schneller w u c h s als die Anzahl der Betriebe selbst, so daB deutlich zu sehen ist, daB das kleine u n d mittlere Gewerbe ebenfalls wahrend des ersten industriellen Aufschwungs expandierte. Diese allgemeine Aussage laBt sich j e d o c h nicht fur alle Branchen treffen; einige Betriebe profitierten v o n der Industrialisierung, andere aber gingen unter. Mit dem zweiten Industrialisierungsschub g a b es dann zwischen 1891 und 1909 einen starken Rtickgang der Gesamtzahl der verkauften Zeugnisse v o n 7.348 a u f 5 . 7 6 6 oder auf 7 8 , 5 % v. H.. Folglich fiel im Jahre 1909 die Anzahl der verkauften Zeugnisse a u f das Niveau des Aufschwungjahres 1874 zuriick. Zwischen d e n Jahren 1891 und 1909 ging die S u m m e der Beitrage von 102.030 Rubeln auf73.585 oder auf 72,1 % zuriick. Dies spricht dafur, daB sich mit d e m allgemeinen R u c k g a n g der kleinindustriellen Betriebe wahrend des zweiten Industrialisierungsschubes ihre mittlere GroBe reduzierte. Diesem Sachverhalt wird im weiteren Verlauf der Arbeit und besonders im Unterkapitel uber die allgemeine wirtschaftliche Lage der Handwerker ausfuhrlicher n a c h g e g a n g e n . 593 594 Die oben ausgefuhrten A n g a b e n helfen, einen allgemeinen Eindruck uber die Entwicklung der Klein- und Mittelgewerbe zu gewinnen, sie sollten allerdings mit Vorsicht gehandhabt werden, weil seit den 1890er Jahren, als sich die St. Petersburger Gesellschaft u n d die wirtschaftlichen Verhaltnisse liberalisierten, eine immer groBer werdende 2,ahl der Gewerbetreibenden d e n A b g a b e n an die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g entkam. 1906 wurde dieser Sachverhalt, der anscheinend schon seit mehreren Jahren praktiziert wurde, in der Handwerksverwaltung u n d im Handels- u n d Industrieministerium diskutiert. Die Standesaltesten gaben fast keine Handwerkserlaubnisse (renteslenrtye svidetel 'stva) mehr aus, die z u s a m m e n S. Tabelle 44 im Tabellenanhang. Vgl. die Ausfuhrungen im Unterkapitel 10.1. 595 mit den Gewerbescheinen bzw. - z e u g n i s s e n vergeben wurden. Die Handwerker, die einmal ihre Handwerkserlaubnis b e k o m m e n hatten, beantragten sie nicht mehr, wie es fruher j e d e s Jahr der Fall war, und arbeiteten dennoch in der Stadt weiter. D e r Deputierte Makarov-Junev richtete diesbeziiglich Anfang 1906 eine Anfrage an die Handwerksverwaltung, die sich ihrerseits an das Kassenamt wandte. D a s Kassenamt benachrichtigte die Handwerksverwaltung am 2 7 . Februar und bestatigte, daB der Nichterwerb der Handwerkserlaubnisse kein GesetzesverstoB s e i , so daB dieses Verfahren seine Legitimation erhielt. Der Standesalteste stellte von n u n an unbefristete H a n d w e r k s e r l a u b n i s s e aus. D i e s e n „GesetzesverstoB" n a h m ein ehemaliger Schreiber der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g in seiner Bittschrift v o m 9. N o v e m b e r 1906 an den Finanzminister z u m AnlaB fur die B e s c h w e r d e , daB der Standesalteste keine Handwerkserlaubnisse der alten Art mehr ausgebe, sondern nur noch unbefristete Handwerkserlaubnisse. Dadurch entstunden groBe Verluste fur die Staatskasse. Fruher hatte die Verwaltung viele Handwerkserlaubnisse herausgegeben z. B . im D e z e m b e r und Januar 1906 zwischen 200 u n d 3 0 0 Stuck a m Tag, so daB in zwei M o n a t e n 13.500 Handwerkserlaubnisse verkauft worden waren. Die Bittschrift hatte aber keinerlei EinfluB, da nach A n w e i s u n g des Kassenamtes diese Angelegenheit als abgeschlossen g a i t . Die M a s s e der gekauften Gewerbeerlaubnisse zeigt, daB eine ubereilte SchluBfolgerung iiber d e n U n t e r g a n g des H a n d w e r k s w a h r e n d der Industrialisierung fehl a m Platz ware. Die Komplexitat des wirtschaftlichen und sozialen Gefuges der Hauptstadt anderte die gesamtwirtschaftlichen Strukturen und die Beziehungen zwischen den gewerbetreibenden Gruppen, schuf neue Ordnungshierarchien, in die die Handwerksverwaltung nicht m e h r hineinpaBte. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Hauptstadt ging an der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g vorbei; sie war so intensiv und breit gefachert, daB sich die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g ihr nicht anpassen und ihren Wirkungskreis anscheinend auch nicht mehr vergroBern wollte und konnte. Die Verwaltung w a r nicht fahig, iiber ihren standischen R a h m e n hinauszuwachsen. Sie konnte w e g e n ihrer engen standischen Interessen kein vereinigendes Organisationsprinzip fur Klein- und Mittelgewerbe ausarbeiten bzw. bilden und begnugte sich mit ihren standischen Angelegenheiten. Die Gesamtangaben iiber die St. Petersburger Industrie belegen, 596 597 595 Die Vielzahl der Begriffe wie Handwerkserlaubnis, Gewerbeschein und Handelslizenz kann den Leser verwirren, dem Autor blieb aber nichts anderes ubrig, als sie zu vergleichen. Es soil angemerkt werden, daB es sich hier um zwei Besteuerungsarten der Handwerker handelte. Die Handwerkserlaubnisse und Gewerbescheine waren eine Art „Gewerbe-" und die Handelslizenzen eine Art „Umsatzsteuer". 596 597 Otdet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1907 god. St. Petersburg 1908, S. 207. ProSenie byvsego pisca remeslennoj upravy к ministru finansov vom 19. November 1906, in: RGIA, f. 23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, hier 1. 6f. daB nicht nur die Anzahl der groBeren, sondern auch der mittleren und kleineren Betriebe sowie die Gesamtzahl der Handwerker schnell anwuchs. So verdoppelte s i c h z . B . die Anzahl dieser Art von Betrieben v o n 6.882 im Jahre 1869 auf 13.728 im Jahre 1900. Die Anzahl der Handwerker w u c h s ebenfalls stark von 85.000 auf 126.757 im gleichen Zeitraum a n . U m den Anteil des H a n d w e r k s am Gewerbe der Hauptstadt zu verdeutlichen, w e r d e n hier die Gesamtangaben uber die verkauften G e w e r b e - und Handelslizenzen in der Hauptstadt angefuhrt. Der Anteil des Zunfthandwerks an den Gesamtabgaben fur die Gewerbe- und Handelslizenzen lag v o n 1873 bis 1891 zwischen 5 , 3 % und 4,04%, was auch ungefahr d e m prozentualen Anteil der Zunfthandwerker an der Gesamtbevolkerung St. Petersburgs e n t s p r a c h . In den Jahren des industriellen Aufschwunges zwischen 1873 und 1875 konnten Klein- und Mittelgewerbe noch ein absolutes Wachstum erzielen: Ihr Anteil an der Gesamtzahl der erworbenen Gewerbe- und Handelslizenzen stieg von 5 , 3 % auf 5,5%. Seit 1875 zeichnete sich dann allerdings ein stetiger R u c k g a n g des prozentualen Anteils des Kleingewerbes an den Gesamtabgaben ab (mit Ausnahme des Jahres 1880 mit 6%), so daB der Anteil bis 1881 auf 2 , 6 % sank, was auf die Jahre der Rezession zuruckzufuhren ist. Spater konnte sich das Kleingewerbe etwas erholen und erreichte 1889 4 % und 1890 4 , 0 4 % Gesamtanteil. Die Beitrage der Handwerker wuchsen von 67.723 auf 95.525 Rubel an. Im prozentualen Verhaltnis betrug die Zuwachsrate von 1873 bis 1890 4 1 % oder 2 , 4 1 % pro Jahr. Es w u r d e schon darauf hingewiesen, daB die zeitweiligen H a n d w e r k e r wegen ihrer Uberzahl wesentlich mehr als die standigen Handwerker in die Handwerkskasse einzahlten . 598 599 600 Es ist auffallig, daB die Eintrittsgelder und freiwilligen Beitrage mehr als die Halfte der Einkunfte ausmachten, w a s darauf hinweist, daB j e d e s Jahr eine groBe Anzahl von H a n d w e r k e r n in die Zunfte eintrat. Im Unterschied zur allgemeinen Handwerkskasse hatten die Zunftkassen keine regelmaBigen Einkunfte. Die H o h e ihrer E i n n a h m e n konnte von Jahr zu Jahr sehr unterschiedlich s e i n . Die Anzahl der Beitrage der zeitweiligen Handwerker in die Handwerkskasse konnte ebenfalls sehr unterschiedlich sein. In den Jahren 1881 bis 1886 zahlten sie nahezu nichts ein . Die wirtschaftliche Rezession in den 80er Jahren fand ihren Niederschlag in den fehlenden Beitragen fur die Zunftkassen. Die Zunftverwaltungen muBten einsehen, 601 602 Vgl. Tabelle 1,21 und 24 im Tabellenanhang. Vgl. Tabelle 46 im Tabellenanhang. Vgl. Tabelle 47 im Tabellenanhang. Vgl. Tabelle 48 im Tabellenanhang. Vgl. Tabelle 49 im Tabellenanhang. daB sie angesichts der Vielzahl von Pleiten und dem K a m p f u m das bloBe Uberleben der Handwerksbetriebe auf das Einsammeln von fehlenden Beitragen fur die Zunftkassen weitgehend verzichten muBten. N u r 1887 w u r d e n noch fast alle offenstehenden Beitrage eingetrieben. Die finanzielle Kraft der zeitweiligen Handwerker war damit beinahe erschopft, so daB sie im nachsten Jahr nur einen Bruchteil einzahlen konnten: 1887 waren es 32.154 zeitweilige H a n d w e r k e r und 1888 nur noch 5.530 oder 17,2% der Vorjahreszahl. AuBerdem wurden sie im Vergleich mit den standigen Handwerkern benachteiligt, indem sie haufiger zur Kasse gebeten wurden. Bis z u m Jahre 1916 erhohte sich die H o h e des Beitrages in die Zunft- und Handwerkskasse etwas, was teilweise durch die Inflationsrate verursacht wurde. In diesem Jahr zahlte der Meister in die oben genannten Kassen folgende Beitrage ein: 1. Einmalig b e i m Eintritt in die Zunft 3 Rubel, 2. alljahrlich: in die Zunftkasse 2 Rubel, in die Allgemeine Handwerkskasse 2 Rubel und fur die Unterhaltung der wohltatigen Anstalten 3,75 Rubel. Insgesamt zahlte ein Meister im Durchschnitt 7,75 Rubel im Jahr. Dies gait als eine M i n d e s t s u m m e ; beim Eintritt wurden oft bis zu 25 Rubel verlangt. Die Gesellen zahlten beim Eintritt 1,5 Rubel und alljahrlich 1,40 R u b e l . 603 6.5 Zusammenfassung Zusammenfassend laBt sich uber die Besteuerung der auslandischen Handwerker im 19. Jahrhundert folgendes sagen: Peter I. beabsichtigte mit der Befreiung der auslandischen H a n d w e r k e r von der Besteuerung, diese in RuBland anzusiedeln und das H a n d w e r k voranzubringen. Bis 1810 blieb dieses Privileg erhalten. Der 1810 eingefuhrte Steuersatz von 100 Rubel fur auslandische Meister, 40 Rubel fur einen Gesellen u n d 20 Rubel fur einen Lehrling w a r im Vergleich mit dem Steuersatz der russischen H a n d w e r k e r etwa dreimal so hoch. Dies bezeugt einen in der Regel hoheren Lebensstandard und bessere Geschuftsergebnisse der auslandischen H a n d w e r k e r im Vergleich mit den russischen. Allerdings verschlechterte sich 1812, als die Napoleonische G r a n d e A r m e e ins Russische Kaiserreich einfiel, rasant die gesamtwirtschaftliche Lage. Die auslandischen Meister akzeptierten in der Regel die geforderten S u m m e n und wiesen lediglich darauf hin, daB es ihnen unmoglich sei, die ausstehenden Beitrage fur mehrere Jahre auf einmal zu zahlen. Im Laufe der Zeit w u r d e allerdings eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der auslandischen Handwerker immer deutlicher. Die standige Verteuerung der Rohstoffe und der Industrieguter Anfang des 19. Jahrhunderts verbunden mit der kontinentalen Blockade u n d den Kriegen mit Frankreich und dem Osmanischen Reich, die steigende Inflation und schlieBlich die niedrigen Zolle fur eingefuhrte Waren trugen zwischen 1817 und Remeslenniki i remeslennoe upravlenie, S. 37. 1822 dazu bei, daB der Wohlstand der auslandischen Handwerker abnahm und sich langsam d e m Niveau ihrer russischen Kollegen annaherte. Infolgedessen verminderte sich die Anzahl der Handwerker in den deutschen Zunften v o n rund 3.000 u m 2.200 auf rund 800 im Jahre 1817. Die gleiche Entwicklung war infolge der Kontinentalblockade bei den Kaufleuten zwischen 1801 und 1811 zu beobachten, deren Zahl von 14.310 auf 7.190 sank. Unter den Folgen der niedrigen Zolle und der allgemeinen wirtschaftlichen Krise in den 18 lOer Jahren, litten auch die H a n d w e r k e r in den russischen Zunften, deren Anzahl sich zwischen 1811 und 1821 v o n 15.631 auf 7.187 h a l b i e r t e . Als erstes w u r d e die Besteuerung der Gesellen und Lehrlinge bei den auslandischen H a n d w e r k e r n mit jeweils 40 und 20 Rubel an die Staatskasse im Jahre 1818 abgeschafft und eine differenzierte Besteuerung eingefuhrt, nach der die auslandischen Meister entsprechend ihrem Wohlstand mit einer Steuer v o n 50, 100 u n d 150 R u b e l n b e l e g t w e r d e n k o n n t e n , w a s j e w e i l s die Handwerksverwaltung entscheiden konnte. Allerdings sollte sich der mittlere Steuersatz immer auf 100 Rubel belaufen. Diese Besteuerungsweise wurde im Jahre 1842 abgeschafft, wonach ein allgemeiner Steuersatz von zwolf Rubel eingefuhrt wurde. Diese Tatsache spricht dafur, daB die auslandischen Handwerker ihre Vormachtstellung langsam verloren, was sich in ihrer wirtschaftlichen L a g e niederschlug. Die Steuerlast der auslandischen Handwerker wurde der der russischen Handwerker etwa angeglichen. In den Jahren 1849 bis 1851 betrugen die Steuerabgaben der auslandischen Meister pro Jahr und pro K o p f jeweils 17,6, 19,4 und 15,5 Silberrubel. Die Meister in den russischen Zunften zahlten im Jahre 1825 zwischen neun und zehn Silberrubel, wobei die zeitweiligen Meister noch drei bis funf Silberrubel an das Adreflkontor zahlten. Im Jahre 1864 lag der Steuersatz inklusive der Gewerbeerlaubnis bei den letzteren zwischen acht und 14 Silberrubeln, was etwas unter den Werten der auslandischen H a n d w e r k e r lag, weil diese mehr Kosten an den sozialen Einrichtungen trugen. Im allgemeinen ist es aber nur moglich, annahernde A n g a b e n uber die Besteuerung der Zunfthandwerker russischer Zunfte machen, weil es viele zusatzliche Steuern gab. 604 D e n v o n den Regierungsbeamten festgestellten „MiBbrauchen" in den russischen und deutschen Zunften lagen zwar Vermutungen uber Geldunterschlagungen der Zunftaltesten zugrunde, direkte Belege dafur gab es aber nicht. Z u m Teil wurden diese V e r m u t u n g e n durch die unsachgemaBe Buchfuhrung hervorgerufen. AuBerdem machte die Handwerksverwaltung von ihrem Recht Gebrauch, die H o h e der Beitrage fur die Unterhaltskosten der Handwerksverwaltung selbst zu bestimmen. Seit 1848 wurden diese Sondergeldsammlungen z u m Teil legalisiert, indem z. B . die bei der Verwaltung angestellten Makler Gehalter bekamen. U n a b h a n g i g davon, ob die Handwerksverwaltungsmitglieder das Geld unterschlagen hatten oder nicht, steht fest, daB die Handwerksverwaltung oft von Vgl. Oderki istorii Leningrada, torn 2, S. 25. ihrem Recht Gebrauch machte und die Handwerker zu unangemessenen A b g a b e n zwang. So durfte z. B . j e d e r H a n d w e r k e r aus den Zunften austreten, w e n n er in einen anderen Stand wechselte b z w . aus d e m Handwerkerstand ausschied. Er sollte dabei keine zusatzlichen A b g a b e n an die Handwerksverwaltung entrichten. Trotzdem verlangte die Handwerksverwaltung z. B . v o n Ignatij Karlov, der sich im Jahre 1850 der geistlichen Laufbahn im Ceremeneckij-Kloster w i d m e n wollte, eine unangemessene S u m m e v o n 100 Silberrubel als Abtrittsgeld, w o z u sie kein Recht h a t t e . W a s die nichtzunftigen H a n d w e r k e r anbetrifft, so waren sie steuerrechtlich gesehen in einer besseren Lage als die Ziinftigen, weil bei ihnen eine M e n g e Zunftabgaben wegfielen. Sie entrichteten in der ersten Halfte d e s 19. Jahrhunderts die Kopfsteuer in H o h e v o n 0,83 b z w . 0,95 Silberrubel sowie eine A b g a b e v o n drei bis funf Silberrubel an das AdreBkontor, u m in der Hauptstadt ihr G e w e r b e betreiben zu konnen. 605 605 Po proseniju Ignatija Karlova ob uvoPnenii ego iz obScestva dlja postuplenija v Bogoslovskij Ceremeneckij monastyr' (30.09.1850-26.10.1851), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 911. 7. Die soziale L a g e der H a n d w e r k e r Die Erforschung der sozialen Lage der Handwerker in St. Petersburg kann viel dazu beitragen, die Ursachen fur das soziale Elend der „Unterschichten" der russischen Gesellschaft zu verstehen. Die Rede v o n V. O. Iordan wahrend der zweiten T a g u n g iiber die technische Berufsausbildung war eine W a r n u n g , ein Appell an die Offentlichkeit, nicht die Interessen der „Unterschichten" zu miBachten: „... Wir diirfen nichi: darauf warten, bis die gegenseitigen MiBverstandnisse und die Unzufriedenheit der Handwerker dazu fuhren, daB sie mit der Grausamkeit einer wiitenden M e n s c h e n m e n g e auf die StraBe gehen. [...] Die materielle Lage vieler H a n d w e r k e r unterscheidet sich k a u m von der Lage der Haftlinge im Gefangnis, so daB solche Handwerker nichts zu verlieren haben und bei solchen Lebensumstanden keinen Wert mehr auf Ehre und guten R u f legen. Mit welchen MaBnahmen wird dann die Gesellschaft eingreifen, um sich von den verbrecherischen Handlungen der verdorbenen handwerklichen 606 U m g e b u n g zu s c h i i t z e n ? " . Es ist zu klaren, inwieweit die Worte von Iordan der wirklichen Lage der H a n d w e r k e r entsprachen, ob sie, bedingt durch eine Ubertreibung, eher eine „Schwarzmalerei" der Lebensumstande der niederen Bevolkerungsschichten waren und wenig mit der Realitat zu tun hatten, oder o b sie vielmehr Ausdruck der Hilflosigkeit und E m p o r u n g iiber das soziale Elend der H a n d w e r k e r waren? 7.1 Die soziale Herkunft der H a n d w e r k e r und ihre demographische Verteilung Nicht nur die Kaufmannschaft und der Adel waren von der Herkunft her heterogen, so daB sie ihre Mitglieder aus unterschiedlichsten sozialen Schichten rekrutierten, sondern auch die Handwerkerschaft, w a s mit einem Beispiel zu belegen ist: Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts gab es in St. Petersburg 18 Hutwerkstatten mit einem bis sechs Beschaftigten. Acht Werkstatten gehorten Auslandern, funf russischen Kaufleuten, drei Soldaten und Matrosen und j e eine 607 einem Bauern und einem Zunftmeister . Im Z u s a m m e n h a n g mit der Herkunftsbasis bzw. der sozialen Z u s a m m e n s e t z u n g der Handwerkerschaft St. Petersburgs ist es notig, auf den Arbeiterbegriff im 19. Jahrhundert einzugehen. Puttkamer machte auf die wichtige Tatsache aufmerksam, daB es fur die Reformprojekte und Arbeiterschutzgesetze in der Zeit zwischen den sechziger und achtziger Jahren charakteristisch war, die Arbeiterschaft nicht als eine soziale Gruppe, sondern rein funktional als die Beschaftigten in den jeweiligen Fabriken zu bezeichnen. Erst 1893 w u r d e n in einem Gesetzesentwurf „,Arbeiter* (rabodie) und ,Arbeitgeber* (rabotodateli) als zwei komplementare soziale Gruppen mit entgegengesetzten Interessen" genannt, „wahrend bislang die Unternehmer den Arbeitern als Partner eines Rechtsverhaltnisses (nanimateli, wortlich: Beschaftiger) oder als Herren (chozjaeva, vladel *cy) gegenubergestellt worden w a r e n " . Die Ursache, w a r u m die , Arbeiter nicht als eine soziale G r u p p e w a h r g e n o m m e n werden konnten bzw. w a r u m es unmoglich war, unter diesem Begriff nur die Fabrik- u n d Werksarbeiter zu verstehen, lag in der Multifunktionalitat dieses Wortes. Unter „Arbeiter" wurden g a n z verschiedene professionelle und soziale G r u p p e n zusammengefaBt. Meistens waren es Saisonarbeiter uberwiegend bauerlicher, aber auch kleinburgerlicher Herkunft. So stellt Hildermeier fest: „Innerhalb des meSeanstvo bildete sich - mit dem unscharfen zeitgenossischen Begriff zu reden - eine untere, noch geringer geachtete , K l a s s e \ die m a n als , Arbeitsleute' (rabodie ljudi) b e z e i c h n e t e " . D e r Staatsrat OznobiSin formulierte 1841 z. B . den Begriff des „Schwarzarbeiters" (dernorabodij), der mit dem Begriff „Arbeiter" haufig verwechselt und gleichgesetzt w u r d e , auf folgende Weise: 608 u y 609 „Unter einem Schwarzarbeiter wird eine Person verstanden, die im AdreBkontor in der vierten oder funften Klasse registriert ist. Das sind namlich Lakaien, Kutscher, StraBenfeger, A m m e n , Kochinnen, Wascherinnen, Kuchenjungen, Gespannreiter, sowie diejenigen, die bei Privatpersonen beschaftigt werden; die sich in den Arbeitshausern und in der Lehre bei den masterovye und rerneslenniki befinden, sowie Pflasterer, Erdarbeiter, Maurer, Steinschleifer, Ofensetzer, Zimmerer, 607 RGIA, f. 1, op. 2, d. 1879,1. 4f.; d. 1882,1. 38-42; f. 2, d. 629,1. 623f., in: Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 281. 608 Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 32f. Stuckarbeiter, Lohnarbeiter (podensdiki), Matrosen, Lotsen und andere mit schwerer korperlicher Arbeit Beschaftigte" . 610 Bezeichnend ist, daB Oznobisin auch solche Gruppen erwahnt, die mit Arbeitern nach dem heutigen Verstandnis uberhaupt nichts zu tun hatten. Dies sind Lakaien, Kutscher, StraBenfeger, A m m e n , Kochinnen, Wascherinnen, Kuchenjungen, Vorreiter, Lehrlinge, Matrosen und Lotsen. Sehr bedingt k o n n e n unter diesem Begriff auch Pflasterer, Erdarbeiter, Maurer, Steinschleifer, Ofensetzer, Zimmerer und Stuckarbeiter zusammengefaBt werden, die fast alle in Artels organisiert w u r d e n , die mit e i n e r B e g r i f f s k e t t e wie: Arbeiter-ArbeiterklasseIndustrieproletariat w e n i g gemeinsam haben. Die einzige Gruppe, die z u m Begriff der Arbeiter passen konnte, sind die Lohnarbeiter. DaB unter ihnen nicht die Arbeiter in den GroBindustriebetrieben verstanden wurden, belegt allerdings die Tatsache, daB Oznobisin zu dieser Gruppe der „Schwarzarbeiter" v o n ca. 130.000 noch weitere 50.000 bis 60.000 Arbeiter, die standig in der Stadt beschaftigt wurden, dazuzahlte. Z u diesen letzteren sollten auch die Arbeiter in der GroBindustrie gehoren. Trotzdem war die Anzahl der groBindustriellen Betriebe zu dieser Zeit im Vergleich zu den Werkstatten bzw. den Betrieben des kleineren und mittleren G e w e r b e s gering. D a s Petersburger Gewerbe trug in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts noch uberwiegend kleinindustriellen, handwerklichen Charakter. Oznobisin beziffert die Gesamtzahl der „Schwarzarbeiter", die saisonal in die Hauptstadt kamen, in den Jahren 1839, 1840 und 1841 mit jeweils 127.831, 132.920 und 125.293, wobei davon 1840 und 1841 j e w e i l s 98.621 bzw. 91.877 mannlichen und 34.299 bzw. 33.416 weiblichen Geschlechts waren. D a s waren fast ausschlieBlich bauerliche Saisonarbeiter, die in St. Petersburg bei ihren Arbeitgebern in unterschiedlichen Rechtsverhaltnissen standen. Diejenigen, die weniger als ein Jahr in der Stadt arbeiteten, w u r d e n meistens als Stuckarbeiter eingesetzt. Diejenigen Arbeiter, die langer als ein Jahr beschaftigt w u r d e n oder diejenigen, die in die Lehre geschickt wurden, schlossen meistens einen schriftlichen Vertrag ab, ansonsten waren mudliche Absprachen ublich. Die 610 „Pod cernorabo£imi polagajutsja ljudi, zapisannye v Adresnoj ekspedicii po 4 i 5 razrjadam, как to: lakei, кибега, dvorniki, kormilicy, kucharki, pra6ki, povarenki, forrejtory, nanimaju§6iesja и dastnych ljudej i и izvoz6ikov, i nachodjaSdiesja v obudenii, v naemnych domach, obu6aju§6iesja po kakomu-libo usloviju и masterovych i remeslennikov, как muzskogo tak i zenskogo pola, a takze ne zapisavslesja v Adresnoj ekspedicii: mostovSdiki, zemlekopy, kamenSCiki, kamenotesy, pe6niki, plotniki, stukatury, poden§6iki, motrosy i locmany i procej tjazeloju rabotoj /^nimajuSdiesja", aus: Mnenie statskogo sovetnika OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8, d. 577: О merach uluesenija polozenija rabodich i remeslennikov v Peterburge, 1. 42. Arbeitgeber ubernahmen Kost und Logis, w a s fur den handwerklichen Charakter der meisten Betriebe s p r i c h t . Die standigen Arbeiter bzw. die standig Beschaftigten im stadtischen H a n d w e r k w u r d e n allerdings nicht in der oben genannten Gesamtzahl der „Schwarzarbeiter" erwahnt, weil Oznobisin die Gesamtzahl aller „Arbeiter" mit ca. 188.000-198.000 bezifferte. Mit den Apanagebauern waren es 1840 205.000 ,>Arbeiter". In diese Statistik w u r d e n die selbstandigen Meister bzw. Zunftmeister nicht aufgenommen, da diese zu den Arbeitgebern (nanimateli, chozjaeva) gezahlt wurden. In der Statistik v o n Veselovskij aus dem Jahre 1843 sind etwas andere Zahlen angefuhrt. In diesem Jahr k a m e n laut den offiziellen A n g a b e n 90.000 unqualifizierte Arbeiter jahrlich nach St. Petersburg (dernorabocy). R u n d 60.000 dieser Arbeiter k a m e n nur in der Sommerzeit und wurden meistens in der Bauindustrie beschaftigt. Die ubrigen etwa 30.000 blieben ganzjahrig in St. Petersburg. A u s ihren Reihen w u r d e n die Arbeitskrafte fur die H a n d w e r k s - und Industriebetriebe rekrutiert. Hier ist es schwer zu schatzen, w e l c h e n Anteil die Handwerksbetriebe daran hatten. A u f j e d e n Fall war die Mehrheit im H a n d w e r k tatig. Die v e r a l l g e m e i n e m d e Bezeichnung der in die Stadt Zugewanderten als unqualifizierte Arbeiter seitens offizieller Statistiker scheint hier unangebracht zu sein, weil unter diesen „Arbeitern" auch ausgebildete Handwerker waren. E s kann als sicher gelten, daB diese Zahl nur die H a n d w e r k e r und Fabrikarbeiter beinhaltete, weil die wirklich unqualifizierten Arbeiter, unter ihnen Mullversorger, Trinkwasserfuhrleute u. a., extra aufgefuhrt wurden. Ihre Zahl erreichte 20.000. D a z u k a m e n noch 6.000 StraBenverkaufer . 611 612 D e m Kontext der Formulierung v o n Oznobisin gemaB gehorten die masterovye u n d remeslenniki nicht zu den „Arbeitnehmern", sondern zu den „Arbeitgebern", weil sie Lehrlinge aufiiehmen konnten und v o n daher eigene Werkstatten fuhrten. Allerdings konnten mit diesen Begriffen auch andere Gewerbegruppen bezeichnet werden. Masterovoj konnte damals remeslennik (Handwerker), remeslennyj rabocy (Handwerksarbeiter), podmaster'e (Geselle) oder einfach rabocy (Arbeiter) im H a n d w e r k oder in der Fabrik bzw. zavodskoj masterovoj (Fabrikarbeiter) heiBen. Unter den remeslenniki wurden dagegen fast ausschlieBlich H a n d w e r k e r bzw. Meister v e r s t a n d e n . Die Hauptquelle der Arbeitskrafte fur das expandierende H a n d w e r k St. Petersburgs waren also fur die hier untersuchte Periode uberwiegend Bauern und 613 611 Ebd., 1. 42f. 612 Veselovskij, Statisticeskie issledovanija, S. 26f. 613 4 Vladimir Dal', Tolkovyj slovar zivogo velikorusskogo jazyka, Bd. 2, Moskau 1989, S. 303f.: „Master, Mesterovoj"; Bd. 3, Moskau 1990, S. 185: ,,Podmaster'e"; Bd. 4, Moskau 1991, S. 6: „Rabo6ij", S. 91 f.: „Remeslo, remeslenyj, remeslenik". 614 Kleinburger anderer russischer Stadte sowie Handwerker aus d e m A u s l a n d . Dafur legen einige statistische A n g a b e n Zeugnis ab. N a c h einem Verzeichnis aus den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts wurden in den russischen Zunften 1.455 H a n d w e r k e r gezahlt, von denen 838 oder 5 7 , 6 % leibeigene Bauern waren. 2 6 9 Beisassen m a c h t e n 1 8 , 5 % der Gesamtzahl aus und kamen aus verschiedenen Stadten. Die Mitglieder anderer sozialer Schichten waren wie folgt vertreten: 14 niedere Kirchendiener, neun Soldatenkinder und Kutsche, funf Personen unbestimmter sozialer Herkunft, 96 Auswanderer aus den Ostseeprovinzen und 188 auslandische Handwerker. Die letzteren traten fast ohne A u s n a h m e den deutschen und russischen Zunften b e i . 615 Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts blieb das prozentuale Verhaltnis der sozialen Herkunftsgruppen unter den Zunfthandwerkern im Vergleich zu den 1720er Jahren ungefahr gleich. Die Materialien der drei stadtischen Volkszahlungen von 1 8 1 1 , 1 8 1 5 / 1 6 und 1834/35 geben eine Vorstellung iiber die soziale Herkunft der standigen Zunftmeister, die einen festen Stamm der Handwerkerschaft St. Petersburgs b i l d e t e n (siehe Tab. 10). Die statistischen Erhebungen der Jahre 1 8 1 1 , 1 8 1 5 / 1 8 1 6 und 1834/1835 erfaBten insgesamt 1.465 Personen. V o n diesen neuen Zunftmitgliedern waren 762 freigelassene und staatliche Bauern, was mehr als 5 0 % ausmachte. E s waren keine leibeigenen Personen mehr, wie es 1724 noch der Fall war, sondern ehemalige leibeigene Bauern. In dieser Gruppe wiederum waren am zahlreichsten die freigelassenen Hausknechte vertreten, was kaum ein Zufall war, weil z. B . im Jahre 1836 in St. Petersburg mehr als 50.000 Hausknechte wohnten, von denen viele unter anderem dem Schneider- oder Schuhmacherhandwerk nachgingen, ohne dabei in die Zunft der Hausdiener (cech slug) oder in die Zunft des entsprechendes H a n d w e r k s einzutreten . 616 617 Die Anzahl der in die Zunfte eingetretenen Beisassengemeindemitglieder stieg im Vergleich zu den 1720er Jahren wesentlich an. Dieser Bevolkerungsgruppe gehorten Kleinburger, Kaufleute, Handwerkerkinder und Zoglinge des Erziehungshauses an. Es entstand ein fester Kern von Stadtburgern, w a s dazu beitrug, daB sich der Handwerker stand immer deutlicher profilierte. In den ersten Jahren nach der Hauptstadtgriindung war es nicht moglich, weil die ganze Handwerkerschaft wie auch die ganze gewerbetreibende Bevolkerung auf einmal 614 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 8; Heiko Haumann, Unternehmer in der Industrialisierung RuBlands und Deutschlands. Zum Problem des Zusammenhanges von Herkunft und politischer Orientierung, in: Scripta Mercaturae, Heft 1/2, 1986, S. 143-161. 615 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 102. 6 , 6 Ebd., Bd. 2, S. 32. 617 Zabolockij-Desjatovskij, Statistideskie svedenija о St. Peterburge, Bd. 1-2. SPb. 1836, S. 124. ktinstlich auf den B o d e n der neuerstandenen Stadt verpflanzt w u r d e . Die Beitritte z u m Handwerkerstand aus dieser sozialen G r u p p e lagen in den Jahren 1811 bei 2 6 % und zwischen 1834 und 1835 bei 2 7 , 3 % der Gesamtzahl der Eintritte in die Zunfte. D i e Nachkriegsjahre 1815/1816 k o n n e n hier als eine A u s n a h m e betrachtet werden, weil die stadtische Gesellschaft in ihren finanziellen und menschlichen Ressourcen vollig erschopft war. D a s beweist auch der starke R u c k g a n g der Handwerkerzahlen in diesen J a h r e n : 618 Tabelle 10: D i e soziale Herkunft der Zunftmeister 1811. 1815-1816 und 18341835 1811 1815-1816 1834-1835 Freigelassene Hausknechte (dvorovye) 155 (30,2%) 80 (40%) 296 (39,5%) Freigelassene Bauern 53 (10,3%) 16 (8%) 61 (8,1%) Staatsbauern 45 (8,7%) 8 (4%) 48 (6,4%) Kleinburger von St. Petersburg unter anderem Stadten 48 (9,3%) - 87(11,6%) Kaufleute von St. Petersburg unter anderem Stadten 20 (3,8%) 3(1,5%) 17(2,2%) 106(18,8%) 73 (36,5%) 108(14,5%) Kinder der Handwerker von St. Petersburg 35 (6,8%) 3(1,5%) 9(1,2%) Uneheliche Kinder u. aus dem Erziehungshaus 6(1,1%) 1 (0,5%) 92(12,3%) Soldaten im Ruhestand und ihre Kinder 8(1,5%) - - Ubrigen 37 (9,5%) 15(8%) 25 (4,2%) 523 (100%) 199 (100%) 743 (100%) Jahr Auslander Gesamt Quelle: Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2, S. 32. Die auslandischen Handwerker spielten bei der Bildung der handwerklichen Korperschaft der Hauptstadt eine genauso wichtige Rolle wie 100 Jahre zuvor. In den Jahren 1811 und 1834/1835 wiesen sie mit jeweils 1 8 , 8 % und 1 4 , 5 % einen hohen Prozentsatz an der Gesamtzahl der Beitritte auf. In den 181 Oer Jahren nach d e m E n d e des Krieges mit N a p o l e o n traten sehr viele auslandische Handwerker in die russischen Zunfte uber, w a s eine Halbierung der Handwerkerzahlen in den deutschen Zunften verursachte. So machten sie unter den neu Beigetretenen in den russischen Zunften in den Jahren 1815-1816 mit 73 Meistern 3 6 , 5 % aus. Dies laBt sich dadurch erklaren, daB die Handwerker in den deutschen Zunften seit 1810 mit 100 Rubel besteuert wurden, was weit uber dem Steuersatz der H a n d w e r k e r in den russischen Zunften lag. D u r c h den Ubertritt wollten sie offenbar dieser hohen Besteuerung entkommen. Die relativ hohe Beitrittszahl der Kleinburger lieB spater deutlich nach, so daB in den Jahren 1855 bis 1856 nur 4 4 7 mannliche u n d 2 9 0 weibliche Personen, insgesamt also 737 Kleinburger, als Handwerker tatig waren. D a s machte 1,1% der Gesamtzahl der mescane a u s . Die soziale Herkunft aus dem Bauernstand schlug sich bei den Zunftmitgliedern folgendermaBen nieder. Im Jahre 1844 gab es unter den zeitweiligen Handwerkern der russischen Zunfte und in den deutschen Zunften 13.274 Gesellen und 12.836 Lehrlinge, von denen jeweils 6 1 , 5 % bzw. 6 5 , 9 % ihrem Stand nach Leibeigene w a r e n . Einer anderen Quelle ist zu entnehmen, daB im gleichen Jahr v o n den 24.703 zeitweiligen Zunftmeistern, Gesellen und Lehrlingen 15.043 oder 61 % dem bauerlichen Stand a n g e h o r t e n . Der immer starkere Z u w a c h s an bauerlichen Handwerkern w u r d e hauptsachlich dadurch verursacht, daB die leibeigenen Bauern immer weniger dem Frondienst (barscina) nachgingen, da sie von den Grundherren in die Stadt z u m Geldverdienen geschickt wurden und auch die Bauernkinder wurden zu den stadtischen H a n d w e r k e r n in die Lehre gegeben, u m spater von ihnen als selbstandige H a n d w e r k e r oder Gesellen bei einem Meister Geldzins (obrok) b e k o m m e n zu k o n n e n . So n a h m zwischen den Jahren 1765 und 1858 der Prozentsatz der Barscina-Bauern von 40,8 auf 3 2 , 5 % an der Gesamtzahl der 619 620 621 622 619 Otcet po upravleniju S. Peterburgskogo meScanskogo soslovija S. 23-35, aus: Hildermeier, Burgertum, S. 443. 620 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2, S. 33; Vgl. ebd., Bd. 1, S. 36 f., aus: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 180 (1844): О disle nachodjasdichsja v S. Peterburge rabotnikov i ucenikov kazdogo cecha porozn , как krepostnogo, tak i svobodnogo sostojanija, 1. 6-11; ebd., S. 37, aus: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 180 (1844): О aisle, 1. 13 ff. 4 621 Zapiska statskogo sovetnika Smirnova vom 23.06.1844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii, hier 1. 48. 622 Zum bauerlichen Standeswechsel s.: Heller, Rechtliche, S. 99-107; Hildermeier, Burgertum, S. 234-246. 6 2 3 Bauern a b . A u c h die Staatsbauern wurden durch die E r h o h u n g des Geldzinses, der zwischen 1725 und 1839 v o n 0,4 auf 2,86 Rubel angestiegen war, dazu gezwungen, als Saisonarbeiter in die Stadt zu g e h e n . U m zu verdeutlichen, welche A u s w i r k u n g e n das fur St. Petersburg in der Zeit vor der groBen Reform von 1861 hatte, soil hier in Erinnerung gerufen werden, daB im Jahre 1801 50.454 oder 2 5 % , 1821 107.983 bzw. 2 7 , 5 % und 1857 202.847 bzw. 4 1 , 3 % der stadtischen B e v o l k e r u n g Bauern w a r e n . U m die Jahrhundertwende machten die Bauern schlieBlich gut die Halfte der hauptstadtischen Bevolkerung aus. Es ist fast selbstverstandlich, daB St. Petersburg mit seinem groBen wirtschaftlichen Potential fur die naheliegenden Regionen ein starker Magnet war, so kann es nicht verwundern, daB auch die finnischen H a n d w e r k e r zahlreich in der Hauptstadt vertreten waren. W u r d e n im 18. Jahrhundert z. B . 98 finnische Juweliere in St. Petersburg gezahlt so w u c h s deren Anzahl zwischen 1800 und 1870 auf 508 an. Es waren nicht nur erwachsene H a n d w e r k e r , die in die Hauptstadt kamen, sondern auch finnische Kinder, von denen viele in die Lehre zu den St. Petersburger Meistern gegeben wurden. Seit d e m Jahre 1851, als alle finnischen Lehrlinge dazu verpflichtet wurden, ihre Vertrage mit den Meistern in der Finnischen Abteilung fur das PaBund M e l d e w e s e n (Finskijpasportnyj otdel) zu registrieren, w u r d e n hier bis 1900 2081 solcher Vertrage registriert . E s gab mehrere Griinde, w a r u m die H a n d w e r k e r aus Finnland nach St. Petersburg k a m e n . Fur die Gesellen aus Finnland, die zu H a u s e nur schwerlich den Meistertitel erlangen konnten, weil es dort weniger Arbeit gab und die Zunfte rigoros die Anzahl der Handwerker begrenzten, bot St. Petersburg viel groBere Chancen z u m beruflichen Aufstieg und bessere V e r d i e n s t m o g l i c h k e i t e n . Sie konnten hier auBerdem eine hohere Fachqualifikation erwerben. A u c h die Wettbewerbsfreiheit, die in Finnland durch die Zunfte stark eingeschrankt war, spielte eine wichtige Rolle fur den EntschluB, nach St. Petersburg zu gehen, die fur die finnischen H a n d w e r k e r im 18. u n d 19. Jahrhundert die bedeutendste Stadt der nordeuropaischen Region und sowohl ein Fenster nach Europa als auch nach RuBland w a r . 624 625 626 627 628 Fur die Schweden tibte St. Petersburg ebenfalls eine starke Anziehungskraft aus. V o n 1830 bis 1890 kamen aus Stockholm 1.800 Handwerker nach St. Petersburg. 623 Mieck, Europaische, S. 763. 624 Ebd., S. 766. 625 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2, S. 25. 626 Sune Jungar, Finljandskie remeslenniki v S. Peterburge, in: Remeslo i manufaktura v Rossii, Finljandii i Pribaltike. Leningrad 1975, S. 96. 627 Ebd., S. 97. Insgesamt b e k a m e n in A b o , einer finnischen Stadt, die als Zwischenstation fur nordeuropaische Auswanderer gait, in den Jahren zwischen 1828 und 1852 2.356 auslandische H a n d w e r k e r Passe ausgehandigt, u m nach St. Petersburg gehen zu konnen . Die vielschichtige soziale Z u s a m m e n s e t z u n g der Handwerkskorperschaft der Zunfte wurde durch die Gesetzgebung begiinstigt, die flieBende Standesgrenzen zulieB, was schon im Unterkapitel uber die Gesetzgebung im 18. Jahrhundert erlautert wurde. Prinzipiell wurde eine gewerbliche Tatigkeit bzw. die Unterhaltung eines Gewerbebetriebes alien ohne Standesunterschied erlaubt. Dort, w o Zunfte bestanden, trat ihnen j e d e r bei, der die dafur benotigten Voraussetzungen erfullte u n d die d a z u b e n o t i g t e n G i l d e n oder Handelsbescheinigungen erwarb. Als standiger Meister konnte der Zunft j e d e r beitreten, der z u m Kleinburgertum gehorte; als zeitweilige Zunfthandwerker konnten sich ohne Wechsel des Standes Kleinburger, Raznocmcy, Bauern, Adelige und Auslander e i n s c h r e i b e n . Die Reform v o n 1861 hatte keine grundsatzlichen Veranderungen im Zuwachsprinzip bzw. in der sozialen Z u s a m m e n s e t z u n g der Handwerker in St. Petersburg herbeigefuhrt und verstarkte nur die fhiheren Tendenzen, da sie eine weitere Freisetzung der Arbeitskrafte auf dem Land fur die stadtische Industrie bewirkte. St. Petersburg blieb eine Einwanderungsstadt, die den enormen Bedarf an Arbeitskraften nur durch den N a c h s c h u b v o m Land decken konnte. Diese Tatsache k o n n t e zu dem SchluB verleiten, daB die meisten bauerlichen Handwerker bzw. Lohnarbeiter nur saisonal oder kurzfristig in der Stadt beschaftigt wurden, w a s auch fur die Jahre von der G r u n d u n g der Stadt bis z u m letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zutraf. Es ist aber festzustellen, daB gerade in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung in entgegengesetzter Richtung eintrat. Es gab nun eine immer groBere Anzahl bauerlicher Handwerker, die in der Hauptstadt seBhaft wurde. Ungeachtet der starken saisonalen Fluktuation der Arbeitskrafte verfestigte sich anscheinend die Arbeiterschaftsstruktur betrachtlich, so daB A. V. Pogozev fur die Jahre 1886-1893 feststellte, daB St. Petersburg den hochsten Prozentanteil derjenigen Arbeiter in RuBland aufwies, die rund urns Jahr in den Fabriken arbeiteten und folglich nur schwache Bindungen z u m Dorf h a t t e n . Genau g e n o m m e n waren in den 2 8 8 GroBbetrieben 81.573 Arbeiter beschaftigt, von denen 72.783 oder 8 9 % rund urns 629 630 631 629 Ebd., S. 95. 630 Trudy komissii, cast 1, S. 176f. 631 4 A. V. Pogozev, Ucet Cislennosti i sostav rabo£ich v Rossii, St. Petersburg 1906, S. 101; Paiitnov, Polozenie rabocego klassa v Rossii, torn 2: Period svobodnogo dogovora v uslovijach samoderzavnogo rezima (s 1861 po 1905 g.), izd. 3, Leningrad 1924, S. 22f. 632 Jam* in St. Petersburg b l i e b e n . D e s w e g e n m a g die B e h a u p t u n g von P. N . Stolpjanskij, der sich seinerseits auf die M e i n u n g des Fabrikinspekteurs Ja. T. Michajlovskij bezog, daB „der Fabrikarbeiter [...] in RuBland in uberwiegender Mehrzahl gleichzeitig ein Landeigentumer [ist]. Fur ihn ist die Arbeit in der Fabrik nicht die einzige Einnahmequelle, sondern nur ein N e b e n v e r d i e n s t zu d e m erwirtschafteten P r o d u k t bei der Landbestellung. [Der Fabrikarbeiter] bleibt ein Landarbeiter [ein Bauer] und zieht die Arbeit auf dem Land der Fabrikarbeit v o r " , 633 fur die allgemeinrussischen Verhultnisse richtig sein, fur St. Petersburg ist es aber k a u m zutreffend. Hier war eine deutliche T e n d e n z der Handwerker zu erkennen, nicht nur saisonal sondern ganzjahrig in der Stadt zu bleiben. Ein Regierungsbeamter bestatigte diese Tendenz, indem er schon 1866 feststellte, daB die zeitweiligen H a n d w e r k e r in St. Petersburg meistens seBhaft waren. E r konstatierte aber auch eine betrachtliche Spaltung in den Betrieben der standigen Zunfthandwerker und sagte, daB in dieser Gewerbeschicht „zwei groBe M a s s e n vorhanden sind: einerseits die selbstandigen Meister, andererseits die Arbeiter [rabotniki], die z u m groBten Teil zeitweilig im H a n d w e r k und in der Hauptstadt ihre Beschaftigung fanden . 634 Diese Tatsache spricht dafur, daB die standigen Handwerker, die zu den Stadtbiirgern gehorten und in der Stadt ihre Werkstatt lebenslang oder den groBten Teil ihres Lebens betrieben, in betrachtlichem MaB zu Kleinunternehmern wurden, die kein Interesse an der Ausbildung von Lehrlingen hatten, da sie - von wenigen A u s n a h m e n abgesehen - keine Lehrlinge mehr beschaftigten, sondern nur noch erwachsene Arbeitnehmer. Ihnen wurde bestandig das Beispiel der Kaufleute vor A u g e n gefuhrt, die in der Regel auch kein H a n d w e r k beherrschten und trotzdem oft eine Werkstatt betrieben. Sie stellten einen Meister bzw. F a c h m a n n ein und kummerten sich nur noch u m den Warenabsatz. Dies war nicht der Fall bei den zeitweiligen Handwerkern, die v o m Land kamen und deren soziale Orientierungswerte noch patriarchalisch blieben, w a s heiBt, daB sie sich an traditionellen Werten orientierten, unter denen sie ein „richtiges" arbeits- und hausgemeinschaftliches Leben verstanden, in d e m die Gesellen und 632 Pazitnov, Polozenie, t. 2, S. 23. 633 P. N. Stolpjanskij, 2izn' i byt peterburgskoj fabriki za 210 let её suSiestvovanija 17041914, Leningrad 1925, S. 118f. 634 Dokladnaja zapiska M. Machova, in: RGIA, 1287, op. 8, d. 1554,1. 2. Lehrlinge ihren Platz als „Familienmitglieder" hatten. Dies hinderte j e d o c h die zeitweiligen H a n d w e r k e r nicht daran, ihre Betriebe, die in der Regel v o m Umfang her doppelt so groB wie die der standigen Handwerker waren, im breiten MaBstab zu betreiben. Dies barg oft Risiken, sie gingen oft bankrott, w o r a u f indirekt ihre hohe Fluktuation hinweist. Infolge der groBen sozialen und raumlichen Mobilitat der zeitweiligen Handwerker traten im Laufe von 15 Jahren, zwischen 1855 und 1870, rund 37.000 H a n d w e r k e r zeitweilig in die Zunfte ein und in etwa auch die gleiche Anzahl a u s . 635 Die regionalen Besonderheiten der Korperschaft, die im Gewerbe St. Petersburgs tatig war, lassen sich der Volkszahlung in Stadt und Gouvernement im Jahre 1897 entnehmen. Insgesamt gab es in diesem Jahr 2.112.033 Einwohner, v o n denen 1.007.567 zur ortsansassigen Bevolkerung gehorten: sie machten 4 7 , 7 % der Gesamtzahl aus. Die andere Halfte bildeten die A n k o m m l i n g e aus dem St. Petersburger Gouvernement mit 155.893 oder Gouvernements und Staaten mit 948.573 oder 4 4 , 9 % 7,4% 636 und aus anderen . Die meisten Einwanderer k a m e n aus dem T v e r ' e r (149.560), JaroslavPer (104.283), N o v g o r o d e r (81.720) und Vitebsker (44.766) Gouvernement, aus Livland (37.709), d e m Rjazansker (34.510), Smolensker (33.412), Kostromaer (31.413) und M o s k a u e r (29.729) Gouvernement, aus Estland (27.729) sowie dem Kaluzsker (20.082), Vologoder (17.736) und anderen Gouvernements. Dabei lassen sich drei Regionen, ZentralruBland, die Ostseeprovinzen und der russische Norden ausgliedern, die die 637 groBte Zahl der E i n w a n d e r e r stellten . D a s besondere daran war, daB der St. Petersburger Arbeitsmarkt die groBte Zahl von Zuwanderern nicht aus den naheliegenden Gouvernements wie Vologoda, Oloneck und Pskov, mit A u s n a h m e 4 N o v g o r o d s , hatte, sondern von weit entfernten G o u v e r n e m e n t s wie T v e r , 4 638 Jaroslavl , Vitebsk und a n d e r e n . Das Kontingent der Einwanderer blieb dabei jahrzehntelang konstant. Die Volkszahlung von 1910 ergab ahnliche Ergebnisse wie die von 1869. A u c h 1910 kamen die Bauern aus denselben Gouvernements nach St. Petersburg und in ungefahr dem gleichen proportionalen Zahlenverhaltnis 635 Proekt obrazovanija novogo „S. Peterburgskogo obScestva remeselnnoj promySlennosti, St. Petersburg 1871, S. 23. 636 В. V. Tichonov, Osnovnye napravlenija vnutrennej migracii naselenija Rossii (po dannym perepisi 1897 g. о nemestnych urozencach), in: IZ 88, Moskau 1971, S. 210-256, hier S. 229. 637 638 Ebd., S. 243ff. Vgl. Ё. А. Korol'cuk, Ob osobennostjach ekspluatacii i stacecnoj bor'by peterburgskogo proletariata (70-90-e gg. 19 veka). In: IZ 89 (1972), S. 134-186, hier S. 153f. wie 1 8 6 9 639 . Eine ausgesprochen wichtige Rolle spielte St. Petersburg fur die Bevolkerung des St. Petersburger Gouvernements, aus dem z. B . im Jahre 1912 44.057 Heimarbeiter in St. Petersburg beschaftigt w u r d e n 640 . Hinsichtlich der beruflichen Z u s a m m e n s e t z u n g der bauerlichen H a n d w e r k e r ist die Untersuchung uber die Jaroslavler bauerlichen H a n d w e r k e r v o n L. L u r ' e und A. Chitrov von besonderem Interesse 6 4 1 . Ihren A n g a b e n nach wurden diese A n k o m m l i n g e wie auch die Mehrheit aller gewerbetreibenden Bauern, die nach St. Petersburg k a m e n , in der Bauindustrie, aber auch als Schneider beschaftigt. Uberhaupt gingen 6 1 , 7 % aller Saisonarbeiter im J a r o s l a v r e r Gouvernement nach St. Petersburg. Darunter waren solche Berufe wie die der Maurer, Ofensetzer, Dachdecker, Maler, Stuckarbeiter, Tapezierer, Schneider und Korbflechter vertreten. Der Anteil der J a r o s l a v r e r an der B e v o l k e r u n g der Hauptstadt w u c h s v o n 6 , 8 % oder 45.200 Personen im Jahre 1869 auf 8,2% oder 154.400 Personen 642 im Jahre 1 9 1 0 . U b e r die Stellung der Frauen im H a n d w e r k ist nicht besonders viel bekannt. Deren Anteil im H a n d w e r k w a r traditionell gering. Die Frauen w u r d e n meistens in der Tabak-, Textil- u n d Bekleidungsindustrie beschaftigt. A u s den wenigen A n g a b e n iiber ihre Lage ist es moglich, eine allgemein unbefriedigende berufliche und soziale Situation sowohl im H a n d w e r k als auch in der GroBindustrie festzustellen. U m die Jahrhundertwende waren die Hauptmerkmale der Frauenarbeit ein niedriger Arbeitslohn, ein langer Arbeitstag (bis zu 14 Stunden), fehlende koфorative bzw. professionelle Bindungen unter den Frauen und ihre unzureichende professionelle Ausbildung aufgrund der ungeniigenden Zahl v o n Lehrstellen und des mangelhaften Ausbildungsprozesses, w a s sich in haufigen 643 Klagen, die seitens der Arbeitgeber zu horen waren, n i e d e r s c h l u g . 639 Vgl. A. G. Rasm, Forrnirovanie promySlennogo proletariata v Rossii, Moskau 1940; КогоРбик, Ob osobennostjach, S. 155. 640 Promysly krest'janskogo naselenija S. Peterburgskoj gubernii. S. Peterburgskij uezd, SPb, 1912; Promysly (...), CarskosePskij uezd, St. Petersburg 1910; Promysly (...), Petergofskij uezd, St. Petersburg 1911; Promysly (...), SlissePburgskij uezd, St. Petersburg 1909; Promysly (...), Gdovskij uezd, St. Petersburg 1914; Promysly (...), Luzskij uezd, St. Petersburg 1913; Promysly (...), Novoladoiskij uezd, St. Petersburg 1908. 641 L. Lur'e, A. Chitrov, Krest'janskie zemljacestva v rossijskoj stolice: jaroslavskie „piter§6iki", in: Nevskij Archiv. Istoriko-kraevedceskij cbornik П, Moskau-St. Petersburg 1995, S. 307-354. 642 643 Ebd., S. 309. V. N. Chanykov, К voprosu о ienskom trude v Rossii, Moskau 1899, S. 10ff.; Karnovid, О razvitii zenskogo truda v Peterburge, St. Petersburg 1863. Es ist im Zusarnmenhang mit Frauen bzw. Meisterinnen im H a n d w e r k ein Vorfall zu erwahnen, der einem archivalischen Aktensttick zu entnehmen ist, das einen kurzen Einblick in ihre Lage um die Mitte des 19. Jahrhunderts erlaubt . Es ging u m die Meisterinnen der Nudelmacherzunft Elena Michajlovna Petrova u n d Evdokija Kubova, die am 2 8 . April 1850 an den Innenminister einen Bittschrift einreichten, in der sie sich uber die angeblichen Monopolbestrebungen der Backerzunft beschwerten. In der Beschwerdeschrift wurde angemahnt, daB laut d e m neuen Statut die Backerzunft angeblich auch N u d e l w a r e n herstellen dtirfe und dadurch die Existenz der Nudelmeister bedroht sei. Drahtzieher dieser Intrige waren, wie sich spater herausstellte, der fruhere Konditorenzunftalteste Tobias Branger, der Alteste der Nudelmacherzunft Greppi sowie der Kaufmann Aleksej Lapin, die die Meisterinnen K u b o v a und Petrova zur Unterschrift der Beschwerdeschrift g e z w u n g e n hatten. Sie galten damit als Klagerinnen und zogen somit den U n m u t des Innenministers auf sich. Dieser Vorfall zeigt, daB die Frauen zu dieser Zeit immer noch eine untergeordnete und passive Stellung in der „Mannerwelt" hatten und sich den A n w e i s u n g e n v o n Handwerkskollegen fugen muBten, wodurch sie manchmal in eine prekare L a g e g e r i e t e n . Uber den Anteil der Frauen im St. Petersburger H a n d w e r k in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts gibt es wenig Zahlenmaterial. Im M a r z 1841 waren z. B . unter 3.776 Beschaftigten in den untersuchten Handwerksstatten nur 36 Meisterinnen bzw. Facharbeiterinnen, 39 Lehrmadchen, 2.872 erwachsene Arbeitskrafte mannlichen Geschlechts und 839 Jugendliche beschaftigt, w a s einen Frauenanteil von nur 2 % a u s m a c h t e . 644 645 646 In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts verstarkte sich die allgemeine Tendenz, den ansteigenden Bedarf an Arbeitskraften durch die billigere Arbeitskraft des weiblichen Geschlechts zu decken. So waren in der St. Petersburger verarbeitenden Industrie im Jahre 1869 2 5 , 2 % aller Arbeitnehmer Frauen und im Jahre 1885 machten sie schon 3 1 , 4 % a u s 647 . Den A n g a b e n von N . 2ennin nach gab 644 Es war dariiber hinaus unter der Vielzahl, der Шг diese Arbeit untersuchten Aktenstucke, das einzige Aktenstuck, in dem uber die Meisterinnen im Handwerk berichtet wurde. 645 Po proseniju masteric (...) Petrovoj i Kubovoj (...), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 846,1. 1, 4f. 646 Raport OznobiSina (mart 1841 g.), in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uludSenija, hier 1. 12; Ein wesentliches Merkmal der St. Petersburger Zunfte war, daB in ihnen auch Frauen Mitglieder waren, die manchmal sehr erfolgreich ihr Handwerk betrieben. So fand sich beispielweise 1861 unter den Teilnehmern der Manufakturausstellung die Zunftmeisterin und Korsettmacherin Gjusson, die eine Auszeichnung Шг ihre Exponate erhielt, aus: Statisticeskie svedenija о fabrikax i zavodax eksponentov, polu6iv§ich nagrady na manufakturnoj vystavke 1861 g., St. Petersburg 1862, S. 76. es 1858 im Gesamthandwerk der Hauptstadt 2 2 % Handwerkerinnen u n d 7 8 % 648 Handwerker . Die Werte bei den Zunfthandwerkern und -handwerkerinnen waren in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts viel niedriger im Vergleich mit d e m G e s a m t h a n d w e r k bzw. -industrie. Dennoch lassen sie die demographischen Tendenzen im H a n d w e r k deutlich werden. Im Jahre 1866 gab es 1.959 Meisterinnen und L e h r m a d c h e n oder 6,7% der Gesamtzahl der Handwerker in den russischen Zunften. Es ist dabei zu bemerken, daB auch die Tochter und Frauen der standigen Meister als Standesangehorige mitgezahlt wurden. D e s w e g e n liefern diese A n g a b e n nur annahernde Werte. In den Jahren 1867, 1868 u n d 1873 stiegen die Proportionen mit 2.076 oder 6,7%, 1.789 oder 6 % und 2.741 oder 7,6% Frauen leicht an. In den nachsten Jahren trat diese steigende Tendenz immer deutlicher z u t a g e Folglich konnte sich der prozentuale Anteil an Arbeitskraften 649 . weiblichen Geschlechts v o n 6,7% im Jahre 1866 auf 15,7% im Jahre 1891 mehr als 650 v e r d o p p e l n . In den nachsten zehn Jahren stiegen die Werte mindestens noch u m ein Drittel u n d betrugen im Jahre 1900 2 0 , 8 % Tabellenanhang sind Handwerksbetriebe alle Branchen mehrheitlich fur vertreten 651 . In der Tabelle 24 im 1900 waren. aufgefuhrt, Der in Prozentsatz denen der Arbeiterinnen zur Gesamtzahl der Beschaftigten betrug hier 16,7%. Zieht man, u m einen noch genaueren Koeffizient erreichen zu konnen, alle Betriebe, die mehr als 2 0 Beschaftigte hatten und ihren handwerklichen Charakter moglicherweise verloren, ab, so ergibt sich ein prozentuales Verhaltnis v o n 2 0 , 8 % . E s ist festzustellen, daB sich mit Beginn der Industrialisierung der Anteil weiblicher Arbeitskrafte nicht nur in der GroBindustrie, sondern auch im H a n d w e r k wesentlich vergroBerte. AuBerdem w u r d e St. Petersburg in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts zu einer M o d e m e t r o p o l e in RuBland - die Damenschneidereien u n d uberhaupt alle H a n d w e r k e , die mit D a m e n b e k l e i d u n g zu tun hatten, expandierten kraftvoll und stellten Waren nicht nur fur St. Petersburg, sondern fur ganz RuBland her, w a s z u m absoluten Z u w a c h s an weiblichen Fachkraften im H a n d w e r k beitrug. 648 N. Vermin, Е§бё neskoPko slov, S. 526. 649 Vgl. Tabelle 5, 6, 7 und 8 im Tabellenanhang. 650 Vgl. Tabelle 19, 55 im Tabellenanhang. 7.2 Die L e b e n s - und Arbeitsverhaltnisse im H a n d w e r k A m 6. D e z e m b e r 1840 schickte der Leiter der dritten Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei, Graf Aleksandr Christoforovic Benkendorf, d e m Finanzminister, Graf Egor Francevic Kankrin, ein Geheimschreiben mit der Verfugung des Zaren, die Lage der Arbeiter und H a n d w e r k e r zu erforschen. Die Regierung war nicht bereit, diesem Problem offen nachzugehen, um die Aufmerksamkeit der Offentlichkeit nicht zu wecken bzw. die Gemuter nicht zu reizen. Es sollten vor allem die Ursachen fur schwere Erkrankungen in dieser Bevolkerungsgruppe festgestellt und die Mittel zu ihrer V o r b e u g u n g herausgefunden werden. Die K o m m i s s i o n wurde mit d e m Generalmajor Graf Fedor Fedorovic Buksgevden (Friedrich-Wilhelm), d e m Adjutanten Oberst Furst Illarion Vasil'evie Vasil*cikov, d e m Adelsmarschall von St. Petersburg, dem Stadtoberhaupt und einem Beamten vom 652 Finanzministerium b e s e t z t . Die Durchfuhrung des V o r h a b e n s leitete der Staatsrat Oznobisin. ausfuhrlichen Bericht Reviervorsteher des Er legte vor, der am 18. Februar sich Ochtensker, auf die des 1841 Buksgevden Informationen, Vasil'evsker und einen welche des die zweiten Admiralitatsviertels gesammelt. hatte, stutzte. In diesen Stadtteilen besichtigten die Beamten 85 W o h n u n g e n , v o n denen 25 als gut, 30 als befriedigend und 30 als sehr schlecht bewertet wurden. Sie wurden meistens von Atelsarbeitern bewohnt, die in den B a u h a n d w e r k e n als Zimmerleute, Steinschleifer, Maurer, Stuckarbeiter und Ofensetzer beschaftigt wurden. Daruber hinaus waren in den untersuchten Gewerben traditionelle H a n d w e r k e wie Tischler, Backer, Bottcher und Reifenmacher vertreten. AuBer der Ш е ф г и г ш ^ des sanitaren Zustandes der Raumlichkeiten, in denen die Handwerker arbeiteten und wohnten, stellte die K o m m i s s i o n Statistiken mit den Krankenzahlen und der L o h n h o h e z u s a m m e n (siehe T a b . 11). D e r Tabelle ist zu entnehmen, daB der Arbeitstag j e nach Handwerk unterschiedlich lange war. Seine Lange lag zwischen 10 und 13 Stunden. Sie reduzierte sich wesentlich im Winter, weil der Sonnenstand zu kurz war und nurbei Tageslicht gearbeitet werden konnte. 652 Rasporjazenie о komandirovanii Cinovnika nacaTnika III otdelenija Kanceljarii e.i.v. grafa Aleksandra Christoforovica Benkendorfa к ministru finansov grafu Egoru FranceviCu Kankrinu ot 6 dekabrja 1840 g., in: RGIA, f. 560, op. 8, d. 577: О merach uluCsenija polozenijarabodichi remeslennikov v Peterburge (1840-1842), hier 1. 1; Zur Arbeit der Kommission s. auch: Zelnik, Labor, S. 52. Im allgemeinen w a r der Arbeitstag in den Werkstatten und in den Fabriken etwas 653 langer und dauerte oft bis zu 14 S t u n d e n . D e n gesundheitlichen Zustand der H a n d w e r k e r in den Artels bezeichnete Oznobisin als gut: „Die Arbeiter sahen gesund und heiter aus, w a s die SchluBfolgerung ziehen laBt, daB die schlechten W o h n u n g e n w e n i g A u s w i r k u n g auf ihre 654 Gesundheit ausuben, da sie die meiste Zeit frische Luft e i n a t m e n " . In der Statistik sind erstaunlich w e n i g Kranke, namlich vier a u f 4 5 6 Beschaftigte Tabelle 1 1 : A n z a h l der Beschaftigten u n d kontrollierten Betrieben 1841 Handwerker Auftragnehmer Artelarbeiter der Kranke Arbeitsstunden in d e n Arbeitsstunden pro Tag Sommerzeit Winterzeit Steinmetze 6 84 2 36475 36443 Steinschleifer 2 54 - 36475 36412 Bottcher und Reifenmacher 1 5 - 36444 36317 Semmelbacker 1 8 - 36475 36381 Tischler 6 115 1 36506 36444 Maurer, Stuckarbeiter und Ofensetzer 6 62 - 36506 36348 Zimmerleute 6 128 1 36506 36349 Quelle: О merach uludsenija polozenija rabodich i remeslennikov v Peterburge (1840-1842), in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577,1. 6f. 653 S. О merach ulu6Senija polozenija rabodich i remeslennikov v Peterburge (1840-1842), in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577,1. 6f. 654 Raport statskogo sovetnika Oznobisma general-majoru grafu Buksgevdenu vom 18. Februar 1841, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uludsenija, hier 1. 7. (1:114) oder 0 , 8 7 % v o n 100%, registriert. Dies kann darauf zuruckgefuhrt werden, daB die meisten Artelarbeiter nur fur kurze Zeit in der Stadt arbeiteten: Die Handwerker dieser Artels stammten meistens aus d e m Vologodsker und dem Smolensker Gouvernement, wobei die L a n d b e w o h n e r in der Regel einen besseren gesundheitlichen Zustand als die Stadter aufwiesen, und fur damalige Verhaltnisse gut ernahrt waren: „Die E r n a h r u n g unterscheidet sich in einem Artel von der in einem anderen wenig. In der Fastenzeit b e k o m m e n die Arbeiter Kohlsuppe mit Fisch, Linsen, Kartoffeln und verschiedene Breiarten mit Butter. Wahrend der ubrigen Zeit sind Kohlsuppe mit einem halben bis zu einem Pfund Fleisch pro Person und Brei im Kostplan, an Feiertagen kochen sie N u d e l n mit Fleisch und backen Piroggen. Eine A u s n a h m e bilden die Steinschleifer und die Steinmetze, die auf eigene Kosten leben und gerne start Brei Fisch wie Dorsch, Stromling und Steinbutt Es war dies eine nahrhafte Volkskuche, die die Handwerker hatten, wodurch die geringe Erkrankungsrate teilweise zu erklaren ist. Eine einleuchtende Erklarung fur die niedrigen Krankenzahlen scheint wohl auch zu sein, daB den kranken Arbeitnehmern in der Regel sofort gekundigt wurde. Meistens lagen die Erkrankten zwei bis drei Tage, die v o m L o h n abgezogen wurden, im Bert. W e n n die Lage sich nicht verbesserte, der Erkrankte sich aber weigerte, ins Krankenhaus zu gehen, kundigte ihm der Auftraggeber u n v e r z u g l i c h . Die H a n d w e r k e r begaben sich nur unwillig und in Ausnahmefallen ins Krankenhaus. Dafur waren die langen Wartezeiten in den Krankenhausern und die Kosten fur den Aufenthalt verantwortlich. N u r im Fall einer schweren Erkrankung wurden Arbeiter dorthin gebracht, w a s den Arzten zusatzliche Probleme bereitete, da dies haufig zu spat geschah. 656 AuBer der Hausmedizin und dem Aufenthalt im Krankenhaus gab es noch eine dritte Moglichkeit, die Erkrankten zu behandeln, die unter den Handwerksmeistern praktiziert w u r d e : Falls die Erkrankten nicht im Krankenhaus aufgenommen w u r d e n , behandelte sie ein Arzt zu Hause, wobei die Tage, an denen der H a n d w e r k e r arbeitsunfahig war, wiederum vom Lohn abgezogen wurden. In seltenen Fallen verlangten die Auftraggeber von den Handwerkern noch zusatzlich fur eine arztliche Verpflegung in H o h e von 4 0 bis 70 K o p e k e n pro T a g . 657 655 Raport OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach ulu6senija, hier 1. 7f. 656 Ebd. OznobiSin wies seinerseits auf die folgenden funf Ursachen fur den ernsten Zustand der Arbeiter, die ins Krankenhaus gebracht wurden, hin: 1. Sie HeBen sich nicht v o n einem Arzt behandeln und blieben zu H a u s e . 2. U m Kosten zu sparen, w u r d e n sie mit H a u s - bzw. Volksmedizin behandelt. 3. Die Erkrankten wurden nur bei erheblicher Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes u m Arzt gebracht. 4. Die Arbeiter u n d Handwerker schreckten vor einem monatlichen Krankenhausbeitrag in H o h e v o n 18 Papierrubel zuriick u n d zahlten den Beitrag nicht im Voraus, w a s eine A u m a h m e ins Krankenhaus unmoglich machte. D a s w a r eine Art der ,,Krankenversicherung", die die Arbeitnehmer im Ernstfall absichern sollte. Die Zuruckhaltung in Fragen der gesundheitlichen Absicherung ist dadurch zu erklaren, daB der Beitrag fur die meisten H a n d w e r k e r zu hoch war. 5. W e g e n Platzmangel in den K r a n k e n h a u s e r n konnten die Arbeiter nicht behandelt w e r d e n . Ein zweiter Bericht erfolgte im M a r z 1841, wobei diesmal 199 W o h n u n g e n in denselben Stadtbezirken untersucht wurden. V o n diesen W o h n r a u m e n galten 23 als gut, 65 als befriedigend, 58 als schlecht und 53 als sehr schlecht. Die schlechtesten W o h n u n g e n bewohnten Tagelohner, Trinkwasserfuhrleute, Kutscher u n d Steinschleifer, die in der Regel keine H a n d w e r k e r waren. Die besten W o h n u n g e n b e w o h n t e n die Beschaftigten in den Textil-, Mobel-, Zucker- und Lederfabriken sowie der BronzegieBerei und des Sagewerkes. Die besten Wohnverhaltnisse hatten unter den Zunfthandwerkern die Schreiner, Zimmerer, Schneider und die Beschaftigten bei den S t e i n m e t z e n . Es ist festzustellen, daB, j e wohlhabender ein H a n d w e r k e r war, desto schlechter verpflegte er in der Regel die Beschaftigten in seiner Werkstatt. Als Beispiel dafur kann die Werkstatt des Wagenbauers Frebelius dienen, die in seinem groBen H a u s eingerichtet war, in dem auch die Gesellen und Lehrlinge wohnten. Fur Lebensmittel b e k a m e n sie 12 bis 13 Papierrubel im Monat, obwohl bei anderen Meistern dafur 14 bis 17 Papierrubel pro Person ausgegeben wurden. Ein anderer Meister, der Hutmacher Simis, beschaftigte sieben Lehrlinge auf Vollkost. Z u m Essen hatten sie selten Kohlsuppe, K a s c h a fast nie. Gewohnlich verkostigte sie der Meister nur mit irgendeiner dunnen Suppe. Drei der Lehrlinge, die schon langer in der Lehre waren u n d dem Meister einigen N u t z e n brachten, erhielten manchmal Rindfleisch. Dariiber hinaus wurden die auslandischen Meister getadelt, daB die Russen bei ihnen die Fastenzeit nicht einhielten. Die 199 W o h n u n g e n w u r d e n von 3.776 Personen, die Familienangehorigen der Arbeitgeber nicht mitgerechnet, bewohnt. E s g a b also im Durchschnitt mehr als 20 B e w o h n e r pro W o h n r a u m . Die 30 Erkrankten machten ein Verhaltnis von 1 zu 658 659 Raport OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uludsenija, hier 1. 8f. Ebd., 1. 11. 126 oder 0 , 7 9 % von 100% aus. Elf Erkrankte, also ein Drittel der Gesamtzahl, wurden in der Mobelfabrik des Kaufmanns Betcher gezahlt. D a s ist u m s o erstaunlicher, da seine Fabrik in Hinsicht auf die Wohnverhaltnisse als vorbildlich gait . Bei den folgenden sieben Arbeitgebern auf der Vasilij-Insel und im zweiten Admiralitatsviertel wurden die besten Wohnverhaltnisse festgestellt: 1. Die Parkett- und Mobelfabrik des Taganroger Kaufmanns Vasilij Betcher auf der Vasilij-Insel. Die 34 Arbeiter, 50 Zoglinge des Erziehungshauses, drei Frauen und drei leibeigene Jungen arbeiteten in drei holzernen Hausern im Innenhof. Die Beschaftigten wohnten in groBen, w a r m e n und hellen Raumlichkeiten, die sauber gehalten wurden. Die hohe Erkrankungsrate der H a n d w e r k e r w a r wahrscheinlich durch die schlechten Arbeitsverhaltnisse bedingt. 2. Die Lederfabrik des Kaufmanns der zweiten Gilde, Ivan Sokov, im eigenen Haus. Die 28 Arbeitnehmer bewohnten den holzernen Flugel, der trocken, w a r m und hell war und in sauberem Zustand gehalten w u r d e . 3. Der standige Meister der Steinmetzezunft Stepan Anisimov bewohnte ein eigenes H a u s in der 17. Linie der Vasilij-Insel. Die zwolf Arbeitnehmer w o h n t e n bei ihm in einem holzernen H a u s auf d e m Hof. 4. Der St. Petersburger Kleinburger und zeitweilige Meister der Steinmetzenzunft, Ivan Aleksandrovic Aleskov, hatte seine Werkstatt auf der Vasilij-Insel. Bei ihm waren 17 Arbeitnehmer beschaftigt. Sie w o h n t e n in einem holzernen Haus auf d e m Hof. 5. Der Schneider Jauchc im H a u s der deutschen evangelisch-lutherischen St. Peter-Kirche am Nevskij Prospekt. Die sieben Gesellen und 18 Lehrlinge arbeiteten in einem Z i m m e r und wohnten in zwei Nebenzimmern. 6. Der BronzegieBer und Zunftmeister D o m i a n K n u s m a n b e w o h n t e mit 16 Beschaftigten, von denen zehn Lehrlinge waren, eine W o h n u n g im dritten Stockwerk des Sondermannschen H a u s e s , wobei die Lehrlinge auf d e m B o d e n auf Matratzen schliefen. 7. Die Werkstatt des Schreiners Karl Nibel, die sich ebenfalls im H a u s von Sondermann befand. Seine zwolf erwachsenen Arbeitnehmer und 16 Lehrlinge schliefen im Arbeitsraum auf den W e r k b a n k e n . Diese sieben „besten" W o h n u n g e n waren als trocken, warm, hell und sauber bewertet worden. E s war typisch fur die Zeit, daB es als normal empfunden wurde, daB die Beschaftigten im Arbeitsraum auf den Werkbanken schliefen oder auf Matratzen auf d e m FuBboden iibernachteten, w o sich viel Staub, z. B . bei den 660 661 662 660 Raport OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uluCSenija, hier 1. 12. 661 Steinmetzezunft - cech monumental nych masterov. 662 Raport OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uludsenija, hier 1. 17f. 1 Schreiner- und metallverarbeitenden Betrieben, angesammelt hatte. Es war fur St. Petersburger Verhaltnisse ublich, daB die Arbeitsraume auch als W o h n r a u m e benutzt wurden. Die schlechtesten W o h n u n g e n waren bei folgenden H a n d w e r k e r n vorgefunden worden: 1. Der W a g e n b a u e r Ivan Forbelius hatte ein eigenes steinernes H a u s . D i e sieben Gesellen, drei Arbeiter und acht Lehrlinge wohnten im ersten Stockwerk in einem feuchten kleinen Z i m m e r gegenuber der Toilette, wodurch die Luft verpestet wurde. 2. D a s Artel der Steinschleifer bei der Isaaks-Kathedrale mit 45 Arbeitnehmern bewohnte einen halbdunklen, auBerst feuchten und engen Keller in einem steinernen H a u s , in dem die Schlafplatze auf B a n k e n untergebracht waren. 3. Beim Steinschleifer Ivan Vyracev, ein Staatsbauer aus d e m Vologodsker Gouvernement, wohnten 23 Arbeitnehmer in zwei hellen, aber sehr kalten und nassen Z i m m e r n im zweiten Stock eines steinernen H a u s e s und schliefen auf engen Schlafbanken. 4. Die vier Arbeitnehmer beim leibeigenen Stuckarbeiter Jakov S o l o v ' e v aus dem JaroslavPer G o u v e r n e m e n t wohnten in einem steinernen H a u s im dritten Stock in einem groBen, aber kalten und nassen Z i m m e r . Es w u r d e v o n der K o m m i s s i o n festgestellt, daB die Arbeiter in den Fabriken im allgemeinen besser verpflegt w u r d e n als in den Handwerksbetrieben. Als besonders gut w u r d e n in dieser Beziehung die Zuckerraffinerien von Stieglitz, Ponomarev und Alferovskij bezeichnet. Die Handwerksmeister u n d Auftraggeber bei den Artels ktimmerten sich in der Regel w e n i g u m die Beschaftigten in ihren Betrieben, um ihre Ernahrung u n d Verpflegung. Die Meister, besonders in den Webereien, zogen v o m L o h n der Beschaftigten mehr ab, als beispielweise fur die Kost verbraucht wurde. Die Arbeitsbedingungen bei den Schmieden, Schlossern, KupfergieBern und alien nichtqualifizierten Arbeitern waren in der Regel unbefriedigend. In m a n c h e n Betrieben hatten die Beschaftigten in der Winterzeit weder w a r m e K l e i d u n g noch S c h u h w e r k . 663 664 Uberhaupt hatten alle nichtqualifizierten Arbeiter und in vielen Betrieben auch die Gesellen und Arbeiter (masterovye) schlechte W o h n v e r h a l t n i s s e . Sie wohnten 665 663 Ebd., 1. 19ff. 664 Osobyj zurnal komiteta ministrov ot 23 dekabrja 1841 goda о merach к otvraSdeniju besporjadkov v soderzanii raboeich i remeslennikov v S. Peterburge, in: RGIA, f. 1263, op. 1, d. 1429,1. 556f. 665 Vgl. О byte raboeich ljudej, S. 57f.; Die Wohnverhaltnisse sahen in Westeuropa um diese Zeit ahnlich aus: „Ein grofler Teil der stadtischen Bev6lkerung [lebte] in unzumutbaren Wohnungen. Vielerorts entstanden Mietskasernen, die ebenso wie Kellerwohnungen viele Menschen auf engem Raum unter schlechten Licht- und Luftverhaltnissen beherbergten. unter groBem Platzmangel, in schlecht durchlufteten Kellern oder kalten und nassen W o h n u n g e n . Die W e b e r schliefen auf den Webstuhlen, die Backer auf den Arbeitstischen, die Tischler auf den Werkbanken. Die Wohnverhaltnisse bei den reichen Zunftmeistern waren besonders schlecht. Die meisten der steinernen Hauser im dritten Admiralitatsviertel, in denen eine Vielzahl v o n Handwerkern wohnte, entsprachen nicht den elementaren Feuerschutzregeln. Sie hatten haufig holzerne Treppen, u n d es bestand die Gefahr, daB im Fall eines Brandes und im Gedrange eine Vielzahl von Menschen u m k o m m e n konnte. In m a n c h e n Schreinereien wurden kleine eiserne Ofen installiert, die bei der groBen M e n g e von Spanen eine Brandgefahr darstellten. Die meisten Schlosser- und Schmiedebetriebe der Stadt waren baufallig und stellten ebenfalls eine Brandgefahr d a r . Die Arbeitsbedingungen waren in den Tabakfabriken, Weberwerkstatten und in den Handwerksbetrieben der Schneider, Schuhmacher und Frauenschuhmacher, in denen die meisten Lehrjungen beschaftigt waren, besonders schwierig. Die Beschaftigten in diesen Werkstatten hatten wegen einer ununterbrochen sitzenden Arbeitsweise in engen R a u m e n mit schlechter Luft und eines langen, 1214sttindigen Arbeitstages meistens ein ungesundes und bleiches Gesicht. AuBerdem arbeiteten die Schneider, Schuhmacher und andere Handwerker oft nachts. Die Arbeit fur die Steinschleifer am Bau der Isaaks-Kathedrale beim Auftragnehmer (podrjaddik) Jakovlev envies sich als besonders schwer. Der Arbeitstag betrug hier im Winter bis zu 17 S t u n d e n . Der Ministerialrat verwies diesbeziiglich auf die Vorschlage v o n Oznobisin, die unten aufgefuhrt w e r d e n . N a c h dieser Untersuchung k a m Oznobisin zu der Uberzeugung, daB die W o h n und Arbeitsverhaltnisse der H a n d w e r k e r sich verbessern lieBen, w e n n eine Institution sich darum kiimmern wurde. Deshalb initiierte er das Projekt des „Ftirsorgekomitees fur die Arbeiter und Handwerker in St. Petersburg" (Popeditel 'nyj komitet о rabodich i renteslennikach v S. Peterburge). Der President des Komitees sollte der St. Petersburger Militar-Generalgouverneur sein. D e s weiteren sollte es aus j e einem Mitglied des Finanzministeriums, des Ministeriums fur die Staatsgtiter (ministerstvo gosudarstvennych imusdestv), des 666 667 668 Wegen steigender Mieten waren viele Familien gezwungen, ihrerseits an sogenannte ,Schlafganger' unterzuvermieten [...]. Die Wohnverhaltnisse waren dadurch haufig, vor allem in hygienischer Hinsicht, katastrophal, so daB Krankheits- und Sterblichkeitsraten in stadtischen Elendsvierteln weit uber dem Durchschnitt lagen", in: Hans Pohl, Wirtschaftsund sozialgeschichtliche Grundztige der Epoche 1870-1914: Einfuhrung in die Problematik, in: Ders. (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870 -1914), hier S. 14 - 55, hier S. 37f. 666 Osobyj zurnal komiteta, in: RGIA, f. 1263, op. 1, d. 1429,1. 556f. 667 Ebd., 1. 560f. Gendarmeriekorps, des Adels, der Kaufinannschaft sowie einem Doktor der Medizin, einem Architekt, zwei Beamten fur Sonderauftrage (dinovnikpo osobym porudenijam) und 13 M i t g l i e d e m der Schlichtungsgerichte (slovesnye sudy) als Deputierte des Komitees b e s t e h e n . D a s Komitee sollte d e m Innenministerium unterstellt sein und weitreichende Befugnisse haben; die Schlichtungsgerichte und die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g sollten dem Komitee monatliche Berichte uber die Verhaltnisse in den Handwerksbetrieben bezuglich der Arbeits- und Wohnverhaltnisse der Beschaftigten erstatten. N a c h d e m die K o m m i s s i o n ihre Arbeit beendet hatte, bestimmte der Ministerrat a m 7. Januar 1842, daB sie weiter bestehen sollte, wodurch sich die Frage der Existenz des v o n Oznobi§in v o r g e s c h l a g e n e n Komitees v o n selbst loste. V o n n u n an war es die Aufgabe der Kommission, die Arbeits- und Wohnverhaltnisse in den Werkstatten zu kontrollieren. Sie sollte besonders darauf achten, daB: 1. die Arbeitgeber unverzuglich die festgestellten M a n g e l in den Arbeits- und Schlafraumen beseitigten, 2. in den Werkstatten der Weber, Konditoren, Kalatsch- u n d Lebkuchenbacker entsprechende Schlafraume eingerichtet w u r d e n und 3. die Vermieter W o h n u n g e n , die sie an Arbeiter vermieteten, sauber und ordentlich h i e l t e n . Die Ergebnisse der Tatigkeit der K o m m i s s i o n hatten in Anbetracht der Komplexitat des Problems eine sekundare Rolle fur die realen Arbeitsverhaltnisse. Wesentliche Verbesserungen der Arbeits- und Wohnverhaltnisse im H a n d w e r k HeBen sich nicht durch reine Kontroll- bzw. ZwangsmaBnahmen seitens der Regierung erzielen. D a s war eher ein vielschichtiges wirtschaftliches und soziales Problem, dessen L o s u n g allmahlich durch eine allgemeine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen R a h m e n b e d i n g u n g e n und der E r h o h u n g des allgemeinen Ausbildungsgrades der Handwerker erreicht werden konnte. Eine Kommission, die sich mit den gleichen Aufgaben auseinandersetzte, wurde nochmals 1847 eiberufen und untersuchte im Laufe ihrer Tatigkeit 500 B e t r i e b e . Mit der Tatigkeit der Regierungskommissionen v o n 1840 und 1847 n a h m eine ganze Reihe von Untersuchungen uber die Lage der unteren Schichten der Stadtbevolkerung ihren Lauf. Die Untersuchungen des Statistikers K. S. Veselovskij, die er 1843-1844 in St. Petersburg durchfuhrte, erganzen die Berichte v o n OznobiSin u n d schildern unter anderem die Wohnverhaltnisse der unteren Schichten der Bevolkerung: 669 670 671 669 Proekt ucrezdenija Popeiitel'nogo komiteta о raboeich i remeslennikach v S. Peterburge ot 28.04.1842, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uluCSenija, 1. 58-107, hier 1. 60f. 670 О byte rabodich ljudej v S. Peterburge i о sredstvach к ulueSeniju ich polozenija, Berlin 1863, S. VI. „Es ist bemerkt worden. daB die Enge des W o h n r a u m s und seine Uberfullung durch die B e w o h n e r sowohl fur die Gesundheit als auch fur die Moral schadlich ist. Stellen wir u n s einen R a u m v o n einigen Quadratmetern vor, der Werkstatt, Kuche, Schlafraum u n d Wascherei in einem ist. W i e viele M i a s m e n schweben hier in der Luft. N o c h schlimmer ist es, w e n n j e m a n d stirbt. In diesem Fall bleibt die Leiche drei T a g e im Z i m m e r liegen, in d e m die Arbeiter essen und schlafen" . 672 Besonders hoch war die Sterberate unter der zugewanderten Bevolkerung, die meistens in groBer E n g e in feuchten Kellerraumen wohnte, in denen stickige Luft und gesundheitsschadliche Verhaltnisse die Verbreitung v o n Krankheiten forderten . 1843 gab es in St. Petersburg auf 3 2 0 . 0 0 0 E i n w o h n e r 46.215 W o h n u n g e n , oder sieben Untermieter pro W o h n u n g , von d e n e n j e d e r im Durchschnitt 31 Rubel jahrlich zahlte. Folglich kostete eine W o h n u n g im Durchschnitt 217 Rubel im J a h r . Diese W o h n u n g e n kann m a n j e nach der Miethohe in vier groBe Gruppen unterteilen: 673 674 Tabelle 12: Anzahl der W o h n u n g e n und H o h e der Miete Miete in Rubel Wohnungsanzahl in Prozent unter 30 Rubel im Jahr 1979 4,28 zwischen 30 und 150 25294 54,73 zwischen 150 und 1000 17654 38,11 zwischen 1000 und 30000 1283 2,79 Summe 46215 100 Quelle: K. S. Veselovskij, Statisticeskie issledovanija о nedvizimych imu&estvach v Peterburge, in: Otecestevennye zapiski, torn 57, Nr. 3-4, Cast 2 (1848), S. 15. 4 672 Opisanie issledovanija K. S. Veselovskogo „Statisticeskie issledovanija о nedvizimych imuScestvach v S. Peterburge v 1843-1844 godach, in: Otecestvennye zapiski, t. 56 (1848), S. 72-85, hier S. 84. Nach dem russisch-orthodoxen Glauben sollte die Leiche drei Tage nicht bestattet werden. 673 4 G. I. Archangel skij, 2izn' v Peterburge po statisticeskim dannym, in: Archiv sudebnoj mediciny i obScestvennoj gigieny, kn. 2 (Juni), C. 3 (1869), S. 42. Nicht weniger als zehn Silberrubel kostete ein Winkel in einer W o h n u n g . In den W o h n u n g e n der zweiten Kategorie, die nicht besonders komfortabel waren, lag die Miete zwischen 30 u n d 150 Rubel. Dort wohnten uberwiegend arme Handwerker, Kleinburger und niedrigbezahlte Angestellte. Die w o h l h a b e n d e n Handwerker mieteten die W o h n u n g e n der dritten Gruppe fur 150 bis 1.000 Rubel pro J a h r . Eine Vielzahl der W o h n u n g e n der beiden niederen Preisklassen lag in den billigen Mietshausern u m den Heumarktplatz (Sennaja plosdad ) u n d w u r d e v o n Bauern und H a n d w e r k e r n bewohnt. Dieses Stadtviertel w u r d e oft in den Werken v o n F. M . Dostoevskij als ein Beispiel des sozialen Elends angefuhrt. Ein typisches H a u s dieser Art, das in der Bevolkerung die ,ДериЬНк" (respublika) genannt w u r d e , befand sich in der N a h e des Heumarktplatzes. E s w a r ein dreistockiges Haus mit 46 F e n s t e m auf j e d e m Stockwerk und 60 W o h n u n g e n . W e n n eine durchschnittliche Bewohnerzahl v o n sieben Personen pro W o h n u n g a n g e n o m m e n wird, so betriige die Anzahl aller B e w o h n e r des Hauses 4 2 0 Personen. Tatsachlich w o h n t e n hier zwischen 800 und 1.000, im S o m m e r bis zu 1.700 Personen oder etwa 2 8 in einer W o h n u n g . 675 1 676 Eine untersuchte W o h n u n g dieses Hauses bestand aus einem Flur und einem geraumigen Z i m m e r mit einem groBen russischen Ofen in der E c k e , der etwa ein Viertel des R a u m e s einnahm. In der Mitte des Z i m m e r s stand eine aus Holzbrettern zusammengefiigte Schlafstatte. Unter der D e c k e trocknete die W a s c h e . Im Z i m m e r wohnten die Wirtin, die diese W o h n u n g fur 45,5 Papierrubel im M o n a t mietete, und ihre Untermieter. Unter ihnen waren z w o l f Sagearbeiter, vier Maurer, funf Zimmerleute mit ihren Frauen und Kindern oder 4 0 Personen insgesamt. Sie alle schliefen o h n e Bettwasche in einer Reihe nebeneinander. Die Miete betrug im Durchschnitt 50 Silberkopeken oder rund 1,75 Papierrubel pro Person im Monat. Die Untermieter teilten sich in verschiedene Gruppen, so daB eine W o h n u n g in der Regel nur von den Maurern, die andere nur von den Zimmerleuten b e w o h n t w u r d e . In diesem H a u s befand sich im Keller eine Backerei, die „ kuren'" genannt wurde. Diese Art von Backereien produzierte verschiedene Brotsorten und Geback, z. B . WeiBbrot, Roggenbrot, Piroggen und anderes fur den Verkauf auf den Marktplatzen der Stadt. Es war ein groBes verrauchertes Zimmer, das zum groBten Teil von einem massiven Ofen besetzt wurde. Ringsherum standen Arbeitstische, an den W a n d e n die Regale mit der fertigen Ware und in den dunklen Ecken die Bretter, auf denen die Arbeiter schliefen. Der Zustand des B o d e n s und der W a n d e zeigte, daB der B o d e n niemals gewaschen und die W a n d e niemals gestrichen wurden. Es w a r kein Handwerksbetrieb im strengen Sinne des Wortes. Der 677 675 Ebd., S. 15f. 676 Ebd. 677 Ebd., S. 18ff. Betriebsinhaber war eine Art Unternehmer, der den R a u m mietete und die Arbeiter einstellte. Er selbst n a h m an der Arbeit der Backerei nicht teil und wohnte anderswo. Hier w o h n t e n und arbeiteten 26 Handwerksarbeiter, wobei sechs von ihnen im Flur tibernachteten, in d e m in einer Nische eine Art Schrank eingebaut war, der durch Bretter in sechs Abteilungen geteilt wurde. Er war so eng gebaut, daB man nur einzeln hinein- und hinauskriechen konnte. AuBer den Arbeitern wohnten hier die Austrager, die die Ware auf den Marktplatzen verkauften . In den Berichten der Regierungskommission von 1847 wurden ahnliche Verhaltnisse festgestellt. N a c h M e i n u n g der Kommissionsmitglieder sollten die Backereien o h n e Rauchfang (pekarnye kureni), in denen die „schlimmste Unsauberkeit" (gospodstvuet velicajsaja necistota) herrschte, besonders auf die Arbeitshygiene achten. Die Arbeitgeber sollten in den Arbeitsraumen nach Bedarf wenigstens die W a n d e weiBen, den FuBboden ofter waschen und den Arbeitern nicht erlauben, auf den Arbeitstischen zu schlafen, sondern dafur vorgesehene Schlafraume einrichten. Laut Empfehlung der Kommission sollten die Lehrlinge wenigstens zweimal im M o n a t ein Dampfbad nehmen und taglich Gesicht und Hande waschen. Die arztliche Versorgung lieB zu ubrig wtinschen. Es gab Falle, in denen Arbeiter tot auf der StraBe aufgefunden wurden, wobei in ihren Taschen die Verweiszettel v o n drei oder mehr Heilanstalten entdeckt w u r d e n . Uber die Ubernachtungshauser w u r d e im Kommissionsbericht von 1847 immer noch in Form einer Moglichkeit gesprochen. Diesbezuglich w u r d e im Kommissionsbericht ein Asyl fur Dienstmagde (prijut dlja sluzanok) in der BoPsaja Mesdanskaja Strasse als ein Beispiel zur N a c h a h m u n g empfohlen, das schon 1839 v o n Privatpersonen gegrundet worden w a r . E s war fur diese aber zumeist unmoglich, den finanziellen Aufwand, der fur die Einrichtung eines Ubernachtungshauses notig war, ohne Unterstutzung der R e g i e r u n g zu leisten, w o d u r c h die Projekte meistens nur auf dem Papier existierten. Fur die Regierung gait es, wenigstens die gravierendsten Mangel der Arbeits- und Wohnverhaltnisse zu beseitigen. In Paragraph funf z. B . empfahl diese Kommission, zu verbieten, die Arbeiter auf den FuBboden schlafen zu l a s s e n . 678 679 680 681 Ungeachtet vieler Regierungskommissionen fand keine wesentliche Veranderung in den Arbeits- und Wohnverhaltnissen start. M e h r noch, die privaten Projekte zu deren Verbesserung fanden von Regierungsseite wenig Unterstutzung. Schon im Juli 1843 reichte eine unbekannte Person ein Projekt iiber die Einrichtung spezieller Hauser fur die uberwiegend saisonale Bevolkerung in den verschiedenen 8 Ebd., S.21. 9 Ebd., S. 28, 30f. 10 Ebd., S. 25. Stadtteilen an d a s Innenministerium ein. 1847 schlugen der Staatsrat Arngold und sein Geschaftspartner Bulycev d e m Innenministerium ein ahnliches Projekt vor. Im gleichen Jahr b e k a m dasselbe Ministerium ein Projekt v o n einem Auslander n a m e n s K l e m e n t Rej vorgelegt, der die Einrichtung v o n Hausern fur die Bevolkerung der unteren sozialen Schichten vorschlug, in denen die Arbeiter und H a n d w e r k e r kostenlos oder fur eine minimale Zahlung eine oder mehrere kostenlose b z w . billige Ubernachtungen in Anspruch n e h m e n konnten. D a s Innenministerium gab sein Einverstandnis diesen Projekten, leistete j e d o c h keinen finanziellen Beistand, w a s in Anbetracht der vielen K o m m i s s i o n e n u n d Vorschlage nicht schlussig erscheint u n d a u f die stark ausgepragte formale 682 Handlungsweise der Vertreter d e s Innenministeriums h i n w e i s t . Ahnliche Zustande deckten Publizisten und Fachleute auf. Seit d e m E n d e der 50er Jahre laBt sich ein immer groBeres Interesse der Presse und der Offentlichkeit an der sozialen Lage der unteren Schichten der Bevolkerung, Handwerker inbegriffen, feststellen. Die Aufsatze v o n N . Vermin im „Atenej", V . Piskunov im u „ S o v r e m e r m i k u n d v o n A. Zabelin im „2urnal z e m l e v l a d e P c e v " v o n 1858 u n d 1859 wurden v o n den Berichten in der Presse uber die Arbeit der Regierungskommission, die unter d e m Vorsitz d e s Barons Stackelberg v o n 1859 683 bis 1863 bestand, e r g a n z t . Ungeachtet der unterschiedlichen Betrachtungsweise, mit der die Autoren die L o s u n g des Problems angingen, ist ihren Darstellungen eines gemeinsam: D a s Verstandnis fur die Unmoglichkeit des Weiterbestehens der vorhandenen Rahmenbedingungen, unter anderem im Bereich der Arbeitsbedingungen, d e s Arbeitsschutzes u n d der elementaren Forderungen der Hygiene im H a n d w e r k . Vermin wie auch sein O p p o n e n t Piskunov erkannten bedingungslos die schadliche Wirkung der Leibeigenschaft sowohl im wirtschaftlichen als auch im geistigen Sinne an. Allerdings wies Zennin darauf hin, daB die russische Gesellschaft trotzdem verpflichtet sei - solange die Leibeigenschaft nicht abgeschafft sei - zu handeln u n d zu versuchen, die Situation, w e n n auch anfangs n u r lokal, mit konkreten MaBnahmen zu verbessern. Er schlug schon jetzt vor, noch vor der Abschaffung der Leibeigenschaft, moderne u n d groBe Werkstatten einzurichten, in denen bis z u 2 0 0 H a n d w e r k e r beschaftigt werden konnten. Sie sollten 682 О byte rabofiich ljudej, S. IX. 683 A. Zabelin, Byt remeslennikov i masterovych s medikopolicejskoj to£ki zrenija, in: £urnal zemlevladePcev, Bd. 4, Nr. 16, S. 80-85 (1859); N. 2ennin, ESce neskol'ko slov о naSich remeslennikach, in: Atenej, cast 6 (November-Dezember 1858), S. 519-526; V. Piskunov, О nekotorych neblagoprijatnych obstojatel'stvach byta nasego remeslennogo soslovija, in: Sovremennik, Bd. 72, Nr. 11 (November 1858), S. 120-127; derselbe, E§£6 neskol'ko slov о naSich remeslennikach, in: Sovremennik, Bd. 74, Nr. 3 (Marz 1859), S. 345-350. 4 entsprechend ihrer Leistung entlohnt und verpflegt werden. Bei den Werkstatten sollte sich eine Schule fur die Lehrlinge befinden, in der sie eine Allgemeinbildung erhalten sollten. Diese Werkstatten sollten in einer „Aktiengesellschaft der Handwerksstatten" (Akcionernoe obsdestvo remeslennych masterskich) zusammengefaflt werden. Der Vorschlag, die Handwerksstatte unter dem Dach einer Aktiengesellschaft zu vereinigen, war nicht zufallig. In dieser Zeit w u r d e eine Vielzahl von Aktiengesellschaften in RuBland gegrundet, von denen viele bald wieder in Konkurs gingen. Zwischen 1856 u n d 1860 w u r d e n in RuBland 101 neue Aktiengesellschaften mit einem Gesamtkapital von 286,7 Mill. Silberrubel g e g r u n d e t . Allein im Jahre 1858 w u r d e n 34 Aktiengesellschaften mit einem Gesamtkapital von 56 Mill. Silberrubel registriert . M a n sollte, so Zennin, nicht nur d e m Bauern, sondern auch dem H a n d w e r k e r seine menschliche W u r d e wiedergewinnen helfen. Er kritisierte die Meister, die dafur keinerlei Anstrengungen unternahmen. Die Lehrlinge und die Gesellen sollten vor der Willkur letzterer geschutzt w e r d e n . Es bleibt unbekannt, ob dieses Projekt zustande kam. A u f j e d e n Fall war die von ztennin gewahlte Richtung vielversprechend. Der Versuch von Piskunov, alle Schuld d e m herrschenden System bzw. der Leibeigenschaft zu geben, in dem der Bauer faktisch und formal personlich abhangig war, kann einer kritischen Betrachtung nicht standhalten: „Der Schaden ist allein der heutigen Sachlage zuzuschreiben", schrieb er, „wenn dies (die Abschaffung der Leibeigenschaft, A.K.) geschieht, w e n n unser Handwerker frei wird, dann wird sich nicht nur in unserem Handwerkerstand, sondern in den H a n d w e r k e n selbst eine blitzartige Verbesserung v o l l z i e h e n " . Diese von Piskunov erhoffte „blitzartige Verbesserung" lieB - wie bekannt - noch einige Jahrzehnte nach dem Befreiungsmanifest v o m 19. Februar 1861 auf sich warten. Er unterschatzte die wichtige Rolle der alltaglichen Arbeit auf d e m W e g der Verbesserung. 2 e n n i n behauptete dagegen, daB sich die Situation nicht schlagartig mit einem Befreiungsmanifest andern w u r d e : 684 685 686 687 „Nicht nur die Leibeigenschaft [des Handwerkers, A.K.J ist daran schuld, sondern auch das, was er wahrend seiner Lehrlingszeit sah und erlebte: Die schlechte Behandlung, das schlechte Beispiel der Gesellen, 684 L. E. Sepelev, Akcionernye kompanii v Rossii, Leningrad 1973, S. 65f. 685 N. Babst, Mysli о sovremennych nuzdach naSego narodnogo chozjajstva, Moskau 1860, S. 14. 686 2ennin, ESce neskoPko slov, S. 521. die alltaglichen Beleidigungen MiBhandlungen und P r t i g e l " . und eine unendliche Reihe von 688 Ungeachtet der unterschiedlichen M e i n u n g e n der Autoren zur Frage der Abschaffung der Leibeigenschaft, schilderten sie in ihrer Polemik das Leben der Handwerker der Stadt. Piskunov stimmte ztennin zu, daft die L e b e n s - und Arbeitsumstande, besonders der L e h r l i n g e , schrecklich seien und zitierte ihn selbst: 689 ,ДЭег Junge - etwa zehn Jahre alt - k o m m t aus dem Dorf, w o das Leben nicht gerade schoner ist, aber w o er wenigstens frische Luft einatmen kann, in eine schmutzige Werkstatt mit stickiger Luft und feuchten Wanden. D o r t schlaft er, wie es kommt, auf einem verschmutzten Boden, unter der Bank, und wird miserabel emahrt. N a c h drauBen wird er halbnackt in einem diinnen Arbeitskittel geschickt. N e b e n dem Priigeln v o m Meister wird er von dessen Frau, von der Kochin, von den anderen Hausbewohnern u n d schlieBlich v o n den Gesellen miBhandelt und schikaniert. Im anderen Fall, w e n n die Gesellen den L e n d i n g gut behandeln, w e r d e n sie v o m Meister aufgefordert, den Lehrling zu schlagen, weil der ,seine Lehre b e k o m m e n m u B ' " . 690 N o c h schlimmer zeichnete Piskunov die Lage der j u n g e n M a d c h e n , die in die Lehre geschickt wurden: „Die Meisterinnen und die Inhaberinnen der WeiBnahwerkstatten und Modegeschafte gehen n o c h schlechter, n o c h brutaler mit den j u n g e n M a d c h e n u m " . Die Tatsache, daB die meisten Prostituierten in St. Petersburg aus der Berufsschicht der Naherinnen und Schneiderinnen kamen, war nur allzu gut b e k a n n t . 691 692 688 Zennin, ESce neskoPko slov, S. 524. 689 Ober die Kinderarbeit in Westeuropa s.: Lotte Adolfs, Erziehung und Bildung im 19. Jahrhundert. Duisburg 1979; Nils Hansen, Fabrikkinder: zur Kinderarbeit in schleswigholsteinischen Fabriken im 19. Jahrhundert. Neumtinster 1987 (Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, hrsg. v. Seminar fur Volkskunde d. ChristianAlbrechts-Universitat Kiel; 19); Siegfried Quandt, Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland 1783-1976: Quellen und Anmerkungen. Paderborn 1978; Clark Nardinelli, Child labor and the industrial revolution, Bloomington 1990; Lees Weissbach, Child labor reform in nineteenth-century France: assuring the future harvest, Baton Rouge: Louisiana State University 1989. 690 Piskunov, О nekotorych neblagoprijatnych, S. 121. 691 Ebd., S. 124. 692 Vgl. V. O. Iordan, Uceniki-remeslenniki, in: Russkaja mysl', kniga 4 (1894), S. 1-23, hier S. 7f. Die Leibeigenschaft als Hauptursache der MiBstande in der Handwerkerschaft stufte Piskunov wie auch die meisten seiner Zeitgenossen richtig e i n . E s war klar, daB die personliche Unabhangigkeit eine wichtige Voraussetzung fur die wirtschaftliche Entwicklung war. Es gab leibeigene Handwerker, die einen hohen Wohlstand erreichten und eine vollig burgerliche Lebensweise in St. Petersburg fuhrten, aber weiterhin leibeigen blieben. In vielen Fallen erlaubten die Gutsherren ihren ehemaligen Bauern nicht, sich freizukaufen. Piskunov erwahnte einen bertihmten Schneider in St. Petersburg, der seine Lehre bei einem Franzosen gemacht hatte, dann nach Paris g e g a n g e n war, u m dort seine berufliche Qualifikation zu erhohen, nach St. Petersburg zuruckgekehrt w a r und dort ein Atelier eroffhet hatte. Er w a r erfolgreich und wollte sich freikaufen. Sein Herr aber schlug sein A n g e b o t von zunachst 5.000, spater 10.000 Papierrubel ab und verlangte von ihm 100.000 Papierrubel. W e n n diesem Schneidermeister nicht machtige Freunde zu Hilfe geeilt waren, hatte er in diesem Streitfall keine C h a n c e gehabt. Sie vermittelten zwischen ihm und seinem Herrn, wodurch der Meister „nur" rund 45.000 Papierrubel fur seine Freiheit zahlen m u B t e . Die MiBstande, die im H a n d w e r k zu beseitigen waren, sind auch im Aufsatz von A. Zabelin zu finden. Der Tenor, in dem er und fruhere Autoren dieses T h e m a im Jahre 1858 bzw. 1859 behandelten, wich wesentlich von der Berichterstattung des Regierungsangestellten Oznobisin im Jahre 1841 ab. Zabelin wies ohne j e d e Zuruckhaltung auf die negativen Tatbestande im H a n d w e r k hin: 693 694 „Leider sind die Folgen der Leibeigenschaft uberall zu spiiren. Sie ist ein Teil unserer Sitten geworden. Der Steuerpachter, der einfache Industrielle, der Handwerksmeister und des weiteren - sie nutzen, gleich einem Grundherr, einen anderen M e n s c h e n , wenn nicht nach d e m Recht, dann doch nach der Gewohnheit vollig aus. [...] M e h r m a l s habe ich beobachtet, daB die Meister ihre Arbeiter nicht als ihresgleichen, sondern nur als eine Arbeitskraft betrachten. Diese Verhaltensweise 693 Zur Leibeigenschaft s.: Johannes Engelmann, Die Leibeigenschaft in RuBland: eine rechtshistorische Studie. Aalen 1965; Andreas Grenzer, Adel und Landesbesitz im ausgehenden Zarenreich: der russische Landadel zwischen Selbstbehauptung und Anpassung nach Aufhebung der Leibeigenschaft. Stuttgart 1995; P.G. Ryndzjunskij, Krest'jane i gorod doreformennoj Rossii. In: VI 1955 Nr. 9, S. 26-40; Christoph Schmidt, Leibeigenschaft im Ostseeraum: Versuch einer Typologie. K5ln, Weimar, Wien 1997, S. 63-71; ders., Sozialkontrolle in Moskau: Justiz, Kriminalitat und Leibeigenschaft; 1649-1785. Stuttgart 1996; V. I. Semevskij, Krest'jane v carstvovanie imperatricy Ekateriny II. 2. verb. u. erg. Aufl., Bd. 1-2, St. Petersburg 1901-1903; ders., Krest'janskij vopros v Rossii v XVIII i pervoj polovine XIX veka. Bd. 1-2. St. Petersburg 1888; Gabriele Witter, Patriarchale Herrschaftsmuster von der Leibeigenschaft bis zur Demokratie. Frankfurt/Main 1990 (Europaische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 439). ruhrt v o n der Ignoranz und Grobheit der Meister her. Sie orientieren sich an Werten, die sie sich noch als Lehrlinge angeeignet haben u n d erinnern sich sehr gut daran, daB sie auf die gleiche Weise behandelt wurden" . Einen Hauptunterschied zwischen reich und arm bestand in den unteren Schichten der Bevolkerung in der Ernahrung. Ein wohlhabender Meister konnte sich in der Regel gut und ausreichend ernahren. Die Beschaftigten, besonders Minderjahrige, wurden dagegen in der Regel schlecht u n d dtirftig verkostigt. In m a n c h e n Werkstatten w u r d e die Mahlzeit stehend eingenommen, u m Zeit zu sparen. Die Unterwasche wechselte ein Meister im Durchschnitt wochentlich u n d ein Arbeiter hingegen alle zwei Wochen. Das w a r bei der korperlichen Arbeit vollig unzureichend, da die Unterwasche wahrend des Arbeitsprozesses stark verunreinigt w u r d e . Die Oberbekleidung eines Arbeiters bestand in der Regel nur aus einem Arbeitskittel. N e u e s Schuhwerk g a b es kaum. Der Meister arbeitete vielfach in einem separaten Zimmer, dessen Fenster zur StraBenseite lagen, wodurch er mehr Licht hatte. Die Arbeiter befanden sich dagegen meistens in einem Z i m m e r auf der Innenhofseite, w o die Latrine die Luft verpestete. „Die Toiletten werden fur sie (die Arbeiter, A. K.) schlechter als ein Viehstall eingerichtet" . 695 696 Die Vielzahl der K o m m i s s i o n e n fur Arbeiterschutzfragen bewirkte, daB auch in den hauptstadtischen Periodika und in der Offentlichkeit die Diskussion uber das Leben der mittleren und unteren Schichten der hauptstadtischen B e v o l k e r u n g e n t f a c h t e . Es w a r an der Zeit, MaBnahmen zur Verbesserung der L e b e n s - und 697 695 Zabelin, Byt, S. 81. 696 „Otchozie mesta dlja nich (rabodich, A.KJ deriatsja chuze stojl dlja skota", Zabelin, Byt, S. 83. 697 Die 6ffentliche Diskussion fuhrte zur Grundung am 3. Oktober 1858 der „Aktiengesellschaft fiir die Zurverftlgungstellung der wohleingerichteten Wohnungen filr die Arbeiterklasse" (ObSdestvo na akcijach dlja ustrojstvo v S. Peterburge ulu&ennych pomeSdenij dlja rabodego klassa i voobSde ljudej nedostatoCnogo sostojanija), wobei die Initiatoren der Gesellschaft auf die Ergebnisse der Regierungskommissionen von 1840/41 und 1847 Bezug nahmen. Die Mitglieder der Gesellschaft waren hoch angesehene Vertreter der Adels-, Regierungs-, Industriellen- und Finanzkreise Rufilands. Zu ihnen zahlte die Witwe des Obersten A. K. Karamzin, Hofineister Senator ChruSeev, der St. Petersburger Adelsmarschall Graf Suvalov, das Ratsmitglied der Eisenbahngesellschaft RuBlands, Abaza, Flugeladjutant Graf Bobrinskij, Hofbankier Baron Stieglitz und Ingenieur Palibin. Es gibt keine ausftihrlichen Informationen uber die Tatigkeit der Gesellschaft. Angesichts der prominenten Mitglieder kdnnte der Eindruck entstehen, dafi die Erfolgsaussichten dieser Gesellschaft groB gewesen waren, was nicht der Fall war, im Gegenteil: das fursorgliche Leitmotiv, das im Namen der Gesellschaft abzulesen ist, hatte wenig mit der Wirtschaftlichkeit zu tun. Das baldige Ende dieser Gesellschaft wurde schon im Namen einprogrammiert. Arbeitsverhaltnisse von Handwerkern und Arbeitern zu ergreifen. In welcher Form dies geschehen sollte, wuBte k e i n e r . Besonders intensiv wurde die Lage der Kinder im H a n d w e r k und in der Industrie diskutiert, w a s z u m Teil aus den frtiheren Erorterungen zu ersehen ist. Ein aktiver Verfechter des Gesetzes, das die Kinderarbeit regeln sollte, war der Ingenieur, Fabrikinspektor und ein aktives Mitglied der Kaiserlichen russischen technischen Gesellschaft Evgenij Nikolaevid A n d r e e v . D a n k der Initiative Andreevs w u r d e unter seiner Leitung eine Kommission beim Volksbildungsministerium gebildet, die unter der Beteiligung von Professor Janson sowie Arzten u n d Industriellen 1874 einen Gesetzesentwurf iiber die Kinderarbeit ausarbeitete, dessen zwei Varianten an Innenminister Valuev weitergeleitet wurden. Die K o m m i s s i o n richtete ihre Aufmerksamkeit ausschlieBlich auf Fabriken oder groBere Betriebe, da Andreev und die Mitglieder der Kommission der M e i n u n g waren, daB das Problem der A u s b i l d u n g im H a n d w e r k nicht so aktuell wie in den Fabriken war. N a c h den Berechnungen der Kommission war die Kinderarbeit in St. Petersburg besonders in der Textilindustrie verbreitet, deren Betriebe zur manufakturellen Herstellungsweise neigten und sich monotoner u n d einfacher Operationen bedienten. 1883 waren in der Flachsverarbeitung 2 8 , 5 % und in der Baumwollherstellung 2 2 , 5 % Kinder beschaftigt. D e r Anteil der Kinder in den Hutfabriken erreichte 4 0 % , in den Glasereien 3 4 % , bei den Waffenschmieden 3 3 % , bei den Wagenbauern 2 2 % , in den Topferbetrieben 16%, in der Streichholzerherstellung 1 5 % und in der Wollverarbeitung 1 4 % . Das Gesetz v o m 1. Juni 1882 iiber die Beschrankung der Kinderarbeit geniigte offenbar nicht, u m sie in den H a n d w e r k s - und Industriebetrieben sichtbar e i n z u s c h r a n k e n . 1891 schilderte der Jurist Dmitrij DriP in einem Aufsatz etwa die gleichen Wohnverhaltnisse unter den H a n d w e r k e r n wie vor vierzig Jahren. Die Hausvermieter, die den groBtrnoglichen Gewinn aus ihren Immobilien ziehen wollten, vermieteten ihre Hauser groBtenteils an kleine Handwerker. So zahlte ein 698 699 700 701 698 О byte rabocich ljudej, S. 53; Im Verhaltnis zu Westeuropa war RuBland im Rttckstand. In England war besonders viel ftir die Arbeiter getan worden. Dort belief sich die Anzahl solcher Gesellschaften um die Zeit auf rund 12.000, aus: 2MVD, 6ast 24 (Mai-Juni 1857), hier otdel V, S.19-28. 4 699 E. N. Andreev (1829-1889) war ein aktiver Verfechter der Entwicklung der te chnischen und Berufsausbildung. 700 E. N. Andreev, О rabote i ob obucenii maloletnich rabodich, in: Trudy obScestva dlja sodejstvija russkoj promySlennosti i torgovle, cast' 13. St. Petersburg 1883, S. 47-68, hier S. 50f.; ders., Rabota maloletnich v Rossii i v Zapadnoj Evrope, St. Petersburg 1884. Zur Kinderarbeit in Deutschland siehe Hansen, N., Zur Kinderarbeit in schleswig-holsteinischen Fabriken im 19. Jahrhundert, Neumilnster 1987; K. Ludwig, Die Fabrikarbeit von Kindern im 19. Jahrhundert, ein Problem der Technikgeschichte, in: VSWG 52 (1965), S. 63-85. Schneider Шг eine 25 Quadratmeter groBe W o h n u n g 10 Rubel im M o n a t oder 120 Rubel im Jahr. Ein Schuhmacher mietete fur 18 Rubel im M o n a t oder 216 Rubel im Jahr zwei kleine und unsaubere Zimmer, w a s sehr teuer war. U m Kosten zu sparen, mieteten die Handwerker kleine W o h n u n g e n , in denen sie mit ihren Familien, Gesellen und Lehrlingen arbeiteten und w o h n t e n , wodurch sich die sanitaren B e d i n g u n g e n wesentlich verschlechterten . Die schweren Lebens- und Arbeitsverhaltnisse im H a n d w e r k schlugen sich negativ auf die Lebenserwartungen der Handwerker nieder. Die Statistiken, die 1911 v o n dem St. Petersburger Arzt M . M . M a g u l o erstellt wurden, k o n n e n als Beleg dafur gelten. Sie zeigten, daB die durchschnittliche Lebenserwartung eines Kirchendieners 60 Jahre, eines Angestellten 5 3 , eines Schneiders 38 und eines Schuhmachers 37 Jahre betrug. Die Schwindsucht war die Berufskrankheit der Schneider und Schuhmacher, unter denen auf 1000 Verstorbene j e w e i l s 560 bzw. 4 9 0 v o n dieser Krankheit Betroffene entfielen . Mit der kurzen Lebenserwartung der Handwerker hing auch der starke A l k o h o l k o n s u m zusammen, der unter den Handwerkern das AusmaB einer Seuche a r m a h m . Dies bestatigt die Untersuchung des St. Petersburger Arztes N . I. G r i g o r ' e v , die er zwischen 1886 und 1897 durchftihrte. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Drei Funftel aller Alkoholkranken, die in den sechs St. Petersburger Heilanstalten eine Kur erhielten, waren Handwerker. E s gab Handwerker, die im Jahr 23-24 und gar 42 mal polizeilich in diese Anstalten eingeliefert wurden. Nach Umfragen unter 4 7 0 Handwerkern konsumierten 130 von ihnen tagsiiber Alkohol. Unter ihnen gab es fast nur Gesellen, kaum Meister. Ihnen folgten 120 Handwerker, die obligatorisch an den Feiertagen betrunken waren. 104 H a n d w e r k e r n a h m e n regelmaBig Alkohol uber langere W o c h e n zu sich, ein Verhalten, das im Russischen „ z a p o j " genannt wird und der periodischen Trunksucht entspricht, und mindestens einmal im Jahr wurden sie davon „ k r a n k . 116 H a n d w e r k e r konsumierten „nur" gelegentlich A l k o h o l . A u s dieser Zeit stammt auch eine umfangreiche Untersuchung der sanitaren Zustande, unter denen die Handwerker in St. Petersburg leben muBten, die unter der Leitung des Hauptarztes der hauptstadtischen Medizinpolizei, I. Eremeev, 702 703 704 u 705 702 DriP, Polozenie, S. 43. 703 Protokoly zasedanij sekcii po remeslennomu ucenicestvu, in: Trudy vtorogo Vserossijskogo s-ezda, S. 152f. 704 705 Vgl. Zelnik, Labor, S. 247-251. G. I. Dembo, P'janstvo sredi maloletnich remeslennikov, in: Trudy Vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge 1900 g., torn 3, St. Petersburg 1901, S. 260276; Vgl. Po predloieniju juvelira Gronmejera, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 135,1. 4; Jadrov, Golos, S. 6; DriP, Polozenie, S. 45. durchgefuhrt w u r d e 706 . D i e Ergebnisse der Untersuchung waren w e n i g trostlich und erinnerten sehr an die Zustande, die in den 40er Jahren festgehalten worden waren. 7.3 Die soziale Versorgung d e r H a n d w e r k e r Die Reorganisation der Handwerksverwaltung im Rahmen der neuen Stadtordnung v o n St. Petersburg im Jahre 1846 fand ihren Niederschlag in der Aktivitat der Handwerker in Fragen des Aufbaus einer sozialen Infrastruktur: Altersvorsorge, Unterstutzungs- und Sterbekassen. U m die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte die russische H a n d w e r k s v e r w a l t u n g immer mehr E n g a g e m e n t in der sozialen Unterstutzung der A r m e n u n d der Altersversorgung der alten Zunfthandwerker. Allerdings hatten diese MaBnahmen rein standischen Charakter u n d betrafen nur die standigen Zunfthandwerker. Schon 1846 schlug die a u s einigen Deputierten der Handwerksabteilung der Allgemeinen Stadtduma bestehende Kommission zur Ermittlung der Bedtirfhisse der Handwerker vor, ein Altersheim fur Handwerker zu eroffhen und am 16. Dezember 1847 beschloB die D u m a , in St. Petersburg ein „Altersheim fur die armen, hochbetagten u n d durch einen Arbeitsunfall behinderten Handwerker des Standes der standigen Zunfthandwerker beiderlei Geschlechts" (Prijut bednych, prestarelych i uvecnych remeslennikov) dlja zu griinden. U m dieses Unternehmen z u finanzieren, initiierte die Handwerksverwaltung eine S a m m l u n g unter d e n H a n d w e r k e r n u n d auch Mieteinnahmen in H o h e v o n rund 1.076 Silberrubel, die durch die Mietshauser der Handwerksverwaltung erwirtschaftet wurden, flossen in das Projekt. A u s Schenkungen u n d mit einem ZuschuB der Handwerkskasse konnte schon 1848 ein steinemes H a u s fur 21.000 Silberrubel 707 gekauft w e r d e n . A m 9. M a i 1850 erfolgte die Eroffhung des Altersheimes, d a s sich im M o s k a u e r Stadtviertel auf der Cernigovskaja 1/188, spater Nr. 158, befand. F u r den Anfang sollte die Anzahl d e r Pflegebedurftigen auf 25 begrenzt werden. Kurz darauf w u r d e ihre Zahl auf 35 erhoht. 1854 waren es schon 41 Personen mannlichen u n d 42 weiblichen Geschlechts im Alter zwischen 35 u n d 75 Jahren. D e r Tagesbedarf 706 1. Eremeev, Gorod S.-Peterburg s tocki zrenija medicinskoj policii, red. v. Hauptarzt I. Eremeev. St. Petersburg 1897. 707 OtCet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1854 god, sostavlennyj stolonaiaPnikom 2. gorodskogo otdelenija chozjajstvennogo departamenta tituljarnym sovetnikom Mann, in: 2MVD, 6ast' 14 (Oktober 1855), S. 7. p r o Person betrug neun K o p e k e n oder 2,7 Silberrubel monatlich. Die Raumlichkeiten des Altersheims sollten zuerst aus einer F u n f z i m m e r w o h n u n g bestehen, in der die Pensionare untergebracht wurden, wobei die Zimmeranzahl in der nachsten Zeit j e nach Bedarf erweitert wurde. Ungeachtet einer Steigerung der obengenannten Mieteinnahmen, die fur die Verpflegung der Pensionierten verwendet wurden, von 140 auf etwa 1.076 Silberrubeln, reichte das Geld nicht a u s . Eine andere Einnahmequelle w a r e n Schenkungen, die sich allerdings von 1860 bis 1869 u m etwa zwei Drittel verringerten. W e n n es 1860 n o c h 1.886 Silberrubel gewesen waren, so blieben davon 1869 nur noch 688 Silberrubel. Dies fuhrte die Handwerksverwaltung auf eine sich standig verschlechternde wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r in den letzten Jahren zuriick. U m die Existenz des Armenhauses zu sichern und V e r m o g e n zu bilden, legte die Handwerksverwaltung Kapital bei der Bank an, das 1855 8.945 Silberrubel b e t r u g . Die Handwerkskasse k a m auf, w e n n die E i n n a h m e n fur das A r m e n h a u s nicht ausreichten. Die A u s g a b e n der Verwaltung fur das A r m e n h a u s stiegen in den zehn Jahren von 1860 bis 1869 v o n 1.290 Rubel a u f 6 . 5 0 0 Rubel stetig an. Ungeachtet dessen hielt die Verwaltung daran fest, auf keinen Fall die Anzahl der Verpflegten zu vermindern: 708 709 „Bei einer standig anwachsenden Verteuerung und einem Anstieg der Lebenskosten wird die Zahl der Pflegebedurftigen immer grofier" . 710 U m die E i n n a h m e n der Verwaltung fur das A r m e n h a u s zu steigern, bestimmte die Deputiertenversammlung der Handwerksabteilung der Stadtduma am 7. Oktober 1871, eine zusatzliche Gebiihr von 60 K o p e k e n einzufuhren, die grundsatzlich alle H a n d w e r k e r im Adresskontor entrichten sollten. Die Handwerker erhielten dort eine Aufenthaltsgenehmigung in der Hauptstadt (bilety na ziteVstvo). O b diese B e s t i m m u n g der Stadtduma auch realisiert w u r d e , ist u n b e k a n n t . Die Absicht der Verwaltung, das Altersheim zu vergroBern, blieb nicht nur eine Option. In den sechs Jahrzehnten von 1850 bis 1910 gab es einen kontinuierlichen 711 708 Proekt polozenija о Dome prizremja ubogich i prestarelych S. Peterburgskich remeslennikov, in: RGIA, f. 1287, op. 13, d. 594: Po otnoseniju S. Peterburgskogo voennogo general-gubernatora ob ucrezdenii v zdesnej stolice Doma prizrenija remeslennikov (29. Juni 1848-21. September 1850), hier 1. 7f. 709 4 Otcet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1854 god, in: 2MVD, Cast 14 (Oktober 1855), S. 8. 710 Prigovor sobranija vybornych S. Peterburgskogo remeslennogo soslovija ot 7.10.1871, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1425,1. 4. Z u w a c h s der pflegebedurftigen Personen sowohl mannlichen als auch weiblichen Geschlechts von 25 auf 4 3 2 . Fur die Jahre 1880, 1881, 1887 und 1890 gibt es A n g a b e n fur die zeitweiligen Handwerker, die sparlich vertreten waren. In diesen Jahren waren es j e 1 6 , 1 2 , 1 0 und 17 mannlichen und j e 22, 19, 25 und 16 weiblichen Geschlechts. In Anbetracht der Anzahl der zeitweiligen Handwerker, die die der standigen weit ubertraf, ist der U n m u t der zeitweiligen Handwerker durchaus verstandlich . Die Zahlenangaben der verpflegten Personen mannlichen Geschlechts fur das Jahr 1884 entsprechen a n n a h e m d der Anzahl der H a n d w e r k e r j e nach den Handwerksarten in der Stadt. Es gab demzufolge unter den 137 mannlichen Personen 32 Schneider, 21 Schuhmacher, 13 Schreiner, neun Backer und acht Schlosser und S c h m i e d e . Die medizinische Versorgung der Pflegebedurftigen ubernahm fur die erste Zeit unentgeltlich ein Vollassistent des St. Petersburger Armeespitals (S. Peterburgskij voenno-suchoputnyj gospitaV) und des Krankenhauses fur „ H o c h w o h l g e b o r e n e " (Lecebnoezavedeniedlja blagorodnych lie) der Arzt und Titularrat G a u s m a n (Hausmann). Dafur bekam er seinen Dienst im A r m e n h a u s als Staatsdienst a n e r k a n n t . 7 1 2 713 714 715 7.4 Die Unterstiitzungs- und andere Kassen der H a n d w e r k e r A u c h in den deutschen Zunften hatte sich innerhalb der gemeinnutzigen Gesellschaften einiges getan. A m 20. Oktober 1862 wurde das Statut des A r m e n h a u s e s „Palme", das fur Gesellen offenstand, bestatigt. D i e , , P a l m e " w u c h s spater, unter d e m beachtlichen EinfluB der evangelisch-lutherischen St. Peterkirche, als wohltatige Gesellschaft weit uber die Grenzen eines Armenhauses h i n a u s . Dies schlug sich 1867 in den geanderten Paragraphen 4 und 6 des Statutes nieder, in denen die Anzahl der Pastoren im Vorstand der Gesellschaft von drei auf einen beschrankt wurde, wobei der Anderungsvorschlag dieser Paragraphen von den Pastoren Laaland, H e r m a n n Dalton und Marius 716 712 OtCety S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1866 i 1910 gody. S. Tabelle 56 im Tabellenanhang. 7 , 3 Vgl. Unterkapitel 5.4.2. 714 Otcet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1884 god. St. Petersburg 1885, S. 8Iff. 715 Otnosenie Grota direktoru chozjajstvennogo departamenta ot 19.07.1850, in: RGIA, f. 1287, op. 13, d. 594: Ob ucrezdenii, hier 1. 4If. 716 Po otnoseniju chozjajstvennogo departamenta s proektom izmenennogo ustava Doma prizrenija podmaster'ev v S. Peterburge pod nazvaniem „РаРта", in: RGIA, f. 821, op. 5, d. 1081 (11.-22. September 1867); Busch, Deutsche, S. 101-105. 717 unterschrieben w o r d e n w a r . N e b e n d e m Pastor sollte der Vorstand a u s zwei Handwerksmeistern u n d drei Vertretern anderer Berufe bestehen. D i e B e d e u t u n g der „ P a l m e " als einer Gesellschaft sittlich-religiosen Charakters anderte sich in Richtung eines universellen Vereins, in d e m es sowohl gesellig-unterhaltende Sektionen w i e auch fachspezifische, wirtschaftliche u n d sozialfursorgende Abteilungen gab. Im R a h m e n des Vereins existierten unter anderem eine Krankenund eine Sparkasse sowie eine Lebensversicherungs- und eine VorschuBkasse. Fur die Lehrlinge g a b es eine S o n n t a g s s c h u l e . Ein aktives Mitglied der deutschen H a n d w e r k s v e r w a l t u n g w a r d e r Schneidermeister Eduard Dietrich, der 1862 d a s Statut der Gesellschaft z u r Unterstutzung v o n Witwen u n d Waisen auslandischer H a n d w e r k e r beim Innenminister Petr Aleksandrovic Valuev registrieren lieB. 1867 legte Dietrich ein neues Projekt uber eine Sterbekasse bei der Gesellschaft vor, das a m 2 2 . N o v e m b e r dieses Jahres ebenfalls v o n Valuev bestatigt w u r d e . Mitglieder der Sterbekasse konnten nur die A n g e h o r i g e n der Gesellschaft zur Unterstutzung v o n Witwen u n d Waisen auslandischer H a n d w e r k e r sein. D a s Kassenmitglied zahlte im ersten Jahr seiner Mitgliedschaft funf Rubel, im nachsten Jahr 10 Rubel, in j e d e m weiteren Jahr funf Rubel m e h r als im Vorjahr. Im Sterbefall bekam eine Witwe 100 Silberrubel. Falls die Ehefrau eines Meisters starb, bekam letzterer 75 Silberrubel . 718 719 720 In Fragen der sozialen Sicherheit waren die Druckhandwerker St. Petersburgs fur andere H a n d w e r k e r der Hauptstadt beispielhaft . Schon Anfang der 60er Jahre verfugten sie uber zwei Untersttitzungskassen. D i e eine Kasse bestand bei der Druckerei der kaiserlichen A k a d e m i e der Wissenschaften, die andere w a r privat und vereinigte 70 Drucker der S t a d t . A n diesen Gesellschaften der Drucker orientierten sich 25 H a n d w e r k e r der Stadt, als sie 1872 eine eigene Darlehens-, Spar- u n d Unterstutzungskasse der St. Petersburger Gesellen u n d alleinstehenden Meister (Ssudo-sberegatel'naja i 721 722 7 . 7 Po otnoseniju chozjajstvennogo departamenta, in: Ebd., 1. 2. 7 . 8 Busch, Deutsche, S. 104. 7 . 9 Prosenie prusskogo poddannogo, Ciena S. Peterburgskoj inostrannoj remeslennoj upravy Eduarda Didericha ministru vnutrennich del P. A. Valuevu ot 13.05.1867, in: RGIA, f. 1287, op. 8, d. 1560: Ob ustave Pochoronnoj kassy ObScestva dlja vspomo§destvovanija vdovam i sirotam inostrannych remeslennikov prozivaju&ich v Peterburge (18. Mai - 22. November 1867), hier 1. If. 720 721 Ustav Pochoronnoj kassy, in: Ob ustave Pochoronnoj kassy, 1. 1 Iff. Uber die Druckindustrie in St. Petersburg s.: Mark D. Steinberg, Moral Communitie: The Culture of Class Relations in the Russian Printing Industry, 1867-1907, Berkeley 1992. vspomogatel 'naja kassa S. Peterburgskich podmaster 'ev i master ov-odino сек) ins Leben riefen. Diese Initiative der Handwerker war eine Antwort auf die restriktive soziale Politik der Handwerksverwaltung, die es den Gesellen u n d zeitweiligen Meistern nicht erlaubte, an den sozialen Einrichtungen des Standes teilzunehmen. Unter den 25 Bittstellern gab es dem Stande nach 16 kleinbtirgerliche Handwerker, vier St. Petersburger Handwerker, von denen einer ein standiger Meister war, zwei Mecklenburger Staatsangehorige, zwei bauerliche und ein finnischer Handwerker. Der Herkunft nach waren es nur drei Handwerker aus d e m Inneren RuBland, 14 weitere kamen aus St. Petersburg und aus dem Gouvernement, vier aus den Ostseeprovinzen, zwei waren auslandische und einer finnischer Handwerker. Ein H a n d w e r k e r gait als ein bodenloser Bauer unbekannter Herkunft. Es war eine sehr heterogene Z u s a m m e n s e t z u n g der Handwerker, die gut zur Halfte aus der H a u p t s t a d t u n d ihrer U r n g e b u n g s t a m m t e n , deren Interessen aber ubereinstimmten . 723 Die Handwerksverwaltung eiferte diesen gemeinnutzigen Einrichtungen nach und griindete 1867 eine Unterstutzungskasse der St. Petersburger Handwerker (Kassa vzaimopomosdi S. Peterburgskich remeslennikov), die versuchte, eine allumfassende Bedeutung fur die Handwerker der Stadt zu erlangen. O b die Kasse imstande war, diesen Anspruch durchzusetzen, bleibt in Anbetracht der oben erwahnten Unterstutzungskasse der Gesellen fraglich. Im ersten Paragraph ihrer Satzung stand, daB Mitglieder der Kasse sowohl Meisterinnen und Meister, Gesellinnen u n d Gesellen, als auch uberhaupt alle Arbeiter sein k o n n t e n . In der Satzung von 1900 w u r d e der Paragraph etwas modifiziert. Start „Arbeiter" wurde eine konkretere B e z e i c h n u n g weiterer Personen, die auBerhalb der Zunft standen, gewahlt: Mitglieder der Kasse konnten Meisterinnen und Meister, Gesellinnen und Gesellen und uberhaupt alle Personen, die ihren Lebensunterhalt mit einer handwerklichen Arbeit verdienten, werden. Bemerkenswert ist, daB im Komitee der Kasse, das aus 30 Mitgliedern bestand, jetzt 15 zeitweilige Meister prasent waren. 724 Gegenuber der Satzung der Unterstutzungskasse von 1895 weist die Version v o n 1900 eine E r h o h u n g der Beitrage auf. Die Handwerker, die einmalig 25 Rubel im Jahre 1895 bzw. 30 Rubel im Jahre 1900 in die Kasse zahlten, wurden als lebenslangliche Mitglieder der Kasse anerkannt. Seit 1900 bekamen die Handwerker, die m e h r als 100 Rubel an die Kasse in Form einer Schenkung gaben, 723 Prosenie S. Peterburgskich podmaster'ev i masterov odinocek ministru vnutrennich del v ijune 1872 g., in: RGIA, f. 1287, op. 9, d. 475: Po ustavu ssudo-sberegatel'noj i vspomogatel'noj kassy S. Peterburgskich podmaster'ev i masterov-odinodek (13. Juli-12. September 1872), hier 1. If. 724 Siehe hierzu: Ob izmenenii ustava Vspomogatel'noj kassy S. Peterburgskich remeslennikov, in: RGIA, f. 1287, op. 9, d. 3547 (15. Mai - 8. September 1895), 1. 4f. und Ob izmenenii i dopolnenii dejstvitel'nogo ustava Vspomogatel'noj kassy S. Peterburgskich remeslennikov, in: RGIA, f. 1287, op. 36, d. 151,1. 4f. eine Goldmttnze z u m A n d e n k e n mit der Aufschrift: „Ordentliches Mitglied" (podetnyj den), die an der Uhrkette getragen werden konnte. N e b e n den Mitgliedsbeitragen konnten die Mittel der Kasse mit den E i n n a h m e n aus Theaterauffuhrungen (dramatidceskie predstavlenija), Literaturlesungen, offentlichen Vorlesungen und Konzerten, die viermal im Jahr stattfinden durften, aufgebessert w e r d e n . 1900 folgten weitere Schritte z u m Ausbau des sozialen Systems - die russische H a n d w e r k s v e r w a l t u n g griindete eine Sterbekasse fur die Zunfthandwerker. Sinn und Z w e c k der Kasse war es, die einmaligen A u s g a b e n fur das Begrabnis der verstorbenen Zunfthandwerker zu tragen. Die Mitgliedschaft in der Sterbekasse w u r d e in zwei Gruppen von jeweils 4 0 0 Mitgliedern entsprechend der H o h e ihrer Beitrage geteilt. In der ersten G r u p p e waren j e n e Handwerker, die beim Eintritt drei Rubel und jahrlich 1,65 Rubel zahlten. Die H a n d w e r k e r der zweiten Gruppe zahlten 1,5 Rubel beim Eintritt und 1,1 Rubel j a h r l i c h . Der Sterbekasse folgte 1902 eine kostenlose Heilanstalt fur H a n d w e r k e r (Besplatnaja ledebnica s postojannymi krovatjami dlja S. Peterburgskich remeslennikov). Die Heilanstalt w a r mehr als bescheiden: E s gab zuerst nur sechs Betten, v o n denen vier fur mannliche und zwei fur weibliche Personen reserviert waren . Die steigenden E i n n a h m e n der russischen Handwerksverwaltung erlaubten es ihr mit der Zeit, immer groBere S u m m e n fur wohltatige Z w e c k e auszugeben. In den Jahren 1888 bis 1890 wurden fur die Unterstutzung der armen H a n d w e r k e r j e 17.257, 18.732 und 18.840 Rubel ausgegeben. Dafur kamen 1890 sieben Ziinfte mit den folgenden S u m m e n auf: von der Schneiderzunft 5.400 Rubel, v o n der Silberschmiede- u n d Posamentiererzunft 2.700, von der Schlosser- und Schmiedezunft sowie der Tapezierer- und Pferdehaarmacherzunft j e 2.400, von der Lederer- und Schuhmacherzunft 1.880, v o n der Schreiner- und Drechslerzunft 1.300 und v o n der Malerzunft 1.100 R u b e l . Die sozialen Einrichtungen der Verwaltung blieben erhalten und wurden weiter vergroBert. Im Jahre 1916 wurden betrachtliche S u m m e n fur wohltatige Z w e c k e ausgegeben, namlich fur das Altersheim mit m e h r als 4 0 0 Versorgten 40.000 Rubel, fur die Alexandrinische Schule fur Waisenkinder und Kinder der armeren Handwerker, in der mehr als 2 0 0 Kinder unterrichtet wurden, 30.000 Rubel und 1.500 Rubel fur die Malschule, die 725 726 727 728 725 Ob izmeneii ustava, 1. 5. 726 Po proektu ustava Pochoronnoj kassy S. Peterburgskich remeslennikov (1901), in: RGIA, f. 1287, op. 36, d. 340,1. 3f. 727 Proekt-Instrukcija zavedujuScemu besplatnoj leeebnicej s postojannymi krovatjami dlja S. Peterburgskich remeslennikov. [St. Petersburg 1902], S. 2f. 728 Rospis' о dochodach po S. Peterburgskoj remeslennoj uprave na 1890 god, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2530,1. 35f. die Kinder der H a n d w e r k e r zweimal in der W o c h e besuchten. AuBerdem wurden bestimmte Beitrage an die Unterstutzungskasse der Petrograder H a n d w e r k e r und an die Sterbekasse entrichtet . Neben der Handwerksverwaltung spielte die Stadtduma eine betrachtliche Rolle beim Aufbau des sozialen Systems in der Hauptstadt. So wurden z. B . von der Stadtduma im Jahre 1907 144 Personen von der Sonderanstalt fur die Bettlerfursorge (Osoboe prisutstvie po razboru i prizreniju nisdich) in den drei Bildungs- und Arbeitsanstalten, 58 Personen in der Handwerkerschule (Remeslennoe udilisde), 51 Personen in der Handarbeitsschule (Rukodel'noe ucilisce) und 35 Personen im Herrenasyl fur Arbeit (Ubezisce dlja muzdin) u n t e r g e b r a c h t . D e s weiteren wurde die Handwerksarbeit in den Armenhausern der Stadt praktiziert, in denen im Jahre 1909 unter anderem 14193 Frauen beschaftigt wurden. Die Stadt vergab Stipendien fur eine handwerkliche Ausbildung, so daB 1909 339 Stipendiaten in den Handwerksbetrieben untergebracht w e r d e n k o n n t e n . Mit Beginn des Ersten Weltkrieges bediente sich das Handels- und Wirtschaftsministerium des H a n d w e r k s als eines sozialen und wirtschaftlichen Instruments, u m im Krieg verwundete Soldaten mit Arbeit zu versorgen und dadurch ihre Reintegration in die burgerliche Gesellschaft zu erleichtern. Z u diesem Z w e c k w u r d e n fur sie Handwerkskurse gegriindet, in denen sie in den unterschiedlichsten H a n d w e r k e n eine Ausbildung e r h i e l t e n . Das H a n d w e r k konnte sich auf diese Weise als ein effektives Mittel im R a h m e n von AjbeitsbeschaffungsmaBnahmen behaupten und sicherte Tausenden von M e n s c h e n den notwendigen Lebensunterhalt. 729 730 731 732 7.5 Zusarnmenfassung Die Entstehung der beiden Regierungskommissionen von 1840/1841 und 1847 war Ausdruck einer allgemeineuropaischen Entwicklung, die auch in RuBland sptirbar wurde. D a s w a r der Pauperismus bzw. die Massenarmut, deren Ursache primar im rasanten Wachstum der Bevolkerung in Europa (erste Welle 1770-1830) lag. Diese beunruhigenden Erscheinungen, die seit der Mitte der 1820er Jahren die offentlichen G e m u t e r bewegten und Stoff fur Salongesprache gaben, wurden von den oberen Schichten u m den Zaren mit Aufmerksamkeit beobachtet. Selbst der 729 Remeslenniki i remeslennoe upravlenie, S. 40. 730 Statisticeskij ezegodnik S. Peterburga za 1907 god. St. Petersburg 1913, S. 63. 731 Statistieeskij ezegodnik S. Peterburga za 1909 god. Pg. 1917, S. 72. 732 Vgl. Remeslennye kursy dlja uvecnych voinov. Pg. 1916. Wortgebrauch der Regierungsbeamten in ihren Berichten verriet die Verwandtschaft dieser Regierungsinitiativen mit der offentlichen Diskussion iiber die wirtschaftliche und soziale Lage der „handarbeitenden K l a s s e n " bis 1848 in Westeuropa, als die gewerblich beschaftigte Bevolkerung nur bei intensiver Arbeit hochstens das notdiirftige A u s k o m m e n verdienen k o n n t e 733 . Die vollige Unterentwicklung der karitativen Organisationen und das Fehlen der offentlichen Initiative trugen mit dazu bei, daB die Regierung „wie g e w o h n l i c h " selbst zur Klarung der Ursachen fur die Verbreitung schwerer Krankheiten unter den Fabrik- u n d Artelsarbeitern und den H a n d w e r k e n tatig w e r d e n muBte. Die Regierungskommissionen konnten die L a g e der unteren Schichten der hauptstadtischen Bevolkerung nicht spiirbar verbessern, sollten sie doch nur die Sachlage klaren. Die unsichere soziale und wirtschaftliche L a g e der H a n d w e r k e r und selbst der Schicht der standigen Meister trug dazu bei, daB die Austritte aus d e m Handwerkerstand oder der Wechsel in den kaufmannischen Stand auf der T a g e s o r d n u n g stand. Z w a r gab es im Handwerkerstand von St. Petersburg im Laufe des 19. Jahrhunderts immer noch mehr Z u w a c h s als Riickgang der Standesmitglieder. Dies war allerdings nur durch eine starke Immigration der landlichen Bevolkerung in die Hauptstadt moglich. Die wohlhabenderen Meister versuchten so schnell wie moglich, in den kaufmannischen Stand uberzutreten, um 734 ihre Kinder v o n der Wehrpflicht zu befreien . A u s dem gleichen Grund versuchten die Handwerksmeister ihre Kinder in Berufen, die nichts mit d e m H a n d w e r k zu tun hatten, (Apotheker, Arzte, Architekten) ausbilden zu lassen, w a s iiber eine verbreitete vertikale Mobilitat unter den wohlhabenden Meistern spricht. Dies war eine der Ursachen des Standeswechsels und der fehlenden 735 handwerklichen Tradition eines F a m i l i e n b e t r i e b e s . A u c h fur das westeuropaische H a n d w e r k war diese Entwicklung in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts eine typische Erscheinung, als das H a n d w e r k s durch die fortschreitende Industrialisierung einen sozialen Wandel erlebte. So berichtete G. B . Iollos im Jahre 1895, daB sich die Handwerksgenossenschaften Offenburg, Schonau, E m m e n d i n g e n und anderen sudwestdeutschen aus Stadten 733 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Der Vormarz. Der monarchische Staat und das Burgertum, in: Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. v. Martin Broszat, Wolfgang Benz und Hermann Graml, MUnchen 1985, S. 70. 734 Vgl. Oderki istorii Leningrada, torn 1, S. 519. 735 Po predlozeniju juvelira Gronmejera (Mai 1843), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 135,1. 3. daruber beklagten, dafl w o h l h a b e n d e Meister ihre Kinder immer ofter in nichthandwerklichen bzw. gehobenen Berufen ausbilden lieBen. Die soziale Polarisierung erreichte unter den H a n d w e r k e r n besonders in der zweiten Halfte des 19. Jahrhimderts ein groBes A u s m a B . Sie w u r d e z u m Teil durch die h o h e Fluktuation der Arbeitskrafte ausgelost, w a s den ohnedies schwachen oder uberhaupt fehlenden sozialen Zusammenhalt unter den Handwerkern vernichtete. Dieses Gefuhl gemeinsamer sozialer Zugehorigkeit, das sich nun in den Zunften langsam entwickelte, konnte sich nie vollkommen entfalten. E s bildeten sich in der Stadt zwei groBe Handwerkergruppen heraus: eine kleinere G r u p p e bildeten die wohlhabenden Meister, eine groBere die Gesellen, Lehrlinge und angelernten Arbeiter, zu denen immer mehr die verarmten Meister hinzukamen. Der Herkunft nach waren sie z u m groBen Teil aus d e m Land zugereist. V o n daher hatten viele Werkstatten keine feste Betriebshierarchie, und die Arbeitnehmer w u r d e n besonders in der Industrialisierung zu einfachen L o h n bzw. Facharbeitern. 736 737 Mit der Industrialisierung zeichneten sich aber auch einige positive Erscheinungen ab. So bekamen viele Meister die Moglichkeit, in den Fabriken und Werken die Meisterstellen oder den Platz eines qualifizierten Arbeiters zu besetzen, w o d u r c h sich die horizontale Mobilitiit unter den Handwerkern erhohte und sie dem sozialen Abstieg und der Verelendung entgehen konnten. Die m a s t e r o v y e bzw. die Facharbeiter, die oft friihere Handwerksmeister waren, machten unter den Fabrikarbeitem wegen „ihrer geringeren Zahl, der H o h e des Arbeitslohns und des 738 736 G. B. Iollos, Nemeckie remeslenniki. К charakteristike truda v germanskoj promySlennosti, in: RB ijun 1895 Nr. 6, S. 86f. 4 737 Vgl. Lenger, Polarisierung, s. u.a. S. 143f. 738 4 In der 23. Ausgabe des Slovar russkogo jazyka S. I. Oiegovs im Jahre 1991 bezieht sich das Wort „masterovoj" sowohl auf die Fabrikarbeiter als auch auf die Handwerker bzw. Meister. Hier vollzog sich der Bedeutungswandel des Wortes, das zuerst nur Handwerker bezeichnete. Mit der Entwicklung der GroBindustrie wurde das Wort „masterovoj" auf die Fabrikarbeiter wie auch der Begriff der „Zunft" auf die Fabrikhallen ubertragen. Ju. Ё. Janson zShlte im Jahre 1869 die „masterovye" zu den Einzelhandwerkern, die entweder Шг einen Arbeitgeber oder fur einen Konsumenten die Waren herstellten. Sie waren weder Fabrikarbeiter noch selbstandige Haлdweгksmeisteг, in: ders., Naselenie Peterburga i ego ekonomideskij i social'nyj sostav po perepisi 10.12.1869 goda, St. Petersburg 1869, S. 629. Das Wort „masterovoj" wurde von „master" d. h. Handwerker abgeleitet. „Master" und „cechovoj master" bezogen sich anfanglich wie „masterovoj" ebenfalls auf die Handwerker. Nur waren sie in dem Falle die Inhaber einer Werkstatt. Spater leiteten die „mastera" (die Meister) die „fabricnye cechi" (Werks- bzw. Fabrikhallen in den groBen Industriebetrieben) und waren uber die Gesellen (podmaster ja) und Arbeiter gestellt, Vgl. V. I. Dal , Tolkovyj slovar zivogo velikorusskogo jazyka, torn 2, Moskau 1989, S. 303 „Master". 4 4 4 Lebensstils eine schmale Schicht aus. Sie [waren] so etwa wie die Arbeiteraristokratie" . D i e Handwerksverwaltung konnte die soziale Verelendung in Anbetracht ihrer engen Befugnisse und ihrer geringen finanziellen Moglichkeiten nicht wirkungsvoll bekampfen. AuBerdem hinderte der standische R a h m e n die uberwiegende Mehrheit der Handwerker, soziale Leistungen in Anspruch zu nehmen. A u c h den zeitweiligen Zunfthandwerkern war eine soziale Unterstutzung verwehrt, w a s sie dazu veranlaBte, ein Projekt iiber die „St. Petersburger Gesellschaft der Handwerksindustrie" auszuarbeiten, das aufgrund der konservativen H a l t u n g der Regierung und des heftigen Widerstandes der standigen H a n d w e r k e r nicht realisiert werden konnte. 739 739 Otfiet zemskoj upravy Peterburgskoj gubernii za 1879 g., zitiert nach Balabanov, Oderki, t. 2, S. 130. 8. Die Fach- und Allgemeinbildung im H a n d w e r k Die in der Regel bessere wirtschaftliche L a g e der auslandischen H a n d w e r k e r w a r im Gegensatz zu den russischen Handwerkern - nicht zuletzt ein Ausdruck ihrer hoheren Allgemeinbildung . Sie konnten sensibler auf die M o d e a n d e r u n g e n vor allem in der Bekleidungsbranche reagieren und deswegen d e m Geschmack des Publikums eher entgegenkomrnen. Immer noch blieb das H a n d w e r k die Hauptschmiede der Berufsausbildung und deswegen sollte sie besser organisiert werden, u m das allgemeine Bildungsniveau der Gesellen b z w . Facharbeiter zu heben. O b Bildungsinitiativen seitens der technischen Intelligenz und der Handwerksverwaltung Fruchte trugen oder eher ergebnislos blieben, soli in diesem Kapitel untersucht werden. 740 8.1 Die Allgemeinausbildung im H a n d w e r k Die unbefriedigende Lage in der Allgemeinausbildung der H a n d w e r k e r schlug sich in der Warenqualitat nieder und fand ihren Ausdruck letztlich in ihrer wirtschaftlichen Lage. Der gute Geschmack und das Modeverstandnis, die wiederum v o m jeweiligen Bildungsniveau der Handwerker abhingen, bestimmten nicht zuletzt die Qualitat ihrer Produkte. Diesen Z u s a m m e n h a n g zwischen 741 A u s b i l d u n g und Qualitat der Ware hatten die Zeitgenossen begriffen . Die dringende Notwendigkeit der В ildungsmaBnahmen unter den H a n d w e r k e r n wurde v o m Handwerksaltesten der russischen Zunfte, Nikita M a k s i m o v i e Komarov, in der Stadtduma zur Diskussion gestellt. Er setzte sich in seinem Bericht an die D u m a v o m 5. Juni 1858 mit diesem T h e m a auseinander und fragte die Deputierten, wie es moglich sei, daB die russischen Handwerker meistens solche H a n d w e r k e ausubten, die mit schwerer korperlicher Arbeit zu tun hatten, w e n i g kompliziert und schlecht bezahlt waren. Die auslandischen Meister dagegen hatten in ihren H a n d e n eine breite Palette von H a n d w e r k e n vereinigt, die weniger korperlicher Anstrengung bedurften, dafur aber gut bezahlt wurden. K o m a r o v gab gleichzeitig zu, daB, u m solch komplizierte Handwerksarten ausiiben zu konnen, der Handwerker einer hoheren Qualifikation und einer hoheren Ausbildung bedurfe. Es gereiche den auslandischen Handwerkern dariiber hinaus z u m Vorteil, 740 Prosenie juvelirnogo mastera i starSiny Gronmejera к ministru vnutrennich del Perovskomu v mae 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 135: Po predpolozeniju juvelira Gronmejera ob osvobozdenii remeslennikov ot rekrutskoj povinnosti v nature (1843), hier 1. 3. 741 Vgl. Kornilij Tromonin, О chudozestve v remeslach. Moskau 1846, S. 10; G.F. Rakeev, Ob ucenicestve u masterov, S. 20ff. daB in der russischen Gesellschaft - nicht zu Unrecht - generell Vorbehalte gegen russische Waren herrschten. Dies wurde immer wieder von Pftischern ausgenutzt u n d half ihnen, Waren schlechter Qualitat mit verfalschten auslandischen Warenzeichen zu verkaufen. Weil die Kundschaft diese Betrtigereien als eine A u s n a h m e ansah, revidierte sie ihre Vorurteile j e d o c h nicht zugunsten der russischen Handwerker. So meinte K o m a r o v : 4 „Die Bezeichnungen ,eine russische und ,eine auslandische Ware* werden mit einer ,schlechten* bzw. einer ,guten' Arbeit gleichgesetzt. Oft ist diese M e i n u n g auf Vorurteile zuruckzufuhren. E s muB aber 742 zugegeben werden, daB sie in vielen Fallen gerechtfertigt ist" . Der Handwerksalteste wies darauf hin, daB die H a n d w e r k e r im Ausland viel mehr Moglichkeiten zur Ausbildung hatten: Schulen fur die Handwerker, ofYentliche Vorlesungen, Ausstellungen und die fast fur j e d e Handwerksart periodisch erscheinenden Zeitschriften, die immer auf Neuigkeiten achteten und sie den 743 Handwerkern bekannt gaben, trugen dazu b e i . Die auslandischen Meister, die hauptsachlich in St. Petersburg und M o s k a u wohnten, hoben sich vom durchschnittlichen Niveau schon durch ihre Allgemeinbildung ab. AuBerdem unterschieden sie sich von den meisten ihrer russischen Kollegen durch ihre Anstrengung, technisch auf dem neuesten Stand in ihrem H a n d w e r k zu bleiben, abonnierten Fachzeitschriften und standen in standigem Kontakt zu ihren Kollegen im Ausland. Die russischen H a n d w e r k e r hatten nichts derartiges. Ihre Ausbildung war ungenugend und sehr viele von ihnen waren Analphabeten. Als Folge davon konnten die Meister ihre N e u e r u n g e n der breiten M a s s e der Kollegen nicht vermitteln, wodurch ein Austausch v o n Fachkenntnissen unmoglich war: „Unsere Produkte stehen den auslandischen in einiger Hinsicht nach, w o d u r c h der russische Handwerker g e z w u n g e n ist, den Preis zu senken und Verluste in K a u f zu nehmen. V o n daher verwendet er billigere und deswegen schlechtere Werkstoffe in der Herstellung der W a r e und stellt fur niedrigen Lohn wenig qualifizierte Arbeitnehmer ein. Als Folge 742 Prigovor S. Peterburgskoj gorodskoj obSSej dumy po remeslennomu otdeleniju ot 5 ijunja 1858 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 1931: Ob otkrytii v S. Peterburge voskresnych klassov dlja remeslennikov (1858-1859), hier 1. 3f.; Vgl. V. A. Rezanov, Vzgljad na chod portnogo masterstva v Rossii. St. Petersburg 1847, S. 1. davon haben die russischen Waren einen schlechten Ruf. D a s sind die Ursachen, w a r u m wir bei auslandischen Meistern nur als Arbeiter angestellt sind. A u c h als selbstandige Meister ahmen wir sie nur 744 nach" . Als erstes sollten nach dem Vorschlag von K o m a r o v Handwerksschulen in RuBland, in St. Petersburg, gegebenenfalls eine Sonntagsschule fur die Zunfthandwerker eroffhet und eine Fachzeitschrift herausgegeben werden. In den ersten Klassen der Schule sollten im R a h m e n des Grundschulprogramms Lesen und Schreiben, Religionsunterricht, Arithmetik und M a l e n unterrichtet sowie Grundkenntnisse im gewahlten H a n d w e r k vermittelt werden. N a c h einer gewissen Anlaufzeit sollten weitere Unterrichtsfacher hinzukommen, und die Erfahrungen in einer gewahlten Handwerksart vertieft werden. Die Zunftverwaltung war bereit, die Kosten fur die Sonntagsschule und fur die Fachzeitschrift zu ubernehmen. Der Handwerksalteste meinte, daB die Zeitschrift nicht nur fur St. Petersburg, sondern fur ganz RuBland von groBer B e d e u t u n g sein wurde, da zur Zeit noch nichts derartiges verlegt wurde. Die Einnahmen aus dem Vertrieb der Zeitschrift sollten der Sonntagsschule zugute k o m m e n . Falls sie nicht ausreichen sollten, ware die Handwerksverwaltung ebenfalls bereit, diese Projekte zu finanzieren. D e r Generalgouverneur von St. Petersburg, Innenminister Lanskoj und Volksbildungsminister Kovalevskij hieBen das Projekt willkommen und sagten v o n ihrer Seite voile Unterstutzung zu. Die unterentwickelte Ausbildung der Handwerker, die von Komarov angesprochen wurde, betraf eigentlich die gesamte russische B e v o l k e r u n g , unter der es im Jahre 1859 nur 6 % Schreib- und Lesekundige g a b . In St. Petersburg waren die Durchschnittswerte wesentlich hoher. 1869 gab es z. B . unter 100 St. Petersburger Frauen 47 Lese- und Schreibkundige. Bei einer naheren Betrachtung erreichten Frauen aus der sozialen Schicht der H a n d w e r k e r den noch hoheren Prozentsatz v o n 5 4 % , bei den R a z n o & n c e n g a b es 4 6 % , bei den Kleinburgern 3 8 % , bei den Bauern und Armeeangehorigen j e 2 6 % lese- und schreibkundige F r a u e n . W e n n also die obere Schicht des Beamtentums u n d des Adels auBer Acht gelassen wird, stellt sich heraus, daB die Handwerker ungeachtet aller Mangel in Sachen Ausbildung am weitesten fortgeschritten waren. 745 746 Die Fachzeitschrift sollte gegen die A b g r e n z u n g der Handwerker angehen und fur ihre fachliche Weiterbildung sorgen. Es war vorgesehen, die Zeitschrift mehrmals 744 Prigovor, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 1931: Ob otkrytii, hier 1. 5. 745 A. G. RaSin, Naselelnie Rossii za 100 let. Moskau 1956, S. 289. 746 G. I. Archangel'skij, 2izn' v Peterburge po statisticeskim dannym, in: Archiv sudebnoj mediciny i obScestvennoj gigieny, kn. 2 (Juni), c\ 3 (1869), S. 60. p r o M o n a t zu verlegen. Die Meister bekamen in diesem Fall eine erste Moglichkeit, Informationen uber alle wichtigen Handwerksarten, uber die Entwicklung und den aktuellen Zustand des H a n d w e r k s , uber den G e s c h m a c k der Kundschaft, uber die Verbesserungen und Erfindungen sowohl in RuBland als auch im Ausland, uber beriihmte Meister und ihre Werkstatten, uber Ausstellungen und uber alles, w a s z u m H a n d w e r k in irgendeinem Verhaltnis stand, zu erhalten. Die Darstellungen sollten mit Zeichnungen u n d Abbildungen illustriert werden. Es gelang leider nur zwei Jahre lang - von 1862 bis 1864 - die Handwerkszeitschrift „Russkij remeslennik" (Der russische Handwerker) herauszubringen. Anfangs wurden alle notwendige Vorbereitungen getroffen. Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bestand als Initiatorin dieser Zeitschrift darauf, sie selbst herauszugeben. D e r Militar-Generalgouverneur St. Petersburgs meinte dagegen, daB dies nicht optimal sei. Seiner M e i n u n g nach sollte sie am besten unter der Leitung einer Privatperson stehen. Dadurch k o n n e sie besser den Problemen des H a n d w e r k s nachgehen und die Verfugungen der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g unabhangig v o n ihr erlautern . Im N o v e m b e r 1861 wurden Gliederung und Inhalt der Zeitschrift festgelegt, so daB im J a n u a r 1862 die erste N u m m e r verlegt werden konnte. Der Redakteur T. S. Frolov wies im ersten Heft der Zeitschrift unverzuglich darauf hin, mit welchen Problemen er aufgrund des fehlenden offentlichen Interesses und der m a n g e l n d e n Erfahrungen auf dem Gebiet der Wirtschaft kampfen muBte: „Die Lebensverhaltnisse der Arbeiterklasse bleiben bei uns beinahe unerforscht, ihre Bedurfhisse und Interessen u n b e k a n n t " . Die Hefte sollten monatlich in einem Umfang zwischen 80 und 2 5 0 Seiten herauskommen. Ein Heft bestand aus drei Teilen. Im ersten Teil sollten sowohl die wichtigsten als auch die aktuellen Gesetze veroffentlicht werden. D e r zweite Teil wurde den N e u e r u n g e n und technischen Errungenschaften im H a n d w e r k gewidmet. Die Schneider z. B . b e k a m e n die Moglichkeit, den j e w e i l s neuesten Pariser Stil k e n n e n z u l e m e n . Die Schreiner erfuhren etwas uber die Neuentwicklungen in der Mobelkunst. Die Tapezierer, Friseure und andere H a n d w e r k e r konnten sich uber neue Muster und Haarschnitte informieren. Der dritte Teil berichtete uber die Lebensumstande der russischen u n d auslandischen Handwerker. Die Handwerker erhielten Informationen uber die verschiedenen, speziell fur sie eingerichteten Institutionen, wie z. B . uber die Gesellschaften fur gegenseitige Hilfe, H a n d w e r k s b a n k e n u n d Handwerksvereinigungen. D a s Jahresabonnement konnten die Interessenten fur vier Rubel b e k o m m e n . AuBerdem 747 748 747 Zapiska voennogo general-gubernatora S. Peterburga ministru vnutrennich del о remeslennom zurnale ot 28 maja 1859 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 1931: Ob otkrytii v S. Peterburge voskresnych klassov dlja remeslennikov, hier 1. 16. Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 222. kosteten die zwei bebilderten Anlagen, die D a m e n - und Herrenmode vorftihrten, z u s a m m e n elf R u b e l . Als die erste A u s g a b e der Zeitschrift fertig war, traf das Wirtschaftsdepartement des Innenministeriums die notwendigen Vorkehrungen und befahl, am 3 1 . D e z e m b e r 1861 an alle 54 Gouverneure j e 30 Exemplare der ersten A u s g a b e zu verschicken. AuBerdem erhielten die Kriegsgouverneure (voennye gubernatory) v o n Odessa, Nikolaev und Kronstadt j e sechs E x e m p l a r e . Uber das Schicksal der Zeitschrift ist nichts weiteres bekannt. Hochstwahrscheinlich blieben diese Exemplare ungelesen in den Gouvernementsverwaltungen liegen. M a n kann fast sicher davon auszugehen, daB die Meister an der Zeitschrift kein Interesse hatten und schon gar nicht bereit waren, dafur Geld auszugeben. Es blieb bei der Initiative des Handwerksaltesten von St. Petersburg und der Regierung, von oben eine Fachzeitschrift fur die Handwerker in RuBland einzufuhren, von der die H a n d w e r k e r aber nicht wuBten, w a s sie damit anfangen sollten. D a s MiBlingen dieses V o r h a b e n s laBt sich aus mehreren Griinden erklaren: Erstens gab es in RuBland nur wenige Handwerker, die des Lesens kundig waren. Zweitens hatte die Mehrheit der H a n d w e r k e r nicht genug Geld, u m es fur die Zeitschrift auszugeben. Drittens war es fur einen russischen Meister noch allzu ungewohnlich, aus einer zusatzlichen Quelle und nicht nur aus seiner Berufserfahrung zu schopfen. AuBer der Zeitschrift „Der russische H a n d w e r k e r " gab es noch den Versuch der Gesellschaft der auslandischen Handwerker, „Palme", eine Fachzeitschrift unter d e m N a m e n „Palmblatt" herauszugeben, die innerhalb der Handwerkerschaft den fachlichen Informationsaustausch ermoglichen sollte und ebenfalls wegen fehlender Nachfrage seitens der auslandischen Handwerker unterging. N a c h zwei Jahren, von 1866 bis 1868 war die Zeitschrift erschienen, wurde ihre Herausgabe eingestellt . 749 750 751 Die Anfange allgemeiner Handwerksausbildung in St. Petersburg gehen auf die Alexandrinische Schule zurtick, als der damalige Handwerksalteste N . M . K o m a r o v in der Handwerksabteilung der Allgemeinen Stadtduma a m 26. Juli 1856 vorschlug, ein Asyl fur die Waisen und Kinder der armen H a n d w e r k e r (Prijut dlja sirot i detej bednych remeslennikov) zu eroffhen, in dem anfangs 30 Kinder beherbergt werden sollten. Dieser Vorschlag w u r d e sofort in die Praxis umgesetzt. Einige Jahre spater, am 2 3 . N o v e m b e r 1862, w a h r e n d der Amtszeit des Handwerksaltesten E g o r Efimovie Malkov, erfolgte die Eroffhung der Alexandrinischen Internatsschule beim Asyl. In der 50jahrigen Geschichte der Schule fanden zwei Umztige in die von der Handwerksverwaltung speziell fur sie gebauten G e b a u d e start. Zwischen 1862 und 1868 befand sie sich in einem 749 Otnosenie S. Peterburgskogo gorodskogo golovy Aleksandru Danilovicu Sumacheru ot 24 nojabrjal861 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 1931: Ob otkrytii, hier 1. 30f. 750 Ebd., 1. 39f. zweistockigen holzernen H a u s auf der GroBen M o s k a u e r StraBe, w o j e w e i l s 20 M a d c h e n und 20 Jungen versorgt wurden. 1868 z o g die Schule in ein steinernes H a u s beim A r m e n h a u s der Handwerksverwaltung auf der Cernigovskaja-StraBe um, womit sie den Schuler- und Schulerinnenanteil bis z u m Jahre 1873 auf 106 vergroBern konnte. U n d schlieBlich, am 17. Mai 1874, w u r d e die Schule im neuen steinernen dreistockigen Gebaude am Ligovskij-Kanal untergebracht, wodurch das Schulerkontingent auf bis zu 200 erhoht werden konnte. Dieses G e b a u d e wurde zwischen 1887 und 1892 durch einen U m b a u vergroBert, so daB die Gesamtkosten der Verwaltung fur die Bauten und das U m b a u e n in den Jahren des Bestehens der Schule rund 116.033 Rubel betrugen . Der Ehrenkurator Grigorij Grigorievie Petrovskij, der spater zwischen 1868 und 1871 den Posten des Handwerksaltesten innehatte, sorgte fur einen geregelten und ordentlichen Unterrichtsablauf und widmete seine besondere Aufmerksamkeit dem Unterricht der Schreiner-, Dreher-, Schmiede- und GieBerhandwerke. Die Initiative Petrovskijs im Handwerksunterricht w u r d e v o n den meisten Handwerkern begriiBt und moglichst unterstutzt, so daB die Schulwerkstatt verschiedene Arbeitsgerate und sogar eine Maschine mit Riemenantrieb v o n den Meistern geschenkt bekam. Fur die B e m u h u n g e n in der handwerklichen A u s b i l d u n g und fur ihr gutes Niveau wurde die Schule 1899 belohnt, als sie fur ihre Exponate wahrend der Handwerksausstellung in St. Petersburg die groBe silberne Medaille erhielt. Zuerst b e k a m e n die Kinder der Alexandrinischen Schule Schulunterricht im R a h m e n der Elementarschule. Hier wurden Grundschulfacher unterrichtet wie Religionsunterricht, Russische Sprache, Arithmetik, Malen, Geographie, Schreiben und M u s i k . Insgesamt wurden im Schuljahr 1887/88 1809 Unterrichtsstunden fur 242 Heimschuler und -schulerinnen gegeben. Die laufenden Kosten der Schule beliefen sich jahrlich auf 5.000 bis 6.000 Rubel. 1890 z. B . b e k a m die Schulaufseherin 4 2 0 Rubel, vier ihrer Stellvertreterinnen 1.236 Rubel insgesamt, der Lehrer fur Russisch und Kirchenslavisch 3 6 0 Rubel, der Zeichenlehrer 2 7 6 und der Musiklehrer 4 0 0 Rubel im Jahr. Insgesamt wurden in diesem Jahr 4.606 Rubel fur das Schulpersonal und den Unterhalt der Kinder a u s g e g e b e n . Die Versorgung der Internatsschule wie auch des Altersheimes lief nicht immer reibungslos. Der schon erwahnte stellvertretende Standesalteste Lebedev vernachlassigte w a h r e n d seiner Amtszeit die Arbeit in den wohltatigen Anstalten 752 753 754 752 Pjatidesjatiletnij otcet Aleksandrovskoj Skoly dlja detej bednych remeslennikov S. Peterburgskogo remeslennogo obSCesrva. St. Petersburg 1912, S. 3-7,9ff., 26ff. 753 754 S. Tabelle 57 im Tabellenanhang. Rospis' о dochodach po S. Peterburgskoj remeslennoj uprave na 1890 god, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2530,1. 59. der Verwaltung. N o c h vor dem 1. Juli 1876 wurde er laut BeschluB der G e s a m t v e r s a m m l u n g w e g e n seiner Versaumnisse als Hausverwalter an der Internatsschule und des Altersheimes seines Postens enthoben. A m 16. Juni 1880 berichtete der Ehrenkurator der Schule, Kolosov, dem Minister fur Volksaufklarung iiber die unbefriedigende Lage der Schule und zahlte die Versaumnisse auf: „Der Kostenplan ist von der Verwaltung nicht vorgelegt worden, wodurch die Materialbeschaffung und andere Ausgaben nicht gemacht werden konnten. Die Gehalter der Schulangestellten sind gekiirzt worden. Die Schulmadchen haben nur ein Kleid. E s werden alte Hemden fur die Schuljungen gebraucht. Unterwasche ist nicht ausreichend vorhanden und meistens abgenutzt. Fruher fuhrten die Schulmadchen in der Ferienzeit Naharbeiten aus. Da aber im M o m e n t kein Arbeitsmaterial vorhanden ist, vergeht die Ferienzeit nutzlos. D a s 755 Schulhaus ist nicht renoviert" . Fur diese U m s t a n d e machte Kolosov den stellvertretenden Standesaltesten verantwortlich, der die Gelder aus dem Etat der Internatsschule sowie des Altersheimes dazu verwendete, Rechnungen der Handwerksverwaltung zu begleichen. Diese voriibergehenden Schwierigkeiten konnten den guten Willen der Handwerksgesellschaft, diese Anstalten weiterzufuhren, nicht brechen. Die Schule blieb dank offentlicher Kontrolle seitens des Kurators und der 756 Deputiertenversammlung weiter erhalten und wurde sogar etwas vergroBert . In absoluten Zahlen verdoppelte sich die Anzahl der Schuler und Schiilerinnen von 97 im Jahre 1866 auf 226 im Jahre 1910. Ungeachtet des starken Z u w a c h s e s war dies in Anbetracht v o n tausenden Kindern der standigen Zunfthandwerker nur eine kleine Zahl. Die Kinder der zeitweiligen Zunfthandwerker besuchten diese Schule nur ausnahmsweise. 1903 waren von insgesamt 2 5 4 Schiilern und Schiilerinnen 757 nur 43 von den zeitweiligen Zunfthandwerkern . Die Gesamtausgaben der Handwerksverwaltung fur die Alexandrinische Internatsschule v o n 1862 bis 1912 betrugen insgesamt die betrachtliche S u m m e 755 Donesenie podetnogo popeditelja doma prizrenija prestarelych i uveCnych i sostojaScej pri onom Aleksandrovskoj Skole Kolosova, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju masterov (...) Cistjakova, Polikarpova, hier 1. 78. 756 S. Tabelle 58 im Tabellenanhang. 757 OtCet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1903 god. St. Petersburg 1906, S. 166. v o n 933.960 Rubeln. Die Schule besuchten in diesem Zeitraum 1281 J u n g e n und 1063 M a d c h e n oder 2344 Schuler insgesamt. AuBer der Alexandrinischen Schule organisierte die russische H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eine unentgeltliche Sonntags-Malschule (Besplatnaja Voskresno-risoval'naja skola) fur die Kinder der Zunfthandwerker. Die statistischen A n g a b e n fur die Jahre 1887-1991 erlauben es, sich uber die GroBe der Schule eine Vorstellung zu verschaffen . E s ist u n b e k a n n t , w i e l a n g e d i e s e S o n n t a g s m a l s c h u l e bei der Handwerksverwaltung existierte. Vielleicht w u r d e sie zu Klassen fur Zeichnen und M a l e n (klassy risovanija i cercenija) zusammengefuhrt, die 1903 im Jahrsbericht der russischen Handwerksverwaltung erwahnt sind. Fur diese Klassen zahlte j e d e Zunft bestimmte Beitrage ein, die insgesamt 6.367 Rubel betrugen. E s waren die Zunfte der Schneider (1297,5 Rubel), Backer (1020,25 Rubel), Silberschmiede und Posamentierer (969 Rubel), Maler (653,75 Rubel), Gerber u n d Schuhmacher (627 Rubel), Schreiner und Dreher (608,75 Rubel), Schlosser und Schmiede (604 Rubel) sowie Tapezierer und Pferdehaarmacher (587 R u b e l ) . 191 1 hatten diese Klassen 2 0 0 Schuler und 60.000 Rubel Kapital . Die Anstrengungen der Handwerksverwaltung bei der G r u n d u n g verschiedener Lehranstalten in der zweiten Halfte des 19. und a m Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen, daB sie sich uber die Bedeutung der B i l d u n g durchaus im klaren war. V o m Umfang her aber bewirkten diese Anstrengungen keine spurbaren Veranderungen im Bildungssektor. A u f privatem W e g oder im R a h m e n des Standes war dieses Ziel ohne staatliche Unterstutzung k a u m erreichbar. Die beiden Malschulen, die 1836 und 1841 in St. Petersburg von der Regierung eingerichtet wurden und deren Zielgruppen in der Bevolkerung uberwiegend die H a n d w e r k e r und „Fabrikanten" waren, konnten ebenfalls w e g e n ihrer geringen GroBe keinen wesentlichen Bildungseffekt bewirken. D e s w e g e n muBte der Staat effektivere MaBnahmen ergreifen, u m die Situation in der Bildung zu verbessern . 758 759 760 761 8.2 Die Fachausbildung im H a n d w e r k s b e t r i e b bei den zunftigen nichtzunftigen H a n d w e r k e r n und Die handwerkliche Fachausbildung war nicht allein d e m Zunfthandwerk vorbehalten. Schon mit dem ErlaB v o m 7. Januar 1736 w u r d e Fabrikanten erlaubt, 758 S. Tabelle 59 im Tabellenanhang. 759 Otcet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1903 god. St. Petersburg 1906, S. 167. 760 Protokoly zasedanij sekcii po remeslennomu ucenidestvu, in: Trudy vtorogo Vserossijskogo s-ezda, S. 127. 761 Aleksandr Michajlovi£ Tjufilin, Zapiska о sostojanii remeslennosti. Kazan' 1906, S. 13ff. 762 ihren Beschaftigten Gesellen- und Meisterdiplome auszustellen . Daher entstand hier ein groBer Konfliktpotential, da die Handwerker mit solchen Diplomen nach St. Petersburg kamen, um dort zu arbeiten. Die Handwerksverwaltung hatte j e d o c h diesen Handwerksmeistern die Arbeit untersagt, wozu sie kein Recht hatte. H a n d w e r k e r mit derartigen Diplomen waren aber in der Hauptstadt eher eine A u s n a h m e . Die uberwiegende Mehrheit der Lehrlinge w u r d e in den Werkstatten ausgebildet, wobei die meisten von ihnen leibeigen waren, also aus d e m D o r f kamen, wie im Bericht von Staatsrat Oznobisin von 1841 nachzulesen ist . Die Gutsbesitzer gaben die Kinder ihrer Leibeigenen in die Lehre, u m spater von ihnen den Grundzins zu b e k o m m e n , den sie als Handwerker in der Stadt verdienen konnten. Das Schicksal dieser Lehrlinge war in der Regel sehr schwer. Die Kinder wurden fur m e h r e r e Jahre zu einer kostenlosen Arbeitskraft, die der Meister sattsam ausnutzte. Dabei spielte es keine Rolle, ob der Lehrling im Betrieb arbeitete oder die Aufgaben im Haushalt des Meisters erledigte . Die Handwerksausbildung lieB zu j e n e r Zeit noch viel zu w u n s c h e n ubrig. Die Lehrlinge w u r d e n mit schwerer korperlicher Arbeit belastet, und die meisten von ihnen b e k a m e n auch keine Grundschulausbildung. 1842 schrieb der standige Meister der Schneiderzunft V. A. Rezanov: „ M a n darf den Franzosen und den Deutschen Gerechtigkeit widerfahren lassen, daB ihre Ausbildungsmethode viel vorteilhafter als die unserer Meister ist" . Die Ursachen der unzureichenden Ausbildung der russischen Handwerker z. B. im Schneiderhandwerk lagen darin, daB sie fast alle Analphabeten blieben. Die Kinder wurden mit sieben oder acht Jahren in die Lehre geschickt, w o sie in der Werkstatt bei einem auslandischen Meister sechs bis sieben Jahren lang blieben und keine Schule besuchten. A u c h lernten sie nur Z u s a m m e n n a h e n und Formgeben. Die Zuschneidekunst selbst lernten sie nicht. D a s war allein d e m Meister uberlassen. Die Kinder der Meister wurden dagegen zuerst auf die Schule geschickt und begannen ihre Lehre mit zwolf Jahren. N a c h d e m sie in vollem Umfang das H a n d w e r k erlernt hatten, arbeiteten sie noch zwei bis drei Jahren als Gesellen und begaben sich mit dem verdienten Geld in Westeuropa auf Wanderschaft, u m sich in ihrem H a n d w e r k zu vervollkommnen . 763 764 765 766 762 RGIA, f. 18, op. 2, d. 296: Po proSeniju karetnogo mastera Johanna Jochima, о dozvolenii emu ustroit' v obSirnejsem vide fabriku, dlja delanija raznogo roda ekipazej, 1. 17: Ukaz Senate ot 5 ijunja 1820. 763 Vgl. Raport Oznobisina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uluCSenija. 764 Vgl. zu der Handwerksausbildung: Kitanina, Rabodie, S. 179f. 765 Proekt vecnocechovogo mastera portnogo cecha Rezanova ot 15 oktjabrja 1842 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 93: Po proektam masterov portnogo cecha Rezanova i Kessnera ob obucenii maP6ikov portnomu masterstvu i proeee (oktjabr' 1842-janvar 1843), 1. 1-6, hier 1. 1; V. A. Rezanov, Vzgljad na chod portnogo masterstva v Rossii, St. Petersburg 1847. 4 Rezanov schlug vor, die Gutsbesitzer mit der Ausbildung der Kinder zu verpflichten. Sie sollten zuerst das P r o g r a m m der Grundschule absolvieren u n d nur dann mit zwolf bis 14 Jahren in die Stadt in die Lehre geschickt werden. Nach d e m AbschluB sollten die Gesellen auf Wanderschaft ins Ausland gehen, wofur sie v o m Staat ein Stipendium erhalten sollten. Dies sollte zur wesentlichen Verbesserung im russischen Schneiderhandwerkbeitragen . Fehlende Systembedingungen, wie z. B . die Abschaffung der Leibeigenschaft und damit die personliche Freiheit der Bauern, lieBen dieses Vorhaben j e d o c h scheitern. In den 40er Jahren n a h m die A b g a b e finnischer Kinder in die Lehre zu St. Petersburger H a n d w e r k e r n die Ztige eines gewinntrachtigen Handels an, wie sowohl der Staatssekretar v o n Finnland, als auch der Zustandige fur die Handwerksverwaltung, der Vorsitzende der K E N O V , Kollegienrat Grot konstatierten . Die Einheimischen aus Finnland brachten alljahrlich hunderte v o n Kindern nach St. Petersburg und gaben sie fur ein bestimmtes Entgelt den St. Petersburger Meistern ohne jegliche Bedingungen und fur unbestimmte Zeit in die Lehre ab. Die Handler kummerten sich nicht u m das weitere Schicksal der Kinder. Der Meister bekam gegebenenfalls eine Bescheinigung aus Finnland, die er j e d e s Jahr im finnischen Adresskontor in St. Petersburg verlangerte, w o d u r c h der L e n d i n g mehrere Jahre vollig in seiner Gewalt blieb. Fur Streitfalle zwischen Lehrlingen und Meistern waren die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die Polizei zustandig, die ausnahmslos die Partei des Meisters ergriffen und den Lehrling zuriick in die Arbeit zwangen. Grot schlug vor, daB in Zukunft nur noch schriftliche Vertrage zwischen Meister und Lehrling abzuschlieBen seien. So sollten die Meister besser vor der Flucht ihrer Lehrlinge geschtitzt werden. D o c h die Frage der Einschrankung oder gar des Verbotes der Kinderarbeit unter bestimmten B e d i n g u n g e n war damals noch kein Thema. Die Regierung ging zwar diesem Problem formell nach, interessierte sich j e d o c h ausschlieBlich fur den rechtlichen Schutz des Meisters . Erst E n d e der 1850er und in den 1860er Jahren geriet die Lage der Lehrlinge im H a n d w e r k mehr und mehr in das Blickfeld der Offentlichkeit, w a s in einigen konkreten MaBnahmen seinen Ausdruck fand. 1861 erfolgte der ZarenerlaB uber 767 768 769 767 Ebd., 1. 5f. 768 Otnosenie stats-sekretarja velikogo knjazestva Finljandskogo к ministru vnutrennich del ot 16.03.1846, und dokladnaja zapiska Grota ot 5.12.1850, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 409: О neprinjatii v udenie finljandcev к S. Peterburgskim remeslennikam bez zakljucenija о torn kontraktov, hier 1. If., 18ff. 769 Dokladnaja zapiska Grota, in: Ebd., 1. 18f.; Vgl. uber die Lage der Kinderarbeit und bildung in Deutschland: S. Quandt (Hrsg.), Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland 1783-1976. Quellen und Anmerkungen, Paderborn 1978 (Geschichte, Politik. Materialien und Forschung, Bd. 1, hrsg. v. G. C. Behrmann, K.-E. Jeismann, E. Kosthorst u.a.); Lange, S., Zur Bildungssituation der Proletarierkinder im 19. Jahrhundert: Kinderarbeit und Armenschulwesen in der sachsischen Elbstadt Pirna, Berlin 1978 (Monumenta Paedagogica, Bd. 13). die Aufsicht der Lehrlinge in den Handwerksbetrieben v o n den Kuratoren der kaiserlichen Gesellschaft der Menschenliebe (Imperatorskoe delovekoljubivoe obscestvo). Die Kontrolle seitens dieser Gesellschaft war ineffektiv und konnte w e n i g bewirken, da MiBhandlungen der Lehrlinge eine alltagliche Erscheinung in den Werkstatten w a r e n . Ein Beispiel dazu liefert der GerichtsprozeB gegen den Schuhmacher Krylov, der 1876 seinen neunjahrigen Lehrling fur 15 Rubel bei einem Handler kaufte und ftir vier Jahre in die Lehre nahm. Der Lehrling w u r d e regelrecht gefoltert: Der Meister verprtigelte ihn so stark, daB sein ganzer Korper mit Schrammen und W u n d e n versehen war. Der Meister gab ihm nur ein H e m d zum Kleiden, fesselte seine FuBe und hangte ihn mit dem K o p f nach unten an einer Kette auf. Dafur w u r d e er am 4. September 1879 zu 15 M o n a t e n in einer Strafkompanie bei Entzug seiner Standesrechte verurteilt. D a s war die erste schwere Strafe gegen einen Meister, der seinen Lehrling miBhandelte . Die MiBhandlungen wurden durch viele Faktoren ermoglicht. D e m Gesetz nach hatte der Meister das Recht eines Hausherren iiber die Lehrlinge und Gesellen . Erstere wurden ihm vollig ausgeliefert. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Mutter oder der „Handler" sie in die Stadt brachte. Der Unterschied lag nur darin, daB die Mutter dem Meister fur die Lehre noch zahlte und der „Handler" wie im Fall mit Krylov v o m Meister das Geld erhielt. Die patriarchalische Lebensweise und die Mentalitat der niederen und mittleren Schichten, zu denen die Meister gehorten, ermoglichten solche Behandlungsweisen. Oft konnten die Kinder die MiBhandlungen nicht mehr ertragen und versuchten durch Flucht, ihrem schweren Los zu entkommen, sie wurden j e d o c h meistens z u m Meister mit Hilfe der Polizei oder der Eltern selbst zarrtickgefuhrt. Die Polizei n a h m nur die Eigentumsrechte des Meisters w a h r und schenkte den MiBhandlungen der Lehrlinge keine Beachtung, weil solche Vorgehensweise rechtlich legal war. Der Meister, so die 770 771 772 773 770 Raport voennogo gubernatora v pravitePstvujuScy Senat ot 8.12.1861, in: RGIA, f. 1341, op. 107, d. 1389: Po vysocajsemu poveleniju, о vozlozenii na popeeitelej о bednych, nadzora za polozeniem ucenikov v remeslennych zavedenijach S. Peterburga (1861), hier 1. 1; siehe auch: О vozlozenii na popeditePstvo о bednych nadzora za polozeniem udenikov v remeslennych zavedenijach S. Peterburga, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 78 (AugustNovember 1861). 771 V. O. Iordan, Uceniki-remeslenniki, in: Russkaja mysP, kniga4 (1894), S. 1-24, hier S. 3ff. 772 BezzaS&tnost' remeslennych udenikov, o. A., in: Vestnik Evropy, torn 5, kniga 9-10, hier kniga 10 (Oktober 1879), S. 793 773 4. Ob ustrojstve remeslennogo soslovija, in: 2MVD, otd. 2,6. 3, kn. 5. 1853, S. 1-40, hier S. Kollegen, sollte doch dem Lehrling „eine L e h r e " erteilen. Die Art des Betriebes spielte dabei keine Rolle. Ein Beispiel dafur liefert das Gerichtsverfahren gegen das Ehepaar F e l ' d m a n in M o s k a u , die eine Wascherei und eine Werkstatt mit WeiBnaherinnen betrieben. Der E h e m a n n F e l ' d m a n ging besonders drastisch vor: Er prugelte ein j u n g e s Madchen in der Werkstatt zu Tode. Zudem gab es mehrere Selbstvergiftungsversuche unter den j u n g e n Naherinnen. Fluchtige M a d c h e n wurden mit Hilfe des Polizeirevieraufsehers Korovin zuruckgebracht und in 774 seinem Beisein noch heftiger v e ф r й g e l t . Selbst w e n n es d e m Lehrjungen gluckte, nach H a u s e zuruckzukommen, blieb der Mutter nichts anderes tibrig, als den Sohn in die Werkstatt zuruckzubringen, da fast alle Lehrlinge aus a r m e n 775 Familien stammten und nicht ernahrt werden k o n n t e n . N a c h der U n t e r s u c h u n g v o n 1841 waren es insbesondere Schneider- u n d Schuhmacherbetriebe, Zigaretten- und Mobelfabriken, Fabriken fur die Herstellung von Seiden- und Wollwaren sowie BronzegieBereien, die uberwiegend Lehrlinge statt erwachsener Arbeitnehmer beschaftigten. In den Werkstatten der Tapezierer, der Gold- und Silberschmiede, der Kurschner, der Schlosser und Schneider lag das Verhaltnis der Jugendlichen zu den Volljahrigen bei 9:5. Unter den untersuchten Betrieben, die insgesamt 3776 Beschaftigte hatten, machten die Minderjahrigen einen Anteil v o n 829 oder 22 % 776 der Gesamtzahl a u s . Die Tendenz, erwachsene Arbeitnehmer durch Lehrlinge zu ersetzen, war nach der Reform v o m 19. Februar 1861 noch starker. D a s hing damit zusammen, daB der Meister seine Handwerksarbeiter nicht so leicht wie frtiher beschwichtigen konnte. Die Arbeiter fuhlten sich unabhangiger und driickten ihr Unverstandnis uber die Behandlungsweise des Meisters durch U n g e h o r s a m aus. Erst die Gesetze z u m Schutz der Kinderarbeit, die in den 1880er und 1890er Jahren erlassen wurden, veranderten die Entwicklung auf d e m Arbeitsmarkt 777 zugunsten der L e h r l i n g e . Die Handwerker wollten nichts mit Zivilgerichten und Fursorgegesellschaften zu tun haben, die in aller Regel die Interessen der Lehrlinge w a h r n a h m e n . Gleichzeitig war ohne die billige Arbeitskraft der Lehrlinge die Rentabilitat der Betriebe in Gefahr. Infolge der Vielzahl v o n MiBbrauchsfallen an Lehrlingen durch ihre Meister in St. Petersburg w u r d e 1857 eine K o m m i s s i o n „Fur die Ц Ь е ф г и г ш ^ der Iordan, Uceniki-remeslenniki, S. 3f. Ebd. Raport OznobiSina, in: О merach ulufcsenija, 1. 13. Iordan, Uceniki-remeslenniki, S. 3, 15. Handwerksbetriebe" (Komissija dlja osmotra remeslennych zavedenij) einberufen. Die K o m m i s s i o n uberprufte 1525 Handwerksbetriebe und legte Anfang 1860 einen Rechenschaftsbericht vor, in d e m ein verbreiteter roher U m g a n g der Meister mit den Lehrlingen konstatiert w u r d e : „ D e r Kommissionsbericht bezeugt eine erbarmliche Lage der Lehrlinge und ihre vollige Schutzlosigkeit der Willkur des Meisters gegenuber. [...] Viele Meister halten ihre Lehrlinge unter schlechten Bedingungen, gehen mit ihnen herzlos um. Die Schrankenlosigkeit und Brutalitat der Meister erreichen manchmal auBerste G r e n z e n " . 778 Die Meister verprugelten die Lehrlinge mit den Fausten und schlugen ihnen mit verschiedenen Gegenstanden ins Gesicht, zogen sie an den Haaren auf dem B o d e n und traten sie mit FuBen nieder, w a s nach dem Kommissionsbericht eine gewohnliche Erscheinung im H a n d w e r k war. Als die Arbeit der Kommission beendet war, wurden Strafen gegen 44 Meister verhangt, 14 Meistern wurden die Lehrlinge w e g g e n o m m e n und in andere Handwerksstatten vermittelt und gegen vier Meister wurden Untersuchungsverfahren eingeleitet. Die Meister fuhlten sich wahrend des Verfahrens im Recht. Sie wuBten, wann die Kommission zu ihnen k o m m e n sollte und versuchten es meistens erst gar nicht, ihren brutalen U m g a n g mit den Lehrlingen zu vertuschen. , Fur die Beseitigung der MiBhandlungen in den Handwerksbetrieben hielt die K o m m i s s i o n fur notig: 1. Die Handwerksoberhaupter und die Altesten zu verpflichten, die Lehrlinge dauernd unter ihrer Aufsicht zu halten. 2. Die Handwerksverwaltung zu verpflichten, alle Handwerksbetriebe im Beisein der Medizininspektion zu tiberpriifen. 3. Die Handwerksverwaltung der Gesellen „wiederherzustellen", die niemals existierte. 4. D e n Meistern vorzuschlagen, o b sie damit einverstanden seien, Lehrlinge o h n e Vertrage aufzunehmen, und 5. Die Lange des Arbeitstages fur die Lehrlinge sollte maximal zwolf Stunden betragen, wobei zwei Stunden fur die Erholung gewahrleistet werden sollten . 779 780 778 Trudy komissii, ucreidennoj dlja peresmotra ustavov fabridnogo i remeslennogo, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 79f, 304. 779 Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 305; Vgl. Iordan, U6eniki-remeslenniki, S. 9f. 780 Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 305. Der Generalgouverneur von St. Petersburg, Graf Pavel Nikolaevic Ignat'ev (18541861), bezweifelte den Erfolg der MaBnahmen: „Diese Vorschriften w e r d e n genauso w e n i g befolgt, wie es bis heute der Fall w a r " . D i e Beauftragung der Altesten mit der l%erprufung aller Betriebe war w e g e n d e s Zeitfaktors k a u m realisierbar, weil selbst die Kommission fur die Ц Ь е ф г и г л и ^ ihrer nur 1.525 Betriebe ganze drei Jahre brauchte. Zu j e n e r Zeit gab es in St. Petersburg aber rund 12.000 Handwerksbetriebe, die unter der Leitung der Handwerksverwaltung standen u n d e t w a 3.000 weitere Betriebe, deren Meister nicht in die Zunfte eingetreten waren. Die Handwerksverwaltung hatte sehr viel m e h r Zeit benotigt, u m alle Betriebe zu иЬефгйТеп . I g n a t ' e v war der M e i n u n g , daB alle MiBstande mit der Zunftordnung zusammenhingen. Er k a m zu dem SchluB, daB das H a n d w e r k w e g e n fehlender Freiheit und B e e n g u n g durch die Zunftorganisation konkurrenzunfahig sei. Er schlug vor, das H a n d w e r k v o n jeglichen „Beschrankungen" zu befreien, u m es zur Entfaltung k o m m e n zu lassen. Es ist aber zu bezweifeln, daB das H a n d w e r k o h n e j e d e Organisation in Konkurrenz zur GroBindustrie bestehen konnte. Er betonte, daB nur die Wiederherstellung der Gewerbefreiheit eine deutliche Verbesserung der Lage des Handwerkerstandes mit sich b r i n g e . Dies w a r fraglich, weil Ignat'ev unter der Gewerbefreiheit eine B e w a h r u n g „patriarchaler Lebensweise verstand, die im Alltag erfolgreich die F o r m der schriftlichen Vertrage ersetzt[e]" . D i e Praxis bewies das Gegenteil. Eben diese „patriarchale L e b e n s w e i s e " war fur die MiBhandlung der Lehrlinge verantwortlich. Ignat'ev machte die Regierung darauf aufmerksam, daB bisher nur die Arbeit der Kinder in den Fabriken diskutiert wurde, die Lage der Lehrlinge im H a n d w e r k dagegen nicht, obwohl sie die gleichen Merkmale aufwies. A u c h im H a n d w e r k war Kinderarbeit fast kostenlos. A u c h hier erwarben die Kinder bis z u m einen bestimmten Alter fast keine technischen Kermtnisse und ruinierten ihre Gesundheit. D e s w e g e n sollten die Bestimmungen, die fur die in der Fabrik arbeitenden Kinder galten, auch fur die Handwerksbetriebe gesetzlich gtiltig sein. Dies bedeutete, daB: 781 782 783 784 1. 2. Die Kinder nicht j u n g e r als 12 Jahre alt sein sollten; Die Lehrlinge im Alter von 12 bis 18 Jahre nicht lunger als 12 Stunden pro T a g arbeiten durften; 781 Ebd. 782 Ebd., S. 306. 783 Ebd., S. 307, 60, 139. 3. Die Nachtarbeit von 20 Uhr bis 5 Uhr fur die Arbeitnehmer, die nicht alter als 18 Jahre alt waren, verboten sein sollte . Diese Vorschlage blieben lange Zeit nicht realisiert. Die Aufsicht der Zunftaltesten ging nie iiber die Steuereinsammlung hinaus. Sie vermieden j e d e Einmischung in die „inneren Angelegenheiten" des Meisters, um nicht die MiBgunst ihrer Kollegen zu wecken . Die Kommissionsmitglieder befurchteten auch, daB falls die Altesten die Meister auffordem wurden, alle Regelungen des Handwerksstatutes streng zu beachten, die Streitigkeiten nie ein Ende haben wurden. Der Status quo wurde folglich von beiden Seiten gewahrt. In dieser rechtlichen Situation k o n n t e eine Verbesserung der Lage der Lehrlinge, deren Aufsicht auf die Polizei ubertragen worden war, nicht eintreten . Die Arbeitsschutzgesetze fur die Fabriken galten nicht fur Handwerksbetriebe mit weniger als 16 Beschaftigten . D e s w e g e n hatten die Gesetze iiber die Beschrankung der Kinderarbeit v o m 1. Juni 1882 und iiber das Nachtarbeitsverbot fur Frauen und Jugendliche in der Textilindustrie von 1885 keinen obligatorischen Charakter fur die kleineren Handwerksbetriebe . Infolge der Nachsicht der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g blieb die Lage der Lehrlinge im H a n d w e r k unverandert schwer. Laut den Statistiken des M o s k a u e r stadtischen Rukavisnikov-Asyls bestand z. B . zwischen 1880 und 1888 die Halfte der minderjahrigen Straftater aus H a n d w e r k s l e h r l i n g e n , u b e r w i e g e n d aus S c h u h m a c h e r b e t r i e b e n . Vom gesundheitlichen Zustand her waren sie fast alle angeschlagen: Den hochsten Prozentsatz der aus gesundheitlichen Griinden untauglichen Rekruten fur das Heer stellten ebenfalls die H a n d w e r k e r . 785 786 787 788 789 790 Die schadliche moralische und gesundheitliche Wirkung auf die Lehrlinge in den Handwerksbetrieben w u r d e wahrend des ersten Handwerkskongresses 1900 von der technischen Intelligenz und der Arzteschaft mehrmals angeprangert, doch die Meister reagierten auf alle Kritikversuche auBerst empfindlich und abweisend. Fiir die Arbeitschutzgesetze zeigten sie keine Sympathien und setzten Resolutionen durch, die den Arbeitstag von 10 auf 11,5 Stunden verlangerten und die Wiedereinfuhrung der Nachtarbeit forderten. Als die Frage iiber die B e g r e n z u n g des Arbeitstages auf acht Stunden wenigstens fur die Minderjahrigen zur Diskussion gestellt wurde, lieBen die Handwerker den Vorschlag einstimmig 785 Ebd., S. 358f. 786 Iordan, Uceniki-remeslenniki, S. 11. 787 Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 60. 788 V. Alymov, К voprosu о polozenii truda v remeslennom proizvodstve, in: Narodnoe chozjajstvo, kniga 6 (November-Dezember 1904), S. 3ff. 789 Puttkamer, Anfange, S. 85-108. scheitern. Ebenfalls einen heftigen Wortwechsel rief der Vorschlag hervor, den Lehrlingen die Moglichkeit zu geben, sechs Stunden in der W o c h e die Schule zu besuchen, wobei der Delegierte Korotovic die allgemeine M e i n u n g z u m Ausdruck brachte, daB die Meister uberhaupt kein Interesse daran hatten, sich zukunftige Konkurrenten groBzuziehen. Der Smolensker Zunftalteste Stepanov w a r der einzige, der die Meister zu dem KompromiB aufforderte, den Schulbesuch doch zuzulassen und w u r d e dafur von der V e r s a m m l u n g ausgepfiffen . W a h r e n d des Kongresses fielen praktisch alle Vorschlage der Intelligenz z u m Arbeitsschutz und zur Schulbildung der Lehrlinge durch. N u r einen Artikel uber die Abschaffung der Ztichtigung lieBen die H a n d w e r k e r mit der V o r b e d i n g u n g zu, daB ihnen „die MaBnahmen der H a u s e r z i e h u n g " (mery domasnego ispravlenija), zugestanden bleiben sollten, wobei die wohlwollenden Worte des St. Petersburger Handwerkers V o l k o v uber die Rute als eine der besten Erziehungsmethoden einen allgemeinen Enthusiasmus und laute Ovationen hervorriefen . Die so genannten „mery d o m a s c n e g o ispravlenija" wurden v o m Gesetz seit dem Anfang der Zunfte erlaubt und wurden im Artikel 1377 des neuen Strafgesetzbuches beschrieben, d e m der ErlaB v o m 15. August 1845 als Vorlage diente. Unter anderen ErziehungsmaBnahmen hielt es der Gesetzgeber fur moglich, den Lehrling „nicht genugend ausruhen zu lassen und ihn unzureichend zu ernahren" (daetsja nedovol'no uspokoenija i pisdi). E s gait als legitimes E r z i e h u n g s m i t t e l , daB d e r M e i s t e r d e m L e h r l i n g „ W u n d e n und Korperverletzungen" (pridinjajutsja rany i uved'ja) zutfuen durfte . Die Reformfeindlichkeit der Meister fand ihren Ausdruck in ihrer auBerst zuruckhaltenden Stellung zu alien Reformvorstellungen der Intelligenz. Ihre Vorschlage, die Lehrlinge auBerhalb des Meisterhauses zu verpflegen und sie parallel zu ihrer Lehre in der Werksatt einzuschulen, setzten das H a n d w e r k s b u r o (Remeslennoe bjuro) und die Ftirsorgegesellschaft fur die Lehrlinge bei den ztinftigen Meistern (PopediteVstvo о susdestvujusdich licnym trudom detjach i podrostkach, obudajusdichsja razlichogo roda remeslam и cechovych masterov goroda S. Peterburga) in die Realitat um. 791 792 793 D a s H a n d w e r k s b u r o wurde in den 80er Jahren gegrundet u n d Hatte zum Ziel, Kinder aus armeren Familien im H a n d w e r k auszubilden. Es suchte fur sie den geeigneten Ausbildungsplatz bei den Handwerksmeistern, betreute sie wahrend der Ausbildung und bot ihnen eine W o h n u n g zur Ubernachtung. Z u m 1. Januar 1886 gab es im Asyl 71 Kinder, davon 46 M a d c h e n und 25 Jungen. AuBerdem gab es 791 A.P., NaSi remeslenniki, in: Russkoe bogatstvo, Nr. 4 (1900), S. 160-172, hier S. 162; Vgl. Remeslennoe ucenic estvo, Bd. 3, in: Trudy Vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge 1900 goda. St. Petersburg 1901. 792 793 A. P., NaSi remeslenniki, S. 163. A. N. Kremlev, Ob otmene telesnogo nakazanija dlja remeslennych ucenikov, in: Trudy Vserossijskogo s-ezda, Bd. 3, S. 297ff. in diesem Jahr 96 neue Antrage iiber die Aufnahme der Kinder. Fur die immer groBer werdende Zahl von Lehrlingen plante das Handwerksbtiro, ein H e i m zu eroffhen, dafur fehlte es aber an Geld. Der Appell des Handwerksbiiros an die „Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker" der Hauptstadt, das Biiro zu untersttitzen, verhallte ohne eine einzige Spende ungehort . Ungeachtet dessen hatte das Handwerksbtiro Erfolg, w a s sich in der hohen Bewerber- und Bewerberinnenzahl ausdriickte. Die stetige Nachfrage nach den Arbeitsstellen w u r d e dadurch gesichert, daB viele Werkstatten Lehrlinge suchten und auch viele Eltern ihre Kinder in die Lehre geben wollten. Trotzdem gab es langere Wartezeiten bei den meisten Bewerbern und Bewerberinnen aufgrund spezieller Wtinsche ihrer Eltern. Letztere wollten unbedingt, daB ihre Kinder in den Schneider- bzw. Schlosser- oder Mechanikerhandwerken, den Handwerken, die am wirtschaftlichen A u f s c h w u n g am meisten beteiligt waren, ihre Ausbildung bekamen . 794 795 Die Fiirsorgegesellschaft fur die Lehrlinge hatte ahnliche Aufgaben. Sie bezweckte, die Lehrlinge nur wahrend des Arbeitstages in die Werkstatt zu schicken. Hier zahlten dagegen die Meister fur ihre Lehrlinge funf bis dreizehn Rubel im Monat, die allerdings nicht ausreichten, u m den finanziellen Aufwand der Gesellschaft decken zu konnen. Im Jahr lagen die Kosten pro Lehrling zwischen 149 und 197 R u b e l * . Die Gesellschaft war standig auf fremde finanzielle Hilfe angewiesen. Es gab vor allem drei Institutionen, die ihr einige Geldmitteln zusicherten: das Innenministerium k a m jahrlich fur funf- bis sechstausend Rubel auf, von denen allerdings 1906 nur 1.500 Rubel ankamen, das Finanzministerium, das 1 9 0 4 , 1 9 0 6 und 1908 j e w e i l s 5.000 Rubel zahlte, und die Handwerksverwaltung der Hauptstadt. A m 10. Juni 1909 wurden v o m Kaiser ebenfalls 5.000 Rubel bewilligt . 7 797 Diese Initiativen waren lobenswert. In Anbetracht der groBen Anzahl der Lehrlinge in der Stadt hatten sie aber einen geringen Effekt. Die iiberwiegende Mehrheit der Lehrlinge konnte die Vorteile, die die Gesellschaft anbot, nicht nutzen. Laut der Studie eines Mitglieds der funften Abteilung der Gesellschaft fur die Forderung 794 Otfet Remeslennogo bjuro za 1886 god. St. Petersburg 1887, S. If., 4. 795 Ebd., S. 7f. 796 Izlozenie dela otdelom torgovli ministerstva torgovli i promySlennosti ot 29.09.1908, in: RGIA, f. 1278, op. 2, d. 664: Ob otpuske v 1909 godu iz sredstv gosudarstvennogo kaznacejstva posobija popeditePstvu [...] (30. September 1908 - 17. Juni 1909), hier 1. 8. Vgl. Tabelle 60 im Tabellenanhang. 797 Izlozenie dela otdelom torgovli ministerstva torgovli i promySlennosti ot 29.09.1908, in: RGIA, f. 1278, op. 2, d. 664: Ob otpuske v 1909 godu iz sredstv gosudarstvennogo kaznacejstva posobija pope£itePstvu [...] (30. September 1908 - 17. Juni 1909), hier 1. 8f., 49. der russischen Industrie und des Handels fur H a u s - und H a n d w e r k s g e w e r b e waren in den St. Petersburger Handwerksbetrieben 9.400 Lehrlinge im Verhaltnis 7 3 % 798 Lehrjungen zu 2 7 % Lehrmadchen beschaftigt . Die Handwerksbetriebe konnen, w a s die Bildungsqualitat der Lehrlinge anbelangt, in drei Gruppen eingeteilt werden. Zur ersten G r u p p e gehorten die Betriebe, die traditionelle Handwerksbetriebe waren und in denen die Lehrlinge verhaltnismaBig gute Ausbildungschancen hatten. Silberschmiedehandwerke bzw. Das die waren Handwerke z. B. mit die Gold- besonders und teuren Produktionsgegenstanden. In diesen H a n d w e r k e n war die Gefahr groB, daB die Lehrlinge infolge ihrer Ungeschicklichkeit groBen Schaden anrichten konnten, w o d u r c h es zu empfindlichen Verlusten g e k o m m e n ware. D e s w e g e n w u r d e n in solchen Betrieben den Lehrlingen zunachst nur einfachere Arbeiten anvertraut. W e n i g e r gunstig fur Lehrlinge waren die Handwerksbetriebe, die sich zu Manufakturen (masterskie-fabriki) entwickelt hatten, in denen eine groBe Zahl gleichartiger und ziemlich einfacher Gegenstande hergestellt wurde. Dies waren Ubergangsbetriebe, die sich allmahlich zu Fabriken entwickelten. Hier fuhrten die Lehrlinge mit Hilfe einer Maschine oder eines Handwerkszeuges eine einfache und m o n o t o n e Tatigkeit aus, w a s verhinderte, daB sie den gesamten ArbeitsprozeB iiberblicken konnten. Uberhaupt nicht geeignet fur die Ausbildung der Lehrlinge waren Werkstatten, in denen sich lediglich der Z u s a m m e n b a u von vorgefertigten Teilen vollzog, die von Fabriken zugeliefert wurden. Das waren in der Regel die auswartigen Betriebseinheiten der Fabriken. Hier wurde der Lehrling zu einem minderjahrigen Arbeiter, der keine Aussichten hatte, in Zukunft als Geselle 799 eingestellt zu werden, sondern fur immer ein Arbeiter b l i e b . Zweifellos waren die Meister nicht allein daran schuld, daB die H a n d w e r k s a u s b i l d u n g zuweilen mangelhaft verlief. Der Unwillen vieler Meister, Lehrlinge aufzunehmen, wurde auch durch die Lehrlinge bzw. ihre Eltern mit verursacht, die sich nicht an die Vertragsbedingungen hielten. Uberhaupt hatte die schriftliche Vereinbarung in den niederen und mittleren sozialen Schichten keine verbindliche Gultigkeit, und w e n n eine der beteiligten Seiten fur sich keinen Nutzen mehr sah, loste sie den Vertrag willkurlich auf. Es k a m nicht seiten vor, daB ein Lehrling nach einer gewissen Zeit, in der er das H a n d w e r k erlernt hatte, der Vertrag aber noch ein oder zwei Jahre weiter laufen sollte, zu einem anderen Meister wechselte, w o er fur L o h n weiter arbeitete. Dies w u r d e vor allem von den 798 G. F. Rakeev, Ob ucenicestve u masterov, in: Trudy obScestva dlja sodejstvija russkoj promySlennosti i torgovle. Zapiski V otdelenija po kustamoj i remeslennoj promySlennosti 1889-1891. St. Petersburg 1892, S. 1. Rakeev, Ob ucenicestve, S. 5. Eltern der K i n d e r erstrebt, die dadurch das E i n k o m m e n im Haushalt erhohen 800 konnten . Die H a n d w e r k s - bzw. Berufsschulen stellten ihrer h o h e n Beitrage w e g e n (bis zu 2 0 0 Silberrubel im Jahr) keine Alternative zu der Ausbildung im Handwerksbetrieb dar. Hatte m a n 1892 in St. Petersburg fur die 9.000 Lehrlinge Handwerksschulen gebaut, so hatte dies 2.000.000 Silberrubel im Jahr verschlungen; aber w e d e r die Regierung, noch die Stadt und schon gar nicht die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g waren imstande, solche S u m m e n aufzutreiben. Der Ernteausfall 1890 und 1891 und die Hungersnot unter der breiten M a s s e der Bevolkerung bereiteten der Regierung groBte Probleme, an anderweitige Investitionen war nicht zu denken. Im Unterschied z u m ersten HandwerkskongreB 1900 w u r d e w a h r e n d des zweiten Kongresses im Januar 1911 ein Durchbruch in den Fragen der Lehrlingsausbildung im H a n d w e r k erreicht. Jetzt wurde deutlich, welche Entwicklung die H a n d w e r k e r in diesen elf Jahren g e n o m m e n hatten. O h n e j e d e Debatte verurteilte der KongreB einstimmig die korperliche Zuchtigung der Lehrlinge und bestimmte, daB moglichst schnell die allgemeine Schulpflicht und kostenlose Schulbildung eingefuhrt werden sollten . Allerdings gab es Unstimmigkeiten bei der Festlegung der Anzahl der Schulstunden. Hier unterschritten die Meister sogar das M i n i m u m von 18 Schulstunden pro W o c h e , das das Gesetz v o m 15. N o v e m b e r 1906 bestimmte, und verlangten nach zwolf Schulstunden pro W o c h e . Im G r u n d e g e n o m m e n hatten die Meister recht, da es mit einem zehnstundigen Arbeitstag hochst unwahrscheinlich war, daB Lehrlinge b z w . jugendliche Arbeiter imstande waren, effektiv zu lernen. Vorher sollte erst die Lange des Arbeitstages gekurzt werden mussen, da die Schuler in den Abendklassen nicht lernten, sondern schliefen . 801 802 803 Der BeschluB der St. Petersburger Stadtduma in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, bestimmte S u m m e n fur die Entwicklung der Handwerksausbildung in der Hauptstadt auszugeben, verhalf einigen privaten Institutionen - wie z. B . der Handwerksschule n a m e n s Thronfolger Nikolaj - zur Existenz, bewirkte aber fur die Entstehung des Gesamtsystems der Berufsausbildung wenig. M i t dem zweiten A u f s c h w u n g der Industrialisierung vor dem Ersten Weltkrieg w a r wieder die m a n g e l n d e Handwerksausbildung sowie der Mangel an gut ausgebildeten Fachleuten deutlich zu spuren. D e s w e g e n plante die Stadtduma 1911, ein Gesamtsystem der Handwerksausbildung entsprechend den Bedurfhissen der 800 Ebd., S. 15f. 801 Ebd., S. 24. 802 A. Malin, Vtoroj vserossijskij remeslennyj s-ezd, in: Vestnik Evropy, kniga 3 (Mfirz 1911), S. 287-292, hier S. 287, 289. Hauptstadt zu entwickeln. Die Kommission fur die Volksbildung bei der Stadtduma rechnete aus, daB fur das vorgesehene Projekt 1.500.000 Rubel u n d fur die laufenden Kosten jahrlich 130.000 Rubel notig seien. Die Finanzkommission der D u m a veranlaBte diesbeziiglich eine Beratungsrunde mit fuhrenden Fachleuten auf diesem Gebiet. E s wurden der Vorsitzende der K o m m i s s i o n fur die Volksbildung, A. V. Belgardt, ihre Mitglieder S. V. 2danov und N . N . M e d v e d e v , der Direktor der Ochtensker Mechanisch-technischen Berufsschule, I. F. Bunin, der Bezirksinspektor der Industrieschulen des Volksbildungsministeriums, N . G. Gruzov, der Leiter der Werkstatt der Handwerksschule n a m e n s Thronfolger Nikolaj, N . B . Zavadskij, und das Mitglied der Gesellschaft fur die Forderung der russischen Industrie und des Handels, G. F. Rakeev, eingeladen. Die Ergebnisse der Zusammenkunft waren durftig. Die Kommission k a m lediglich zu dem SchluB, daB die H a n d w e r k s a u s b i l d u n g in der Stadt u n g e n u g e n d entwickelt sei, w a s eigentlich schon vor der Zusammenkunft v o n der D u m a festgehalten worden war. D a s Projekt k a m nicht z u m AbschluB, weil nicht entschieden werden konnte, w a s genau die Handwerksschulen bezwecken muBten, in welchen Berufen uberhaupt Bedarf bestand u n d o b leitende Meister (mastera-rukovoditeli) oder GesellenArbeiter (podmasterj'a-rabo&e) ausgebildet werden sollten . Die Forderungen des Handwerkskongresses v o n 1911 waren richtungsweisend, v o n der Realitat aber weit entfernt. Wahrend des Kongresses bezeichnete der Delegierte D . P. N i k o r s k i j , wie schon V. O. Iordan 1894, die Lehre im H a n d w e r k als eine Qualerei (udenidestvo-mucenidestvo). Er bemerkte, daB die Lehrlinge zur Zeit nur als eine kostenlose bzw. billige Arbeitskrafte ausgenutzt w u r d e n u n d sich die Lehre im H a n d w e r k in reine A u s b e u t u n g der Kinder verwandelt hatte . 804 805 8.3 D i e Rolle d e r H a n d w e r k s v e r w a l t u n g in d e r Berufsausbildung Eine der Aufgaben der Handwerksverwaltung war es, darauf zu achten, daB die Meisterkinder rechtzeitig in die Lehre gingen und eine fachgemaBe A u s b i l d u n g bekamen. Sobald die letzteren das Alter von dreizehn Jahren erreicht hatten und n o c h nicht von den Eltern in die Lehre geschickt worden waren, w a r die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g dazu berechtigt, die Kinder an einen Betrieb zu vermitteln. D e s weiteren sollte die Handwerksverwaltung kontrollieren, daB Lehrlinge in den Werkstatten nicht miBhandelt w u r d e n und eine regelmaBige Ausbildung erhielten. Dadurch sollte der Zustrom der ausgebildeten Krafte in das H a n d w e r k gesichert und die Tradition eines handwerklichen Familienbetriebes bewahrt werden. Die Trudy Vserossijskogo (...) 1911 goda, S. 107ff. Malin, Vtoroj, S. 288. 806 Praxis zeigte aber, daB eine Koritrolle der Betriebe nicht moglich w a r . Allerdings ist zu bemerken, daB eine andere Art der Handwerksausbildung zu jener Zeit auch nicht existierte. D e r Lehrling hatte keine andere Wahl u n d muBte diese Tortur der Lehrzeit uberstehen, w e n n er den W u n s c h hatte, sich selbstandig zu m a c h e n und die Laufbahn eines Meisters in der Hauptstadt einzuschlagen. Zuerst sollten die Kinder mindestens funf Jahre in der Lehre bei einem ziinftigen Meister bleiben, w o n a c h sie das Gesellendiplom erhielten und danach weitere drei Jahre als Geselle arbeiten konnten. N a c h dem AbschluB der Ausbildung durfte der Geselle bei der Zunftverwaltung des j e w e i l i g e n H a n d w e r k s die Meisterprufung ablegen und danach als Zunftmeister weiterarbeiten und, w e n n moglich, eine eigene Werkstatt eroffhen. Seit d e m letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anderte sich die Situation der Ausbildung im H a n d w e r k wesentlich. Mit der Entwicklung des freien Arbeitsmarktes und der der immer groBer w e r d e n d e n Anzahl der nichtzunftigen Werkstatten entfiel fur viele Lehrlinge bzw. Gesellen die Notwendigkeit, die Handwerkslehre im vollen Umfang zu absolvieren und mit d e m Gesellendiplom abzuschlieBen. Immer mehr Handwerksbetriebe verloren allmahlich ihren handwerklichen Charakter und entgingen mit ihrer Kapitalisierung und VergroBerung einerseits u n d der Proletarisierung der H a n d w e r k e r andererseits den Vorschriften der Handwerksverwaltung. Viele der Gesellen wollten sich u m j e d e n Preis selbstandig machen, w o d u r c h eine Vielzahl alleinstehender Meister vorhanden war, die ihre Meisterdiplome leicht b e k o m m e n konnten u n d inoffiziell Arbeitskrafte ohne Gesellendiplom einstellten, die als einfache Handwerksarbeiter bezeichnet wurden. Tabelle 13: A u s g a b e der Meister- und Gesellendiplome 1866. 1867 und 1910 Jahr Meisterdiplome Gesellendiplome Gesamt 1866 560 727 1287 1867 631 784 1415 1910 932 109 1041 Quelle: Otcety S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1866,1867 i 1910 gg. Wie aus der Tabelle zu ersehen ist, verminderte sich die Anzahl der ausgegebenen Gesellendiplome fur die Lehrlinge v o n 784 im Jahre 1867 auf 109 im Jahre 1910 806 4 Abhandlung „Remeslennaja uprava" in: Enciklopediceskij slovar , torn 26, polutom 52. St. Petersburg 1899, S. 556f. drastisch. D a g e g e n stieg die Anzahl der ausgegebenen Meisterdiplome von 631 im Jahre 1867 auf 9 3 2 im Jahre 1910 an. Die Anzahl der Lehrlinge in St. Petersburg blieb dank der groBeren Handwerksbetriebe in den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts konstant, wobei ihre Anzahl in kleineren Betrieben absank. Tabelle 14: Anzahl der Lehrlinge in den H a n d w e r k s b e t r i e b e n d e r z u n f t i g e n Meister und mittlere Zahl der Gewerbebetriebe in M o s k a u und St. Petersburg 1900 und 1910 Beschftftigte in der Werkstatt Jahr von 2 bis 4 von 5 bis 15 von 16 bis 25 mehr als 25 Gesamt Zahl der Lehrlinge St. Petersburg 1900 10902 3717 594 206 15419 1910 10806 3705 656 283 15450 Moskau: 1900 1910 - - - - 3110 1635 Quelle: Remeslenniki i remeslennoe upravlenie, S. 47. Im Unterschied zu St. Petersburg verringerte sich die Anzahl der Lehrlinge in M o s k a u laut den offiziellen Statistiken mit 47,4 % fast u m die Halfte. In der Tat aber waren in M o s k a u rund 14.000 Lehrlinge beschaftigt, w a s deutlich macht, daB die Handwerksbetriebe immer m e h r der Kontrolle der Handwerksverwaltung ausweichen konnten und sich nicht registrieren lieBen. A u c h die Arbeit der Zunftverwaltungen wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts kritischer bewertet. So berichtete V. O. Iordan 1894, daB die Meister in M o s k a u viele H a n d w e r k e r ohne Gesellendiplome einstellten. Dies passierte aus folgenden Griinden. Einmal im Jahr meldeten sich die Meister bei der Zunftverwaltung und entrichteten unter anderem die Beitrage fur die erwachsenen Handwerker, die in ihren Werkstatten beschaftigt wurden. Dabei w u r d e in der Zunftverwaltung nicht danach gefragt, o b die letzteren ausgebildete Gesellen mit Diplomen seien. N a c h dem Bedarf bzw. entsprechend der wirtschaftlichen Situation des jeweiligen Handwerkers konnte die Anzahl der Beschaftigten von Jahr zu Jahr unterschiedlich sein. Florierte die Werkstatt eines Meisters, verdoppelte er die Anzahl der Gesellen. Errichtete er im nachsten Jahr bei der Zunftverwaltung fur die doppelte Anzahl der Gesellen die Steuer, wurde er nicht danach gefragt, w a r u m er derm plotzlich mehr Gesellen als im letzten Jahr hatte, obwohl keiner v o n ihnen ein Gesellendiplom v o n der Zunftverwaltung erhalten hatte . Daruber hinaus begunstigte diese Sachlage die neue administrativ-polizeiliche O r d n u n g , welche die A u s g a b e v o n Passen an Lehrlinge erlaubte, w a s fruher unmoglich war, weil die Meister die Passe solange bei sich behielten, bis sie der M e i n u n g waren, daB die Lehrlinge ihre Ausbildung beenden konnten bzw. sie ihre Hilfe nicht mehr gebrauchen konnten. Jetzt trug der stadtische Steuereinnehmer automatisch in den PaB unter der Rubrik „Beschaftigung" die Bezeichnung „Geselle" ein, falls der Lehrling 17 Jahre alt war. Der Meister muBte pro Geselle drei Rubel A b g a b e n bezahlen. Das gab dem Lehrling die Moglichkeit, ohne eine Gesellenprufung bei einem anderen Meister als Geselle angestellt zu werden und damit eine bezahlte Gesellenstelle zu besetzen . 807 808 Diesen Sachverhalt bestatigte die Handwerksverwaltung selbst, indem sie die Beschuldigungen der zeitgenossischen Kritiker uber die B e d r a n g u n g der H a n d w e r k e r durch den obligatorischen Eintritt in die Zunfte mit den Worten zuriickwies, daB sie grundlos sei: „Es gibt keine Hindernisse beim Erwerb des Gesellen- bzw. Meistertitel, da die Bewerber keiner Priifung v o n den Zunftaltesten unterzogen w e r d e n " . 809 Gleichzeitig verneinte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eine mogliche Handwerksausbildung auBerhalb des Handwerksbetriebes. Ihrer Meinung nach war die H a n d w e r k s a u s b i l d u n g an den Berufsschulen nicht ausreichend, da die Lehrlinge auf j e d e n Fall den Lehrgang in einer Werkstatt absolvieren sollten, um praktische Erfahrungen sammeln zu konnen. Es ist notig, noch einen wesentlichen Z u g der Handwerksausbildung bei den ziinftigen Meistern zu erwahnen. A m Ende des 19. J a h r h u n d e r t s w u r d e v o n den Zeitgenossen u n d v o n der Handwerksverwaltung selbst auf eine informelle Qualifikationsweise der Lehrlinge und Gesellen in den Zunften hingewiesen . Die Gesellen bekamen ihre Diplome 810 807 Iordan, Udeniki-remeslenniki, S. 21. 808 V. P. Aleksandrov, К voprosu ob ucenideskich kontraktach i knizkach, in: Trudy Vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge 1900 goda. St. Petersburg 1901, S. 371f. 809 8 , 0 Mnenie S. Peterburgskoj remeslennoj upravy (1897), S. 4. A. Jadrov, V za§6itu russkich cechov, hrsg. v. St. Petersburger Handwerksverwaltung, St. Petersburg 1897, S. 3f.; Dokladnaja zapiska komissii, udrezdennoj s celiju izyskanija mer к uludseniju remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge ot 8 janvarja 1888, S. 5f. ohne groBe Formalitaten. Dies bezeugt, daB die Zunftregelungen in ihrer Strenge sichtlich aufgelockert wurden. Die Lehrlinge b e k a m e n in den meisten Fallen die Gesellendiplome nicht mehr, obwohl sie weiterhin als Gesellen beschaftigt wurden. 1888 gab es 12.000 Lehrlinge in den Zunften, von denen nur 1.200 Gesellendiplome erhielten. Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g hatte keinerlei Kontrolle uber die Fluktuation der Lehrlinge, da die Meister keine Berichterstattung uber die Anzahl der Lehrlinge vorlegten. D a s Gesellendiplom w u r d e dem Lehrling ohne notige Priifimg v o n der Handwerksverwaltung ausgehandigt. Dasselbe gait fur die Gesellen, die kein Meistersttick anfertigen muBten, u m das Meisterdiplom zu erhalten. In beiden Fallen legten sie bei der Verwaltung ein billigendes Zeugnis (svidetel 'stvo-attestat) von ihren Meistern vor, was vollig ausreichte. Falls der Lehrling kein Zeugnis von seinem Meister bei der Verwaltung vorlegte, muBte er eine Priifung beim Zunftmakler ablegen, w a s „auBerst seiten" g e s c h a h . 811 8.4 Die nichtzunftige H a n d w e r k s a u s b i l d u n g und die Rolle des Staates Mit der A u s b i l d u n g der Fachkrafte im H a n d w e r k bemuhte sich der Staat, die A r m e e mit Fachleuten zu versorgen. Darauf zielte der SenatserlaB von 1731, der unter anderem d e m in diesem Jahr gegrtindeten Kadettenkorps in St. Petersburg auferlegte, H a n d w e r k e r fur die Armee auszubilden, die aus den Rekruten im Alter v o n 20 bis 35 Jahren ausgewahlt werden sollten . Ein spaterer ErlaB von 1761 sah vor, Schuler der Garnisonsschule im Alter v o n 13 bis 15 Jahren wie auch Kinder der gemeinen Angestellten des Kadettenkorps sowie aus d e m freien Stand des Kadettenkorps z u m gleichen Zweck aufzunehmen. Die Lehrlinge sollten Schreiben und Lesen, Mathematik, Geometrie, Malen und die deutsche Sprache lernen. Die A u s w a h l dieser Facher wurde dadurch bestimmt, daB „der H a n d w e r k e r die Geometrie beherrschen soil, um die geometrische Proportion der D i n g e zu bewahren und u m die Ware vergroBern oder verkleinern zu konnen. Das M a l e n lernen, u m einen Gegenstand malen zu k o n n e n und ihn dann maBstabgetreu herzustellen. Die deutsche Sprache soil er lernen, weil alle guten Handwerker Deutsche sind und weil die Veterinarbucher ebenfalls auf Deutsch geschrieben sind" . Die ganze Schulzeit bei gleichzeitigem Erlernen des H a n d w e r k s sollte sechs Jahre lang dauern. N a c h d e m AbschluB wurden alljahrlich etwa 30 j u n g e H a n d w e r k e r in die A r m e e geschickt. Unter den Absolventen waren u. a. Schmiede, Sattler, 812 813 811 Dokladnaja zapiska, S. 4, 6. 812 Ocerki russkoj kuPtury 18 veka, Bd. 1. Moskau 1985, S. 167. Pferdegeschirrmeister, Waffenschmiede, Schuhmacher und Schneider. Nach zwolf Jahren Dienst konnten sie entlassen werden. Sie wurden aber verpflichtet, in die Zunfte St. Petersburgs, M o s k a u s oder anderer groBer Stadte einzutreten. Die Ausbildung in einem H a n d w e r k (obucenie „chudozestvam i masterstvam") wurde auch in der K o m m e r z s c h u l e eingefuhrt, die 1772 gegrundet wurde. A m Ende des 18. Jahrhunderts wurde das H a n d w e r k als eine sichere Einkommensquelle angesehen. So wurden die Zoglinge des Erziehungshauses (Vospitatel'nyj dom) in St. Petersburg im H a n d w e r k ausgebildet, um „dem Absolventen nach dem AbschluB zu ermoglichen, selbst ein Meister zu werden, um seine Familie verpflegen zu konnen und u m ihm ein sicheres E i n k o m m e n zu g e w a h r e n " . D a s H a n d w e r k hatte damals mit einigen A u s n a h m e n , z. B . das BerdWerk, eine Monopolstellung in der Herstellung v o n Konsumgutern inne und daher von groBer B e d e u t u n g in der Hauptstadt. Der starke Zustrom von L a n d b e w o h n e r n sicherte eine zusatzliche Nachfrage nach handwerklichen Erzeugnissen. Es soil nicht die Einstellung zur Kinderarbeit im 18. Jahrhundert vergessen werden, die in RuBland nachhaltig bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fortdauerte. Wie es W. Fischer trefflich charakterisierte: 814 „Kinderarbeit gilt im 18. Jahrhundert als ein Segen, weil sie die Kinder zu nutzlichen Mitgliedern der Gesellschaft macht. Arbeit ist das erste Mittel, das die Obrigkeiten einsetzten, um die Weisen- und Armenkinder von der StraBe des Bettels abzubringen. Verwaltungsbeamte, Pfarrherren und P a d a g o g e n sind sich darin einig, daB, j e fruher der M e n s c h z u m Arbeiten angehalten wird, er desto weniger in die Gefahr gerat, sich d e m MuBiggang hinzugeben u n d seinen Mitmenschen zur Last zu fallen. Jeder, der Gelegenheit zu nutzlichen Arbeit fur Kinder schafft, wird als Menschenfreund gepriesen" . 815 Viele Meister und Fabrikanten wandten sich daher mit der Bitte an die Regierung, in ihren Werkstatten Kinder ausbilden zu dtirfen, w a s wiederum fur die Griindung eines Gewerbebetriebes von N u t z e n war. Die U n t e m e h m e r betonten den 8 . 4 8 . 5 PSZRI l,Bd. 25, Nr. 18804. W. Fischer, Der Staat und die Anfange der Industrialisierung in Baden 1800-1850. Bd. 1, Berlin 1962, S. 343f., zitiert nach: Quandt, Kinderarbeit, S. 19. Vgl. uber die Kinderarbeit in Deutschland: Ursula Aumuller, Industrieschule und Ursprilngliche Akkumulation in Deutschland. Die Qualifizierung der Arbeitskraft im Ubergang von der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise, in: Hartmann/Nyssen/Waldeyer (Hrsg.), Schule und Staat im 18. und 19. Jahrhundert, Fraikfurt'Main 1974, S. 9-145; Helmut Christmann, Bemerkungen zur Kinderarbeit in der wurttembergischen Gewerbeindustrie in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts, in: Zur Geschichte der Industrialisierung in den sudwestdeutschen Stadten, hrsg. v. E. Maschke und J. Sydow, Sigmaringen 1977, S. 40-56; F. J. Gemmert, Die Entwicklung der altesten kontinentalen Spinnerei, Leipzig 1927, S. 141 f. erzieherischen Effekt des U n t e m e h m e n s , wobei hier auch die Risikominimierung durch Kostenreduzierung dank billigerer Kinderarbeit nicht zu ubersehen ist. Streben des Unternehmers, das Risiko zu minimieren und sich fur die erste Periode durch billigere Kinderarbeit zu versichern, nicht zu ubersehen ist. So schlug 1817 der Eigentumer zwei Fabriken fur L a m p e n und Silberbeschlage vor, in seine Betriebe 30 Zoglinge des Erziehungshauses als Lehrlinge aufzunehmen . Mit dem gleichen W u n s c h wurde 1824 August Jeanneret, der die G r u n d u n g einer Uhrenfabrik in RuBland plante, beim Finanzminister vorstellig . Die Handwerksausbildung, die die Zoglinge im Erziehungshaus bekamen, war nicht breit gefachert. D e n Zoglingen fehlte es an praktischer Erfahrung und konnten sich daher seiten z u m Meister hocharbeiten. Bestenfalls konnten sie als Gesellen in einer Werkstatt beschaftigt werden und nach einiger Zeit versuchen, eine Meisterprufung in der Handwerksverwaltung abzulegen. Es g a b allerdings noch einen anderen W e g , sich selbstandig zu machen, namlich als freier Meister zu arbeiten. In diesem Fall muBten die Zoglinge keine Prufung ablegen. Dafur durften sie keine Gesellen und Lehrlinge beschaftigen, sondern muBten als alleinstehende Handwerker ihre Arbeit verrichten. U m den standigen ZufluB an qualifizierten Arbeitern in den staatlichen Betrieben St. Petersburgs zu sichern, bemuhte sich die Regierung den Ausbildungsweg, der fur das traditionelle H a n d w e r k typisch war, durch Vorschriften festzulegen. D a s System der individuellen Ausbildung eines Lehrlings im staatlichen GroBbetrieb existierte bis zu den Reformen in den 60er Jahren. 1799 wurde die Ausbildung der Lehrlinge bei e i n e m Meister im Arsenal gesetzlich verankert. Dasselbe gait seit 1806 fur die Admiralitatswerke in Izora, w o ein Meister vier, ein Geselle drei, ein qualifizierte Arbeiter (podmaster e) erster Klasse zwei und der der zweiten Klasse einen Lehrling ausbilden sollte. Hier wurden standig 120, spater 180 Lehrlinge ausgebildet. N a c h dem drei- bis funfjahrigen Lehrgang legten sie eine Prufung ab und bekamen den Grad eines qualifizierten Arbeiters . 816 817 ( 818 Eine Kaderschmiede stellte Arsenal vor, w o seit 1803 die Artillerieschule und seit 1821 die Technische Artillerieschule existierten. Letztere war im Grunde genommen eine Musterhandwerksschule, in der die traditionellen Handwerksberufe wie GieBer, Kanonenmeister, Schmied, Schlosser, Dreher, Tischler, Radmacher, Maler, Lotenmeister, Ziseleur, Radierer und Schnitzer unterrichtet wurden. AuBerdem bekamen die Lehrlinge Unterricht in Arithmetik, 816 Ob opredelenii na fabriku Bannistrema pitomcev Vospitatel'nogo doma (1817), in: RGIA, f. 18, op. 2,d. 260,1. 13ff. 817 Po pros'be inostranca 2annereta ob okazanii posobija dlja udreidenija v Rossii fabriki casov, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 788,1. 4. 818 4 Т. M. Kitanina, Rabo£ie Peterburga v 1800-1861 gg.: promySlennost , formirovanie, sostav, polozenie raboeich, rabocee dvizenie, Leningrad 1991, S. 180f. Geometrie mit d e m B e z u g auf Praxis, Metallurgie, Mechanik, Metallverarbeitung, Algebra, Trigonometrie, technisches Zeichnen und ein Praktikum in den physischen und chemischen Labors, so daB ihre Ausbildung in qualitativer 8 9 Hinsicht die in den Handwerksbetrieben um ein Vielfaches ubertraf ' . Seit 1826 existierte im St. Petersburger EisenguBwerk die „Schule der GuBeisenkunst", deren Unterrichtsprogramm so k o m p l e x e H a n d w e r k e wie z. B . M a s c h i n e n b a u beinhaltete, den ein Handwerksmeister in dem Umfang nicht unterrichten konnte. Die Konstruktion und der Bau der Dampf- bzw. Arbeitsmaschinen und die Modellherstellung von Dreh- und Drechslerwerkbanken bedurfte eines sehr hohen Qualifikationsgrades der Meister bzw. der Gesellen, die oft wahrend eines Praktikums im Ausland ihre Fachkenntnisse vertiefen konnten. Zu den weiteren Staatsbetrieben, die hochqualifizierte Arbeiter und Meister ausbildeten, gehorten die Alexandrinische Manufaktur und die Petergofer 820 Schleiffabrik . Im 19. Jahrhundert blieben der Bildungssektor und die Initiative der Organisation der Schulen fast ausschlieBlich in den Handen des Staates, wobei St. Petersburg eine Stadt war, in der verschiedene Schulprojekte zuerst erprobt wurden, u m dann in anderen Regionen RuBlands eingesetzt zu werden. Die berufliche Uberlegenheit der meisten St. Petersburger H a n d w e r k e r gegenuber Handwerkern aus den inneren Regionen RuBlands resultiert aus diesen stadtischen Ausbildungsangeboten. N e b e n den Versuchen des Staates, die Ausbildung der Handwerker zu verbessern, fehlte es nicht Oberkaufmann an privaten (starsij Projekten. Gamburgskij Manufakturschule (manufakturnoe udilisde) So plante kupec) 1815 Christoph der Hamburger Meyer, eine zu eroffhen, in der verschiedene H a n d w e r k e sowie eine kaufmannische Lehre unterrichtet werden sollten. Seinen Worten nach hatte die Industrie dadurch hochqualifizierte Fachkrafte b e k o m m e n konnen, w a s indirekt zur V e r m e h r u n g der Fabrikenzahl hatte fuhren sollen. Er versuchte die Notwendigkeit dieser Schule mit dem Argument zu begrtinden, daB RuBland, start Rohstoffe auszufuhren, diese selbst verarbeiten sollte. Als Beispiel fuhrte er die schlesischen Weber an, die in groBen M e n g e n in RuBland Baumwolle einkauften, sie verarbeiteten und dann mit betrachtlichen Gewinn als Tucher 8 , 9 820 Ebd., S. 185. Ebd., S. 185f. Die von Kitanina bezogenen Quellen waren: Materialy po istorii Arsenala: Istoriceskaja spravka, 1914 RGIA, f. 1296, op. 18, d. 1,1. 5; d. 3,1. 166; G. Gorodkov, Admiraltejskie Izorskie zavody: kratkij istorideskij opyt, St. Petersburg 1903; V. Rodzevid, Istorideskoe opisanie S. Peterburgskogo Arsenala za 200 let ego suScestvovanija 1712-1912, St. Petersburg; RGIA, f. 1365, op. 1, d. 21,1. 25. wieder nach RuBland einfuhrten. Allerdings hielt der Innenminister das Projekt aus 821 unersichtlichen Griinden fur ungeeignet . Z e h n Jahre spater, am 10. Februar 1825, reichten die Auslander Delarosier, Labussier, Ferri und Fuchs dem Finanzminister das Projekt tiber die Eroffhung einer H a n d w e r k s - und Kunstschule (Skola remesel i iskusstv) in St. Peterburg ein . Interessant ist zu verfolgen, worin eine vorbildliche Handwerksausbildung nach den Vorstellungen j e n e r Zeit bestehen sollte. D a s Eintrittsalter der Schuler sollte zwischen elf und 14 Jahren liegen. Der GroBe nach ware es eine einmalige Schule fur RuBland gewesen zu sein: Die Gesamtzahl der Schuler sollte 732 betragen, die in mehreren Handwerken, angefangen v o m Schuhmacher, K o c h und Friseur und bis hin zum Bildhauer und Kunstmaler ausgebildet werden sollten. Der Lehrgang sollte sich tiber sechs Jahre erstrecken. Im ersten Jahr sollten Grundschulfacher unterrichtet werden. Zwei weitere Jahre hatten die Schuler Unterricht in den H a n d w e r k e n und Kunsten bekommen. Die nachsten eineinhalb Jahre sollten der V e r v o l l k o m m n u n g im H a n d w e r k dienen und die letzten eineinhalb Jahre d e m Unterricht von Mathematik, Physik, C h e m i e und allgemeiner Kunsttheorie gewidmet werden. N a c h dem AbschluB der Schule sollten die Schuler Kleidung sowie zwischen 1.200 und 3.600 Rubel erhalten, um eine eigene Werkstatt griinden zu k o n n e n . 822 823 D a s Projekt sollte privat finanziert werden, was die Regierung wohlwollend zur Kenntnis nahm. Dafur waren 100.000 Aktienscheine im Wert v o n 2 4 0 Rubel pro Aktie oder 24.000.000 Rubel insgesamt vorgesehen. A u c h dieses Projekt wurde nicht realisiert. Die E i n w a n d e der Regierung wurden auf folgende Weise formuliert. Es gab insgesamt vier Fragen, die zu losen waren, j e d o c h zum Teil nicht gelost werden konnten: 1. W o findet man so viele gute Meister, die bereit waren, ihr H a n d w e r k zu verlassen und in der Schule zu unterrichten? 2. W o findet m a n Raumlichkeiten, die ausreichend Platz bieten? 3. Wie kontrolliert m a n so groBe Bildungsanstalt? 4. K o n n t e m a n den Auslandern erlauben, so viel Kapital in RuBland in F o r m v o n Aktien zu b i n d e n ? 824 821 О predlozenii gamburgskogo kupca Mejera Christofa icredit' v Rossii manufakturnoe u£ili§ce, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 135,1. 4, 8. 822 Po proektu inostrancev Delarosiera, Labjussera, Ferii i Fuchsa ob ucrezdenii v S. Peterburge §koly remesel i iskusstv, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 461,1. 1. 823 Ministr finansov v komitet ministrov о predpolagaemom ucrezdenii v S. Peterburge Skoly remesel i iskusstv, vom Februar 1825, in: Ebd., 1. 12. Es ist ein Widerspruch nicht zu ubersehen. Einerseits hieB die Regierung, die Bereitschaft der auslandischen Unternehmer in die russische Industrie zu investieren, willkommen, andererseits unterband sie jegliche Versuche, diesen Kapital fur entsprechende Z w e c k e auf privater Ebene fliissig zu machen. Seit 1836/40 hatten die Lehrlinge, Gesellen und Meister in der Hauptstadt die Moglichkeit, ihre Fachkenntnisse in den Malschulen zu verbessern. Die erste offene Sonntagsschule fur Kunst (Risoval 'naja voskresnaja skola) wurde 1836 bei der technischen Hochschule (Technologiceskij institut) eroffhet. 1839 wurden in der Schule 53 Unterrichtsveranstaltungen mit 159 Unterrichtsstunden gegeben. Die Handwerker bildeten unter den Besuchern die groBte soziale Gruppe. Die Meister und Gesellen waren Gold- und Silberschmiede, Holzschnitzer, Dreher, Schreiner, Ikonenmaler, Porzellan- und Hausmaler. Insgesamt gab es 68 H a n d w e r k e r unter den 170 Besuchern. V o n den anderen Schulern gehorten den Kleinburgern und Angestellten j e 2 5 , Gesinde und Bauern 20, Kaufleuten und tibrigen zwolf a n . Die meisten von ihnen waren im Grunde g e n o m m e n Handwerker, da das Gesetz alien sozialen Schichten auf verschiedene Weise erlaubte, einem H a n d w e r k nachzugehen. D a s entsprach auch den Absichten der Regierung, welche die Schulen fur „die Fabrikanten und H a n d w e r k e r " eingerichtet h a t t e . W e g e n des groBen Andranges von Schulern sah die Regierung sich gezwungen, weitere Schulen einzurichten. 1840 folgte der oben genannten Einrichtung eine zweite offene Schule fur Kunst (Risoval 'naja skola dlja vol 'noprichodjasdich). Sie w u r d e nach d e m Projekt uber die Sonntagsmalschulen in St. Petersburg und anderen Stadten, das Staatsrat Kornilij Christianovic Reissig v o m Departement fur die Manufakturen und den Binnenhandel beim Finanzministerium entworfen hatte, eingerichtet und am 26. Mai des obengenannten Jahres eroffhet. Die Schule wurde in demselben stadtbekannten Gebaude auf der Vasilij-Insel untergebracht, w o die Borse war und seit 1829 regelmaBige Manufakturausstellungen stattfanden. Der Umfang der Unterrichtsstunden wurde fast verdreifacht u n d die Anzahl der Schuler war wesentlich hoher als die der technischen Hochschule. 1841 wurden in dieser Malschule fur Tagesshiiler 143 Unterrichtsveranstaltungen mit 483 Unterrichtsstunden und fur Sonntagsschuler 54 Unterrichtsveranstaltungen mit 216 Unterrichtsstunden veranstaltet. Der Unterricht fand adrei Tagen der W o c h e , am Sonntag und Mittwoch von 13 bis 15 Uhr und a m Freitag im Winter von 18 bis 20 und im S o m m e r von 20 bis 22 Uhr abends statt . Der Lehrstoff wurde schrittweise 825 826 827 825 О predostavlennom otcete ministru finansov о Risoval'noj voskresnoj §kole pri Technologiceskom institute, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1882, 5. Januar 1840,1. 1. 826 О S. Peterburgskoj risoval'noj Skole dlja voPnoprichodjaScich (1839-1840), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1900,1.21. vertieft und den verschiedenen Handwerksarten angepaBt. Die Schuler bekamen Unterricht im Malen, Zeichnen und Formen mit T o n und W a c h s . Die Handwerker waren auch in dieser Schule zahlreich vertreten. Unter 253 Schulern, v o n denen 213 die ganze W o c h e und 40 nur sonntags die Schule besuchten, gab es 89 Handwerker. Unter ihnen waren Fabrikgesellen, Lehrlinge, verschiedene Handwerker und Gesellen vertreten. Des weiteren besuchten die B e w o h n e r der landwirtschaftlichen Militarsiedlungen, Schreiber und Graveure (51), Adlige und Beamte (30), Kleinburger (26), Gesinde und Bauern (22), Kaufleute (18), Maler 828 (12) sowie Kinder der Kirchendiener und Maler (5) die S c h u l e . Fur die hohe Ausbildungsqualitat dieser Kunstschule spricht die Tatsache, daB hier die Lehrer fur Schulen in anderen russischen Stadten vorbereitet wurden. Besonders begabte Schuler bekamen einen zusatzlichen Sonderunterricht und wohnten beim Lehrer. Dafur zahlte der Staat d e m Lehrer 1000 Rubel pro Jahr. Sie assistierten dem Lehrer wahrend des Unterrichts und wurden besonders griindlich in Kunst der Lithographie und Gravur eingefuhrt. Die besten Schuler bekamen 829 Gold- und Silbermedaillen und wurden mit Diplomen ausgezeichnet . Welche B e d e u t u n g die Regierung diesen Schulen zumaB, laBt sich aus der Tatsache ersehen, daB hier solch bedeutende Professoren wie der Bildhauer Petr Karlovic Klodt von Jurgensburg, Wilhelm Haasenberger von der Kunstakademie sowie der Physiker Boris Semenovic Jakobi (Moritz H e r m a n n von Jacobi) unterrichteten. Durch die Mitwirkung von Jakobi konnte die Malschule an der 830 Vasilij-Insel u m eine galvanoplastische Abteilung erweitert w e r d e n . Der A n d r a n g der Schuler war fast doppelt so hoch wie die Aufhahmekapazitat der beiden Malschulen. 1846 wurden insgesamt 491 Anmeldeformulare vergeben, wobei nur 225 Schuler einen Platz erhielten. AuBerdem konnten die Handwerker aus dem Litejnaja-Viertel und von der Ochta beide Schulen w e g e n der Entfernung nicht besuchen. Der Platzmangel veranlaBte 1846 K. Ch. Reissig, das Projekt einer dritten Malschule im Litejnaja-Viertel vorzuschlagen. Trotzdem sprach sich der 828 Otcet po Risoval'noj Skole dlja vol'noprichodja&ich za 1841 god, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1883,1. 6f. 829 О S. Peterburgskoj risoval'noj Skole dlja vol'noprichodjaScrch (1839-1840), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1900,1. 8f. 830 M. H. von Jacobi (21.9.1801-10.3.1874) war ein bedeutender Physiker, der 1837-39 die Galvanoplastik entwickelte und weiter erforschte und einen grofieren elektromagnetischen Motor baute. Er setzte sich fur die Einfuhrung des metrischen Mafisystems ein. Finanzminister gegen dieses Projekt aus und verlangte eine umgehende 831 Erweiterung der vorhandenen Schulen . Ungeachtet des Erfolges verringerte sich die Anzahl der Schuler um 1850 drastisch, so daB v o n 253 Schulern im Jahre 1841 nur noch 80 im Jahre 1850 iibrigblieben. Die Handwerker blieben auch ab 1850 die am starksten vertretene soziale G r u p p e und machten unter den Schulern die Halfte aus. Die 42 Schuler waren Handwerker, unter ihnen acht Gold- und Silberschmiede und BronzegieBer, sieben Graveure und Holzschnitzer, sieben Ikonenmaler, sieben Maler, drei Bildhauer, drei Schreiner, drei Stuckarbeiter, zwei Dreher und zwei Schlosser. Ihnen folgten Bauern und Gesinde mit zehn Schulern, die Kleinburger und Raznodincy mit neun Schulern, die Kaufleute mit sieben Schulern, funf Beamtenkinder, zwei v o n der A r m e e und drei v o m A d e l . D a s Sinken der Schulerzahl in den Malschulen ist wahrscheinlich auf die Eroffhung der Handwerkslehranstalt in der Hauptstadt (Renteslennoe ucebnoe zavedenie) im Jahre 1844 zuruckzufuhren. Die Vorteile der Ausbildung in dieser Lehranstalt bestanden darin, daB diejenigen Absolventen, die sowohl den praktischen als auch den theoretischen Kurs erfolgreich beendet hatten, wichtige Privilegien wie die Befreiung v o m Militardienst u n d der Korperstrafe bekamen. Sie konnten nicht nur als Meister arbeiten, sondern auch als Angestellte groBeren Handwerksstatten leiten oder als Lehrer in den Volksschulen unterrichten. Die tibrigen konnten als Meister oder Gesellen, j e nachdem, w i e erfolgreich sie den Kurs absolviert hatten, im H a n d w e r k arbeiten. Diese Gruppe der Absolventen b e k a m die oben genannten Privilegien nachtraglich im Jahre 1859. Die zweite Lehranstalt in der Hauptstadt, die sich ebenfalls mit der A u s b i l d u n g v o n Fachleuten fur das H a n d w e r k befaBte, w a r die technische Hochschule (Technologiceskij institut). Die Absolventen der Hochschule bekamen nach der Prtifung den Gesellen- bzw. Meistergrad und wurden v o m Militardienst befreit, falls sie 150 Rubel dafur aufbrachten . 832 833 Die Zeitschrift „Otecestvennye zapiski" hieB 1848 die Neugriindung einer Abteilung fur die A u s b i l d u n g j u n g e r M a d c h e n in der Damenschneiderkunst (Otdelenie dlja obucenija devicportnomu zenskomu iskusstvu) sowie einer zweiten Admiralitatsschule (Otdelenie vtoroj Admiraltejskloj skoly) bei der patriotischen Frauengesellschaft (ienskoe patrioticeskoe obsdestvo) auf dem Theaterplatz in St. 831 Delo ob uCrezdenii Voskresnoj risoval'noj Skoly v Litejnoj easti, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1911,1. 3. S. Tabelle 61 im Tabellenanhang. 832 833 Otcet po Risoval'noj skole za 1850 god, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1892,1. 3. Postanovlenie IV otdelenija e.i.v. kanceljarii к ministru vnutrennich del ot 10.12.1859, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1731: Po otnoseniju stats-sekretarja Gofmana о predostavlenii nekotorych Pgot masteram i podmaster'jam vypuskaemym iz Remeslennogo ucebnogo zavedenija i о rasprostranenii nekotorych prav (1859), hier 1. 1. Petersburg im Jahre 1847 willkommen und rief die D a m e n der Stadt auf, die neuen Anstalten mit Auftragen zu unterstiitzen. Die Zeitschrift konstatierte, daB sich die Anzahl wohltatiger Institutionen mit j e d e m T a g vermehrte. In der zweiten Admiralitatsschule wurden die verwaisten M a d c h e n aus anderen Schulen dieser Gesellschaft gesammelt, w o sie unter der Leitung einer Aufseherin lebten . 1873 w u r d e diese Bildungsanstalt in eine Handwerksschule umgewidmet und trug seit 1880 d e n N a m e n Alexsanders II. Gleich im Grtindungsjahr b e k a m e n hier 285 auswartige u n d 157 Schtilerinnen in Vollpension Unterricht in verschiedenen Handwerken. AuBerdem unterhielt die Gesellschaft weitere zwolf private Schulen in der Hauptstadt, die fruher gegrtindet worden waren. 1836 versuchte die Gesellschaft uberwiegend den Absatz v o n Konfektionswaren zu organisieren, w o z u sie einen Laden pachtete. D e r U m s a t z d e s „Lagerplatzes fur die eigene Produktion" (Sklado&ioe mesto dlja prodazi sobstvennych izdelij) erreichte 1844 bedeutende GroBe u n d betrug 7.592 Rubel aus eigener Produktion u n d 18.713 Rubel aus Waren anderer Hersteller. Allerdings wurde der Lagerplatz spater wegen der Vielzahl an n e u gegrundeten Laden mit ahnlichem Warenbestand g e s c h l o s s e n . D a r a u s ist zu ersehen, das das Bekleidungshandwerk fruh die industrielle u n d groBkaufmannische Konkurrenz spurten, n a c h d e m in St. Petersburg die Fertigkleidung in groBen M e n g e n aus Polen eingefuhrt worden w a r . W e n n Institutionen wie die Admiralitatsschulen K o n k u r s gingen, muBte das auch fur die Handwerker Folgen haben. D i e Ergebnis dieser strukturellen Veranderungen w a r der U b e r g a n g vieler Einzelhandwerker unter d e n Schuhmachern u n d Schneidern z u m Verlag. Allerdings hatte diese Entwicklung nicht nur negative Seiten. W i e spater noch gezeigt werden wird, n a h m das Schuhmacher- u n d Schneiderhandwerk gegen E n d e des 19. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung, unter anderem durch die V e r w e n d u n g halbmaschinell produzierter Halbwaren w i e z. B . Sohlenleder. D i e Produktionszeit wurde verkurzt, die Herstellungskosten gesenkt. D i e hergestellten Gegenstande blieben in der Anfangszeit der Industrialisierung aufgrund ihrer handwerklichen Qualitat gegenuber Artikeln aus Massenproduktion konkurrenzfahig. Die G r u n d u n g der Admiralitatshandwerksschule w a r den D a m e n aus d e m Hochadel zuzuschreiben, die vor allem der Adelssippe der Golicyns entstammten. 1847 hatte die Grafin K. P. Kleinmichel den Vorsitz inne. Ihr folgten Furstin A . O. Golicyn (geb. Furstin Scerbatov), Ftirstin M . S. Golicyn, seit 1856 Furstin N . S. Golicyn (geb. Grafin Apraksin), dann Grafin E. I. Kuselev-Bezborodko u n d seit 1865 Grafin S. N . Borch. U m mit anderen Produzenten konkurrieren zu konnen, schlug 1847 Grafin Kleinmichel vor, die j u n g e n M a d c h e n in der Schneiderkunst 834 835 836 834 835 4 Smes , in: Ote6estvennye zapiski, t. 59, Nr. 7-8 (1848), S. 51. K. Beljavskij, 50-letie Remeslennoj Skoly imperatora Aleksandra II imperatorskogo zenskogo patrioticeskogo obScestva. St. Petersburg 1899, S. 4f. zu spezialisieren und die Aufmerksamkeit in der handwerklichen Ausbildung auf das Zuschneiden v o n Damenkleidern zu konzentrieren, w o z u die neue zweite Admiralitatsschule dienen sollte . W a h r e n d der Reformen der 1860er Jahre anderten sich wesentlich die Verhaltensweisen und Orientierungsmuster in der russischen Gesellschaft in R i c h t u n g einer Liberalisierung. D a s blieb nicht ohne EinfluB auf das L e b e n der Schule in den Jahren 1860 und 1867. Als 1860 der Leiter der vierten Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei, Prinz P. G. Oldenburg, die Schule besuchte, machte er die Schulleitung darauf aufmerksam, daB es sirmvoll ware, den Schulerinnen auBer p r a k t i s c h e n K e n n t n i s s e n in der Schneiderkunst auch eine bessere Allgemeinbildung zu vermitteln. Dartiber hinaus erinnerte ihn die unentgeltliche Sechstagewoche der Schulerinnen an den Frondienst, weshalb er vorschlug, den Schulerinnen einen bestimmten Prozentsatz v o m verdienten Geld z u k o m m e n zu lassen. 837 U m mit der Zeit Schritt halten zu konnen und dem Geschmack des Publikums R e c h n u n g zu tragen, wurden 1867 nach dem Vorschlag von Grafin S. N . Borch die Kenntnisse der Schulerinnen in der Schnittkunst gezielt verbessert. AuBerdem sollten sie lernen, Korsetts, Damenhute und andere Kopfbedeckungen herzustellen, wobei die Schulerinnen zwischen 15 und 2 5 % des erwirtschafteten Geldes behalten durften . Die Einfuhrung eines Lehrganges in der Schnittkunst - bisher wurden die Kleider nach einer Vorlage gefertigt - sollte die Kreativitat der Schulerinnen fordern. Der Schneidermeister R e z a n o v machte noch 1842 den Innenminister u n d 1847 die Offentlichkeit mit einer Broschtire darauf aufmerksam, daB die russischen Schneidermeister von den auslandischen abhangig waren, weil sie der Schnittkunst nicht kundig waren und ihre Produkte nach Pariser Schablonen verfertigten . 838 839 Entsprechend d e m Zeitgeist w u r d e die zweite Admiralitatsschule 1873 in eine Handwerksschule mit einem dreijahrigen Ausbildungsgang reorganisiert, wahrend bis 1898 die Anzahl der sieben im Lehrplan stehenden Handwerksarten allmahlich auf zwolf erweitert wurde. D a s waren WeiBnaherei und Schnittkunst, die Schnittkunst fur die Unterwasche, Stickerei, unter anderem Seidenstickerei, die Schneiderkunst, die Schnittkunst fur die Damenkleider, die Schnittkunst fur die WeiBnaherinnen, das Stopfen, die Papierblumenherstellung, die Stickereien- und Hutherstellung. In 50 Jahren entwickelte sich die wohltatige Anstalt fur die j u n g e n M a d c h e n in St. Petersburg, die anfangs hauptsachlich die M e r k m a l e einer groBen 837 Beljavskij, 50-letie Remeslennoj skoly, S. 13. 838 Ebd., S. 16, 20. 839 RGIA, f. 1287, op. 37, d. 93: Po proektam masterov; Vzgljad na chod portnogo mastersrva v Rossii. St. Petersburg 1847. Handwerksstatte trug, zu einer Handwerksschule mit einem ausgearbeiteten Lehrplan und geregeltem Ablauf der Schulstunden . Eine groBe B e d e u t u n g in der Handwerksausbildung St. Petersburgs hatte auch die 1865 beim privaten Fursorge- und Handwerksausbildungshaus fur die armeren Kinder (Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija bednych detej) gegrundete Handwerksberufsschule, die den N a m e n des Tronfolgers Nikolaj (Remeslennoe udilisce cesarevica Nikolaja) trug . Die Grundschulbildung besonders unter den H a n d w e r k e r n der Stadt muBte verbessert werden, das w a r den Verantwortlichen klar, so beschloB die Stadtduma jahrlich 25.000 Rubel aus d e m Stadthaushalt fur die Handwerksausbildung auszugeben. U m Kosten beim Bau neuer Handwerksschulen in der Stadt zu sparen, entschied die Stadtduma, diese S u m m e in die bereits bestehenden Schulen zu investieren. N a c h Vorschlagen des Rates des Handwerksausbildungshauses stellte die Stadtduma nach d e m BeschluB v o m 2 1 . September 1871 dieses Geld zur Verfugung, so daB 1872 neben d e m bestehenden Handwerksausbildungshaus ein neues Haus fur die Handwerksberufsschule gebaut w u r d e , wofur v o n den Mitgliedern des Rates 194.000 Rubel gespendet w u r d e n . Insgesamt wurden fur den Bau des Hauses, das fur etwa 300 Schuler geplant war, 450.000 Rubel verbraucht. D a v o n wurden 5 0 % v o m Fursorge- und Handwerksausbildungshaus fur die armeren Kinder sowie privaten Personen gespendet, j e 2 5 % und 1 7 % entfielen auf die Regierung und die Stadtduma . Aber auch die Frauenausbildung war nicht in Vergessenheit geraten: 1875 wurde beim Ftirsorgehaus zusatzlich eine Handwerksschule fur Frauen eingerichtet. Die Schulgebuhr in H o h e v o n 2 5 0 Rubel pro Jahr war im Vergleich zu den Volksgrundschulen mit 60 bis 100 Rubel recht hoch. Dafur b e k a m e n die Schuler eine voile A u s b i l d u n g sowohl im theoretischen als auch im praktischen Bereich eines H a n d w e r k s . In den zwei jeweils fur die Schreiner und Schlosser vorgesehenen Abteilungen erhielten die Schtiler wahrend des sechsjahrigen Lehrganges die notigten Kenntnisse in Theorie und Praxis. Anfanglich w u r d e die Anzahl der Schuler auf 300 festgesetzt. Es waren in der Schule z. B . am 1. Januar 1887 3 2 0 Schuler, v o n denen 242 das Schlosserhandwerk und 78 das Schreinerund Holzschnitzerhandwerk erlernten. V o n 1878 bis 1886 absolvierten 220 840 841 842 843 844 840 Beljavskij, 50-letie, S. 24f., 40, 46. 841 Die Anzahl der Schuler in den Jahren von 1875 bis 1895 ist in der Tabelle 62 im Tabellenanhang zu finden. 842 Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija bednych detej v S. Peterburge. Otcet po soderzaniju remeslennogo udiliSca cesarevica Nikolaja za 1886 god. St. Petersburg 1887, S. 12f., 16,21. 843 Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija bednych detej v S. Peterburge. Remeslennoe udiliSce cesarevida Nikolaja. St. Petersburg 1896, S. 4. 845 Schuler, v o n denen 55 das Meisterdiplom erhielten, die S c h u l e . Unter den Schulern gab es erstaunlich w e n i g Handwerkerkinder, deren Eltern diese Schule offenbar nicht akzeptierten. Sie zogen es vor, ihre Kinder im eigenen Haushalt auszubilden, u m mehr EinfluB auf die Lehre des Kindes ausiiben zu konnen, da sie fast ausnahmslos eine traditionelle patriarchalische Lehrweise in der Werkstatt fur unersetzbar hielten. Die wohlhabenden Meister bevorzugten in der Regel eine nichthandwerkliche Ausbildung ihrer Kinder, um ihnen einen sozialen Aufstieg auBerhalb des H a n d w e r k s zu ermoglichen: so stammten 1887 nur 4,4 % der Schuler aus Handwerkerfamilien . 846 D a s metallverarbeitende H a n d w e r k war quantitativ am starksten vertreten. St. Petersburg war das groBte metallverarbeitende Zentrum RuBlands. Allerdings absolvierten die Handwerkschule nicht alle, sondern nur ein Zehntel der Schuler. Die uberwiegende Mehrheit der Schuler brach die Lehre fruhzeitig ab und ging in die Betriebe. In den Jahren 1875-1895 gab es in der Schlosserabteilung 4083 und in der Schreinerabteilung 983 Schuler, von denen nur j e 4 7 6 und 102 Schuler den Lehrgang in vollem Umfang absolviert hatten . V o n 609 Absolventen bekamen 136 den Meister- und 473 den Gesellentitel. Ende des 19. Jahrhunderts w u r d e immer deutlicher, daB viele v o n Handwerksarten langsam in der GroBindustrie aufgingen. Schon das Konzept der handwerklichen Ausbildung legte das nahe: D e n Meistertitel erhielten die Schuler, die zwei Jahre lang in einer Werksstatt oder einer Fabrik gearbeitet hatten . Z u der Zeit, als eine Vielzahl v o n Fabriken noch eher vergroBerten Werksstatten glichen, war es zulassig, dort den Lehrgang zu absolvieren, um das Diplom des Handwerksmeisters zu erhalten. Der betriebstechnische Unterschied zwischen Fabriken einerseits und groBeren Werkstatten andererseits war gering: Selbst die Bezeichnung der Betriebseinheiten in den Fabriken und Werken als „Zunfte" (cechi) verriet die Herkunft aus dem Handwerk. Der Schwerpunkt verlagerte sich mit der Zeit immer weiter in Richtung der GroBindustrie. D a s Handwerk verlor in den 80er und 90er Jahren z u n e h m e n d an Attraktivitat. D a s verriet eine sich verringernde Anzahl der erteilten Meistertitel: Zwischen 1878 und 1880 waren es nur elf Schuler. D a n n gab es zwischen 1881 und 1884 mit 71 ausgegebenen Meisterdiplomen einen Sprung nach oben. Mit dem Anfang der Rezession in der 847 848 845 Ebd., S. 4f.; siehe dazu: Svedenija dlja postupajuS£ich v Remeslennoe ueiliSce cesarevica Nikolaja. St. Petersburg 1874; Kratkie svedenija о Remeslennom u&iliSce cesarevica Nikolaja. St. Petersburg 1874. 846 Ebd, S. 6. 847 S. Tabelle 63 im Tabellenanhang. 848 Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija bednych detej v S. Peterburge. Remeslennoe udiliSce cesarevica Nikolaja. St. Petersburg 1896, S. 13. Mitte der 80er Jahre fiel ihre Anzahl immer weiter, so daB im Zeitraum 1885-1892 nur 54 und zwischen 1893 und 1895 kein einziges Meisterdiplom erteilt w u r d e . D a die Unterrichtsfacher in dieser Handwerksschule breit angelegt waren, konnten die Absolventen in verschiedensten Gebieten der Industrie tatig sein. 300 der Absolventen, etwa die Halfte, waren in H a n d w e r k oder Industrie tatig und zwar 92 in den Fabriken, 88 als Zeichner oder technische Zeichner, 24 als Betriebsleiter oder Lehrer, 19 in den Werkstatten, 17 als Elektriker, zehn in den Telegraf- und Telefongesellschaften. N u r sieben hatten eigene Handwerksbetriebe, jeweils sechs waren mit Dampfmaschinen beschaftigt und in den Eisenbahnwerkstatten tatig. Die weiteren Absolventen waren nicht auf technischem Gebiet beschaftigt. So wurden 6 8 , das waren 1 1 % der Absolventen, im Schreib- und R e c h n u n g s w e s e n , 64 oder 1 0 % im Militar tatig . Die Absolventen der Handwerksschule des Thronfolgers Nikolaj hatten gute Chancen, eine gutbezahlte Arbeit zu finden. Die Absolventen, die in den 80er und 90er Jahren den SchulabschluB machten, fanden Stellen, die mit 1.200 bis 1.800 Rubel Jahresgehalt dotiert waren. Ein Vergleich sei hier genannt: Arbeiter in metallverarbeitenden Betrieben erhielten den hochsten L o h n unter den Arbeitern St. Petersburgs; er betrug 250 bis 350 Rubel im Jahr . 849 850 851 Das hohe Ausbildungsniveau der Schule verschaffte ihr in der St. Petersburger Gesellschaft ein hohes Ansehen. Selbst das Volksbildungsministerium bildete hier seit 1894 Handwerkslehrer fur die niederen Handwerksschulen RuBlands a u s . 852 8.5 Die Kaiserliche Russische Technische Gesellschaft und die technische Ausbildung Die Fachausbildung in der Industrie und im H a n d w e r k war eines der zentralen Problemfelder der 1866 gegrtindeten Kaiserlichen Russischen Technischen Gesellschaft (IRTO). In der Gesellschaft bestand eine Kommission, die sich mit den Fragen technischer Ausbildung befaBte . Bisher b e k a m e n die Manufakturen u n d Fabriken ihre qualifizierten Arbeiter aus den Reihen der H a n d w e r k e r . D a aber das H a n d w e r k sich selbst mit vielen 853 854 849 Ebd., S. 13. 850 Ebd., S. 13f. 851 Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija, S. 28f. 852 Ebd., S. 15. 853 V. A. Karelin, Russkoe techniceskoe ob§6estvo i problema podgotovki kvalificirovannych fabridno-zavodskich raboeich v Rossii (1866-1890), avtoreferat dissertacii, Leningrad 1985. Problemen in der Lehrlingsausbildung konfrontiert sah und die Zunfte ihrer Aufgabe, eine Vielzahl v o n Arbeitern auf d e m neuesten technischen Stand in dem Umfang qualifiziert auszubilden, der v o n der GroBindustrie gefordert wurde, nicht n a c h k o m m e n k o n n t e n , wurde die Initiative der K o m m i s s i o n in Form von Griindung der Abend- und Sonntagsschulen fur Arbeiter v o n den Industriellen begriiBt und unterstutzt. In den Diskussion iiber die technische Ausbildung in RuBland rezipierte die K o m m i s s i o n die Entwicklung in West- und N o r d e u r o p a . So fand am 4. Januar 1880 in der K o m m i s s i o n eine Besprechung iiber die Handwerksausbildung in den Grundschulen der skandinavischen Staaten start. Ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, Ingenieur Evgenij Nikolaevic A n d r e e v , wies darauf hin, daB, „wenn die Ziinfte nicht da sind, m a n g e z w u n g e n wird, die Handwerksausbildung zu organisieren" . N a c h Ansicht der Kommissionsmitglieder sollte der Handwerksunterricht in den Grundschulen RuBlands verstarkt gefordert werden. Dieser konnte aber ohne dafur speziell ausgebildete Fachkrafte nicht verbessert werden. Die unvorbereiteten Volksschullehrer konnten nichts fur die Handwerksausbildung tun. D e s w e g e n organisierte die I R T O am 2 8 . Dezember 1880 einen H a n d w e r k s w o c h e n k u r s fur Lehrer von Volksgrundschulen (пасЫ 'nye narodnye udilisca), der bis z u m 3. Januar des nachsten Jahres dauerte. W a h r e n d seiner BegriiBungsrede betonte E. N . Andreev die B e d e u t u n g der Handwerksausbildung auBerhalb der Betriebe: 855 856 857 „Es gibt Handwerker, die gute Meister sind, und doch selten haben sie geniigend Fachkenntnisse und -fertigkeiten, u m ihren Schulern alle Details ihrer Kunst erklaren zu konnen. Sie besitzen fast nie den padagogischen Takt, sind im U m g a n g mit den Lehrlingen ubermaBig streng und grob oder inkonsequent in der Vermittlung der Fachkenntnisse" . 858 Die 27 Zuhorer wurden in folgende zehn Gruppen aufgeteilt: holzverarbeitende Handwerke (Schreiner, Holzschnitzer, Korbflechter, Fassbinder), metallverarbeitende H a n d w e r k e (Dreher, Schlosser, Schmiede, Blechner), lederverarbeitendes H a n d w e r k der Pferdegeschirrmacher und B u c h b i n d e r . 859 855 Siehe dazu: Puttkamer, Anfange, S. 85-108. 856 E. N. Andreev, Rabota maloltnich v Rossii i v Zapadnoj Evrope. St. Petersburg 1884. 857 Remeslennye kursy dlja narodnych ueitelej pri imperatorskom russkom techniceskom obs£estve 1880-1881. St. Petersburg 1881, S. 1. 858 Ebd., S. 6. Die I R T O organisierte zwei Tagungen tiber die Berufsausbildung im Handwerk. G. F . R a k e e v u n d I. M . Radeckij hielten die ausfuhrlichen Vortrage iiber die Lage der Lehrlinge im Handwerk. D a s Bild, das sie malten, war erschreckend. So berichtete Radeckij wahrend der zweiten T a g u n g : 860 „Das aus der Familie gerissene [...] und in der Werkstatt eines Handwerkers geknechtete Kind tritt in ,die L e h r e ' ein, indem seine ,Erziehung' in vollem Umfang den Gesellen, der Frau des Meisters, der Kochin und alien Hausbewohnern uberlassen wird, die mit ihm nach ,eigener Art' (po-svoemu) umgehen. [...] Die ersten zwei, drei oder sogar bis zu vier Jahre fuhrt der ,Lehrling' verschiedene Aufgaben der letzteren aus, die nichts mit der Lehre zu tun haben: tragt den Hausmtill hinaus, macht in den Wohnraumen sauber, versorgt die kleinen Kinder, holt V o d k a und macht andere Einkaufe fur den Meister und die Gesellen, macht die Kleidung und das Schuhwerk sauber und versucht alien zu gefallen. [...] W e n n ihm das nicht gelingt, wird er verpriigelt: Der Meister versetzt ihm die GenickstoBe, reiBt an den Ohren, zieht an seinem Haarschopf, versetzt ihm FuBstoBe [...]. D e s weiteren wird er systematisch mit Gtirtel, Seil, Stock u. a. Gegenstanden verpriigelt. [...] Die Gesellen sind fur die Lehrlinge unmittelbare Vorgesetzte und dienen ihnen in allem als Vorbild. Ungeachtet der haufig unertraglichen MiBhandlungen, ahmen die Lehrlinge die Verhaltensweise der Gesellen ganzlich nach u n d werden am Ende ihrer Lehre genauso g r a u s a m " . 861 In den elf Jahren ihrer Tatigkeit von 1868 bis 1879 erzielte die Kommission fur die technische A u s b i l d u n g bei der I R T O einige positive Ergebnisse. In der Hauptstadt wurden eine Reihe v o n Sonntags- und Abendschulen fur Arbeiter eroffhet, wobei anzumerken ist, daB die Kommissionsmitglieder unter Arbeitern sowohl Fabrikarbeiter als auch Beschaftigte aus Handwerksbetrieben verstanden. Die Aufgabe dieser Schulen war es, Arbeitern und ihren K i n d e m eine elementare Schulbildung zu erteilen. Die Schulen der Gesellschaft wurden v o n den Arbeitern im Laufe der Jahre erstaunlich regelmaBig besucht, obwohl sie durch die Ganztagsarbeit sehr ermudet waren. Der W u n s c h der Arbeiter nach beruflichem Aufstieg brachte den Bildungseinrichtungen lebhaften Zulauf: Die neun Schulen 860 Rakeev war unter anderem der stellvertretende Vorsitzender der Fursorgegesellschaft der kaiserlichen Geselleschaft der Menschenliebe (imp. Celovekoljubivoe obScestvo). und funf Klassen w u r d e n im Durchschnitt v o n 520 Arbeiterkindern u n d 340 862 Arbeitern oder 860 Personen insgesamt besucht . FuBend auf diesem Erfolg ofrhete die I R T O 1879 eine Handwerksschule fur Mechaniker (Remeslennoe udilisde po mechaniceskomu delu) und eine weitere Handwerksschule fur die Metall- und Holzverarbeitung (Remeslennoe obrabotke uciliscepo metalla i dereva). D a s Schulprogramm war so konzipiert, daB es sowohl theoretischen als auch praktischen Unterricht beinhaltete, so daB die Schuler den gesamten Produktionsprozess, also alle Herstellungsphasen eines Produktes, nachvollziehen konnten. Sie sollten im Stande sein, selbstandig ein Produkt nach Entwurf anfertigen zu konnen. Dies entsprach den Forderungen der Industrie nach effizienter Arbeit: Der Arbeiter sollte ohne standige Aufsicht des Meisters 863 produktiv, rational und prazise am ProduktionsprozeB teilnehmen k o n n e n . A u c h spater widmete die I R T O ihre Aufmerksarnkeit der Handwerksausbildung. Sie stand im Zentrum auf dem von ihr organisierten ersten KongreB der Teilnehmer der technischen Berufsausbildung 1889/90. Die Vortrage von bekannten Personlichkeiten auf diesem Gebiet wie M . M . Rejnke, G. F. Rakeev und V. G. Jarockij dienten als Grundlage fur die Arbeit der neu besetzten standigen K o m m i s s i o n fur die Ausbildung im Handwerk, die 1892 v o n Ja. T. Michajlovskij und 1893-96 von P. N . Isakov gefiihrt wurde, wobei in der K o m m i s s i o n auch die Altesten der St. Petersburger Ziinfte vertreten waren. Die K o m m i s s i o n stellte fest, daB die Klassen und verschiedene Kurse im R a h m e n der Grundschulprogramme fur die Handwerkslehrlinge eine sinnvolle Erganzung fur die praktische Lehre in der Werkstatt sein konnen, diese aber nicht vollig ersetzen konnen. Deswegen sollte m a n mit aller Anstrengung in den Werkstatten selbst die Arbeitsbedingungen der Lehrlinge verbessem, u m eine weitere Ausbildung der Fachkrafte zu 864 gewahrleisten . 8.6 Die privaten Ausbildungsanstalten im H a n d w e r k A u c h im privaten Bereich w u r d e n eine Vielzahl v o n Einzelschritten im R a h m e n des Aufbaus der Berufsausbildung im H a n d w e r k unternommen. So bestatigte das Innenministerium a m 5. Mai 1897 das Statut v o m „Handwerklichen Kinderheim in St. Petersburg" (Remeslennyj detskijprijut v S. Peterburge). In das Kinderheim 862 Ob-jasnitePnaja zapiska к proektu polozenija о remeslennom u£ili§ce po mechaniceskomu delu, udrezdennmu IRTO. [St. Petersburg 1879], S. I. 863 Ebd., S. III. wurden verwaiste M a d c h e n zwischen sechs und zehn Jahren aufgenommen, die sowohl eine allgemeine Bildung als auch eine Ausbildung in den Berufen der Zuschneiderin, Schneiderin, Modistin, Weifinaherin und Korsettmacherin bekamen. Spezielle Facher wie R e c h n u n g s w e s e n und W a r e n k u n d e sollten fur die betriebswirtschaftliche Ausbildung sorgen. Unter den Fremdsprachen war - in Anbetracht ihrer D o m i n a n z in der Schneiderkunst - Franzosisch obligatorisch, damit die Modezeitschriften aus Paris gelesen werden konnten. N a c h SchulabschluB im Waisenheim erhielten die Absolventinnen ein Zertifikat mit dem Gesellinnentitel . Eine vergleichbare Bildungsanstalt wurde 1907 von S o f j a Michajlovna Timofeeva unter dem N a m e n „Werkstatt und Asyl fur minderjahrige Kinder" (Remeslennaja masterskaja i Ocag dlja maloletnich detej) gegrundet, wobei nur Meister mit Diplom v o n der Handwerksverwaltung berechtigt waren, dort zu unterrichten . 1905 griindeten A. I. Brjukker und S. K. ArchangePskij die Gesellschaft „St. Petersburger handwerkliches Ausbildungs- und E r z i e h u n g s h a u s " (Obsdestvo S. Peterburgskogo remeslennogo udebno-vospitatel ^nogo doma - PRUVD), die grofie Erfolge in der Handwerksausbildung erzielte. D a s P r o g r a m m der Gesellschaft war fur die damalige Zeit sehr breit angelegt: 1. A u s b i l d u n g der Zoglinge im R a h m e n einer allgemeinbildenden Schule. 2. Erlernen eines Handwerksberufes im R a h m e n einer Berufsschule. 3. Betriebswirtschaftslehre. 4. M u s i s c h e B i l d u n g im Volkshaus. 5. Vervollstandigung der theoretischen Berufskenntnisse in der Werkstatt der Gesellschaft. D a s k o m p l e x e P r o g r a m m des P R U V D sollte alle Lebensbedurfhisse eines H a n d w e r k e r s umfassen und d e m Zogling eine allgemeine und professionelle Ausbildung ermoglichen. Im Alter von sechs bis zwolf Jahren erhielten die Zoglinge ihre Allgemeinbildung; im Alter von zwolf bis 18 Jahren folgte dann die berufliche Ausbildung. Fur Schuler, die ihre Fachkenntnisse vertiefen wollten, gab es einen Kurs, der zwei bis drei Jahre dauerte. Der Absolvent bekam entsprechend seiner Leistung ein Gesellen- oder Meisterdiplom. In das P R U V D konnten Kinder aller sozialen Schichten aufgenommen werden, allerdings sorgte der Jahresbetrag in H o h e v o n 150 Rubel dafur, daB nur wohlhabende Eltern die Moglichkeit hatten, ihre Kinder in die Schule zu g e b e n . 865 866 867 865 Ustav remeslennogo detskogo prijuta v S. Peterburge. [St. Petersburg 1897], S. 3ff. 866 Ustav Remeslennoj masterskoj i Ocaga dlja maloletnich detej v S. Peterburge. St. Petersburg 1907. S. 3. 867 ObScestvo S. Peterburgskogo ucebno-vospitatePnogo doma, nachodjaScegosja v vedenii popeditel'stva о domach trudoljubija i rabotnych domach, sostojaSCich pod pokrovitePstvom e.i.v. gosudaryni imperatricy Aleksandry Fedorovny. St. Petersburg 1905, S. Das Schulprogramm fur die allgemeine Ausbildung fur die sechs- bis zwolfjahrigen Schuler beinhaltete folgende Facher: Religionsunterricht, Russisch, Arithmetik, Geometrie, Geschichte, allgemeine und russische Geographie, Zoologie, Botanik, Mineralogie, Physik, Schonschreiben, Malen, Zeichnen, Handarbeit, M u s i k , gemeinschaftliche Spiele, D e u t s c h und Franzosisch. D a s Ausbildungsprogramm Шг die zwolf- bis 18-jahrigen Schuler beinhaltete sowohl allgemeine als auch berufsbezogene Facher: Religionsunterricht, Russisch, Arithmetik u n d R e c h n u n g s w e s e n , Geometrie, Physik, Holztechnologie in der Schreinerabteilung, Metalltechnologie in der Schlosserabteilung, Schonschreiben, Malen, geometrisches Zeichnen, technisches Zeichnen, Gymnastik, Gesang- und Musikunterricht, Deutsch und Franzosisch. D a s Schulprogramm beinhaltete die meisten Handwerksarten im metall- und holzverarbeitetenden Bereich und einige spezielle Handwerksbereiche. In die erste G r u p p e gehorten z. B . die der Schlosser und Dreher, in die zweite die Blechner, Drahtzieher und Metallprager. Die dritte Gruppe umfaBte die H a n d w e r k e der Schreiner, Mobelmeister, Modellschreiner, Drechsler und der Holzschnitzer. In die vierte und funfte Gruppen gehorten spezielle elektrotechnische und galvanoplastische Handwerke, sowie auch Lackieren, Malen auf Eisen, Glas und Holz, die Photographie auf Porzellan, Glas und Papier. Insgesamt gab es im Schulprogramm 16 Handwerksarten. Jede Handwerksart wurde nach einem S o n d e ф r o g r a m m unterrichtet. Die Werkstatt des P R U V D war uberdurchschnittlich ausgestattet. Hier wurden optische, physische, chemische, mechanische und technische Vorrichtungen und Apparate, Gleichstromgeneratoren und das Zubehor fur Beleuchtungsvorrichtungen, isolierter Draht, verschiedene Leiter, elektrische Klingeln und Telefonapparate hergestellt. In der Schreinerwerkstatt fertigten die Schuler alle Arten v o n Mobel, Musikinstrumente wie Balalaikas und D o m r e n , Holzschnitzereien und Drechsler-Modellarbeiten an. In der Kunstwerkstatt wurden Bilder fur die Projektionslampen gefertigt, VergroBerungen von Fotos, Fotos auf Porzellan, Holzmalereien, Malereien auf Metall und Glas hergestellt und Vergoldungen, Beschichtungen mit Silber und Nickel sowie Lackierarbeiten durchgefuhrt. D a s P R U V D n a h m Auftrage fur die Herstellung kompletter Werkstatten fur verschiedenste Handwerksbranchen an. Die oben aufgezahlte Produktpalette zeugt von einem hohen Ausbildungsniveau der Schuler. Es war ein Beispiel einer m o d e r n e n und zukunftsorientierten Berufsschule, die ihre Zoglinge durchaus gut auf die Anforderungen des Berufsalltags vorbereitete. Hier fehlte es den Schulern neben den praktischen Fertigkeiten nicht an theoretischen Kenntnissen: W a r e n k u n d e , Buchhaltung und biirgerliches Recht gehorten genauso 868 in den Unterricht wie Materiallehre und T e c h n o l o g i e . 8.7 Staatliche MaBnahmen z u m Aufbau der Berufsschulen in RuBland und St. Petersburg Mit der beginnenden Industrialisierung in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts riickte das Problem der technischen Ausbildung mit besonderer Scharfe in den Vordergrund. Z u der Zeit gehorten zu den Gewerbeausbildungsstatten in RuBland nur das St. Petersburger Technologische Institut, die M o s k a u e r Stroganovsche technische Malschule und die Handwerksschule auf der Halbinsel K a m c a t k a . A u f die mangelhafte und ungenugende Berufsausbildung in RuBland wurde unter anderem 1863 von der Stackelbergschen K o m m i s s i o n und mehreren Angestellten des Staatsapparates hingewiesen, die vorschlugen, Industrieschulen zu eroffhen . Die Probleme in der Handwerks- bzw. Gewerbeausbildung bedrohten die Existenz des H a n d w e r k s . Die Meister konnten die Ausbildung der Lehrlinge nicht mehr gewahrleisten und verzichteten auf sie. Die Regierung versuchte dieser Tendenz entgegenzuwirken, indem sie einen gesetzlichen R a h m e n fur die Griindung des Berufsschulwesens in RuBland schuf. Der erste Schritt in dieser Richtung war der ErlaB v o m 2 7 . A u g u s t 1869, der es erlaubte, Klassen zum Erlernen „nutzlicher H a n d w e r k e " in den Schulen des Volksbildungsministeriums zu organisieren. In den zehn Jahren bis 1878 gab es in ganz RuBland 1068 Schuler in 51 Volksgrundschulen, die ein H a n d w e r k erlernten. Die Schuler w u r d e n uberwiegend im Schreiner- 4 0 % und Schuhmacherhandwerk 3 0 % ausgebildet. Zusatzlich wurden die Ausbildungen im N a h - und Strickhandwerk sowie im Buchbinden angeboten . 869 870 871 In den 1880er und 1890er Jahren folgten weitere Schritte im Aufbau der Handwerksausbildung in R u B l a n d . Die Verordnung iiber die Handwerksberufsschulen (promyslennye bzw. remeslennye ucilisda) v o m 7. M a r z 1888 schuf die Grundlage fur konkretere Gesetze in dieser Richtung. Laut der V e r o r d n u n g bezweckten die Handwerksberufsschulen die Ausbildung des mannlichen Teils der Bevolkerung in technischen und handwerklichen Berufen. Ein Jahr spater, am 26. Juni 1889, wurden dann die Lehrplane und am 27. September das Statut der Handwerksberufsschulen herausgegeben, in denen die 868 ObScestvo S. Peterburgskogo ucebno-vospitatePnogo doma, S. 20f. 869 Trudy komissii, ucrezdennoj dlja peresmotra ustavov fabricnogo i remeslennogo, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 218. 870 Remeslennik izdannyj drugom Remeslennika. St. Petersburg 1863, S. 4If. Facher Religionslehre, Russisch, Arithmetik und R e c h n u n g s w e s e n , Geometrie, allgemeine Physik, Holz- und Metalltechnologie, Schonschreiben, Malen, geometrisches u n d technisches Zeichnen, Gesangsunterricht und praktische U b u n g e n in den Werkstatten vorgesehen waren. Die V e r o r d n u n g von 1888 betonte, daB die Ausbildung die Kreativitat und die Fahigkeiten bei den Schulern fordern sollte. D i e Handwerksberufsschulen sollten die Schuler zur vernunftigen Arbeit erziehen, w o z u die entsprechenden Schulfacher am besten geeignet seien . Aufgrund dieser Gesetzgebung wurden in RuBland im Schuljahr 1889/1890 eine Reihe von Berufsschulen erofrhet, in denen die am haufigsten gefragten Handwerksarten in der Metall- und Bauindustrie ( 4 5 % der Schuler) sowie im Schlosser- und Schreinerhandwerk ( 2 8 % der Schuler) unterrichtet wurden. D a g e g e n Schuhmacher und Sclmeider waren im Hausgewerbe weit verbreitet, so daB kein groBer Bedarf an der schlichten Ausbildung dieser Berufsgruppen bestand. Ihr Anteil betrug daher nur 4 % bzw. 0 , 1 5 % . Die hohe Fluktuation der Lehrlinge war in den Berufsschulen fur die erste Zeit typisch. Bis zu 7 0 % der Schuler schieden im ersten Schuljahr aus. Der Grund dafur war die schlechte materielle Situation der Familien, welche die Schulgebiihr nicht bezahlen konnten. Die ubrigen Familien, die bereit waren, zwei oder drei Jahre lang in die Berufsausbildung ihrer Kinder zu investieren, gaben ebenfalls haufig auf, weil die Kinder moglichst fruh Geld verdienen sollten. Es war die traditionelle Ansicht, daB mit 14 bis 15 Jahren ein Junge bereits alt g e n u g sei, u m erwerbstatig zu werden. D e s w e g e n schickten die Eltern die Schulabbrecher bzw. Kinder ohne Schulbesuch in die Werkstatt, wobei die Meister solche Lehrlinge, die im H a n d w e r k bereits Wissen u n d Fahigkeiten erworben hatten, gerne a u m a h m e n . Eine weitere Stufe im System der Handwerksausbildung bildeten die Schulen der Handwerkslehrlinge (skoly remeslennych ucenikov), die keinen groBen Unterschied im Lehrplan zu den oben erwahnten Schulen aufwiesen und deren Schuler mit d e m Gesellendiplom abgingen. A m 20. Dezember 1893 folgte eine weitere Verordnung, die diesen Schulen erlaubte, den Gesellen ab ihrem 2 1 . Lebensjahr Meisterdiplome auszuhandigen. D a s waren die Absolventen der Schulen der Handwerkslehrlinge, die nach einem dreij antigen Lehrgang in einer Fabrik oder Werkstatt und einer Prufung das Meisterdiplom erhielten, w a s das M o n o p o l der Handwerksverwaltung weiter beschnitt . Mit Blick auf England empfahl das Volksbildungsministerium 1895 den Inspektoren der Schulbezirke 872 873 874 875 872 Remeslennye udiliSca. Skoly remeslennych udenikov. St. Petersburg 1909, S. 5, 21, 43-67. 873 1. A. Antonov, Opyt sistematiieskogo obozrenija materialov к izuceniju sovremennogo sostojanija srednego i nizsego techniceskogo i remeslennogo obrazovanija. St. Petersburg 1889, S. 480. 874 Ebd., S. 489f. (popeciteV ucebnogo okruga), die S o n n t a g s - u n d A b e n d k u r s e fur Handwerkstechnologie, Malen, Zeichnen sowie andere spezielle Facher zu ofmen . Die Fortschritte in der Ausbildungssituation konnten in der zweiten Handwerksausstellung in St. Petersburg 1899 besichtigt werden. AuBer den Exponaten aus den Werkstatten der Handwerker konnte man hier auch Werkstucke begutachten, die v o n Lehrlingen verschiedenster Handwerksausbildungsanstalten angefertigt w o r d e n w a r e n . Die Berufsschulpolitik der Regierung trug Frtichte. 1904 unterstanden dem Volksbildungsministerium 2 4 9 Berufsbildungseinrichtungen, die in vier Kategorien eingeteilt waren: 1. Berufsschulen nach dem Statut von 1889. 2. Allgemeinbildende Schulen fur die Lehrlinge im Handwerk. 3. Elementarberufsschulen. 4. Berufsschulen mit Sonderstatuten . V o n 249 Berufsbildungseinrichtungen erstatteten 1904 nur 96 Bericht an den dritten Kongress russischer Funktionare fur technische Berufsbildung in RuBland (tretij s-ezd russkich dejatelej po technideskomu i renteslennomu obrazovaniju). Diese Berufsbildungsanstalten waren meistens nicht groB: 2 7 % bildeten in nur einem H a n d w e r k aus, 4 7 % hatten zwei, 19% drei und 7 % mehrere Handwerksarten auf dem Lehrplan, 8 2 % der Anstalten boten die Ausbildung z u m Schlosser, 6 2 % eine Lehre z u m Schreiner an. Die Ausbildungszeit in den Berufsbildungsanstalten 876 877 878 876 1. Kel'berin, О merach к razvitiju remeslennoj promySlennosti. Kiev 1902, S. 38. 877 Remeslennoe u£ili§6e cesarevida Nikolaja und Remeslennye klassy imperatora Aleksandra III beim Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija, Prakticeskaja skola zenskich rukodelij M. P. Argamakovoj, Remeslennoe udiliSce und Putilovskaja ucebnaja masterskaja beim IRTO, Aleksandrovskaja Skola und Voskresnye risovaPnye klassy der Handwerksverwaltung, Techniceskaja artillerijskaja Skola, Masterskie S. Peterburgskogo u6iliS6a gluchonemych, Skola ekonomideskogo obScestva oflcerov gvardejskogo korpusa, Skola pri kartograficeskom zavedenii Il'ina, Pervaja professional' naja Skola A.I. Korobovoj, Professional'naja Skola M. A. Korobovoj, Chudozestvenno-remeslennye kursy L. A. Stram, sowie die in der Kompetenz der Ftirsorgegesellschaft verschiedene Arbeitsgemeinschaften (Rabotnye doma und Doma trudoljubija) stehenden: Dom trudoljubija dlja muzein, Dom trudoljubija dlja obrazovannych muz£in, Dom trudoljubija dlja obrazovannych zenSdin; Peterburgskoe stoliCnoe popeditel'stvo о domach trudoljubija, Dom trudoljubija dlja mal'dikov-podrostkov iz Galernoj gavani, Prijut Vjazemskogo doma trudoljubija, S. Peterburgskij Ol'ginskij detskij prijut trudoljubija, S. Peterburgskoe obScestvo pooScrenija zenskogo chudozestvennoremeslennogo truda, zehn Bildungsanstalten fur die Behinderten sowie S. Peterburgskoe ispravitel'noe arestantskoe otdelenie und S. Peterburgskaja tjur'ma, in: UkazateP S. Peterburgskoj remeslennoj vystavki 1899 goda. St. Petersburg 1899, S. 55-71. 878 Sovremennoe sostojanie remeslennych udebnych zavedenij po dannym 3-go s^ezda russkich dejatelej po technideskomu i professional'nomu obrazovaniju v Rossii (Dezember 1903-Januar 1904), hrsg. v. IRTO. St. Petersburg 1904, S. 1. 879 betrug zwischen drei u n d funf Jahren . In den genannten Anstalten stand eine Kapazitat v o n 8.154 Schulplatzen zur Verfugung, die j e d o c h nur zu 8 5 , 1 % (6.942 Schuler) ausgelastet war. Die meisten Schuler in den Stadten k a m e n aus der Schicht der Kleinburger wahrend die landlichen Schulen hauptsachlich von Bauernkindern besucht w u r d e n . 880 St. Petersburg als groBtes industrielles Zentrum RuBlands stand auf dem ersten Platz der Anzahl der Berufsbildungseinrichtungen im technischen und handwerklichen Bereich. U m ein Beispiel zu nennen: Zu den Ausbildungsanstalten der vierten Kategorie gehorte in St. Petersburg die 1903 gegriindete Gesellschaft zur Forderung der Handwerksausbildung der armeren Bevolkerung (Obscestvo rasprostranenija remeslennogo obrazovanija sredi bednogo naselenija). In die Ausbildungsanstalten der Gese llschaft konnten die Kinder aufgenommen werden, die auch keine Grundschulbildung hatten . Die neu gegriindete Gesellschaft w u c h s stetig: Im ersten Jahr nach der G r u n d u n g der Gesellschaft hatte sie 311 Mitglieder, a m 2 6 . Februar 1906 wurden 4 2 6 u n d am 1 1 . Februar 1907 492 Mitglieder registriert, wobei fast alle soziale Schichten vertreten w a r e n : Ingenieure, Handwerker, Kaufleute, Kleinburger, Ehrenbiirger, Auslander, Priestergattinen und hohere Staatsbeamten wie der Generaladjutant Ivan Aleksandrovic Fullon oder der Staatsrat Jakov Vasil'evic K r i v c o v . In den Griindungstagen dieser Gesellschaft wurde ihr zunachst eine bescheidene Hilfe v o m Antonievsker bzw. Sampsonievsker Volkschor (Antonievskij Hi Sampsonievskij narodnyj chor) zuteil, der ein Konzert zugunsten der Gesellschaft gab. Die nachste sptirbare Hilfe k a m von Innenminister V. K. Pleve, der veranlaBt hatte, daB der Kaiser 3.000 Rubel fur die Gesellschaft bewilligte, u n d auch eine Spende der Familie des Industriellen Ё. L. Nobel konnte verzeichnet werden. AuBerdem gelang es dem Gesellschaftsrat, eine S p e n d e n s a m m l u n g in H o h e von 13.000 Rubel zu organisieren. Anton Putvinskij, der Vorsitzende der Gesellschaft, widmete seine Aufinerksamkeit zunachst der mangelhaften Frauenbildung, was die G r u n d u n g der Ersten Handwerksschule fur Frauen (Pervaja Remeslennaja skola dlja zensdin) in St. Petersburg zur Folge hatte. Der Vorsitzende hatte noch mit Vorurteilen unter der Bevolkerung zu kampfen, aber er bestand auf der Notwendigkeit einer nicht nur praktischen, sondern auch umfassenden Ausbildung in natur- und geisteswissenschaftlichen Fachern gerade fur Frauen. Die Anzahl der 881 882 879 Ebd., S. 5. 880 Ebd., S.6,31. 881 Ustav ObScestva rasprostranenija remeslennogo obrazovanija sredi bednogo naselenija. V pamjat 200-letija Peterburga. St. Petersburg 1906, S. 3f. 4 882 Otcet ObScestva rasprostranenija remeslennogo obrazovanija sredi bednogo naselenija za 1905 god. St. Petersburg 1906, S. 5ft. Schulerinnen w u c h s von 80 im Jahre 1906 auf 136 im Jahre 1908. Daher war die Kapazitat der Schule schnell erschopft . Im Jahre 1914 unterstanden dem Handels- und Wirtschaftsministerium (ministerstvo torgovli i promyslennosti) allein in St. Petersburg neun Berufsbildungsanstalten . 1912 grtindete der Verbund der Juweliere, Handler, Gold- und Silberschmiede (Obsdestvo juvelirov, zolotych i serebrjanych del masterov i torgovcev) die Gesellschaft zur Forderung der Ausbildung im Kunsthandwerk (Obsdestvo rasprostranenija chudozestvenno-remeslennogo obrazovanija). Eine Vielzahl von Ausbildungswerkstatten und -kursen im Bereich des Schmiedehandwerks folgten . Die handwerklichen Berufsschulen und die Schulen fur Handwerkslehrlinge erteilten ihren Schulern im Unterschied zu den Handwerksbetrieben eine u m f a s s e n d e t h e o r e t i s c h e u n d p r a k t i s c h e B e r u f s a u s b i l d u n g , die die Handwerksmeister sich nicht leisten konnten. Die Schuler erhielten das Gesellenbzw. Meisterdiplom und dadurch die Moglichkeit, ihr H a n d w e r k im vollen Umfang ausuben zu konnen, ohne dabei die moglichen Behinderungen durch die Handwerksverwaltung erdulden zu mussen. 883 884 885 883 Doklad inspektora u6ili§ca Avdija Ivanovica Skovorodova. [St. Petersburg 1908], S. Iff.; III-j otdet о dejatel'nosti ObScestva rasprostranenija remeslennogo obrazovanija sredi bednogo naselenija za 1906 god. St. Petersburg 1907, S. Vff. 884 Spisok remeslennych i techniceskich udebnych zavedenij vedomstva ministerstva torgovli i promySlennosti. Pg. 1914, S. 26, 30, 32, 36, 38. Unter ihnen: Der Handwerkskurs der SpasoPreobrazenskij-Fursorgegesellschaft (Remeslennye udebnye kursy Spaso-Preobra&nskogo blagotvoritel 'nogo obsdestvo), die Petrograder Zeichnerschule von P. I. Mezerid (Petrogradskaja Skola derteinikov P.I. Meierida), der Petrograder technische Kurs von V. P. Panov (Petrogradskie technideskie kursy V. P. Panova), der Petrograder Handwerkstechnische Kurs vom Technologie-Ingenieur I. A. Gavrilov (Petrogradskie remeslennotechniceskie kursy inzener-technologa I. A. Gavrilov), die Lehrwerkstatt von N. P. L'vov (Remeslennaja udebnqja masterskaja N. P. L 'vov), die stadtische Handwerksschule fur Frauen namens V. A. Krylov (Zenskaja gorodskqja remeslennaja Skola imeni V. A. Krylova), der Erste Petrograder polytechnische Kurs von M. A. Summer (Pervye Petrogradskie Politechnideskie kursy M. A. Summera). Die Petrograder Professoren- und Dozentengenossenschaft (TovariSdestvo professorov i prepodavatelej) zeichnete sich durch die Organisation mehrerer Handwerkslehranstalten aus. Sie organisierte den Polytechnischen Zeichnerkurs (Petrogradskie politechnideskie kursy tovarisdestva professorov i prepodavatelej), den Kurs fur die Webergesellen und den Kurs fllr die Elektrotechniker und Elektromonteure. 885 Ustav ObSdestva rasprostranenija chudozestvenno-remeslennogo obrazovanija. [St. Petersburg 1912], S. 3f. 9. M o n o p o l und K o n k u r r e n z im H a n d w e r k W a h r e n d d e s e r s t e n D r i t t e l s d e s 19. J a h r h u n d e r t s , a l s m i t d e r b r e i t e n Angebotspalette im Konsumgutersektor der hauptstadtische M a r k t gesattigt w u r d e , n a h m die Konkurrenz sowohl zwischen den zunftigen als auch zwischen den zunftigen und zunftfreien Handwerkern immer scharfere Formen an, weshalb die Zunfte immer ofter v o n ihren Monopolrechten Gebrauch machten. Dies envies sich in der Regel als eine belastende Beschrankung fur viele Handwerker. Es ist zu fragen, inwieweit die Zunfte ihr Monopolrecht durchsetzen konnten, ob ihnen z. B . die B e s c h r a n k u n g der Meisterzahl oder das Verbot der A u s u b u n g des H a n d w e r k s gelang. D e s weiteren stellt sich die Frage, wie sich die Konkurrenz der zunftfreien H a n d w e r k e r auf die Lage des Zunfthandwerks auswirkte und w e l c h e Mittel z u r Steigerung seiner Wettbewerbsfahigkeit z u r V e r f u g u n g standen. 9.1 Monopol 9.1.1 Die Zunfte und die zunftfreien H a n d w e r k e r Ein H a n d w e r k s m o n o p o l bestand in RuBland vor der Einfuhrung der Zunfte nicht. A b e r auch nach ihrer Einfuhrung war es relativ begrenzt. W a r u m konnte in RuBland kein Zunftmonopol durchgesetzt werden? Dafur w a r vor allem das bauerliche bzw. landliche Handwerk verantwortlich, das keinerlei Beschrankungen auf d e m Land hatte und der groBte Konsumgtiterhersteller bis zur Jahrhundertwende 1900 blieb. Eine Vielzahl von bauerlichen Kleinhandlern drangten in die groBen Stadte, u m dort ihre Waren zu verkaufen. D a s waren z. B . Haushaltsprodukte w i e Topfe, Bratpfannen, Glaser, Becher, Kellen, Loffel, Messer, Leuchten, Ketten, Schlosser, Schlussel, Kleider und Schuhwerk sowie Halbwaren u n d Rohmaterialien wie W a c h s , Felle, Leder, Borsten, Horner, Pferdehaar u n d Eisen. E s fehlte auch nicht an Arbeitswerkzeugen wie N e t z e n , A m b o s s e n , Axten, Schabmessern, Spaten oder auch Waffen wie Pistolen und Gewehre . 886 Im 18. Jahrhundert erfuhr der bauerliche Handel in den beiden Hauptstadten wesentliche Beschrankungen, nach denen praktisch nur Lebensmittel, Rohstoffe und halbfertige Produkte zum Verkauf auf dem hauptstadtischen Markt angeboten werden durften. AuBer den bauerlichen H a n d l e m gab es noch andere Bevolkerungsgruppen, die das M o n o p o l der Zunfte beschrankten. D a s waren die Kleinburger, Kaufleute und Posadleute. Von den letzteren gab es in St. Petersburg 886 S. I. Sakovid, Torgovlja melocnymi tovarami v Moskve v konce XVII veka, in: Istoriceskie zapiski, Bd. 20 (1946), S. 131; E. I. Zaozerskaja, К voprosu о zarozdenii kapitalistideskich otnosenij v melkoj promySlennosti Rossii XVIII veka, in: Voprosy istorii, Nr. 6 (1949), S. 80. im Jahre 1786 3.934. Sie standen 2.539 Zunfthandwerkern gegenuber. Bei genauer Betrachtung waren es meistens die Kleinhandler und Heimarbeiter, die nicht in den Zunften organisiert waren. Sie waren in der Regel im Textilgewerbe tatig, das fruh aus dem H a n d w e r k ausschied und auch in kleinen Formen ihrem ProduktionsprozeB und der Arbeitsteilung nach eher den Fabriken als den Werkstatten ahnelte. Die groBte gewerbliche Gruppe unter den nichtzunftigen Handwerkern machten aber die bauerlichen Handwerker aus. Allerdings konnten d i e s e H a n d w e r k e r nicht i m m e r ungestraft die M o n o p o l r e c h t e der Zunfte verletzen. D i e M o n o p o l i s i e r u n g b e s t i m m t e r Z u n f t h a n d w e r k e verlief unterschiedlich. Spezielle Handwerksarten wie Uhrenmacher, M e c h a n i k e r , M a s c h i n e n b a u e r , Klavierbauer, Optiker, Konditoren und andere, die v o m A u s l a n d importiert wurden, befanden sich mit A u s n a h m e von Hofhandwerkern fast ausschlieBlich in den Handen der Zunfthandwerker. Anders war es beim traditionellen H a n d w e r k bestellt, das seit altersher in RuBland etabliert war. Die Lebensmittelindustrie war h a u p t s a c h l i c h in d e n H a n d e n d e r B a u e r n . B e r u f l i c h e T a t i g k e i t e n w i e WeiBbrotbacker, Piroggenbacker, L e b k u c h e n b a c k e r , Mtiller, K o c h e , Speisewirtschaftler, Fischer, Buttermacher, Metzger und andere wurden ausschlieBlich von Handwerkern bauerlicher Herkunft ausgeubt . Die Ausnahme machten die deutschen Backer, die eine Monopolstellung besonders in den 1830er Jahren erreichen konnten. Auf dem zweiten Platz nach dem nahrungsherstellenden Gewerbe stand das Bauhandwerk (Zimmermann, Schreiner, Steinmetz, Steinschleifer, Maurer, Stuckarbeiter und andere), das meistens von den bauerlichen Artelsarbeitern erledigt wurde. In diesen Bereichen konnten also die Zunfthandwerker wegen historischer Gegebenheiten bzw. w e g e n s c h o n friiher a u s g e a r b e i t e t e r F o r m e n v o n A r b e i t s g e m e i n s c h a f t e n k e i n vollstandiges M o n o p o l einfuhren. 887 Intention des Gesetzgebers war es, das Kleinhandwerkstum zu schutzen. Die Zunfte k a m e n so mit gultigen G e w e r b e g e s e t z e n in K o n f l i k t . AuBer den Zunftstatuten bzw. dem Handwerksstatut gab es noch ungeschriebenen Regeln, die dem Ethos des Zunftwesens und damit dem Monopolprinzip, entsprachen. D i e s e m Monopolstreben der Zunfte wird im folgenden nachgegangen. E i n e F u l l e v o n a r c h i v a r i s c h e n A k t e n s t u c k e n k o n n e n als B e l e g e fur die Monopolbestrebungen der St. Petersburger Zunfte herangezogen werden. A u s der Vielzahl einzelner Konflikte zwischen den Meistern und Zunften kristallisiert sich eine allgemeine Situation heraus, die von den komplizierten Verflechtungen zwischen den standischen und privaten Interessen zeugt. Im folgenden werden d i e s e I n t e r e s s e n s p h a r e n s o w i e d e r s t a a t l i c h e EinfluB a u s v e r s c h i e d e n e n Blickwinkeln heraus betrachtet, w a s zu einem differenzierteren Bild der Situation des H a n d w e r k s beitragen soli. D i e H a n d w e r k s v e r w a l t u n g b e o b a c h t e t e a r g w o h n i s c h d i e A k t i v i t a t e n der Oderki russkoj kuPtury ХУШ veka, Tl. 1. Moskau 1985, S. 158. zunftfreien H a n d w e r k e r u n d versuchte bei jeder Gelegenheit, Druck auf sie auszuttben. In der zweiten H&lfte des 18. Jahrhunderts unterstutzte z. B . der Stadtmagistrat die russische Zunftverwaltung in ihren Bestrebungen und z w a n g die auslandischen H a n d w e r k e r in die Zunfte als standige Meister einzutreten. Der ErlaB v o m 2 2 . J a n u a r 1782 u n t e r s a g t e schlieBlich d e m M a g i s t r a t d i e s e P r a k t i k e n . Einen anderen Beleg fur den Versuch, den Zunftzwang einzufuhren, stellt der Vorfall v o n 1786 dar: D a s Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte forderte den Magistrat auf, nicht zuzulassen, daB die auslandischen Handwerker in die russischen Zunfte eintraten. Sie sollten seinem W u n s c h nach ausschlieBlich in den deutschen Zunften Mitglieder sein. Diesmal kam der Stadtmagistrat der Forderung nicht entgegen. Er bezog sich auf das Handwerksstatut von 1785, das den auslandischen Handwerkern das Recht einraumte, auch in die russischen Zunfte eintreten zu diirfen . Die H a n d w e r k e r konnten in ihrem Gewerbe auf unterschiedliche Weise behindert werden, wobei die deutschen Zunfte hier besonders eifrig waren, weil die meisten auslandischen Meister mit der Zunfttradition vertraut waren. Dabei schloB sich die russische Handwerksverwaltung ihren Monopolbestrebungen ausnahmslos an. So suchte 1816 der Burstenhersteller Karl Forster aus Zittau bei Innenminister Osip Petrovic K o z o d a v l e v Schutz vor der deutschen Zunftverwaltung, die ihn zwar in die Zunft aufhahm, ihn aber danach in der A u s u b u n g seines H a n d w e r k s behinderte, wobei die russische Handwerksverwaltung der deutschen Beistand leistete: Sie drohte Forster ebenfalls seine Waren zu konfiszieren und seine Werkstatt durch die Polizei schlieBen zu lassen. Das Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte, Gunter, erteilte ihm eine einjahrige Erlaubnis, die aber nicht verlangert w u r d e . Die Vergabe des Erlaubnis des Handwerksoberhaupts war widerrechtlich, weil allein durch die Zunftaufhahme eines Meisters die Austibung seines H a n d w e r k s garantiert wurde. Gunter miBbrauchte dies als ein Instrument, um das M o n o p o l zu starken. Zumal der Saat nicht immer die Seite der Zunfte einnahm, um durch die B e g r e n z u n g der Meisterzahl, den Absatz des Z u n f t h a n d w e r k s zu sichern. Die Zunfte selbst sollten versuchen, mit ihrer wirtschaftlichen Situation fertig zu werden und aus ihren Zunftrechten fur sich das Beste zu machen. 888 889 890 So hatte der Fall in der Stecherzunft im Jahre 1828 mit der Beschrankung der 888 PSZ RI 1, Bd. 21, Nr. 15331 (22. Januar 1782): О neprinuidenii inostrannych masterov, v S. Peterburge poselivSichsja, zapisyvat'sja v cechi vecno, S. 387. 889 Zurnal Komiteta ministrov po zapiske glavnokomandujuScego v Peterburge о podatjach s inostrannych remeslennikov, nachodja$6ichsja v vedenii Remeslennoj upravy rossijskich cechov ot 4.08.1816, in: RGIA, f. 1263, op. 1, d. 98,1. If. 890 Otnosenie m.v.d. O. P. Kozodavleva к glavnokomandujuScemu S. Peterburga Sergeju Kuzmicu Vjazmitinovu ot 18 aprelja 1816; prosenie к m.v.d. Kozodavlevu ot Sdetocnogo mastera Ferstera ot 16 ijunja 1816, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 166,1. 9, 1 If. Tatigkeit der A p o t h e k e r zu tun. Sie druckten Etiketten fur die Arzneimittel mit der Erlaubnis des Generalgouverneurs auf einer gemeinnutzigen Druckmaschine selbst, wodurch sie den Meistern der Stecherzunft Schaden zufugten. Der St. Petersburger Generalgouverneur schrieb diesbeztiglich dem Finanzminister: „Die pharmazeutische Gesellschaft hat keine Stecherwerkstatt. Die Aufstellung der Druckmaschinen von dieser Gesellschaft widerspricht nicht der O r d n u n g , weil das D r u c k h a n d w e r k den Stechern nicht angehort" . 891 D o c h diese Stellungnahme widersprach der Realitat. Die Druckbretter fur die Apotheker w u r d e n letztendlich doch von den Stechern angefertigt, und das D r u c k h a n d w e r k gehorte tatsachlich zu ihrem Arbeitsbereich. D e r Meister der deutschen Zunft Avgust FerdinandoviC §mit berichtete dem Finanzminister, daB die Stecher betrachtliche Verluste durch das selbstandige Drucken der Apotheker h i n n e h m e n muBten u n d bat diese P r a k t i k e n zu verbieten. U n g e a c h t e t der schlechten wirtschaftlichen Situation der Stecher, w u r d e die Nebenbeschaftigung der Apotheker nicht unterbunden. Im Fall von Joseph Bozetti, seit 1845 kaiserlicher Hoflieferant fur Schokolade, n a h m die deutsche Konditorenzunft im g l e i c h e n Jahr in der Frage seiner Zunftaufhahme eine strikt abweisende Stellung ein. Er beabsichtigte nicht seine Werkstatt zu vergroBern, trotzdem wurde ihm die Konditorenzunftmitgliedschaft verwehrt. A n seiner Kunstfertigkeit zweifelte niemand, im Gegenteil - die Z u r u c k h a l t u n g d e r Z u n f t h a n d w e r k e r laBt s i c h d a m i t e r k l a r e n , daB sie wahrscheinlich einen zusatzlichen Konkurrenten furchteten. Die Nichtaufhahme Bozettis lieB ihnen immer eine Moglichkeit offen, ihm sein H a n d w e r k zu verbieten. Die Zunftverwaltung rechtfertigte ihre A b s a g e an Bozetti damit, daB sie keine gesonderte Schokolademeisterzunft habe. Daran wollte aber Bozetti nicht glauben, da er von vier Schokolademeistern (Osip Cikorij, Osip Rinal'delli, Gidelli und Markvarti) im Gebaude der deutschen evangelisch-lutherischen St. Peter-Kirche am Nevskij Prospekt, w o er seine W o h n u n g und Werkstatt hatte, wuBte, die im Gegensatz zu ihm die Zunftzeugnisse von der Konditorenzunft b e k o m m e n hatten. A u c h sein kurz zuvor verstorbener Onkel Grigorij Bozetti, bei dem sein Neffe Joseph Bozetti seit funf Jahren gearbeitet und schlieBlich seine W e r k s t a t t g e e r b t hatte, w a r Meister der K o n d i t o r e n z u n f t u n d hatte seine W e r k s t a t t in St. P e t e r s b u r g seit ca. 1 8 1 5 . T r o t z a l l e d e m u n d t r o t z d e r Befurwortung seiner Aufhahme durch den Innenminister wurde er nicht in die Zunft aufgenommen. Die Absichten der Zunft w u r d e n in der Antwort des 891 Otnosenie S. Peterburgskogo general-gubematora ministru finansov ot 23 janvarja 1829, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 579: Po pros'be gravernogo obScestva sostoja§6ego v nemeckom remeslennom ceche, о zapreScenii farmacevtideskomu obScestvu zanimat'sja prigotovleniem gravernych i pecatnych rabot (1828), hier 1. 3, 5. Zunftaltesten an den G e n e r a l g o u v e r n e u r v o n St. Petersburg im Juni 1847 deutlich. Er b e z o g sich rein formell auf den Paragraph 416 des Handwerksstatutes u n d bekraftigte, daB Bozetti auch „ o h n e Meisterzeugnis sein H a n d w e r k o h n e Hilfe v o n Gesellen und Lehrlingen ausuben k o n n e " . Diese Ausfuhrung des Zunftaltesten w a r e verstandlich, wenn Bozetti sich v o m Zunfteintritt befreien wollte, da aber hier das Gegenteil der Fall war, scheint diese Antwort ein zynisches „ U n v e r s t a n d n i s " zu sein, das sich auf eine formelle Interpretation des Gesetzes stutzen wollte. 892 Wahrend die deutsche Konditorenzunft mit alien Mitteln versuchte, die Anzahl der Zunftmeister zu begrenzen, z w a n g die russische Handwerksverwaltung riicksichtslos die H a n d w e r k e r in die Zunft. D a s Gegenteil zu Bozetti stellte der Fall des St. Petersburger Kleinburgers Jakov Ivanovic Sokolovskij dar, den die russische Handwerksverwaltung am 19. Mai 1833 zum Zunfteintritt zwang. Seit 1800 stellte Sokolovskij alleine in seinem Haus im Karetnaja-Viertel Schokolade her. D a s durfte er auch, da nach dem Gesetz die Posadleute bzw. die mescane, denen er angehorte, nur die Steuer fur die Kleinburger zahlten und dadurch alle Rechte in der H a n d w e r k s a u s u b u n g kleineren Umfanges hatten. Die Stadtduma, die die Forderung der Konditorenzunft unterstiitzte, sollte sich in ihrer Forderung einschranken und den Direktiven des Geschaftsfuhrers des Manufaktur- und Innenhandelsdepartements ( D M V T ) (Departament torgovli) manufaktur i vnutrennej 89 Druzinin g e h o r c h e n ' . D i e B i l d u n g der Ziinfte als Mittel der M o n o p o l b e s t r e b u n g der zunftigen Handwerker konnte auf verschiedene Weise erfolgen. Einerseits gliederte die r u s s i s c h e b z w . die auslandische H a n d w e r k s v e r w a l t u n g w e i t e r e v e r w a n d t e Handwerksformen in i h r e n B e r e i c h e i n . A n d e r e r s e i t s b e a u f t r a g t e das Finanzministerium bzw. das D M V T aus fiskalischen Griinden die Stadtduma damit, bestimmte Zunfte zu bilden. Ein geeignetes Beispiel dafur liefert die E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e der Weberzunft, die spater p a r a d o x e r w e i s e in die Silberschmiede- u n d Posamentiererzunft eingegliedert wurde. Die G r u n d u n g der Weberzunft vollzog sich zwischen 1825 und 1841. Der indirekte Ausloser der Entstehung dieser Zunft war die Gildenreform v o m 14.11.1824, nach der alle 892 Prosenie Bozetti m.v.d. Perovskomu ot 8.02.1846 und ot 3.05.1848; Dokladnaja zapiska voennogo general-gubernatora ministru vnutrennich del о dozvolenii Bozetti proizvodit' sokolad ot 30.06.1847, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 400 (Februar 1846-Juli 1847): Po proseniju avstrijskogo poddannogo, vladePca Sokoladnoj fabriki I. Bozetti о prinjatii ego v Peterburgskij Sokoladnyj cech, hier 11. 1, 4f., 11. 893 Po pros'be S. Peterburgskogo meSdanina Sokolovskogo ob osvoboidenii giPdejskich povinnostej po proizvodstvu na domasnem zavedenii Sokolada, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 849, 1. If. Gewerbetreibenden die Handelsbescheinigungen im Kassenamt kaufen sollten, wobei die Bescheinigungsklasse und dementsprechend die Beitragshohe v o m Umfang des Betriebes und seiner Produktion abhing. Fur die auslandischen Weber Cristian Riecke, Wilhelm Kress und Nieburg w u r d e die Zunftbildung z u m Verhangnis. Als sie z u m Kassenamt (kazennaja palata) gingen, um die Handelsbescheinigungen zu b e k o m m e n , w u r d e von ihnen die Erlaubnis fur ihre Betriebe v o m D M V T verlangt, die sie nicht hatten, weil sie, m a n c h e von ihnen jahrzehntelang, als freie Handwerker arbeiteten. Als im Kassenamt diese Sachlage geprtift wurde, kamen die Beamten zu dem SchluB, daB w e n n d i e h a u p t s t a d t i s c h e n W e b e r k e i n e Z u n f t b i l d e t e n , sie k e i n W e b e r h a n d w e r k betreiben durften. D e m Gesetz nach durften die auslandischen Kaufleute keine Fabriken und Werkstatten unterhalten und die auslandischen Handwerker sollten in die deutschen als standige bzw. in die russischen Zunfte als zeitweilige oder als standige Meister, falls sie die russische Staatsangehorigkeit erworben hatten, eintreten. Sie konnten v o m Zunfteintritt nur befreit werden, w e n n ihre Werkstatt als Fabrik v o m D M V T anerkannt w u r d e . 894 Andernfalls w u r d e ihnen die gewerbliche Tatigkeit untersagt . Uber diese Frage hat letztendlich Finanzminister E. F. Kankrin selbst entschieden und verfugte, die Weberzunft zu griinden. Bisher w o h n t e n die auslandischen W e b e r in der H a u p t s t a d t aufgrund der Bescheinigungen der Auslandsabteilung des AdreBkontor (adresnaja kontordf . D a s W e b e r h a n d w e r k benotigte Platz und die Meister richteten ihre Werkstatten in d e n a n g e m i e t e t e n W o h n u n g e n oft im A d m i r a l i t a t s v i e r t e l ein, w o d i e iiberwiegende M e h r h e i t auslandischer Meister w o h n t e . So hatte z. B . der Litzenhersteller Karl Zinserling sein H a n d w e r k in der Hauptstadt seit 32 Jahren betrieben und insgesamt rund 200 Lehrlinge ausgebildet, die zuweilen selbst als Meister oder Gesellen in anderen Werkstatten gearbeitet h a t t e n . Bisher hatte es niemand gekiimmert, o b sie uberhaupt Steuern gezahlt hatten. A u f diese Weise k o n n t e n die W e b e r jahrzehntelang steuerfrei arbeiten, w a s im Ausland bekannt wurde und viele auslandische Meister dazu veranlaBte, in der Hauptstadt ansassig 95 896 894 Po proseniju zdeSnich tkackich masterov i vydace im vidov na polucenie svidetePstv dlja svobodnogo proizvodstva rabot na ich neboPSich zavedenijach i ob ucrezdenii inostrannogo cecha, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471,1. 4, 6, 12, 18. 895 Im AdreBkontor bekamen die zugereisten bauerlichen und auslandischen Handwerker ihre Wohnerlaubnisse. 896 Ebd., 1. 19: ProSenie ot soderiatelja tesemocnogo zavedenija Karla Cinzerlinga ministru finansov E. F. Kankrinu ot 22.06.1826; Vgl. bei Ivanova, Deutsche Handwerker, S. 28If. zu werden. D a b e i spielte die Werbetatigkeit der russischen R e g i e r u n g im Ausland, unter anderem in Sachsen und Bayern, eine groBe R o l l e . Voriibergehend w u r d e n die auslandischen W e b e r in Anbetracht ihrer geringen Anzahl und des kleinen Umfanges ihrer Betriebe v o n der Zunftbildung befreit. Viele v o n ihnen erhielten Bescheinigungen v o m Wirtschaftsdepartement, die dahingehend interpretiert werden konnten, daB es sich bei ihren Werkstatten um Fabriken handelte. D a s D M V T akzeptierte, daB viele von ihnen keine Fabriken, sondern „ H e i m g e w e r b e " (domasnie rukodelijd) betrieben . D e r G r u n d dafur, weshalb das D M V T dies zulieB, war die Aussicht, daB der Meister seine Werkstatt in der naheren Zukunft zu einer Fabrik ausbauen wurde. Der Meister hingegen nutzte diesen Umstand, um Steuern zu sparen, die er andernfalls in der Zunft hatte entrichten mtissen. V o n 1827 bis 1837 w u r d e n v o m D M V T i n s g e s a m t 22 B e s c h e i n i g u n g e n a u s g e g e b e n . A m 12. Januar 1837 w i e s der Finanzminister erneut den St. Petersburger Generalgouverneur an, die Bildung der Weberzunft voranzutreiben. Es dauerte dann n o c h drei Jahre, bis die Zunft endlich gegriindet wurde. 1840 gab es in St. Petersburg 68 russische und auslandische Meister bzw. Fabrikanten, die Weberbetriebe v o n unterschiedlicher GroBe hatten. Die Meister selbst gehorten verschiedenen sozialen Schichten an. Es gab unter ihnen 17 Zunftmeister, die in v e r s c h i e d e n e n Z u n f t e n b e r e i t s M i t g l i e d e r w a r e n u n d v o n n u n an in die Weberzunft iibertreten sollten, sowie 27 Auslander, acht Kaufleute, sieben Kleinburger, 16 Bauern und Dienstleute. Dabei lassen sich einige Vergleiche b e z u g l i c h der E n t w i c k l u n g d e s W e b e r h a n d w e r k s ziehen. So k o n n t e n die auslandischen Meister Traugott Wilhelm B o h m e und Wilhelm Kress, beide aus Sachsen, und Michael Limbrunner aus Bayern zwischen 1827 und 1840 ihre Betriebe wesentlich v e r g r o B e m . Im Verzeichnis der Weberzunft gab es auch solche Betriebe, die mit einer Werkstatt w e n i g g e m e i n s a m hatten, d.h. eigentlich Fabriken waren. D a z u gehorten z. B . die Gesellschaft der Tullfabrik (Obsdestvo tjulevoj fabriki), deren Gesellschafter Ivan Bonenblust, EhrenbUrger und Kaufmann der ersten Gilde, Ivan Segen, auslandischer Kaufmann und der Schweizer A d o l f Ganzenbach waren. Diese Tullfabrik war mit 22 metallenen Webmaschinen und 26 Webstuhlen ausgestattet und beschaftigte 48 Arbeiter. Eine andere Fabrik gehorte dem Kaufmann der zweiten Gilde Ferdinand Zimmermann. Sie war mit 58 897 898 899 897 4 Vgl. О predlozenii rossijskogo vice-konsula v Ljubeke Sletcera snabiat rossijskie fabriki vsjakogo zvanija masterami, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 244; Erik Amburger, Die Anwerbung auslandischer Fachkrufte Шг die Wirtschaft Russlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1968. 898 OtnoSenie ministra finansov Kankrina к voennomu general-gubematoru ot 15.3.1827, in: Ebd., 1. 42. Webstuhlen und zwei M a s c h i n e n bestuckt und bot drei Meistern, 40 Arbeitern und 20 Lehrlingen Arbeit. A u c h die Kattunfabrik des Manufakturrats Fedor Bitepaz mit 39 W e b s t u h l e n und zwei Schleifmaschinen sowie einer Dampfmaschine soli hier erwahnt werden. In seiner Fabrik wurden zwolf Arbeiter und 20 Lehrlinge beschaftigt. Der gewahlte Zunftalteste der Weberzunft Friedrich Rudert selbst hatte eher eine kleine Fabrik, die mit 27 Webstuhlen ausgestattet war und in der 14 Arbeiter und 27 Lehrlinge beschaftigt wurden. Im allgemeinen wurden aber Weberwerkstatten mit funf bis zehn Beschaftigten in kleinen W o h n u n g e n eingerichtet . Wie ersichtlich ist, ging die Initiative fur die Griindung dieser Zunft v o m Finanzminister Kankrin aus, der daran AnstoB nahm, daB die meisten W e b e r der Stadt, mit A u s n a h m e der Kaufleute, keine Steuern zahlten. Es standen also eindeutig fiskalische Motive im Vordergrund. Die Griindung vollzog sich auf folgende Weise. D e r Generalgouverneur von St. Petersburg wandte sich an das Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte und verfugte iiber die Griindung der Weberzunft. Die U m s e t z u n g des Befehls durch das Handwerksoberhaupt envies sich als problematisch. Die Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte sollte zuerst das organisatorische Problem iiberwinden, alle Meister in der allgemeinen Zunftversammlung zusammenzubringen. Die Mehrzahl der W e b e r folgte dieser Einberufung nicht. Es erschienen nur 19 Weber. AuBerdem beklagte sich der Zunftalteste Rudert, daB die meisten Weber mit groBeren Werkstatten bzw. F a b r i k e n a u B e r h a l b d e r S t a d t g r e n z e w o h n t e n , w o d u r c h sie v o n d e r Zunftmitgliedschaft befreit wurden, ihre Waren aber ebenfalls in der Stadt absetzten. D e s w e g e n befanden sie sich im Vergleich mit den stadtischen W e b e m in einer vorteilhaften Stellung. V o n einem Zunftmonopol konnte hier uberhaupt keine Rede sein, weil, wie oben erwahnt, das Weberhandwerk in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts durch starke Umstrukturierungen und durch U m w a n d l u n g eines Teils der Betriebe in Fabriken gepragt war. Die Weber, die ihr H a n d w e r k in kleinerem Umfang betrieben, losten ihre Werkstatten auf und gingen anderen Beschaftigungen nach. So wurden die armeren Stadtweber, die der Konkurrenz ausgesetzt waren und durch zusatzliche Zunftabgaben noch mehr belastet wurden, in noch groBere A r m u t g e s t u r z t . 900 901 Die Bestrebung nach einer Abgrenzung von den anderen Handwerksarten und die MaBnahmen zur B e g r e n z u n g der nichtziinftigen Handwerker zeichneten sich n i c h t n u r in d e n o b e n e r w a h n t e n Z u n f t e n a b , s o n d e r n a u c h in d e r Speiseherstellerzunft. 1831 beklagte sie sich beim Handwerksoberhaupt, daB „die 900 Vedomost' tkackim zavedenijam, su§6estvuju§dim v S. Peterburge. Podana ot voennogo general-gubernatora к ministru finansov (1840), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471,1. 103. 901 Zapiska tkackogo mastera Ruderta, in: Ebd., 1. 106. Kellner, K o c h e und Kochinnen in der Stadt ihrem H a n d w e r k nachgingen, ohne s i c h in d i e e n t s p r e c h e n d e Zunft einzuschreiben" 9 0 2 . Sie baten Handwerksoberhaupt, den MiBbrauch zu beseitigen. Der bertihmte das St. Petersburger Dachdecker Petr Teluskin wurde ebenfalls 1831 v o n einer anderen Zunft bezichtigt, in seiner Werkstatt Arbeiter zu beschaftigen, ohne der Zunft 903 anzugehoren . Wie die verschiedenen, vorwiegend deutschen Zunfte versuchten, das M o n o p o l auf das Z u n f t h a n d w e r k durchzusetzen, soil an einigen Beispielen erlautert werden. Insgesamt ereigneten sich die meisten Streitfalle zwischen den Zunften und verschiedenen Handwerkern u m die alleinige Ausiibung des jeweiligen H a n d w e r k s in der zweiten Halfte der 20er bis Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts. So baten im Fruhjahr 1826 die Stecher der deutschen Zunft und im Fruhjahr 1828 die Klavierbaumeister der russisch-deutschen Zunft den Finanzminister u m die Beschrankung der Apotheker und der nicht einer Zunft angehorenden Klaviermeister und -stimmer in ihrer Tatigkeit. Die Klavierbauer baten, die Anzahl der Meister in der Hauptstadt auf 45 zu verringern und den nichtzunftigen Meistern das H a n d w e r k zu verbieten. Sie w i e s e n auf drei Ursachen ihrer schweren Lage hin. Erstens gab es in der Hauptstadt eine Uberzahl an zunftigen Klavierbauern, die den anderen zunftigen Meistern die Arbeit wegnahmen. Zweitens gab es nichtzunftige Klavierbauer, die verbotenerweise Gesellen und Lehrlinge beschaftigten. Drittens storten die Klavierstimmer das H a n d w e r k der K l a v i e r b a u e r , die Musikinstrumente nicht nur stimmten, sondern auch reparierten, w a s nur d e m zunftigen Meister vorbehalten war. K a n k r i n war dagegen, die Meisteranzahl zu verringern. Z w a r untersttitzte er die Forderung der Ziinfte, das Zunfthandwerk den nichtzunftigen H a n d w e r k e r n zu verbieten, befurwortete aber die Aufhahme aller Meister in die Ziinfte, w a s die interne Konkurrenz noch mehr verscharfen sollte. Dadurch v e r s c h w a m m e n die Grenzen 904 des Zunftmonopols bis zur U n k e n n t l i c h k e i t . Im September 1843 erteilte der Innenminister dem Zunftaltesten der deutschen Musikinstrumentenbauerzunft Schroder und seinem Stellvertreter Schaf einen 902 Ocerki istorii Leningrada, S. 33f. 903 Im Herbst 1831 wurde er dadurch beruhmt, daB er Reparaturarbeiten an der Domspitze der Peter- und Paulus Kirche durchfiihrte, ohne dabei ein Baugeriist zu benutzen. 904 Ot ministra finansov Kankrina к S. Peterburgskomu general-gubernatoru ot 1 aprelja 1826 goda, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 489: Po proseniju starSin russkogo i nemeckogo instrumental nogo cecha о zapre§£enii licam ne prinadlezaScim к cechu zanimat sja ich remeslom (1826), hier 1. 2. 4 4 s t r e n g e n V e r w e i s , n a c h d e m sie sich seit 1840 w e i g e r t e n , „ d e n besten 905 Klavierbauer der H a u p t s t a d t " , den Englander Lichtental, ungeachtet seiner wiederholten Beitrittsantrage, in die Zunft aufzunehmen. Der Grund dafur war, daB Lichtental kein Zunftzeugnis besaB, da zu dieser Zeit in England schon Gewerbefreiheit h e r r s c h t e , Z u n f t e also g a r n i c h t m e h r e x i s t i e r t e n . Die Meisterpatente, die Lichtental v o m englischen Prinz Albert bzw. v o m belgischen K o n i g als Hoflieferant des e n g l i s c h e n u n d b e l g i s c h e n H o f e s ausgestellt b e k o m m e n hatte, halfen ihm nicht weiter. Einige Meister der Zunft verweigerten die Aufhahme. Die A n w e i s u n g des Staatsrates und des Leiters der K o m m i s s i o n fur die Verbesserung der Steuereinnahmen der Hauptstadt, Smirnov, Lichtental innerhalb zweier M o n a t e aufzunehmen, wurde v o m Zunftaltesten ignoriert. N a c h d e m Verlauf v o n zwei M o n a t e n w a n d sich Smirnov an das Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte mit dem Vorschlag, dem Zunftaltesten der genannten Zunft die zweiwochige Frist zu gewahren, n a c h d e m er der K o m m i s s i o n uber die erfolgte Aufhahme Bericht erstatten sollte. A u c h das Handwerksoberhaupt lieB den Vorschlag Smirnovs unbeantwortet. Solch eine beispiellose Eigenwilligkeit ware z. B . im damaligen PreuBen nicht 906 denkbar g e w e s e n . D a s heiBt, daB wahrend sich von einer Seite die erdruckende vor allem steuerliche Last des russischen Staates und seine feindliche Gegenuberstellung jeder AuBerung der freien unternehmerischen Initiative dauern spuren lieB, v o n anderer Seite w e n n nicht die rechtlichen dann doch bestimmte „ F r e i r a u m e " b e s t e h e n s o l l t e n , die die E n t f a l t u n g d e s Unternehmertums begunstigten. Diese Sichtweise kann einige sich widersprecheden Gegebenheiten der russischen Geschichte zusammenzubringen helfen. Einerseits sollen diese Freiraume aufgespurt werden, wodurch es moglich wird, die konstatierten G e g e b e n h e i t e n in d e r r u s s i s c h e n G e s c h i c h t e , d i e b e i i h r e r Beruhrung unvermeidlich in einen Widerspruch geraten, besser zu erklaren. Andererseits sollen wir im A u g e behalten, daB es „nur tendenziell der Fall war", daB sich in RuBland „des 19. J a h r h u n d e r t s tatsachlich politische und soziale Rahmenbedingungen entwickelt [hatten], die dem dortigen Unternehmertum nicht n u r die C h a n c e zu sozialer E m a n z i p a t i o n u n d politischer M i t b e s t i m m u n g 905 Ministr vnutrennich del Perovskij S. Peterburgskomu voennomu general-gubernatoru ot 30 sentjabrja 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 137: Po proseniju starSin nemecko-muzykaPnoinstrumental 'nogo cecha о nepraviPnom domogatePstve anglijskogo poddannogo Lichtentalja v prinjatii ego v skazannyj cech, hier 1. 8ff. 906 Vgl. Kocka, Stand, S. 26; Bergmann, Handwerk, S. 46ff. geboten, sondern v o r allem auch den benotigten o k o n o m i s c h e n F r e i r a u m 907 geschaffen h a t t e n " . Smirnov wies richtig darauf hin, daB die deutsche Musikinstrumentenbauerzunft ein M o n o p o l in der Stadt einrichtete, die A u m a h m e neuer Meister verweigerte u n d durch die Unterdriickung der zunftfreien Meister bekannt war. Es gab Falle, in d e n e n die M u s i k i n s t r u m e n t e n b a u m e i s t e r w a h r e n d der Prufung falsche Bauplane von der zunftigen Pruftmgskommission erhielten, nach denen sie nur untaugliche Instrumente bauen konnten und dadurch die Prufung nicht bestanden. Die Folge fur sie w a r das Verbot der Ausiibung des H a n d w e r k s , da, wie Smirnov ebenfalls bemerkte, kein Meister in der Stadt mit A u s n a h m e der Meister, die keine Gesellen und Lehrlinge beschaftigten, zunftfrei arbeiten durfte. Lichtental w u r d e schlieBlich nach einem strengen Verweis seitens des Innenministers in die 908 Zunft a u f g e n o m m e n . Er w a r so erfolgreich, daB seine Werkstatt 1862 30 „Arbeiter" hatte und im Jahr 110 Klaviere fur 54.560 Rubel oder umgerechnet 4 9 6 Rubel j e Instrument b a u t e 909 . A u c h in der deutschen Schneiderzunft laBt sich ein Beispiel finden. D e m Pariser Schneidermeister S e r v ' e wurde die A n e r k e n n u n g verweigert, ungeachtet dessen, daB d i e P a r i s e r M o d e fur d i e St. P e t e r s b u r g e r S c h n e i d e r richtungsweisend stilistisch war. Sein Problem war derselben Natur wie das der Meister aus 910 England: Es gab dort keine Ziinfte, die entsprechende Meisterdiplome erteilten . D a s Verhaltnis zwischen der Kommission unter der Leitung Smirnovs und den Zunften war ambivalent. E s gab Falle der scharfen Konfrontation mit den Zunften aber auch enge Zusammenarbeit, j e nachdem, was die Zunfte gerade bezweckten. 907 Klaus Heller, Industrielles Untemehmertum in RuBland vor 1917: Politische, okonomische und soziale Rahmenbedingungen, in: Bernd Heidenreich, Klaus Heller, Martin Hoffmann (Hrsg.), RuBlands unternehmerische Vergangenheit: Ein Wegweiser in die Zukunft? (Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europaischen Ostens Bd. 219), Berlin 1996, S. 9-29, hier S. 15f.; Ruckman, The Moscow Business Elite; J. Rieber, Merchants and Entrepreneurs im Imperial Russia. Chapel Hill 1982. 908 Ministr vnutrennich del Perovskij S. Peterburgskomu voennomu general-gubernatoru ot 30 sentjabrja 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 137,1. 12f. 909 910 Statisticeskie svedenija о fabrikach i zavodach v S. Peterburge za 1862g., SPb. 1863, S. 3. Ob-jasnitel'naja zapiska i otnoseme voennogo general-gubernatora к m.v.d ot 18.11.1846, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 451: Po otnosenijufrancuzskogopoverennogo v delach grafa Renvalja о zatrudnenijach, pricmjaemych francuzskomu poddannomu Serv'e peterburgskoj remeslennoj upravoj v priznanii ego masterom portnogo remesla (17. November 1846-5. Februar 1847), hier 1. 4, 6. So lud 1843 das Handwerksoberhaupt der d e u t s c h e n Zunfte den Inhaber einer S c h r e i n e r w e r k s t a t t , v o n der B e c k , u n d d e n I n h a b e r einer W e r k s t a t t zur Herstellung v o n Streichholzern, Lejce, m e h r e r e M a l e ein, in die deutsche Schreinerzunft einzutreten, obwohl sie es offensichtlich vermeiden wollten. Sowohl das Handwerksoberhaupt als auch Staatsrat Smirnov bestanden diesmal 911 darauf . Uberhaupt bemerkte Baron Julij Fedorovie Korf noch 1840, daB es in St. Petersburg eine ziemlich groBe Zahl auslandischer Meister gab, die keiner Zunft angehorten. Ungeachtet dessen betrieben sie ihre Werkstatten in der Hauptstadt auf G r u n d einer schriftlichen Erlaubnis des Handwerksoberhauptes Dietmar, so konnte er sie vollig willkurlich besteuern. Die Zunfte in St. Petersburg erlebten zwischen den 30er und den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Aufschwungphase, in der sie ihre Monopolrechte besonders konsequent durchsetzten. W i e sie ihre Anspriiche geltend machten, ist aus mehreren D o k u m e n t e n ersichtlich, wobei auch fur die bekannten Meister keine A u s n a h m e n gemacht wurden. Der auslandische Uhrenmacher Bernhard Florian k o n n t e bei d e r H a n d w e r k s v e r w a l t u n g h o h e A u s z e i c h n u n g e n von der Allrussischen Okonomischen Gesellschaft vorweisen und erhielt fur seine Uhren wahrend der Manufakturausstellung v o m Finanzminister eine Pramie, mit der er 1850 eine Werkstatt griinden konnte. Das half ihm j e d o c h wenig, als er seinen Eintritt in die Uhrenbauerzunft beantragte. Er beschwerte sich am 2 5 . Februar 1850 beim D M V T , daB die Handwerksverwaltung von ihm ein Meisterstiick vorzuweisen verlangte, dessen Kosten so hoch fur ihn waren, daB es seinen K o n k u r s bedeutet hatte. E r sollte fur die Herstellung des Meisterstiicks drei M o n a t e v e r w e n d e n , alle Auftrage liegen lassen und damit seine Einkiinfte streichen. AuBerdem sollte er sich in die dritte Kaufinannsgilde einschreiben, weil er einen kapitalintensiven Betrieb hatte, in dem mit Geratschaften fur 10.000 Silberrubeln gearbeitet wurde u n d in dem er mit sechs Facharbeitern innerhalb und vier auBerhalb der Werkstatt in einem Jahr fur 4.000 Silberrubel Uhren 912 herstellte . Florian sollte durch die aufwendige Priifung zu Grunde gerichtet werden, um seine Gewerbetatigkeit zu verhindern. Erwahnenswert ist auch der Fall des Kaufmanns der zweiten Gilde §6ankin, den 911 Po zapiske statskogo sovetnikaN. Smirnova о nejavke inostrannych masterov, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 141,1. 1. 912 Po pros'be inostranca Floriana о predostavlenii emu Pgot ot plateza giPdejskich povinnostej po ustrojstvu dasovogo zavedenija (1850), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1424,1. 6, 8, 13, 19. der Alteste der GUrtlerzunft, Stepan Praslov, regelrecht verfolgte, wofur dieser v o m Generalgouverneur v o n St. Petersburg fur eine kurze Zeit sogar verhaftet wurde. Im Januar 1850 beantragte Sdankin bei der Handwerksverwaltung seine Aufhahme als zeitweiliger Meister in die russische Sattlerzunft. Praslov schickte zunachst zwei Zunftmeister zur Uberprtifung seiner Werkstatt, wobei der eine ihm berichtete, daB §£ankin sein H a n d w e r k verstehe, der andere aber, daB er kein Meistersttick vorweisen k o n n e . D a s zweite M a i ging Praslov personlich mit einem vereidigten Meister z u Sdankin, traf ihn aber nicht zu H a u s e an. Wie es aus den Archivdokumenten hervorgeht, bestand zwischen Praslov u n d Scankin eine Feindschaft, wobei ersterer alle Mittel darauf verwendete, die Werkstatt v o n §6ankin zu schlieBen und ihm seine Gewerbetatigkeit zu verbieten. Praslov argumentierte damit, daB die B e l e g s c h a f t in W e r k s t a t t nicht der Betriebshierarchie einer Werkstatt entsprach. Einer der Beschaftigten, die alle bauerlichen Standes waren, w u r d e namlich in seiner Adressenbescheinigung (adresnyj bilet) als einfacher Arbeiter (cernorabocy) bezeichnet. Einfache Arbeiter durften offiziell nicht im H a n d w e r k beschaftigt werden, in der Praxis j e d o c h w a r dies g a n g u n d g a b e 913 . Die Politik der Regierung bezweckte einerseits die Organisation der Wirtschaft, andererseits die U n t e r b i n d u n g der unangemessenen M o n o p o l a n s p r u c h e der Zunfte, die a u f d e m ersten u n d zweiten HandwerkerkongreB ihre Interessen deutlich machten. A u f dem ersten HandwerkerkongreB in St. Petersburg im Jahre 1900 schlugen die St. Petersburger Zunfthandwerker genau w i e 1859 vor, die Einfuhr fertiger Kleidung in die Hauptstadt zu verbieten, weil „die Schneider in der Provinz w e g e n niedriger Herstellungskosten gefahrliche Konkurrenten" fur die stadtischen seien. D e s weiteren wollten die Handwerksverwaltungen einiger Provinzstadte die Besteuerung der Landhandwerker einfuhren, w a s sie ebenfalls 914 nicht durchsetzen k o n n t e n . So versuchten z. B . die Zunftverwaltungen u n d die Stadtdumen der Stadte B o l c h o v u n d Serpejsk d e s Orlovsker u n d Kaluzsker G o u v e r n e m e n t s in d e n J a h r e n z w i s c h e n 1 8 8 5 u n d 1 8 9 2 d i e Pflasterer, Erdarbeiter, Zimmerer, Maurer, Steinschleifer u n d Stuckarbeiter zu besteuern, 915 w o g e g e n sich die Leiter des Finanz- u n d Innenministeriums a u s s p r a c h e n . 9 . 3 Po ukazu pravitePstvujiScego Seiiata о prekraScenii dela po zalobe starsmy Sornogo cecha Praslova ob arestovanii ego pri remeslennoj uprave (1852-1854), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1449, 1. l,23f., 26f. 9 . 4 915 A.P., NaSi remeslenniki, in: RB 1900, Nr. 4, S. 160-172, hier S. 165. 4 Po voprosu v prave li gorodskaja duma i remeslennye obScestva vzimat s mostov§£ikov, zemlekopov, plotnikov, kamenSdikov, kamenotesov i Stukaturov [...] ot zapiski v cech, osobyj sbor v dochod gorodskoj i remeslennoj kazny, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2265,1. If. A u f d e m zweiten HandwerkerkongreB in St. Petersburg im Jahre 1911 gingen die Zunfthandwerker in ihren Forderungen noch weiter und verlangten, den Z u g a n g in das H a n d w e r k s g e w e r b e all denjenigen zu verbieten, die nicht d e m Stand der Z u n f t h a n d w e r k e r angehorten, u n d diese R e g e l u n g fur g a n z RuBland o h n e A u s n a h m e fur gultig zu e r k l a r e n . Die Einfuhrung des Zunftmonopols in RuBland sollte zur Existenzsicherung des Zunfthandwerks beitragen. In St. P e t e r s b u r g w u r d e n i n f o l g e der A n s p r u c h s e r h e b u n g d e r H a n d w e r k s v e r w a l t u n g d i e H a n d l e r , die fertige K l e i d u n g verkauften und sogenannte Stuckwarenverkaufer (stuMki) den Zunftregelungen unterworfen und mit einer Sondersteuer belegt. Mehreren Konditorenmeistern, welchen nicht genugend Kapital zur Verfugung stand, wurde es so unmoglich gemacht, ihre eigenen Konditoreien zu griinden. Sie sollten statt dessen als Konditoren bei Backereien arbeiten. Diese Konditoren konnten dort alle notigen Werkzeuge b e n u t z e n , w a r e n n i c h t d a z u g e z w u n g e n , die G e s e l l e n u n d L e h r l i n g e zu unterhalten und konnten in den Kramerhandelsstuben alle benotigten Rohstoffe einkaufen. Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g half solchen Meistern nicht, sondern verfolgte sie und sturzte sie durch das Verbot ihrer Tatigkeit in die A r m u t . In diesem Z u s a m m e n h a n g sei an die Worte von Enne zu erinnern, der das Problem der Existenz vieler nichtzunftigen Handwerkern mit den Monopolbestrebungen der Zunfte verband: 916 917 „ M a n wird j e d o c h k a u m fehlgehen, w e n n m a n das P r o b l e m des , A m t s s t o r e r s ' als P a r a l l e l e r s c h e i n u n g zur E r s c h w e r u n g des Zunfteintritts und des Meisterwerdens a n s i e h t " . 918 9.1.2 Die M o n o p o l k a m p f e zwischen den Zunften Damit sei das von den Zunften angestrebte Monopolrecht auf die Ausiibung des Zunfthandwerks in der russischen Hauptstadt geklart. Die Monopolbestrebungen der Zunfte wurden nicht nur in der Begrenzung des nichtzunftigen H a n d w e r k s sondern auch in den Auseinandersetzungen der Zunfte untereinander deutlich. Ende der 1820er Jahre ftihrten z. B . die Streitigkeiten zwischen der Backerzunft, der Wyborger WeiBbrotbackerzunft, der Pralinen- und Lebkuchenzunft und der Konditorenzunft dazu, dass 1830 der St. Petersburger Generalgouverneur Graf Essen ein Untersuchungsverfahren einleitete, indem die Stadtduma klaren sollte, 916 B. Bogdanov, Itogi remeslennogo s-ezda. In: Nasa zarja (1911), Nr. 2 (Februar), S 62-75, hier S. 71. 9 . 7 Trudy komissii, a. 1, S. 79. welche Waren die Meister der Lebkuchen- und Pralinenmacherzunft und welche nur die Konditorenzunft herstellen d u r f t e . Die Konditoren beschwerten sich namlich, daB die ersteren Pralinen herstellten, w a s angeblich nur den Konditoren zustand. Zuerst verbot die Stadtduma den Meistern der Lebkuchen- und Pralinenmacherzunft die Herstellung der Pralinen, n a c h d e m die Polizei bei funf Meistern Pralinen konfisziert hatte und nach einer Prtifung gesundheitsschadigende Zutaten festgestellt worden waren. Die Meister der o b e n g e n a n n t e n Zunft fanden sich mit d i e s e m V e r b o t nicht ab und beschwerten sich beim Senat, der wiederum verfugte, diese Angelegenheit noch einmal durch das erste Departement des Stadtmagistrats iiberprtifen zu lassen. D a s erste Departement stellte fest, dass die Lebkuchen- und Pralinenmacherzunft schon vor 1785 gegrundet wurde, wobei es 1789 in dieser Zunft dreizehn Meister, 57 Gesellen und 61 Lehrlinge gab. Die Konditorenzunft hatte sich 1804 v o n der ersten abgetrennt und existierte seitdem selbstandig, wobei sie hauptsachlich deutsche u n d andere westeuropaische Konditoren v e r s a m m e l t e , die fruher Mitglieder der russischen Zunft waren.. Als die deutsche Konditorenzunft schon einige Zeit bestand, fing sie an, ihre Anspriiche geltend zu machen. Somit w u r d e zuerst der Ursprung der Konditorenzunft geklart. Im weiteren V e r l a u f d e r U n t e r s u c h u n g s t e l l t e s i c h h e r a u s , d a s s d i e A n s p r i i c h e der Konditorenzunft unbegrtindet waren, da in der Stadt durch die Preispolitik und territoriale Verteilung der Betriebe beider Zunfte sowie durch die Absatzstrategie u n d v e r s c h i e d e n e s o z i a l e K u n d e n g r u p p e n seit a l t e r s h e r e i n e nattirliche V e r m e i d u n g einer moglichen Konkurrenz zustande g e k o m m e n war bzw. die Monopolrechte auf nattirliche Weise geschtitzt waren. Die Konditoren hatten ihre Geschafte bzw. Kaffeehauser in der Stadtmitte und verkauften die Pralinen oder Tortchen fur zweieinhalb bis sechs Papierrubel j e Pfund an die wohlhabende Kundschaft. Die Meister der Lebkuchen- und Pralinenmacherzunft boten dagegen ihre Pralinen fur nicht mehr als 1,2 Papierrubel j e Pfund in den abgelegenen Stadtbezirken oder dort an, w o uberwiegend die bauerliche und werktatige B e v o l k e r u n g w o h n t e z. B . in den dritten Admiralitats-, Litejner-, Kazaner-, M o s k a u e r - o d e r S p a s s k e r - S t a d t v i e r t e l n . D i e s e Artikel w a r e n t r a d i t i o n e l l e StiBigkeiten der Volksktiche, einfache Pralinen aus Zucker und Honig ohne Ftillung, L e b - und Pfefferkuchen mit Honig oder M o h n und a h n l i c h e s . U m einen KompromiB zwischen den beiden Ztinften zu erreichen, schlug die Regierung vor, den N a m e n der Lebkuchen. U n d Pralinenmacherzunft zu andern und sie von n u n an nur noch „Lebkuchenzunft" zu nennen. Der Versuch der 919 920 919 Raport kolezskogo sovetnika Starikova ministru vnutrennich del ot 15.03.1844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 95: Po zapiske о vospreScenii bulocnikam i pekarjam belogo chleba v S. Peterburge proizvodit* torgovlju konditerskimi izdelijami (31.10.1842-16.2.1846), hier 1. 53-56. 920 ProSenie konfektnych masterov Akakija Stachieva, Micheja Jakovleva, Egora Moiseeva i Petra Michajlova ministru vnutrennich del Perovskomu ot 18.12.1844, in: Ebd., 1. 73. russischen Meister, eine eigene Konditorenzunft zu griinden, in der nur die Meister russisch-orthodoxen Glaubens sein sollten, scheiterte an der Unwilligkeit der deutschen Konditorenzunft und wurde mit dem SenatserlaB 1839 beendet. Die Meister dieser Zunft sollten laut dem SenatserlaB o h n e Prufung in die deutsche K o n d i t o r e n z u n f t a u f g e n o m m e n w e r d e n , d o c h die A u f n a h m e verlief nicht reibungslos und erfolgte erst nach einem langjahrigen Rechtsstreit. Es bedurfte zweier Senatserlasse, den v o m 2 8 . N o v e m b e r 1841 und den v o m 2 3 . August 1844, die ausdriicklich die Aufnahme der russischen Meister forderten. D o c h der Zunftalteste und seine Stellvertreter fanden sich damit nicht ab und reichten 1845 z u m dritten Mai bei der Gouvernementsverwaltung ein Gesuch uber die angeblich n i c h t k o r r e k t d u r c h g e f t i h r t e P r u f u n g der r u s s i s c h e n M e i s t e r e i n . D i e Gouvernementsverwaltung stellte sich auf die Seite des Zunftaltesten und erst der dritte SenatserlaB v o m 2 5 . Juli 1846 loste diese Frage endgultig. Die russischen Pralinenmeister sollten gegebenenfalls der russisch-deutschen Konditorenzunft beitreten . Der Senat erklarte die Vorgehensweise der Konditorenzunft, die die Anzahl der Meister begrenzen sollte und dadurch das M o n o p o l auf das Konditorenhandwerk informell einzufuhren versuchte, als unzulassig und verwies wiederholt darauf, daB d i e K o n d i t o r e n z u n f t d e n M e i s t e r n d e r g e s c h l o s s e n e n r u s s i s c h e n Konditorenzunft keine Hindernisse in den W e g legen durfte. Die bestehende Konditorenzunft, in der die auslandischen Meister die Oberhand behielten und w o augenscheinlich eine klare nationale Trennlinie mit einer starken Farbung durch das andere Glaubensbekenntnis verlief, folgte den Senatserlassen nicht 1839: im Gegenteil erreichte sie die SchlieBung der russischen Konditorenzunft . A u c h ihr g e r i n g e s h a n d w e r k l i c h e s K o n n e n m a c h t e e s d e n r u s s i s c h e n Konditormeistern u n m o g l i c h in eine der B a c k e r oder Konditorenziinfte zu gelangen. Sie stellten einfachere Waren der „zweiten Sorte" fur die niederen Schichten der Bevolkerung her, w a s sie auch selbst betonten: Kenntnisse in der Destination aller benotigten Ole und Essenzen, im Malen, in der Mythologie, Allegorie, Geschichte, Bildhauerei, Modellschnitzkunst der Figuren und des H o c h - und Flachreliefs u n d in der C h e m i e hatten sie sich aufgrund der Ausbildungssituation nicht angeeignet. W e m gegenuber die Konditorenzunft die Monopolanspriiche eigentlich hatte 9 2 1 922 923 921 Prosenie rossijskogo konditerskogo cecha masterov Aleksandra Ivanova, Ivana Nikitina, Alekseja Abramova, Prokofija Afanas'eva, Kuz'my Ivanova i Tarasa Vorob'eva m.v.d. Perovskomu ot 4.10.1845, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 369: Po ukazam Senata о dostavlenii zakljucenija, sleduet li pri&slit' к Peterburgskomu konditerskomu cechu tech masterov, kotorye sostojali v unidtozennom russko-konditerskom cechu (Oktober 1845 - Juli 1846), hier 1. 3. 922 Prosenie masterov russkogo i nemeckogo konditerskogo cecha ministru vnutrennich del Perovskomu ot 13.07.1844, und Kopijaukaza Senata ot 23.08.1844, in: Ebd., 11. 61, 70f. 923 Ukaz Senata ot 25.07.1846, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 369: Po ukazam, hier 1. 1 Iff. geltend m a c h e n mtissen, waren die Kaufleute, die ein unbegrenztes Recht hatten, Kaffeehauser zu unterhalten u n d Konditorenmeister u n d -gesellen zu beschaftigen. Die Backer stellten ebenfalls Konditorengesellen ein, mit deren Hilfe sie verschiedene Konditoreiwaren wie Schokolade, Torten und anderes herstellten. G e g e n MonopolverstoBe wurde auch mit Razzien vorgegangen. So w u r d e die Polizei am 19. Dezember 1844 in den zentralen dritten und vierten Admiralitatsvierteln sowie am 30. Januar 1845 im Litejner- und wieder im dritten A d m i r a l i t a t s v i e r t e l i n s g e s a m t s i e b e n B a c k e r n fundig, d i e m i t Hilfe der Konditorengesellen Konditorenwaren herstellten und das, n a c h d e m vorher alle der Zunft zugehorigen Backer eine verbindliche Verzichtserklarung auf die H e r s t e l l u n g d e s K o n d i t o r e n s o r t i m e n t s u n t e r s c h r i e b e n h a t t e n . In d i e s e n Backereien w u r d e n v o n der Polizei alle Konditorenwaren b e s c h l a g n a h m t . Bis z u m Fruhling des nachsten Jahres 1845 erreichte die Verfolgung der Backer der Stadt seitens der Konditorenzunft ein solches AusmaB, daB zum 8. M a r z dieses Jahres 27 Backermeister mit Strafen belegt und ihre N a m e n in Zeitungen veroffentlicht wurden. E s ging hier eigentlich um das Warensortiment, das die hauptstadtischen Backer seit 50 Jahren ungestort parallel zu der Lebkuchenzunft herstellten . 924 925 Der langwierige Streit zwischen den beiden Zunften laBt sich teilweise durch die Stellung der Zunftobrigkeit erklaren, in der personliche A b n e i g u n g e n u n d MiBstimmungen eine groBe Rolle spielten. Welche unkonventionelle Formen die Streitigkeiten zwischen den Zunften einnehmen konnten, zeigt das Beispiel des ehemaligen Konditorenzunftakesten Tobias Branger, der in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts an den Streitfragen zwischen seiner Zunft und den Backern aktiv teilnahm. 1850 hatte er seinen Betrieb aufgegeben und eine Okonomstelle im St. Petersburger Burger-Klub inne, mischte sich aber kraftig in die Angelegenheiten der Zunfte ein: „Sein HaB auf die Backer" veranlaBte ihn 926 dazu, Unruhe in der Nudelherstellerzunft gegen die Backerzunft zu stiften . Baron K o r f charakterisierte 1842 das Verhalten der hauptstadtischen deutschen Zunfte als eindeutig monopolistisch. Das sollten folgende Indizien belegen: 924 Spravka ot janvarja 1845 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 95: Po zapiske, hier 1. 84. 925 Prosenie IogannaNikolaevi6a Smidta ministru vnutrennich del Perovskomu ot 8.03.1845, in: Ebd., I. 95. 926 Prosenie masteric makaronnogo cecha к m.v.d. ot 28.04.1850; Donesenie ot 6inovnika osobych porucenij kolezskogo sovemika Grota к m.v.d. ot 16.05.1850; Prosenie T. Branzera к upravljajusemu m.v.d. Sergeju Stepanovidu Lanskomu ot 24.07.1851, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 846: Po proseniju masteric makaronnogo peterburgskogo makaronnogo cecha Eleny Michajlovny Petrovoj i Evdokii Kubovoj о zapre&enii bulocnikam prigotovljat' makarony (1. Mai 1850 - 7. September 1851), hier 11. If., 4ff., lOf. 1. Die Zunfte verlangten von den neuen Meistern Eintrittsgelder in H o h e von 100 bis 4 0 0 Rubel, obwohl sie hochstens 10 Rubel verlangen durften. 2. In den Zunften wurde kompromiBlos gepruft, o b die Fahigkeiten und Produktionsmoglichkeiten des Bewerbers alien russischen Gesetzen und daruber hinaus denen eines Meisters in Westeuropa entsprachen. 3. Durch die Forderung eines nur mit hochster Aufwand herzustellenden Meisterstucks, wurden die Meister in den finanziellen Ruin getrieben. 4. Die Uberprtifung des Meisterstticks wurde rigorosen Bestimmungen unterworfen. 5. Die Vielzahl von langwierigen Prozessen zwischen einzelnen Ztinften und Meistern stellte ein Hindernis in der Entwicklung des H a n d w e r k s d a r . D e m Bericht Korfs zufolge gab es in St. Petersburg eine Vielzahl von Meistern, die nie eine Chance hatten, in die Zunft eintreten zu konnen. Die rigorose V o r g e h e n s w e i s e der Konditorenzunft fuhrte dazu, daB sie anfangs eine genaue Sachbeschreibung der zur Herstellung erlaubten Waren und der dazu benotigten Ingredienzien seitens des ersten Departements des Stadtmagistrats noch am 24. Januar 1838 aufgestellt bekamen, u m „zwischen der Backer- und Konditorenzunft die Einigkeit und das Einvernehmen zu b e w a h r e n " . AuBer der strengen A b g r e n z u n g des Produktsortiments der Konditorenzunft v o n den anderen Ztinften erreichte diese Zunft, daB die Anzahl der Kaffeehauser in St. Petersburg v o m Innenminister festgelegt wurde. So kam es, daB in nur zwei J a h r e n zu d e n im M a r z 1844 v o r h a n d e n e n 2 0 K a f f e e h a u s e r n , die d e n Z u n f t h a n d w e r k e r n a n g e h o r t e n , n u n weitere 26 h i n z u k a m e n . N a c h d e m die Besitzer der 20 Kaffeehauser, unter denen es funf Kaffee-Restaurants gegeben hatte, sich beschwert und darauf bestanden hatten, daB die tibrigen 36 Konditoren der Hauptstadt ebenfalls Gewerbescheine fur die Kaffeehauser aufhehmen sollten, begrenzte die Regierung die zulassige Zahl der Kaffeehauser entsprechend der Gesamtzahl der Konditoren auf 5 6 . 927 928 929 Die korporative Verhaltensweise, die fur St. Petersburger Ziinfte so typisch war, driickte sich in einem Prazedenzfall aus, in dem die von der Konditorenzunft geplagte Backerzunft in den 1830er und 1840er Jahren ein generelles Verbot fur die Eroffnung n e u e r Backereien in der Stadt mit d e m Einverstandnis des Stadtmagistrats verhangte. Es wurden nur die Meister in die Zunft aufgenommen, die eine schon bestehende alte Backerei aufkauften. Sie b e k a m e n dafur v o n der Handwerksverwaltung die Anmeldezeugnisse, eine Art der Gewerbeerlaubnis, die 927 Raport barona Korfa ministru vnutrennich del ot 10.10.1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92, 1. 17-27, hierl. 24f. 928 Po ukazu lgo departamenta magistrata ot 24.011838, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 95: Po zapiske, hier 1. 30f. 929 Raport kolezskogo sovetnika Starikova, 1. 58 und ProSenie soderzatelej kofejnych domov Perovskomu ot fevralja 1846 g., 1. 102, in: Ebd. so hohen Wert hatte, daB sie Шг 12.000 Papierrubel verkauft wurde. Sie galten in der Hauptstadt als feste Wertpapiere und w u r d e n sogar verpfandet. Ungeachtet des Verbotes dieser Zeugnisse v o m Innenministerium w u r d e deren Verkauf weiter praktiziert. Z. B . wurde a m 2 5 . N o v e m b e r 1844 in „S. Peterburgskie v e d o m o s t i " ein Inserat von der Auktionskammer veroffentlicht, laut der das erste Departement der gemischten K a m m e r fur die offentliche O r d n u n g (uprava hlagocmijd) zum 1. Dezember d. J. uber eine Auktion zweier „Gewerbescheine" verfugte. Die Gewerbescheine gehorten diesmal den deutschen Backern Gletscher und GroBe, die mit d e m Verkauf ihre Schulden begleichen wollten. Der Staatsrat N . Smirnov bemerkte diesbeztiglich in seinem Bericht an den Generalgouverneur, daB auf der Auktion Gewerbescheine dargeboten wurden, die dem Gesetz nach keine Gultigkeit hatten und fur den Kaufer unbrauchbar seien. Smirnov schlug vor, diese Gewerbescheine abzuschaffen, u m das M o n o p o l der Backerzunft endlich zu beseitigen, und so wurden sie dann am 3 . N o v e m b e r 1845 mit einem SenatserlaB fur nichtig e r k l a r t blieben aber doch noch einige Zeit im Verkehr, w o d u r c h d i e B a c k e r z u n f t fur d i e s e Z e i t p e r i o d e als g e s c h l o s s e n e Zunft charakterisiert w e r d e n k a n n . 930 D i e Zunfte v e r s u c h t e n sich a u c h in die P r e i s p o l i t i k d e r R e g i e r u n g im Lebensmittelbereich einzumischen. So beschloB die russisch-deutsche Backerzunft 1839 den fixierten Preis fur Zwieback von einer auf zwei K o p e k e n zu erhohen, wobei der Stadtmagistrat diesen BeschluB auch genehmigt hatte. Die Meister versuchten, ihren BeschluB damit zu begriinden, daB die Brotpreise in St. Petersburg zu der Zeit im Vergleich mit denen fur Zwieback viel hoher waren. Die Backerzunfte verstieBen auf zweierlei Weise gegen das Gesetz: einerseits durften die Zunftversammlungen ohne die Erlaubnis des Standesoberhaupts nicht d u r c h g e f u h r t w e r d e n u n d a n d e r e r s e i t s h a t t e n n i c h t d i e Z u n f t e u n d der Stadtmagistrat uber die Preiserhohung von Lebensmittel zu entscheiden, sondern die S t a d t d u m a . D e r BeschluB der B a c k e r z u n f t e w u r d e sofort seitens der Gouvernementsverwaltung und des Generalgouverneurs Graf Essen auBer Kraft gesetzt u n d der Z w i e b a c k in Anbetracht seiner Wichtigkeit fur die Ernahrung der unteren Schichten der Bevolkerung wieder fur den alten Preis von einer K o p e k e fur das Stuck a n g e b o t e n . D a s Wirtschaftsdepartement des Finanzministeriums kommentierte das Geschehen wie folgt: 931 „Die vorgeschlagene Preiserhohung fur den Zwieback hatte sich auf die 930 Donesenie S. Peterburgskomu general-gubernatoru о prodaze s publicnogo torga svidetePstv na bulocnye ot 27.11Л 844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 231: Po doneseniju statskogo sovetnika Smirnova, о sdelannom 1-m departamentom upravy blagoeinija rasporjazenii к prodaze s publicnogo torga svidetePstv na bulocnye v Peterburge, 1. 1-16; Raport barona Korfa ministru vnutrennich del ot 10.10.1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92,1. 25. 931 Dieser Vorfall wurde im Theaterstuck „Die Backerei oder St. Petersburger Deutsche" von P. A. Karatygin (1805-1879) wiedergegeben, s. hinzu: Karatygin, Vodevili, Moskau 1937, S. 93. w e n i g w o h l h a b e n d e n S c h i c h t e n d e r B e v o l k e r u n g , in d e n e n der Zwieback gleichermaBen wie das Weizenbrot als ein wichtiges Element auf dem Speiseplan steht, besonders einschrankend a u s g e w i r k t " . 932 Resumierend laBt sich sagen, daB die Entfachung der Machtkampfe zwischen den Zunften auf die Zeit vor den „GroBen R e f o r m e n " der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts fiel, als das H a n d w e r k sich besonders entfalten konnte. Das war eine Zeitperiode, in der die GroBindustrie noch keine groBe Konkurrenz fur das traditionelle H a n d w e r k darstellte und die Zunfte eine vortibergehende Blutezeit erfuhren. 9.1.3 Z u r Definition des M o n o p o l r e c h t s in der russischen G e s e t z g e b u n g Es m a g paradox erscheinen, daB die Zunfte hochst unterschiedlich auf die zunftfreien Handwerker reagierten und ihnen entweder erlaubten, ihr H a n d w e r k a u s z u u b e n o d e r a u c h nicht. D e r G r u n d dafur liegt in der Spezifik d e s Monopolrechtes der Zunfte in RuBland bzw. in der Rezeption des Monopolrechts durch die Zunfte. Sie verstanden namlich ihr Monopolrecht der Betreibung bestimmter Handwerksarten in der Stadt nicht im Sinne eines generellen Verbotes des zunftfreien H a n d w e r k s , sondern in dem Sinne, daB nur ausgewahlte Meister den A n s p r u c h a u f die Z u n f t z u g e h o r i g k e i t e r h e b e n k o n n t e n , die u b r i g e n H a n d w e r k e r aber zunftfrei arbeiten konnten. Die Zunfte lieBen die Masse der zunftfreien Handwerker in R u h e , solange diese nicht die Absatznischen des Zunfthandwerks besetzten. A u B e r d e m lieB d e r G e s e t z g e b e r 1 7 8 5 m i t d e m P a r a g r a p h 4 1 6 d e s Handwerksstatutes, der am meisten fur Verwirrung und Fehlinterpretationen sorgte, ein begrenztes M o n o p o l r e c h t zu, indem die Erdarbeiter, Pflasterer, Maurer, Steinmetze, Zimmerer, Stuckarbeiter und alle, die ihr H a n d w e r k zur Erfullung ihrer alltaglichen Lebensbedurfnisse alleine betrieben, vom Zunfteintritt befreit wurden. Die Zunftverwaltung hatte diesen Paragraphen so interpretiert, daB auch die armen Meister, die Werkstatten o h n e Lehrlinge und Gesellen unterhielten und nicht imstande waren, die Zunftabgaben zu zahlen, v o m Zunftbeitritt befreit waren. D a s fuhrte dazu, daB viele H a n d w e r k e r nicht in den Zunften eingeschrieben waren, die eigentlich in die Zunft gehorten. Daruber hinaus richteten viele von ihnen in ihren Werkstatten Laden ein und warben mit Aushangeschildern in der Stadt die Kundschaft um, w a s nur den zunftigen Meistern vorbehalten war. Sie zahlten keine Staats- und Standesabgaben und wurden dadurch im Vergleich mit den Zunfthandwerkern begunstigt. D a s gait allerdings nur fur arme Meister. W e n n sie das H a n d w e r k in einem groBerem 932 О poddinenii cechov i remeslennych uprav S. Peterburgskoj gorodskoj dume (ijuP 1842), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 79,1. Iff. Umfang mit Hilfe v o n Gesellen und Lehrlingen betreiben wollten, durften sie es nicht zunftfrei tun. D a g e g e n betonte Smirnov 1843, daB eine solche Interpretation des Paragraphen 4 1 6 durch die Zunftverwaltung verfehlt ware. Das Gesetz v o n 1785 meine namlich, so Smirnov, daB nur den „Tagel6hnern" und „Arbeitern" die Ausiibung der zunftigen Handwerksarten erlaubt ware. Der Gesetzgeber h o b tatsachlich nur auf die Arbeiter und Tagelohner und nicht die Handwerksmeister selbst ab. Sonst hatte die Mehrheit der Uhrenmeister, Graveure, Dreher, Gold- und S i l b e r s c h m i e d e w i e a u c h a n d e r e Meister, die m e i s t e n s allein, also o h n e Beschaftigte, arbeiteten, das Recht, aus der Zunft auszutreten. AuBerdem nutzten weniger w o h l h a b e n d e Schuhmacher und Schneider diese Gesetzesinterpretation aus, indem sie z u m Verlagshandwerk iibergingen, das in St. Petersburg in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet war: Sie verrichteten die Arbeit nicht selbst, sondern verteilten die Auftrage unter den allein arbeitenden, auch nicht der Zunft angehorenden, Meistern und Gesellen der S t a d t . Der Paragraph 416 befreite auch die Fabrikanten und Kaufleute v o m Zunftbeitritt befreite. Sie durften eine unbegrenzte Zahl von Fabriken bzw. Werkstatten betreiben und verschiedenen Formen des Zunfthandwerks n a c h g e h e n . E s ware nicht so verhangnisvoll fur die Zunfte gewesen, w e n n auch die Zunftmeister nicht davon Gebrauch gemacht hatten. AuBerdem zahlte mancher Kaufmann bzw. Fabrikant weniger A b g a b e n als ein Zunftmeister. Jeder Fabrikant sollte sich n a m l i c h in eine k a u f m a n n i s c h e G i l d e e i n s c h r e i b e n u n d d e m e n t s p r e c h e n d Gildeabgaben zahlen. Ein Fabrikant der dritten Gilde z. B . zahlte 97 Rubel im Jahr. Derjenige Zunftmeister, der mehr als 16 Arbeitnehmer hatte, sollte sich ebenfalls in die dritte Gilde einschreiben und das doppelte an die Ziinfte und Gilden zahlen. Z u solchen Meistern gehorten auch diejenigen, die ein komplexes H a n d w e r k betrieben, wie z. B . die Wagenbauer, die Gesellen aus mehreren Handwerksarten (Schmiede, Karosseriebauer, Wagentapezierer, Wagenmaler, Radermacher und Schreiner) beschaftigten. In die kaufmannische Gilde sollten auch Juweliere, Galanteriemeister, Gold- und Silberschmiede, Modistinnen, Damenkopfbedeckungs- und Damenkleiderherstellerinnen, die Mobelmeister und Kiirschner eintreten, die teuere Werkstoffe verwendeten. Sie muBten dadurch eine doppelte Steuerbelastung ertragen. 933 934 Eine fehlende Abgrenzung zwischen verschiedenen Standen und Gewerbegruppen verhinderte, daB das Monopolrecht der Zunfthandwerker zur Geltung kam: Kleinburger und Kaufleute konnten gleichzeitig H a n d w e r k und Handel betreiben. Seit der Gildenreform 1824 konnten auch die Bauern mit den Gewerbescheinen des funften Grades fur 4 0 Rubel zunftfrei eine standige 933 Po zapiske statskogo sovetnika N. Smimova, s predstavleniem zamecanij na svod remeslennych postanovlenij ot 17.12.1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172, hier 1. 2,44 - 49. 934 PSZ RI 1, Bd. 39, Nr. 30115 (14.11.1824), S. 589f. Werkstatt unterhalten diirfen. Die zugereisten Handwerker aus anderen Stadten durften, falls sie in die jeweiligen Stande tibertraten, ebenfalls ihr H a n d w e r k zunftfrei b e t r e i b e n . AuBerdem sorgte der ErlaB v o m 5. Februar 1830 fur eine weitere Verbreitung des n i c h t z u n f t i g e n H a n d w e r k s , da er die o b l i g a t o r i s c h e K e n n z e i c h n u n g d e r H a n d w e r k s waren bzw. der Waren der Zunftmeister abschaffte, wodurch der Handwerksverwaltung ein wichtiges Kontrollmittel g e n o m m e n w u r d e . Ungeachtet dieser Einschrankungen des Zunftmonopols, hatten die Zunfte einige wirkungsvolle Mechanismen, mit deren Hilfe sie die bedingte Gewerbefreiheit e i n s c h r a n k e n k o n n t e n . D e r G e s e t z g e b e r g i n g einen K o m p r o m i B mit d e m Zunfthandwerk ein, indem er das Institut der zeitweiligen H a n d w e r k e r einfuhrte, w o v o n die Zunfte oft Gebrauch machten. Diese zusatzliche Regelung, die mit dem SenatserlaB v o m 6. Februar 1 7 9 6 bestatigt wurde, erlaubte den standigen H a n d w e r k e r n , d i e b a u e r l i c h e n H a n d w e r k e r in d i e Z u n f t e z e i t w e i l i g e i n z u s c h r e i b e n u n d b e i i h n e n z u s a t z l i c h e S t e u e r n fur d i e Z u n f t - u n d H a n d w e r k s k a s s e e i n z u t r e i b e n , w o d u r c h sie i h r e s o z i a l e n I n s t i t u t i o n e n mitflnanzieren konnten. Anfang des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts ubertraf die Anzahl der zeitweiligen Handwerker sogar die der standigen. D a d u r c h konnten die Zunfte oft ihr Monopolrecht auf die Austibung des H a n d w e r k s geltend machen. Daruber hinaus wurden seit 1827 auch die personlich geadelten S t a d t b t i r g e r v e r p f l i c h t e t , in d i e Z u n f t e i n z u t r e t e n , f a l l s s i e in i h r e n Handwerksstatten Zunfthandwerk austibten. 935 936 937 Durch die Verpflichtung der Handwerker in die Zunfte einzutreten einerseits und durch die erheblichen Schwierigkeiten beim Zunfteintritt andererseits konnten die Zunfte indirekt die Zahl der Zunftmeister begrenzen. D e r Paragraph 502 des Handwerksstatutes legte beispielweise den Eintrittsbeitrag auf drei Silberrubel fest. Die Wirklichkeit sah anders aus. 1843 wurden j e nach der Zunft 30 bis 170 Silberrubel als Eintrittsgeld verlangt, w a s viele Meister daran hinderte, ihre eigene Werkstatt zu griinden, weil sie nicht imstande waren, einen so hohen Beitrag aufzubringen. Nach Ansicht der meisten Meister ware ein Beitrag von 50 Silberrubeln angemessen g e w e s e n , was trotzdem fur die meisten auBer Zunft stehenden Meister zuviel war. N e b e n den Zunften gab es noch andere „ M o n o p o l i s t e n " - die Kaufleute, die in drei Gilden organisiert waren und ihr exekutives Organ in der Handelsdeputation (torgovaja deputacija) der Stadtduma hatten. Seit der Gildenreform v o m 14. N o v e m b e r 1824 k o n n t e n sie die H a n d w e r k e r dazu z w i n g e n , in die Gilde 938 Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 234-246. Pazitnov, Problema, S. 103. PSZ RI 1, Nr. 17438, Bd. 23, S. 865ff. Po zapiske [...] Smirnova (wie FuBnote 902), 1. 77f. einzutreten, w e n n die Werkstatt mehr als 16 Arbeitnehmer hatte, oder der V e r k a u f d e r h e r g e s t e l l t e n W a r e n in e i n e m groBerem U m f a n g stattfand. H a n d w e r k e r n blieb nicht anders ubrig, wollten sie sich den Beschrankungen der Zunfte nicht unterwerfen, als Gildenabgaben zu zahlen, w a s ihre wirtschaftliche Lage schwachte. Laut dem SenatserlaB v o m 3 . N o v e m b e r 1832 (PSZ RI 2, Nr. 61478) sollte z. B . die Kaufmannsdeputation in der Stadt alle H a n d e l s - u n d Industriebetriebe aufzahlen, u m der Staatskasse genauere Steuerkalkulationen zu e r m o g l i c h e n . Dies fuhrte aber gleichzeitig zur Unterdriickung vieler sowohl zunftiger als auch zunftfreier H a n d w e r k e r , die von der Deputation aufgefordert w u r d e n , Gildenabgaben zu zahlen, die oft willkurlich festgesetzt wurden. Als Beispiele seien hier Samuel Brunst, der Meister der deutschen Schneiderzunft, und der Klavierbauer Heinrich Bricks g e n a n n t . Brunst sollte nach der M e i n u n g der H a n d e l s d e p u t a t i o n in d i e k a u f m a n n i s c h e G i l d e eintreten, w e i l er Stoffe verarbeitete, die ihrer Ansicht nach viel wert waren. Bricks betrieb seine Werkstatt schon seit 28 Jahren und zahlte die Zunftabgaben ordnungsgemaB. Er schrieb in seiner Bittschrift, daB er nur dreizehn Beschaftigte gehabt und uber kein Kapital verfugt hatte. Die beiden Handwerker wurden v o m Gildeneintritt befreit. A m 2 7 . M a r z 1833 beschwerte sich der Kleinburger Grigorij Petrov beim Manufaktur- und Innenhandelsdepartement ( D M V T ) , daB die Stadtduma ihn dazu z w a n g , G i l d e n a b g a b e n z u z a h l e n , o b w o h l er s c h o n D o p p e l a b g a b e n als Kleinburger und als Zunftmeister entrichtete. Petrov hatte seine Werkstatt in einer D r e i z i m m e r w o h n u n g eingerichtet, in der auch der Meister mit seiner Familie wohnte. Der wahrscheinlichste Grund, w a r u m Petrov Schwierigkeiten mit der Handwelsdeputation hatte, war, daB er seine Werkstatt als eine „Knopffabrik" bei d e m Departement angemeldet h a t t e . Die restriktive Haltung der Zunfte sowohl gegentiber der zunftigen als auch der zunftfreien Handwerker hatte negative Auswirkungen fur die Meister, die sich mit dem Rahmen, der v o n den Zunften vorgegeben war, nicht begntigen wollten und ihre Werkstatten und wirtschaftliche Aktivitaten nicht nur im St. Petersburger Wirtschaftsraum, sondern auch in M o s k a u ausweiten wollten. D a s war der Fall bei einigen auslandischen Backermeistern in St. Petersburg, die zeitweilig in die Zunfte in M o s k a u eintraten und dort ebenfalls Niederlassungen eroffheten. Eine g e w i s s e Z e i t k o n n t e n sie a u f s o l c h e W e i s e in b e i d e n H a u p t s t a d t e n ihre 939 940 941 939 4 Po pros be portnogo mastera Bmnsta ob okazanii za§6ity ot pritesnenij torgovoj deputacii (1833), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 850,1. 3. 9 4 0 Ebd., 1. If., sowie d. 846: Po pros'be klavikordnogo mastera Genricha Briksa ob osvobozdenii ot gil'dejskich povinnostej (1833-1836). 941 Po pros'be S. Peterburgskogo me§6anina Grigorija Petrova о Pgote v plateze giPdejskich povinnostej po soderzaniju pugovicnogo zavedenija, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 835. Backereien fuhren. Dies blieb aber nur solange unbemerkt, bis diese Backer bei der St. Petersburger Backerzunft ihre Mitgliedschaft beantragten. Es war fast selbstverstandlich, daB die Zunft die Tatigkeit der Meister „unter die L u p e " n a h m und herausfand, daB sie auch in der alten Hauptstadt tatig waren, w o z u sie kein Recht hatten. Die auslandischen Meister, die dem Kleinburgerstand zugezahlt wurden, durften ihre Werkstatt nur in einer Stadt h a b e n . Uber die monopolistischen Bestrebungen der Handwerksverwaltungen in den beiden russischen Hauptstadten berichtete 1859 die M o s k a u e r Abteilung des Manufakturrats: 942 „ D i e H a n d w e r k s v e r w a l t u n g e n v e r s u c h t e n , alle k l e i n i n d u s t r i e l l e n Fabriken und Werke, die genau wie die groBen Industriebetriebe unter dem Begriff einer handwerklichen Werkstatt unmoglich zusammenzufassen waren, unter ihre Gewalt zu bringen (...) E s ist auch notig, eine auBerst klar ausgepragte A b n e i g u n g von Kleinindustriellen gegen die Zunfte zur Kenntnis zu nehmen. Keiner von ihnen zahlt sich zu den H a n d w e r k e r n . Sie alle b e z w e c k e n eine a l l m a h l i c h e VergroBerung ihrer Betriebe in Fabriken. Deswegen befurchtet j e d e r v o n i h n e n , daB w e n n er e i n m a l d e r Z u n f t b e i t r e t e n w i r d , e r unuberwindliche Schwierigkeiten beim Austritt aus der Zunft erleiden wird. Die Zunftverwaltungen haben darin nach Artikel 107, 109 und 123 a u c h R e c h t u n d setzen es mit Erfolg d u r c h . U n t e r d i e s e n Bedingungen kann den Gewerbetreibenden nur eine Bescheinigung v o m D M V T uber seine Fabrikrechte Schutz gegen die Anspriiche der Zunfte g e w a h r e n " . 943 W i e der Fall v o n Ignatij K a r l o v b e z e u g t , w a r e n d i e B e f u r c h t u n g e n der H a n d w e r k e r nicht unbegrundet. Als Karlov aus der Zunft austreten wollte, verlangte die Handwerksverwaltung von ihm 100 Silberrubel, w a s im Jahre 1850 rund 3 5 0 P a p i e r r u b e l a u s m a c h t e . F u r d i e s e S u m m e k o n n t e m a n eine D r e i z i m m e r w o h n u n g in St. Petersburg fur ein Jahr anmieten. Die Zunfte verwandelten sich mit der Zeit in V e r b a n d e mit einer heterogenen Z u s a m m e n s e t z u n g , denen auch Personen angehorten, die in keinem Verhaltnis z u m H a n d w e r k s t a n d e n , ihre S t a n d e s p r i v i l e g i e n u n d R e c h t e aber eifrig v e r t e i d i g t e n . 1860 g e h o r t e n laut d e m B e r i c h t der St. P e t e r s b u r g e r H a n d w e r k s v e r w a l t u n g 12.653 Personen beiderlei Geschlechts d e m Stand der 944 9 4 2 Po otnoseniju ministra vnutrennich del о sobljudenii ustanovlennogo porjadka predostavlenija remeslennikam zvanija masterov (1859), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1724. 943 944 Trudy komissii, Cast' 1, S. 57. Po proseniju Ignatija Karlova ob uvol'nenii ego iz obScestva dlja postuplenija v Bogoslovskij Ceremeneckij monastyr' (30.09.1850-26.10.1851), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 911. standigen H a n d w e r k e r an, v o n denen nur 2.800 Personen tatsachlich einem Handwerk nachgingen. Die ubrigen 10.000 kamen aus alien Bevolkerungsschichten. Das waren freigelassene Bauern, Zoglinge des Erziehungshauses, ehemalige Geistliche, aus dem Handel ausgestiegene Kaufleute, auBerstadtische Kleinburger und andere. Es w a r moglich, in der Schneiderzunft einen Juwelier und in der Feldarztezunft einen Schmied zu finden, da Zunftmitgliedschaften auch v o n Vatern und GroBvatern ubertragen werden k o n n t e n . In der Stadt bildete sich auf der Basis einer Zunftorganisation eine hauptstadtisch-standische Gemeinschaft, die mittels gewisser Monopolrechte ihren Wohlstand und ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern suchte. D a z u sollte auch die Erweiterung der Monopolrechte dienen. Beispielsweise versuchte die St. Petersburger Handwerksverwaltung im Jahre 1853 eine Zunft der Drucker und Lithographen zu griinden, w a s ihr auch gelang. 1858 miBgliickte aber ihr Versuch, auch die Photographen in die Zunft zu zwingen. 1859 versuchte die Handwerksverwaltung vergeblich sowohl die Gemiisegartner, von denen es in St. Petersburg etliche H u n d e r t e g a b , als auch die Sack-, Bastmatten- und Bastsackehandler in den Zunften zu organisieren. Eine Zeitlang gab es in St. Petersburg sogar die Idee, eine Musikmacherzunft zu organisieren, die j e d o c h nicht verwirklicht w u r d e . A n d e r s w a r es in C h e r s o n , w o tatsachlich eine Musikmacherzunft gegriindet wurde, welche 15 Meister und zwolf Gesellen zahlte . 945 946 Im Laufe der 1850er Jahre erhohten die Zunfte ihre Anstrengungen, das zunftfreie H a n d w e r k sowie L a n d h a n d w e r k zu beeinflussen bzw. es zu kontrollieren. Die Zunfthandwerker einer Stadt, ihr N a m e wurde leider in der Quelle nicht erwahnt, stellten 1859 beim Innenministerium den Antrag auf Besteuerung der Landhandwerker in den umliegenden Dorfem sowie der Arbeiter in den Fabriken und Werken, n a c h d e m beide v o m Zunfteintritt 1857 befreit wurden. Der Antrag wurde abgelehnt, obwohl die 2'unfthandwerker ihre Griinde dafur hatten. Ihren Worten nach konnten die Landhandwerker kostengiinstiger produzieren und ihre W a r e n in der Stadt verkaufen, sie zahlten j e d o c h k e i n e A b g a b e n an die Zunftverwaltung und schadigten durch ihre g e w e r b l i c h e Tatigkeit die Zunfthandwerker . 947 D a s SelbstbewuBtsein der Zunfte in St. Petersburg in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts bis in die 60er Jahre ist dadurch zu erklaren, daB sie Unterstutzung von der R e g i e r u n g bekamen, was letztere nicht daran hinderte, die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g in besonders spektakularen Fallen in ihre Grenzen zu verweisen. So stellte der Prasident der A k a d e m i e der Wissenschaften Dmitrij Ebd., S. 76. Trudy komissii, 6. 1, S. 77. Po delam soslovij, in: 2MVD (Ma; 1859), c. 36, S. 80f. Nikolaevic Bludov fest, daB sich die Handwerkskunst in den Kreisstadten auf sehr niedrigem Niveau befand, was der strikten Verhaltensweise der hauptstadtischen Verwaltung eine Erklarung gab. W e n n der Gesetzgeber n u n den Meistern, die ihren Titel in der Provinz erworben hatten, erlauben wurde, sich u b e r a l l n i e d e r z u l a s s e n , k o n n t e d a s d e r Q u a l i t a t d e r H a n d w e r k s k u n s t in allgemeinen schaden. Das Gleiche gait naturlich auch, w e n n m a n die „guten" Meister in ihrer Niederlassungsfreiheit e i n s c h r a n k t e . D a aber der Unterschied zwischen dem H a n d w e r k in den Hauptstadten und dem in der Provinz tatsachlich sehr groB war, war die Einfuhrung der vereinfachten Handwerksverwaltung in den kleineren Stadten b e r e c h t i g t . Die B e w e r t u n g B l u d o v s , daB sich das H a n d w e r k „in RuBland in einer solchen schwierigen Lage befindet, daB das nicht nur nach einer partiellen Erleichterung, sondern nach einer Unterstutzung mit alien Mitteln v e r l a n g t " , spiegelt sich in der konsequenten Einschrankung des zunftfreien Zunfthandwerks durch die Verwaltung wider. In den 1860er und 1870er Jahren erfolgte eine wesentliche B e s c h r a n k u n g der Zunfte in ihren Monopolbestrebungen. Die Liberalisierung der Wirtschaft trug dazu bei, daB sich auch innerhalb der St. Petersburger Zunfte die Einstellung der Mitglieder zu bestimmten Restriktionen veranderte. So sprach sich im Jahre 1871 sowohl die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g als auch die Stadtduma fur die Abschaffung einer Regel aus, daB ein Meister nur eine Werkstatt unterhalten durfte, die v o m H a n d w e r k s s t a t u t in die Instruktion iiber die n e u e S e l b s t v e r w a l t u n g in St. P e t e r s b u r g im J a h r e 1846 u b e r n o m m e n w u r d e . Sie g l a u b t e n , d a m i t „die Rahmenbedingungen fur die Entwicklung des H a n d w e r k s zu v e r b e s s e r n " . W e n es einem Handwerksmeister erlaubt ware, mehrere Werkstatten zu unterhalten. Die Handwerksverwaltung betonte, daB die B e s c h r a n k u n g Werkstattenzahl die Entwicklung des H a n d w e r k s store und der neuen Ordnung iiber die Besteuerung des Kleinhandels nicht entspreche. Diese besagte namlich, daB die Meister der zweiten und dritten Gilde jeweils maximal zehn b z w . vier Werkstatten besitzen durften. Diese V e r o r d n u n g b e k a m mit der Vorschrift des St. Petersburger Gouverneurs v o m 15. D e z e m b e r 1871 ihre Rechtskraft, nach der auch ein Meister, der einen Handelsschein bei der Handwerksverwaltung erhielt, bis zu vier Werkstatten unterhalten durfte. 948 949 950 951 Im Z u s a m m e n h a n g mit dem Monopolrecht der Zunfte in St. Petersburg stellt sich nun die Frage, o b dieses Monopolrecht, mit dem in Westeuropa oder allgemeiner, 948 Trudy komissii, 5. 1,S. 36. 949 Ebd., S. 38,4If. 950 Ebd., S.41. 951 RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1393: Po vozbuzdennomu nacaPnikom S. Peterburgskoj gubernii voprosu о torn, какое 6islo masterskich mozet byt' otkryvaemo remeslennym masterom v zdesnej stolice (1871-1872), hier 1. 4f. ob die Zunfte in RuBland mit denen in Westeuropa zu verglichen werden konnen. D e s weiteren ist zu untersuchen, wie die Zunfte in RuBland v o n den Zeitgenossen rezipiert wurden. A m E n d e des 19. Jahrhunderts erhoben sich nur wenige Stimmen, die auch die positiven organisatorischen Seiten der Zunfte betonten. Mit wenigen A u s n a h m e n stimmten die Gelehrten- und Regierungskreise sowie die Offentlichkeit fur die Abschaffung der Zunfte, wobei insbesondere ihre restriktive Haltung kritisiert w u r d e . 1897 beschrieb A. Jadrov die S t i m m u n g gegenuber den Zunften: 952 „Die Befurwortung der m s s i s c h e n Zunfte ist zur Zeit eine auBerst undankbare Aufgabe. [...] E s ist g e g e n die Vorurteile der meisten Gelehrten und der Offentlichkeit zu kampfen, die sagen, daB unsere Zunftordnung ,eine Kopie des Zunftstatutes mittelalterlicher deutscher Stadte' sei. [...] Ihrer M e i n u n g nach sei eine weitere Existenz der Zunfte, theoretisch gesehen, nicht nur sinnlos, sondern sogar schadlich" . 953 Es ist berechtigt, die Besonderheiten der russischen Zunftordnung hervorzuheben, u m zu zeigen, daB es unmoglich ist, die Entwicklungen in Westeuropa auf die russischen Verhaltnisse zu ubertragen, wie es in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts in RuBland der Fall war. Besonders deutlich k a m die negative Einstellung zu d e n Zunften in d e m Bericht v o n S t a c k e l b e r g (1859) zum Ausdruck, der sich ausnahmslos an den westeuropaischen Mustern orientierte, w a s er in seinem H a u p t w e r k uber die „Zunfte und Gewerbefreiheit in E u r o p a " zu begriinden s u c h t e . Wie Jadrov zurecht unterstrich, sei das Monopolrecht der Zunfte in RuBland nicht mit dem in Westeuropa zu vergleichen. Seit d e m 18. Jahrhundert gab es das exklusive M o n o p o l r e c h t in Westeuropa nicht mehr. In RuBland war das fehlende exklusive M o n o p o l r e c h t besonders deutlich. N a c h der Einfuhrung der Zunfte in der Zeit Peters I. und besonders Katharinas II. wurden die Monopolrechte immer relativiert. So wiederholte z. B . das neue Handwerksstatut von 1850, daB niemand 954 952 Vgl.: M. Kittary, NeskoPko slov о moskovskich cechach, in: Babst, Mysli, hier S. 31-52, besonders 47f.; V. O. Iordan, О neobchodimosti reformy soslovno-remeslennogo samoupravlenija, in: Russkaja mysl (ijun 1887), kn. 6, S. 79-91; Dokladnaja zapiska komissii, uhrezdennoj s celiju izyskanija mer к uludseniju remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge ot 8 janvarja 1888; A.P., NaSi remeslenniki, in: RB (1900) Nr. 4, S. 160-172; Bogdanov, Itogi, S. 62-75. 4 953 954 4 Jadrov, V zaSditu, S. Illf. A. F. Stackelberg, Cechovoe ustrojstvo i svoboda promySlennosti v Evrope, in: Trudy komissii. 9 5 5 seine P r o d u k t e v e r k a u f e n durfte, w e n n er k e i n Z u n f t m i t g l i e d w a r . In Wirklichkeit verkauften auch die Kleinburger ihre Waren, u n d die Kaufleute o r g a n i s i e r t e n in St. P e t e r s b u r g d e n V e r t r i e b d e r b a u e r l i c h e n , zu H a u s e hergestellten P r o d u k t e . Letztere durften ebenfalls ohne B e g r e n z u n g e n Werkstatten unterhalten. Die Lehrlinge konnten nicht nur in den Werkstatten ihre H a n d w e r k s d i p l o m e erhalten, s o n d e r n seit 1844 a u c h in den t e c h n i s c h e n Fachschulen. Die Regel, nach der jeder, der ein H a n d w e r k betreiben wollte, sich in die Zunft einschreiben muBte, interpretierte der regierende Senat nicht als M o n o p o l a u f d a s H a n d w e r k s o n d e r n als f o r m e l l e R e g e l u n g , u m a l i e n Handwerkern den Zunfteintritt zu ermoglichen, falls die Zunfte sie aus Furcht vor Konkurrenz nicht eintreten lieBen . W a s die russischen Zunfte fur die russischen H a n d w e r k e r sein konnten und teilweise auch waren, ist im ersten Satz von Stackelberg zu lesen, den er in B e z u g auf w e s t e u r o p a i s c h e Zunfte im fruhen Mittelalter schrieb. Die Zunfte, so Stackelberg, waren im Mittelalter eine 956 „Schule der burgerlichen Demokratie, Selbstverwaltung und politischer Bildung. [...] Als sie aber die Marktbannrechte bzw. den M a r k t z w a n g , E h e z w a n g und die Meisterstucke einfuhrten u n d die zunftfreien Handwerker anfingen zu verfolgen, verloren sie nach und nach ihre positiven I n h a l t e " . 957 G e r a d e im 19. J a h r h u n d e r t l e r n t e n d i e r u s s i s c h e n Z u n f t h a n d w e r k e r , in offentlichen Institutionen zu verkehren. Die Selbstverwaltung ermoglichte ihre soziale Artikulation. Die Zunfte in RuBland hatten nie die Macht, u m ein Zunftmonopol etablieren zu konnen, obwohl sie immer danach gestrebt haben. AuBerdem sorgte die russische G e s e t z g e b u n g und die wirtschaftlichen R a h m e n b e d i n g u n g e n fur ein begrenztes Zunftmonopol in den russischen Stadten. Dies blieb der Regierung nicht verborgen. Im Februar 1850 berichtete der Minister des Inneren dem Finanzminister, daB die Kontrolle der Zunftregelungen seitens der Zunftaltesten durch die „hieBige Obrigkeit" der Hauptstadt behindert werde. Es kann daher nicht verwundern, w e n n selbst das D M V T des I n n e n m i n i s t e r i u m s in St. P e t e r s b u r g einer Vielzahl der K l e i n b u r g e r , die Werkstatten hatten, die Erlaubnis fur den Betrieb der Fabriken e r t e i l t e . Selbst die St. Petersburger Handwerksverwaltung unterstrich in ihrem Bericht 958 955 Ob ustrojstve remeslennogo soslovija, in: 2MVD, 1853, otdelenie 2, c\ 3, kn. 5, S. 1-40, hier S. If. 956 Jadrov, V zaSditu, S. Xllf. 9 5 7 Ebd., S. rXff. von 1897, daB v o n einem Zunftmonopol keine Rede mehr sein kann: „Es gibt keine Abgeschlossenheit der Zunfte [...] Jahrlich werden Hunderte aus verschiedenen sozialen Schichten als standige Meister aufgenommen. [...] Fur die Aufhahme als zeitweilige Zunfthandwerker bestehen keine Beschrankungen: Die Kandidaten brauchen dafur keine Bescheinigungen und nicht die Z u s t i m m u n g der Deputiertenversammlung. O b w o h l naturlich die neu aufgenommenen H a n d w e r k e r eine K o n k u r r e n z fur die Zunftmitglieder darstellen, versuchten die Zunfte nie diese Konkurrenz abzuschaffen. Das beweist d i e T a t s a c h e , daB j a h r l i c h b i s zu e i n e m T a u s e n d z e i t w e i l i g e H a n d w e r k e r u n d Handwerkerinnen aufgenommen werden und daB im Laufe der letzten Jahrzehnte keine einzige Absage in der Eroffhung einer Werkstatt zustande g e k o m m e n w a r " . 959 Es ist zu beriicksichtigen, daB der oben angefuhrte Ausschnitt aus der M e i n u n g der Handwerksverwaltung eine Antwort auf das Projekt der nachstfolgenden Regierungskommission uber die Reform der Gewerbegesetzgebung darstellt, die u n t e r a n d e r e m b e a b s i c h t i g t e , d e n o b l i g a t o r i s c h e n Eintritt in die Z u n f t e abzuschaffen. E s kann a n g e n o m m e n werden, daB die Handwerksverwaltung aus Selbstrechtfertigungsgriinden b e h a u p t e t e , daB sie keine H i n d e r n i s s e b e i m Zunfteintritt in den W e g stellte. W e n n die B e h a u p t u n g der Handwerksverwaltung auch nur ein Teil der Wahrheit ist, wie die Statistiken in ihren Jahresberichten uber die Anzahl der Zunfteintritte belegen, so ist ein wesentlicher Wandel in der Verhaltensweise der Verwaltung festzustellen. 1 883 lehnte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g den Vorschlag der Deputiertenversammlung ab, die zeitweiligen und standigen Zunfthandwerker rechtlich gleichzustellen, wobei alle Deputierten, die diesen Antrag stellten, standige Meister waren. Die augenscheinliche Widerspruchlichkeit, einerseits der A n t r a g d e r D e p u t i e r t e n u n d die m a s s e n h a f t e A u f n a h m e der zeitweiligen H a n d w e r k e r in die Zunfte, andererseits die ablehnende Stellung der Verwaltung und die Vorschlage der Zunfthandwerker auf den beiden Handwerkerkongressen in St. Petersburg in den Jahren 1900 und 1911, in RuBland ein vollstandiges Z u n f t m o n o p o l einzufuhren, laBt sich durch die E n t w i c k l u n g s d y n a m i k der Ereignisse erklaren, die im Kapitel uber die Selbstverwaltung der Handwerker deutlich gemacht wurde. Die Situation hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich verandert und war rnit der Sachlage in den 1830-50er Jahren, als die Z u n f t e in St. P e t e r s b u r g ihre M o n o p o l r e c h t e a k t i v v e r t e i d i g t e n , n i c h t vergleichbar. E s w a r ein schwieriger ProzeB der Herausbildung einer neuen Mnenie St. Peterburgskoj remeslennoj upravy (1897), S. 5. Mentalitat, eines neuen Organisationsprinzips des Gewerbes und der A n p a s s u n g an die neuen soziookonomischen Verhaltnisse, die sich in RuBland mit der Abschafftmg der Leibeigenschaft, den btirgerlichen Reformen der 1860er Jahre und dem Beginn der Industrialisierung besonders intensiv vollzog. 9.2 Konkurrenz 9.2.1 Zunftige H a n d w e r k e r B e v o r die K o n k u r r e n z z w i s c h e n d e m H a n d w e r k u n d d e r GroBindustrie thematisiert wird, ist zu klaren, warm und wie intensiv die Industrialisierung in RuBland verlief. A u c h interessiert die Frage, welche Handwerksarten besonders der Konkurrenz der GroBindustrie ausgesetzt waren. Die Analyse fordert eine branchenbezogene Betrachtungsweise, da die Intensitat der Konkurrenz z u m Teil d a d u r c h bedingt war, daB die GroBindustrie nicht gleichermaBen in alien G e w e r b e b r a n c h e n e x p a n d i e r t e . D i e k o n s u m o r i e n t i e r t e n H a n d w e r k s formen konnten z. B . bis zur Jahrhundertwende ihre dominierende Position behalten. Der Konkurrenz waren vor allem das textil- und metallverarbeitende H a n d w e r k und das Maschinen- und Transportmittelbau-Handwerk ausgesetzt. Seit der Einfuhrung der Gewerbefreiheit in PreuBen und Sachsen am 15. Oktober 1 8 6 1 , d i e z e i t l i c h mit d e r A u f h e b u n g d e r L e i b e i g e n s c h a f t in R u B l a n d zusammenfiel, waren sowohl in Deutschland als auch in RuBland immer mehr Stimmen zu horen, die den Untergang des H a n d w e r k s prophezeiten. Diese Stimmung verstarkte sich nochmals, als am 2 1 . Juli 1869 in den Staaten des Norddeutschen B u n d e s die Gewerbefreiheit rechtskraftig und zwei Jahre spater (1871) reichsweit ubernommen w u r d e 9 6 0 . Anfang des 20. Jahrhunderts prognostizierte W. Sombart, daB der Kapitalismus an die Stelle des H a n d w e r k s treten w u r d e 960 961 961 . Georges, Handwerk, S. 9If. Vgl. Hubert Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen IndustrialisierungsprozeB Deutschlands im 19. Jahrhundert. Koln, Wien 1988 (Mitteldeutsche Forschungen, hrsg. v. Reinhold Olesch, Roderich Schmid, Ludwig Erich Schmitt, Bd. 94), S. 361; W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts, Berlin 1923, S. 280; s. auch: Heinrich Kaufhold, Das Handwerk zwischen Anpassung und Verdrangung. In: H. Pohl (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Probleme der Hochindustrialisierung (1879-1914), Paderborn 1979, S. 103-141, hier S. 104ff.; Karl Biicher, Der Niedergang des Handwerks. In: ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft. 1. Sammlung. 12. und 13. Aufl. Tubingen 1919, S. 199-228. Die Stimmen gegen die pauschale negative B e w e r t u n g der Perspektiven im H a n d w e r k waren zuerst unter den Handwerkern zu horen. So widmete Grigorij Aleksandrovic Belkovskij seinen Vortrag auf d e m ersten HandwerkerkongreB 1900 der Lage des H a n d w e r k s . Er war der M e i n u n g , daB das H a n d w e r k nur tiefe Umstrukturierungen u n d Anpassungsprozesse durchlief und keinesfalls auf dem R u c k z u g vor der GroBindustrie w a r 962 . In den 1930er und vor allem in den 1950er Jahren, als sich in Deutschland die neue historische Hilfsdiszipliri „Handwerksgeschichte" etablierte, entwickelte sich eine neue Sicht auf das Handwerk, seine Geschichte u n d Zukunft. Hatten sich zuvor fur das H a n d w e r k Synonyme wie „Ruckstandigkeit" etabliert oder wurden ihm Adjektive wie „vergangenheitsgewandt" zugefugt, so erfuhr es durch die Geschichtswissenschaft wieder eine A u f w e r t u n g , denn „alle Lander [sind] zur einen oder anderen Zeit zumindest wirtschaftlich ,ruckstandig' im Vergleich zu a n d e r e n g e w e s e n " . Es h a n d e l t sich u m P h a s e n v e r s c h i e b u n g e n , wahrendderen die industrielle „Ruckstandigkeit [..] zu spaterer Uberlegenheit fuhren" k a n n . Z u dieser Aufwertung trug die Tatsache bei, daB auch die Definition v o n ,,Fortschritt" an Eindeutigkeit verloren h a t t e . Mit der Zeit bewies das H a n d w e r k eine unerwartete Anpassungsfahigkeit an die d u r c h die i n d u s t r i e l l e R e v o l u t i o n r a s a n t v e r a n d e r t e A r b e i t s w e l t . F u r die Geschichtswissenschaft gait es nun, die M e c h a n i s m e n zu erforschen, die das H a n d w e r k entwickelte, u m konkurrenzfahig zu bleiben. 963 9 6 4 965 DaB der ProzeB der V e r d r a n g u n g bzw. des verstarkten Wettbewerbs zwischen der GroBindustrie und d e m H a n d w e r k besonders intensiv in St. Petersburg verlief, ist durch die sehr h o h e Produktivitat der St. Petersburger Industrie zu erklaren, die im Vergleich z u m M o s k a u e r Industriegebiet 151,6%, zu Vladimir 1 7 5 , 3 % und d e n u b r i g e n 34 I n d u s t r i e b r a n c h e n G e s a m t r u B l a n d s 1 8 5 , 4 % b e t r u g . 1877 produzierte ein Arbeiter in St. Petersburg durchschnittlich Waren fur 1.499 962 G.A. Belkovskij, Sovremennyj charakter remeslennoj promySlennosti i posrednideskoe priiskanie raboty, как odna iz mer vosposoblenija, in: Trudy vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promySlennosti v S. Petersburge 1900, Bd. 2, SPb. 1900, S. 250-255. 963 Manfred Hildermeier, Zwischen Burgertum und Adel: Unternehmer im Zarenreich, in: „... das einzige Land in Europa, das eine grofle Zukunft vor sich hat." Deutsche Unternehmen und Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frtihen 20. Jahrhundert, hrsg. v. Dittmar Dahlmann und Carmen Scheide, Essen 1998, S. 89; Walther Kirchner, Uber das deutsche Unternehmertum und die 6konomische Europaisierung RuBlands, S. 49-64, hier S. 50. S. zum Begriff der Rtickstandigkeit: Kirchner, Deutsche Industrie, S. 3-5; Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge 1862; Olga Crisp, Studies in the Russian Economy before 1914, London 1976. 964 Kirchner, Deutsche Industrie, S. 5. Rubel, in M o s k a u fur 1.056 Rubel und in Vladimir fur 650 Rubel. Allerdings lagen die Werte in Estland mit 2.118 Rubeln noch h o h e r . Zwischen der GroBindustrie und d e m H a n d w e r k k o n n e n im Z u s a m m e n h a n g mit der wirtschaftlichen Entwicklung des St. Petersburger Wirtschaftsraumes keine klaren Grenzen gezogen werden. D a s H a n d w e r k hatte aber a m wirtschaftlichen W a c h s t u m einen betrachtlichen Anteil. Die Expansion der GroBindustriebetriebe in St. P e t e r s b u r g seit d e n 1870er J a h r e n w u r d e g e r a d e d u r c h die h o c h entwickelten und spezialisierten Handwerksbetriebe moglich. N e b e n der GroBindustrie traten die GroB- und Kleinhandler, die durch regen Handel mit dem Ausland billigere Produkte aus Westeuropa importierten, mit d e m H a n d w e r k verstarkt in Konkurrenz. A u c h aus d e m Inneren RuBlands drang durch die vermehrte Zufuhr von Waren der Heimwerkerindustrie ein neuer Handelsstrom in den St. Petersburger Wirtschaftsraum. St. Petersburg war der groBte Handelsumschlagplatz RuBlands. Die N a h e z u m Ausland und die gute M e e r e s v e r b i n d u n g zu den groBen Hafenstadten Europas an Ost- und N o r d s e e verhalfen dazu. Die Handler hatten in St. Petersburg einen groBen Absatzmarkt, d i e E i n w o h n e r z a h l b e t r u g 1869 6 6 7 . 2 0 7 . Im V e r h a l t n i s H a n d l e r zu d e n Produzenten stand St. Petersburg nach L o n d o n und Berlin an dritter Stelle: es k a m e n in den oben g e n a n n t e n Stadten jeweils vier bzw. sieben Handler, in St. Petersburg drei Handler auf einen Produzenten. Trotzdem machten sie d e m H a n d w e r k starke Konkurrenz. 1867 gab es in St. Petersburg 6.488 Handler mit 21.617 Beschaftigten. AuBer dieser Handler gab es 482 weitere, die ihre Waren in den H a n d e l s s t u b e n und 6.178 v o n den ubertragbaren Brettern verkauften. Insgesamt gab es also 34.765 Handler und Beschaftigten bei i h n e n . D i e A n g e b o t e des GroB- und Kleinhandels, die meistens aus bauerlichem H a n d w e r k stammten, unterschieden sich qualitativ v o n den P r o d u k t e n der H a n d w e r k s m e i s t e r , die d u r c h ihren h o h e n Q u a l i f i k a t i o n s g r a d der starken Konkurrenz standhalten konnten. 966 967 In dieser Hinsicht spielte die Handelspolitik des Staates gerade fur das St. Petersburger H a n d w e r k eine wichtige Rolle: die Hauptstadt gait als wichtiger Handelsumschlagsplatz fur RuBland. Hier war der Handwerker der unmittelbaren Konkurrenz der mittel- und westeuropaischen Lander ausgesetzt. Als Beispiel sollen hier die Schwierigkeiten der Drechslerzunft im Jahre 1835 erwahnt w e r d e n . D i e St. P e t e r s b u r g e r D r e c h s l e r b e s c h w e r t e n sich b e i m AuBenhandelsdepartement uber die massenhafte Einfuhr von Rohrstocken und forderten, daB der Einfuhrzoll von eineinhalb auf sechs Silberrubel pro Pfund zu erhohen. Die starke Konkurrenz wird im Vergleich der Importzahlen v o n St. Petersburg sowie der restlichen Gebiete RuBlands deutlich: 966 967 Korol'cuk, Ob osobennostjach, S. 144. Ju. Ё. Janson, Naselenie Peterburga i ego ekonomideskij i social'nyj sostav, in: Vestnik Evropy, torn 5, kniga 9-10, 1875, S. 637. Tabelle 15: Einfuhr von Rohrstocken. 1832 bis 1834. in Papierrubel Jahr St. Petersburg restliche Gebiete 1832 6750 298 1833 8470 1562 1834 12060 1428 Summe 27280 3288 Quelle: Po otnoseniju departamenta vnesnej torgovli s preprovozdeniem pros'by tokarej ob izmenenii tarimoj stat'i о trostjach, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 889,1. 1. Aufgrund der massenhaften Einfuhr von Rohrstocken aus d e m Ausland sank die N a c h f r a g e bei den St. P e t e r s b u r g e r D r e c h s l e r n d r a s t i s c h . D a s AuBenhandelsdepartement wies die B e s c h w e r d e der Drechsler zuriick, die Einfuhr v o n R o h r s t o c k e n set nicht erheblich und beeintrachtige nicht die wirtschaftliche Lage der Meister. Dennoch, die Beschwerde der Drechsler gibt einen Hinweis auf ihre instabile Lage. Ein ahnlicher Vorfall ereignete sich 1845 im Z u s a m m e n h a n g mit der Manufakturausstellung in St. Petersburg. Jetzt ersuchten die zunftigen Waffenschmiede den Finanzminister Fedor Pavlovic Vroncenko, die Einfuhr v o n Waffen aus KongreBpolen als Ausstellungstiicke fur d i e M a n u f a k t u r a u s s t e l l u n g e n z u u n t e r b i n d e n . S c h o n fur d i e v o r h e r i g e A u s s t e l l u n g in M o s k a u waren etwa 100 E x e m p l a r e fur ein Waffenmodell eingefuhrt und nach der Ausstellung durch Kommissionare weiter verkauft w o r d e n . D i e p o l n i s c h e n Waffenschmiede profitierten b e s o n d e r s v o n ihrer g e o g r a p h i s c h e n L a g e und bauten die Waffen aus Mittel- u n d W e s t e u r o p a importierten Teilen zusammen, die sie dann nach RuBland zu niedrigen Preisen, als Ausstellungsstticke deklariert, einfuhrten. Sie waren auch dadurch begunstigt, daB ihre Waren nach d e m Zolltarif von 1838 mit 12 K o p e k e n statt ublichen 5,8 Silberrubeln p r o Pfund belegt w u r d e n . Darunter litten nicht nur russische Waffenschmiede, sondern auch der Warschauer Waffenschmied Kollet, einziger Produzent in KongreBpolen, in dessen Werkstatt keine auslandischen Teile v e r w e n d e t w u r d e n . V e r g e b l i c h bemiihte er sich im Juli 1844 d u r c h den ministerialen Staatssekretar von Polen beim Finanzminister eine zollfreie und von den Manufakturausstellungen unabhangige Einfuhr fur seine Waffenprodukte nach RuBland zu erreichen. Seine Bitte blieb ihm verwehrt, w a s beweist, daB die russischen Waffenschmiede gut von der auslandischen Konkurrenz geschtitzt wurden . 968 968 Prosenie ot starSin i tovariSdej S. Peterburgskich remeslennych rossijskogo i nemeckogo cechov i masterov к tomu i drugomu prinadleza§£ich, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1220: Po pros'be starSin i masterov S. Peterburgskogo oruzejnogo cecha о vospre§cenii znaditePnogo privoza iz Carstva PoPskogo ognestrePnogo oruiija dlja predstavlenija na vystavki (1845-1846), 1. 4. D i e St. P e t e r s b u r g e r W a f f e n s c h m i e d e forderten S c h u t z v o r k e h r u n g e n , die erlaubten, auch die Anzahl der Waffen, die als Ausstellungsstucke eingefuhrt wurden, zu reduzieren: 1. 2. Es sollte nur ein Ausstellungsstuck pro Waffenmodell eingefuhrt werden. Es sollte den Waffenschmiedezunftexperten erlaubt werden, zu uberprufen, o b die auslandischen Waffen in den Laden v o m russischen 969 Zoll versiegelt waren oder n i c h t . Als M e c h a n i s m u s , den Markt zumindest teilweise regulieren zu konnen, diente die Reduktion der Einfuhr bestimmter Waren oder die E r h o h u n g der Zolle. Die Zunfte ersuchten die zustandigen Behorden immer wieder, von diesen MaBnahmen Gebrauch zu machen, u m so die Konkurrenz zu schwachen. Hier k o m m t die marktkontrollierende Funktion der Zunfte z u m Ausdruck, die ihre Existenzgrundlage sichern wollten. O b w o h l es nur u m die Waffen ging, die zur A u s s t e l l u n g g e b r a c h t w u r d e n , alarmierte die Zunft u n v e r z u g l i c h d a s AuBenhandelsdepartement, da sie negative Auswirkungen durch den starkeren V e r k a u f der Ausstellungsstucke auf ihr H a n d w e r k befurchtete. D i e tibrige Waffeneinfuhr aus Polen wurde ganz verboten, ein Hinweis dafur, daB die russischen Waffenschmiede zu dieser Zeit gut genug durch Einfuhrverbote und Zolle geschutzt wurden. Konkurrenz fand aber auch auf anderer Ebene start. Einerseits gab es eine Konkurrenz innerhalb der Zunft, andererseits auch zwischen den Meistern verschiedener Zunfte. Ein Beispiel fur die Konkurrenz zwischen den Meistern verschiedener Zunfte ist der Fall des Meisters der Schuhmacherzunft Heinrich E m m e r m a n n . U m seine Kenntnisse uber die Lackierung von Leder zu verbessern, ging er 1836 fur einige Zeit nach Altona. Dort fand er einen gewissen Meister Koch, der mit ihm nach St. Petersburg ging. A m 1. Oktober 1836 schlossen beide in Anwesenheit eines Zunftmaklers einen Zusammenarbeitsvertrag, der drei Jahre gelten sollte. Der Vertrag verpflichtete Koch, sein Wissen um die L a c k b e h a n d l u n g nicht weiterzugeben. Doch es dauerte nicht lange, bis Koch nach nur einem M o n a t E m m e r m a n n wieder verlieB. Ein gewisser Schuhmacher Butz (er nannte sich auch Arens) tiberredete Koch, in seiner Werkstatt zu arbeiten. A m Lackgeheimnis waren die Meister sehr interessiert, so u m w a r b e n sie K o c h standig. Im M a r z 1838 war K o c h bei einem anderen Lederer, Christian Gobel beschaftigt, der seit 20 Jahren in St. Petersburg tatig war. Z u j e n e r Zeit gab es nur die Saffian- und Wildledererzunft, in der Gobel j e d o c h nicht Mitglied war. Gobel hatte bessere C h a n c e n in der K o n k u r r e n z mit E m m e r m a n n , weil er keine Zunftabgaben zahlte und sich mit einem anderen ebenfalls zunftfreien Meister, 969 Ebd., Iff. F r i e d r i c h B a l t r u s c h z u s a m m e n g e t a n hatte, u m die L e d e r s t u c k e gunstiger 970 herstellen zu к б п п е п . U m das Geheimnis des Lederlacks zu wahren und sich vor der Konkurrenz besser zu schutzen, erwarb E m m e r m a n n beim D M V T ein funfjahriges Patent bzw. das Privileg fur 1000 Assignatenrubel, funf Jahre lang exklusiv Lederstucke mit j e n e m Lackverfahren bearbeiten und verkaufen zu durfen. 1838 beschwerte er sich dann beim D M V T uber die Verletzung seiner Patentrechte durch die Lederer Gobel u n d Baltrusch. Z u der Zeit hatte E m m e r m a n n etwa 2.000 lackierte L e d e r s t u c k e , die er k a u m verkaufen konnte. E m m e r m a n n verarbeitete die Lederstucke nur weiter, die er fur teures Geld in der Fabrik kaufen muBte. Im Unterschied zu ihm gerbten Gobel und Baltrusch die Leder selbst, w a s ihre P r o d u k t e billiger m a c h t e . N a c h einer U n t e r s u c h u n g verbot Finanzminister Kankrin den nichtzunftigen M e i s t e r n G o b e l u n d B a l t r u s c h die lackierten Lederstucke herzustellen, da sie nicht Mitglied in der Lackiererzunft w a r e n . Erst 1842 konnte Emmermann seine Privilegien auch rechtlich durchsetzen, ein Jahr vor A b l a u f seines P a t e n t r e c h t e s . A u f besonders starke Schwierigkeiten stieBen die hauptstadtischen Uhrmacher, die u m die Mitte des 19. Jahrhunderts fast vollstandig v o n auslandischen Lieferanten a b h i n g e n . T a s c h e n u h r e n w u r d e n z. B . ausschlieBlich aus d e m A u s l a n d e i n g e f u h r t , W a n d u h r e n h i n g e g e n als E i n z e l t e i l e , d i e v o n d e n Uhrmachern z u s a m m e n g e b a u t werden muBten. Dies lag an der unterschiedlichen Verzollung von fertigen Uhren und Uhrwerken bzw. Einzelteilen fur die Uhren: fur fertige Uhren w u r d e n 2,6 Silberrubel pro Pfund und fur Einzelteile bzw. Uhrwerke nur acht Silberkopeken pro Pfund berechnet. Das ergab fur komplette Wanduhren, die z w i s c h e n drei und funf Pfund wogen, einen Zoll zwischen acht und 13 Silberrubel, eine vergleichbare Uhr in Einzelteilen w u r d e mit etwa 30 bis 40 Silberkopeken v e r z o l l t . Die hauptstadtischen Uhrmacher waren nicht imstande, komplette Uhren so billig herzustellen und so beschrankten sie ihre Tatigkeit auf die Reparatur von alten Uhren oder bauten sie aus fertigen Teilen zusammen. Dadurch konnten die 971 972 973 970 Prosenie v DMVT ot sapoinogoraasteraGejnricha Emmermana ot 1 maja 1837, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 939: Po pros'be sapoznogo cecha mastera Emmermana о vydace privilegii na sposob prigotovlenija lakirovannych koi (1837-1842), hier 1. 1. 971 Predpisanie s. peterburgskomu oberpolicmejsteru ot direktora DMVT Jakova Aleksandrovica Druzinina ot 30.1.1838; Dokladnaja zapiska ot 24.3.1838; OtnoSenie к Ja. A. Druzininu (o.A.) ot 29.6.1838, in: Ebd., 11. 30, 53 und 55. 972 973 Ebd., 1. 134,136. Dokladnaja zapiska ot starost russkogo i inostrannogo Casovych cechov K. Siracha i J. Winterhaltera (sentjabr' 1850), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1438: Po otnoseniju departamenta vneSnej torgovli ob opredelenii poSliny na vnutrennie pribory 6asov (1850), hier 1. 5f. Uhrmacherlehrlinge und -gesellen nicht in vollem Umfang das U h r e n h a n d w e r k erlernen. Eine ahnliche E n t w i c k l u n g war auch in Westeuropa festzustellen. Mit A u s n a h m e einiger Stadte in der Schweiz, Frankreich und im Schwarzwald wurden auch dort die Uhren in Fabriken hergestellt. N u r bei wenigen Uhrmachern in St. Petersburg wie z. B . bei Tolstoj und N o s o v wurden noch teuere goldene Taschenuhren fur 2 0 0 bis 1.000 Silberrubel pro Stuck komplett hergestellt . Allerdings gingen die M e i n u n g e n der Uhrmacher bei einer Befragung zur H o h e der Verzollung von eingefuhrten Uhrwerken weit auseinander. Sieben Uhrmacher, darunter sechs russische und ein auslandischer, sprachen sich fur eine E r h o h u n g der Z o l l g e b t i h r e n a u s , u m das e i g e n e H a n d w e r k zu s c h u t z e n . Zifferblatter, Uhrzeiger und insbesondere Springfedern sollten aber a u s g e n o m m e n werden, da sie zu jener Zeit in RuBland noch nicht hergestellt wurden. Z e h n U h r m a c h e r , darunter sechs auslandische u n d vier russische, pladierten ftir eine niedrige Verzollung, da sie der M e i n u n g waren, daB die Kapazitat des U h r e n h a n d w e r k s in RuBland nicht ausreichte, u m die Nachfrage zu stillen. Sie k o n n t e n sich mit Hilfe d e s A u B e n h a n d e l s d e p a r t e m e n t s a u c h durchsetzen, so daB die niedrige Zollgebtihr beibehalten w u r d e . A n diesen oben aufgefuhrten Beispielen wird deutlich, in welch h o h e m MaBe das St. Petersburger H a n d w e r k v o m westeuropaischen Markt abhing. Aber auch z w i s c h e n d e n Z u n f t h a n d w e r k e r n g a b es m a n c h m a l e i n e n u n e r b i t t l i c h e n Wettbewerb. So schrieben die Teigwarenmacher d e m Innenminister 1850: 974 975 „ W e n n die Backer, die auch ohnehin zu den Wohlhabendsten gehoren, das Recht b e k o m m e n , Teigwaren (makarony) herzustellen, werden wir nicht mehr fahig sein, mit ihnen konkurrieren zu k o n n e n und gehen infolge dieses Wettbewerbs z u g r u n d e " . 976 U m die Mitte des 19. Jahrhunderts war der St. Petersburger M a r k t bereits so gesattigt, daB es k a u m noch Freiraum fur sich neu niederlassende Meister gab. D i e in Z u s a m m e n h a n g m i t d e m v e r s t a r k t e n W e t t b e w e r b s c h w i e r i g e wirtschaftliche L a g e veranlaflte viele Handwerker aus St. Petersburg ins Innere RuBlands umzusiedeln. A m 2 0 . Juli 1844 b a t e n 50 deutsche Meister der russischen Zunfte bei Innenminister L.A. Perovskij u m Erlaubnis, aus St. Petersburg nach K a z a n oder in andere russische Stadte ins Innere RuBlands auswandern zu durfen. Der G r u n d fur diese Fluktuation war die V e r m e h r u n g der Handwerkeranzahl in der Hauptstadt. Dadurch sanken die Warenpreise und es 974 Otnosenie ministerstva finansov к moskovskomu otdeleniju manufakturnogo soveta ot 27 fevralja 1851 g., in: Ebd., 1. 16ff. 975 976 Ebd., 1. 18f. ProSenie к ministru vnutrennich del Perovskomu ot masterov makaronnogo cecha ot 28 apreljal850,1. If. gab nicht genug Arbeit. D e n Kindern der Handwerker fehlte die Perspektive, eine Lehrstelle bei einem Meister zu finden, da Gesellen u m diese Zeit im UberfluB vorhanden waren. Kazan war als groBte Stadtunter den ubrigen Gouvernementsstadten, mit seiner evangelisch-lutherischen Kirche, der Universitat und einer Vielzahl von Lehranstalten ein attraktives Ziel fur die Umsiedler. In K a z a n mangelte es zudem an qualifizierten H a n d w e r k e r n und die L e b e n s h a l t u n g s k o s t e n w a r e n g e r i n g e r als in St. P e t e r s b u r g . Als groBter Handelszentrum a m groBen Wolgaer H a n d w e l s w e g zwischen Sibirien und dem Europaischen RuBland gelegen, war die Stadt mit dem groB mit d e m Orenburger Gebiet, Astrachan , Saratov, Simbirsk sowie mit den nordrussischen Stadten wie P e r m und Vjatka verbunden. Durch die Umsiedlung dieser Handwerker nach Kazan ergaben sich Vorteile fur die St. Petersburger Handwerker, denn die Nachfrage wurde dadurch groBer. AuBerdem stellte dies eine Erleichterung fur die Handwerkergesellschaft dar, von der „lastigen Aufgabe befreit zu sein, die Steuern v o n den armeren Meistern e i n z u t r e i b e n . 4 4 44 977 Einerseits spiegelt das Gesuch der deutschen Meister die verschlechterte Lage des H a n d w e r k s u m die Mitte des 19. Jahrhunderts wider. Probleme verursachte die erhohte Konkurrenz durch die zunftfreien Meister und vor allem durch die immer groBere A n z a h l der Staatsbetriebe, die ihre W a r e n zu niedrigeren Preisen verkaufen konnten, weil sie nicht g e z w u n g e n waren, in den Verkaufspreis Mietskosten, Materialkosten und Steuerabgaben in den Endpreis einzukalkulieren und billigere Arbeitskrafte hatten. So beschwerten sich die Schneider, Dreher, W u r s t m a c h e r und andere Handwerker wegen einer neu eingefuhrten Steuer, die in F o r m eines bestimmten Prozentsatzes von der Miete abgezogen wurde. Andererseits b e w e i s e n die stark a n w a c h s e n d e n H a n d w e r k e r z a h l e n sowohl innerhalb als auch auBerhalb der Zunfte, daB das H a n d w e r k sich auch weiterhin b e h a u p t e n k o n n t e . G e r a d e w e g e n s e i n e s h o h e n N i v e a u s k o n n t e es d e n K u n d e n s t a m m fur sich gewinnen bzw. seinen Absatzmarkt sichern. D e n n o c h vollzog sich infolge der wirtschaftlichen Umstrukturierungen auch im H a n d w e r k ein Wandel. N a c h d e m Gesetz v o m 14. N o v e m b e r 1824 (Gildenreform) wurde den K a u f l e u t e n aller drei G i l d e n erlaubt, die Z u n f t h a n d w e r k e o h n e eine B e g r e n z u n g der Arbeitoehmerzahl zu bertreiben. Seit dieser Zeit verbreitete sich in der Hauptstadt das Verlagshandwerk in besonders h o h e m MaBe. Kaufleute richteten neben ihren Laden groBe Werkstatten ein und erhielten Auftrage, w o d u r c h sie den Zunftmeistem die Arbeit w e g n a h m e n . Die Kaufleute vergaben die Auftrage anderen Handwerkern und Zunftmeistem auBerhalb ihrer Werkstatt. 977 ProSenie masterov iz nemcev S. Peterburgskogo russkogo cecha к ministru vnutrennich del L. A. Perovskomu ot 20.07.1844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 903: Po proseniju masterov iz nemcev S. Peterburgskogo remeslennogo cecha о dozvolenii im pereselit'sja v Kazan' i drugie goroda (20.07.1844 - 20.09.1850), hier 1. 3ff. 978 Sie bedeuteten fur die H a n d w e r k e r eine „vernichtende K o n k u r r e n z " und beraubten sie ihrer E x i s t e n z g r u n d l a g e . Diese K o n k u r r e n z z w a n g auch die Zunftmeister, fremde Waren zu verkaufen und zum V e r l a g s h a n d w e r k uberzugehen, um im Wettbewerb tiberleben zu konnen. Dabei fiel bei den Meistern der Anteil v o n Eigenherstellung und Kommissionswaren entsprechend ihrer wirtschaftlichen Lage und der GroBe ihrer Werkstatte unterschiedlich aus. Z u r Beschrankung des Wettbewerbs zwischen den Zunfthandwerkern wurden in d e n 1 8 5 0 e r J a h r e n fur d i e w i c h t i g s t e n Z u n f t e S o n d e r s t a t u t e n b e i m W i r t s c h a f t s d e p a r t e m e n t d e s Innenministeriums ausgearbeitet, in d e n e n die Handwerksarten genauestens abgegrenzt wurden, „um j e d e r Gewerbegruppe die alleinige Ausiibung ihres Spezialgewerbes garantieren zu k o n n e n " . Ein anderes Mittel, die Konkurrenz zu dampfen, war der Versuch der Handwerksverwaltung, die Einfuhrung von technischen Neuerungen zu unterbinden. Der St. Petersburger Kaufmann Ivan Pallizen und sein Partner der Backermeister Eduard Donnerberg versuchten z. B . 1850, eine zweite Backerei in St. Petersburg mit einem neuen modernisierten Ofen zu eroffhen. Pallizen lieB zu diesem Z w e c k seine Erfindung beim Wirtschaftsdepartement patentieren und erhielt ein M o n o p o l fur funf Jahre. Die Handwerksverwaltung verbot D o n n e n b e r g aufgrund neuer Vorschriften der deutschen und russischen Backerzunft (obrjady), die 1850 verabschiedet wurden, eine zweite Backerei aufzumachen, um das Gleichgewicht im Backergewerbe nicht noch mehr zu g e f a h r d e n . 979 980 A u c h auflerhalb der Zunft g a b es fur die Zunftmeister viele Konkurrenten so z. B . im Farberhandwerk. 1873 baten die Meister der Farberzunft Gesselgrep, Remizov und andere, den zunftfreien Handwerkern und Kleinburgern die Einrichtung von den Auftragsannahmestellen in der Innenstadt zu verbieten. Z u dieser Zeit wurden noch alle Farbereien, laut Gesetz uber die zugelassenen Standorte fur Industriebetriebe der Hauptstadt v o m 22. September 1833 und den Verordnungen d e s G e n e r a l g o u v e r n e u r s , v o m S t a d t z e n t r u m in die B e z i r k e a m Stadtrand v e r l a g e r t . U m den K u n d e n s t a m m nicht zu verlieren, waren die Meister dazu g e z w u n g e n , in der Innenstadt Annahmestellen einzurichten, u m die Auftrage der K u n d e n e n t g e g e n n e h m e n zu konnen. Dadurch verlor der Meister z u n e h m e n d 981 978 Fesenko, NaSi remeslenniki, S. 20. 979 Ennen, Zunfte, S.31. 980 Prosenie Pallizena m.v.d. Perovskomu ot 14 ijulja 1850 g.; Prosenie Eduarda Donnerberga ot 19 maja 1850 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 892: О razresenii peterburgskomu 3 giPdii kupcu Ivanu Pallizenu ustraivat' v gorodach Rossii pekarni dlja pecenija chlebov v osobo ustroennych privilegirovannych peeach, hier 1. 3f., 5. 981 Donesenie voennogo general-gubernatora ministru vnutrennich del ot 29 oktjabrja 1843 g, in:f. 1287, op. 37, d. 43 (6.10.41-3.6.45), hier 1. 27f. seine Stellung als leitender F a c h m a n n bzw. mitwirkender Produktionsteilnehmer im H e r s t e l l u n g s p r o z e B u n d w a r u b e r w i e g e n d im V e r t r i e b t a t i g b z w . m i t Buroarbeit beschaftigt . Betroffen w a r e n hauptsachlich Kleinburger, die das G e w e r b e in kleinerem U m f a n g betreiben durften u n d dafur G e w e r b e s c h e i n e v o n der S t a d t d u m a bekamen. Sie erofmeten Annahmestellen, in die nur Auftrage fur die Farbung e i n g i n g e n und vermittelten sie an die H a n d w e r k s s t a t t e n weiter. Die A u s w i r k u n g e n w a r e n weniger negativ gewesen, w e n n diese Kleinunternehmer sich an die Zunftmeister gewandt hatten. In den meisten Fallen wurden die Auftrage direkt an die Gesellen - vorbei am Zunftmeister - weitergegeben. W e n n uberhaupt, erfuhr der Meister nur zufallig von den Bestellungen. Diese Art der Auftragsverteilung w a r fur die Meister ausgesprochen schadlich, weil sie durch Schwarzarbeit ihrer Gesellen bzw. ihrer Lohnarbeiter erhebliche Materialverluste erlitten. In Anbetracht dessen, daB die Annahmestellen meistens von armeren Stadtbewohnern gefuhrt wurden, die keine Mittel hatten, eigene Werkstatten zu griinden, lieB das Innenministerium sie gewahren, u m sie nicht in vollige A r m u t zu sturzen u n d u m das M o n o p o l einiger reicher Handwerker zu unterbinden. Die zunftigen und auBerhalb der Zunft stehenden H a n d w e r k e r konkurrierten miteinander, erganzten sich aber auch gegenseitig. Die Zunfthandwerker in St. Petersburg hatten einen wesentlich hoheren Qualifikationsgrad, so daB es zu einer Arbeitsteilung k a m , die sich auch in einer Aufteilung nach Handwerkszweigen b e m e r k b a r m a c h t e . D a s B a u h a n d w e r k w u r d e fast n u r v o n b a u e r l i c h e n Handwerkern ausgeubt, das mechanische H a n d w e r k dagegen fast ausschlieBlich von stadtischen Handwerkern. 982 9.2.2 Nichtziinftige H a n d w e r k e r E s g a b in der Hauptstadt eine Mehrzahl von Handwerkern, die ihr Gewerbe auBerhalb der Zunfte betrieben. V o r allem bauerliche Handwerker, aber auch die eigentlichen Stadtbtirger, die Kleinburger und Kaufleute wurden zu Konkurrenten, aber auch u m Reservoir an Arbeitskraften fur das Zunfthandwerk. D e r ErlaB v o m 8. A u g u s t 1762., nach dem die Bauern einjahrige Passe erhielten, die ihnen erlaubten, in den Stadten zu arbeiten, scheint nicht der erste Versuch der Arbeitgeber zu sein, bauerliche Saisonarbeit zu regeln. Schon nach dem ErlaB von 1704 erhielten die in M o s k a u arbeitenden bauerlichen Saisonarbeiter bzw. 982 Ot upravljajuScego ministerstvom vnutrennich del stats-sekretarja knjazja Lobanova к upravljajuScemu ministerstvom finansov ot 11 ijulja 1873 goda, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1527: Po chodatajstvu S. Peterburgskich masterov krasiPnogo cecha Gesselrepa, Remizova i drugich о nedozvolenii licam, neimejuSCim sobstvennych krasil'nych zavedenij, soderzat' priemnye dlja okraski materij, bez vzjatija kupeceskich dokumentov i bez zapiski, po vyderzanii nadlezaScego ekzamena, v krasiPnyj cech v zdesnej stolice, 1. 6f. H a n d w e r k e r Bescheinigungen, die ihnen einen einjahrigen Aufenthalt in der Stadt e r m o g l i c h t e n . Im 19. Jahrhundert wurden die Erwerbsmoglichkeiten fur die Bauern in den Stadten weiter verbessert. Mit d e m Gesetz v o m 2 2 . August 1826 w u r d e n neben den einjahrigen auch halbjahrige Passe sowie dreimonatige Bescheinigungen eingefuhrt, die den Bauern erlaubten, fur kurze Zeiten nach St. Petersburg zu k o m m e n . Im Juli 1831 gab es dann eine zusatzliche Regelung uber eine Verlangerung der Passe, wodurch fur die Bauern eine Moglichkeit gegeben w a r , in St. P e t e r s b u r g auch o h n e saisonale U n t e r b r e c h u n g e n arbeiten zu konnen . In welchen Grenzen betrieb der bauerliche H a n d w e r k e r sein Gewerbe in der Stadt? Die Antwort auf diese Frage gibt der Kommissionsvorsitzende Stackelberg am Vorabend der Bauernbefreiung 1861. Seinen Worten nach durfte m a n in der Stadt solange zunftfrei arbeiten, bis das G e w e r b e eine betrachtliche GroBe erreicht hatte. U b e r die genaue GroBe der Werkstatt wurde allerdings nichts gesagt. D a s s o g e n a n n t e H e i m g e w e r b e (domasnee zavedenie) w a r fur die Kleinburger und Adligen ohne einen Zunfteintritt erlaubt. D a s auBerhalb der Stadt liegende H a n d w e r k hatte uberhaupt keine Begrenzungen und war frei. In der Stadt selbst war der EinfluB der Zunfte begrenzt, weshalb j e d e r ohne Gesellen und Lehrlinge fur sein „taglich Brot" ein Gewerbe betreiben durfte. In kleinerem Umfang durften also alle das H a n d w e r k b e t r e i b e n . Die Zunfte sahen dieses Problem anders: mit d e m ErlaB des ersten Departements des Stadtmagistrats v o m 31.08.1843 erreichte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g der russischen Zunfte, daB die leibeigenen Bauern ohne schriftliche Erlaubnis des Gutsherren zur G r u n d u n g eines Betriebes nicht in die Zunfte aufgenommen werden durften, was im Grunde g e n o m m e n eine bloBe Formalitat war, die Bauern aber in ihrer Gewerbetatigkeit erheblich b e s c h r a n k t e . Dieser Fall laBt sich eindeutig als ein Versuch erklaren, die bauerliche Konkurrenz einzuschranken. Die Zunfte versuchten immer wieder Druck auf den hauptstadtischen Arbeitsmarkt auszuuben, u m ihre wirtschaftliche Lage zu sichern und erhohte K o n k u r r e n z durch zunftfreie Meister und vor allem durch eine immer groBere Anzahl v o n Staatsbetrieben einzudammen. 983 984 985 986 Die GroBindustrie in St. Petersburg warb Arbeitskrafte nicht nur beim H a n d w e r k sondern auch in der Landwirtschaft. Im 19. Jahrhundert machten die Bauern 9 0 % 983 Vgl. Unterkapitel 2.1 und Kitanina, Rabo&e, S. 16. 984 Ebd., S. 116. 985 Trudy komissii, cast 1, S. 177. 986 4 Zapiska statskogo sovetnika Smirnova ot 23 ijunja 1844 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100, 1.46. 987 der Belegschaft in der St. Petersburger Industrie a u s . Eine schwach entwickelte Landwirtschaft im St. Petersburger G o u v e r n e m e n t forderte die auswartige Saisonarbeit der L a n d b e v o l k e r u n g in e i n e m b e s o n d e r e n MaBe. N a c h den B e r e c h n u n g e n v o n L. V. V y s k o e k o v w a r 1/6 der G e s a m t b e v o l k e r u n g des G o u v e r n e m e n t s saisonal in St. Petersburg beschaftigt, ein Prozentsatz, der in anderen Bezirken bei etwa 1 0 % l a g . Charakteristisch war aber auch, daB die Saisonarbeiter des G o u v e r n e m e n t s nicht im Gewerbe, wie es in den zentralen Regionen RuBlands der Fall war, sondern uberwiegend im Handels-, Transportund Dienstleistungsbereich tatig waren. Die hochentwickelte hauptstadtische Industrie und das H a n d w e r k hatten einen h e m m e n d e n EinfluB auf die Entfaltung der gewerblichen Tatigkeit der Landbevolkerung in den naheliegenden Regionen von St. Petersburg: D a s textil- und metallverarbeitende Gewerbe blieb meistens in seinem „Urzustand" konserviert, d.h. unterentwickelt und bedeutete so fur das St. Petersburger H a n d w e r k keine ernsthafte Konkurrenz. D a s L a n d h a n d w e r k erfullte seine Rolle als Rohstof flieferant bzw. Zulieferer v o n halbfertigen Waren b e s o n d e r s fur d i e S c h u h m a c h e r - , S c h n e i d e r - u n d S c h r e i n e r - u n d metallverarbeitende B e t r i e b e . 988 989 M i t d e m E i s e n b a h n a n s c h l u B v o n St. P e t e r s b u r g seit der M i t t e d e s 19. Jahrhunderts w u c h s fur Arbeiter und Handwerker die Attraktivitat der Stadt noch in groBerem MaBe und schloB die umliegenden Archangelsker, Olonecker, Vologoder, Novgoroder, Jaroslavler und Kostromaer Gouvernements im Radius von rund 1000 k m ein. Dabei belief sich der Anteil der bauerlichen Saisonarbeiter aus d e m russischen N o r d e n auf 4 6 % . Im Sommer waren im StraBenbau und in der Bauindustrie unter anderem als M a u r e r , Ofensetzer, M a l e r und Z i m m e r e r beschaftigt, die in d e n A r t e l s o r g a n i s i e r t w u r d e n . I m W i n t e r w a r e n es uberwiegend die Handwerker, die als ungelernte Arbeiter bzw. Gesellen in den 990 Werkstatten Arbeit f a n d e n . In St. Petersburg waren 1881 39.620 Saisonarbeiter 991 aus den umliegenden Gouvernements beschaftigt . Es sei angemerkt, daB w e g e n der 987 Spezifik der bauerlichen Arbeiter oder Handwerker die Kitanina, Rabo&e, S. 13. 988 L.V. Vyskockov, Vlijanie Peterburga na chozjajstvo i byt gosudarstvennych krest'jan Peterburgskoj gubernii v pervoj polovine 19 veka, in: N.V. Juchneva (Hrsg.), Staryj Peterburg: istoriko-etnograficeskie issledovanija. Leningrad 1982, S. 135. 989 Vgl. K. N. Serbina, Krest'janskaja zelezodelatePnaja promySlennost' Severo-Zapada Rossii XVI-pervoj poloviny XIX v, Leningrad 1971, S. 63, 87, 94, 100f.; Kitanina, Rabodie, S. 86f. 990 Vgl. Kitanina, Rabodie, S. 80ff.; L. V. Vyskockov, Ob etnideskom sostave sePskogo naselenija Severo-Zapada Rossii (vtoraja polovina XVIII-XDC v.). In: N. V. Juchneva (Hrsg.), Peterburg i gubernija. Istoriko-etnografideskie issledovanija. Leningrad 1989, S. 113-131. Arbeitskraftefluktuation sehr hoch war, was die wirtschaftliche Lage der Meister in m a n c h e n Perioden betrachtlich destabilisierte . 992 Die Ursachen fur den Fortgang der Bauern waren unter anderem der M a n g e l an Boden, diverse MiBernten und das Fehlen v o n Zugvieh. Die Arbeit in der Stadt bot also vor allem materielle Vorteile. Besonders hoch wurde die Saisonarbeit in St. Petersburg bezahlt, w a s sich in den h o h e r e n G e l d z i n s a b g a b e n an den Grundherren der bauerlichen H a n d w e r k e r niederschlug. D a s trug dazu bei, daB z. B . im Jahre 1861 der Geldzins der Bauern an den Grundherren die Steuerabgaben an den Staat in St. Petersburg u m das drei- bis vierfache und im St. Petersburger G o u v e r n e m e n t mit 11,31 gegen 1,87 Rubel u m das sechsfache u b e r s t i e g . Zur E r h o h u n g der Mobilitat der Bauern, die die kurzfristigen Stadtaufenthalte erst ermoglichte, trug die Bauernbefreiung 1861 bei. Schon am E n d e der 1850er Jahre g a b es in St. Petersburg rund 2 5 0 . 0 0 0 Beschaftigte im G e w e r b e u n d im Dienstleistungsbereich, von denen rund 150.000 das ganze Jahr und etwa 100.000 saisonal tatig waren. D a v o n waren rund 150.000 im G e w e r b e , in Fabriken, W e r k e n und Werkstatten beschaftigt . In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts diente der Mariinskaja-Platz an der Blauen Briicke a m Mojka-FluB als Sammelplatz fur die bauerlichen Handwerker. Hier wurden die Artels der Maurer, Stuckarbeiter und Ofensetzer aus Jaroslavl', Sagearbeiter aus Vologda, Kupferschmiede und Messingarbeiter aus Olonec, Schreiner, Zimmerleute und Maler aus Galic, Lederer aus C u c h l o m a und andere H a n d w e r k e r von Auftragnehmern (podrjadtik) vor allem aus der B a u b r a n c h e unter Vertrag g e n o m m e n . In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts befand sich der Sammelplatz am Obzornyj r j a d auf dem Nikol'skij-Markt: 993 994 995 996 „Der Handel wird hier iiberwiegend im S o m m e r getrieben, w e n n aus d e m I n n e r e n R u B l a n d s hier d a s A r b e i t s v o l k zu Z e h n t a u s e n d e n 992 Vgl. Т. M. Kitanina, RoP krest'janstva v formirovanii promySlennych raboeich SanktPeterburga v period genezisa kapitalizma, in: Severo-Zapad v agramoj istorii Rossii. Kaliningrad 1994, S. 58; dies., Rabocee soslovie i pravitel'stvennaja politika v pervoj polovine ХГХ v., in: Mavrodinskie 6tenija. St. Petersburg 1994, S. 161. 993 N. M. Druzinin, Konflikt mezdu proizvoditePnymi silami i feodaPnymi otnosenijami nakanune reformy 1861 g., in: VI (1954) 7, S. 71, aus: Kitanina, Rabo£ie, S. 121. 994 I. D. KovaPfcenko, Ob osobennostjach raboty po najmu pomeS&C'ich krest'jan Rossii v pervoj polovine XEX veka, in: Genezis kapitalizma v promySlennosti i sel'skom chozjajstve. Moskau 1965, S. 396f., in: Kitanina, Rabodie , S. 120. 995 9 9 6 A. P. Basuckij, Panorama Sankt Peterburga, 6. 2. St. Petersburg 1834, S. 72. Wortlich ubersetzt „gefruBige Reihe". Der Platz, wo man billig essen konnte. Das Essen wurde in den groBen Kesseln zubereitet. Als Zutaten wurden Eingeweide und Reste aus Fleischern verwandt. hinstrumt: Maurer, Stuckarbeiter, Zimmerleute, Maler, Dachdecker und andere. Schon am Anfang des Fruhlings sind die Zuge der N i k o l a e v s k e r - E i s e n b a h n l i n i e mit Saisonarbeitern voll besetzt. Im Herbst bringen die Zuge dann die Saisonarbeiter zum halben Preis wieder aufs L a n d zuruck' . 9 9 7 E s ist zu bemerken, daB das gesetzlich zugelassene zunftfreie Handwerk, das parallel zu den Zunften bestand, am meisten fur „die Unterentwicklung des Zunftwesens", besonders in den kleineren Stadten, verantwortlich war. D e s w e g e n versuchten die Zunfte der bauerlichen Konkurrenz entgegenzutreten, indem sie ab den 1820er Jahren immer neue Gewerbearten in die Zunfte integrierten. 1874 waren in den acht Zunften der Hauptstadt 119 Gewerbearten vereinigt. Die B e t r i e b s a m k e i t d e r P e t e r s b u r g e r Z u n f t e t r u g d a z u b e i , daB sie v i e l e Gewerbetreibende wie z. B . Gartner oder Kellner unter sich vereinten, die mit d e m H a n d w e r k bzw. typischen Stadthandwerk w e n i g oder uberhaupt nichts zu tun hatten. Als einschlagiges Beispiel dafur kann das Korbflechterhandwerk dienen, das rein landlicher Herkunft war und mit der Zeit „verstadtert" wurde. Die Korbflechterei erreichte in der Hauptstadt eine betrachtliche GroBe, war in einer Zunft vertreten u n d fand groBe V e r b r e i t u n g als H e i m g e w e r b e in der U m g e b u n g v o n St. Petersburg. Der zentrale Ort fur den Korbhandel war der Heumarkt am SennajaPlatz, w o sich die groBen Korbflechtwerkstatten befanden, die vermutlich von den Zunftmeistem betrieben wurden. Eine solche Werkstatt stellte jahrlich bis zu 500.000 Korbe her, nach denen groBe Nachfrage bestand und mit denen im Jahr bis zu 100.000 Rubel des gesamtstadtischen Umsatzes erzielt wurde. Fur den GroBhandler kosteten z. B . 100 Gemusekorbchen nur 0,8 R u b e l . Des weiteren vereinigten die Zunfte Gewerbearten aus dem Dienstleistungsbereich und der Kunst wie z. B . die Kunstmaler, Wascher und Wascherinnen, Bodenbohner, Kellner und Gartner. 998 Trotzdem blieb eine betrachtliche Zahl der H a n d w e r k e r auBerhalb der Zunfte. Es ist z. B . das Tischler-Artel zu erwahnen, das in den 1850er Jahren v o n M e l ' n i k o v gegrundet wurde. M e P n i k o v stiftete der Artelskasse 1000 Silberrubel ein und die anderen Meister verschiedene Wertgegenstande. Die Anzahl der Artelsmitglieder, die von den drei Altesten geleitet wurden, war nicht begrenzt. Ihre Waren wurden im „Laden der russischen E r z e u g n i s s e " zum Verkauf a n g e b o t e n . Der schon 999 A. Bachtijarov, Obs^estevnno-fiziologi6eskie ocerki. St. Petersburg 1888, S. 205f. Ebd., S. 201. 1000 erwahnte O c h t a - B e z i r k stellte z. B . ein Gewerbegebiet der Stadt dar, in d e m fast ausschlieBlich holzverarbeitende Werkstatten angesiedelt waren: „Ochta ist eine groBe Werkstatt. Sie ist hauptstadtische Schreinerei, Drechslerei und H o l z s c h n i t z e r e i " . In Ochta wurden unter anderem teure Mobel, Spielzeuge, bemalte Ostereier und Holzschnitzereien hergestellt. 1820 g a b es dort 742 Handwerker, die auf den staatlichen Werften im Schiffsbau von Zeit zu Zeit beschaftigt wurden und in den Jahren 1811 bis 1825 74 Schiffe bauten. Z u m Vergleich waren allein in Ochta 1820 391 Schreiner und in der russischen Zunft der Hauptstadt 1825 352 Schreiner v o r h a n d e n . D e s weiteren g a b es in Ochta 2 0 7 Z i m m e r l e u t e , 7 7 H o l z v e r g o l d e r , 2 9 S c h i f f s b a u m e i s t e r fur d i e Scharenkreuzer, sieben Holzschnitzer, vier Schmiede, zwei Drechsler und j e einen Versilberer und S c h u h m a c h e r . Im Laufe der Zeit bauten viele der ansassigen H a n d w e r k e r Werkstatten auf, die, wie aus einer Berichterstattung der Polizei von 1845 hervorgeht, zwei Arten v o n Beschaftigten hatten: die einen stammten nicht aus Ochta und wurden kurzzeitig bzw. saisonal beschaftigt, die anderen waren aus Ochta selbst. E s handelte sich dabei meistens um kleinere Werkstatten, in denen ein bis zwei Facharbeiter beschaftigt wurden. Es gab etwa zehn Werkstatten groBeren Umfangs, die im Polizeibericht mit denen der freien Zunftmeister verglichen w u r d e n . Insgesamt w u r d e n u m die Mitte d e s 19. Jahrhunderts in den Ochtensker Werkstatten 180 H a n d w e r k e r und rund 100 Lehrlinge beschaftigt . Dabei stieg die Gesamtzahl der Ochtensker Meister von 742 im Jahre 1820 auf 945 im Jahre 1846, wobei das W a c h s t u m ausschlieBlich bei den spezialisierten H a n d w e r k e n zu konstatieren ist. So wurden jetzt 522 statt 391 Schreiner, 2 6 7 statt 77 Holzvergolder und 149 statt sieben Holzschnitzer g e z a h l t , ein H i n w e i s a u f die E x p a n s i o n d e s K u n s t m o b e l m a r k t e s in der Hauptstadt. Die Anzahl der Zimmerleute dagegen reduzierte sich auf n u l l . M a n c h e Familien bauten im Laufe der Generationen Unternehmen auf, um deren Erfolg sie ein M e i s t e r d e r S c h r e i n e r z u n f t b e n e i d e n k o n n t e . Ein s o l c h e s Unternehmen erschuf die H a n d w e r k e r d y n a s t i e Tarasov im Laufe von zwei Jahrhunderten. Tarasov arbeitete sich bis z u m Hoflieferanten hoch. Besonders 1001 1002 1003 1004 1005 1000 Zur Geschichte von Ochta s.: B. Mansurov, Ochtenskie Admiraltejskie poselenija. Istoriceskoe opisanie, 6. 1-3, St. Petersburg 1856. 1001 Kustarnye promysly v Ozernoj oblasti (Kustamyj trud. 1912, Nr. 18, S. 2, 15-30. September), aus: V. N. Tamovskij, Melkaja promySlennost' Rossii v konce 19 - nacale 20 v. Moskau 1995, S. 39; Mansurov, Ochtenskie, б. 1, S. 96,153f. 1002 S. RGIA, f. 18, op. 2, d. 435,1. 1 ff.: Das Verzeichnis der Moskauer Handwerksverwaltung. 1003 Mansurov, Ochtenskie, б. 1, S. 154, 167, 170. ,004 Ebd., a. 2, S. 185ff. eintraglich waren die Auftrage nach dem B r a n d des Winterpalastes im Jahre 1837, als S e m e n Tarasov mit der Wiederherstellung des d u r c h das F e u e r v e r n i c h t e t e n k o s t b a r e n P a r k e t t s d e s P a l a s t e s b e a u f t r a g t w u r d e . F u r die Kunstfertigkeit v o n Tarasov, der spater zum Hofparkettmeister e m a n n t wurde, spricht die Tatsache, daB er das Parkett analog zu verbliebenen Fragmenten restaurierte. In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts stiegen die Tarasovs zu den groBten I m m o b i l i e n i n h a b e r n der Hauptstadt auf und genossen groBtes offentliches Ansehen. Die spateren Generationen wendeten sich v o m H a n d w e r k ab. Sie wurden geadelt und erhielten eine Hochschulausbildung an der St. Petersburger Universitat oder an den technischen Hochschulen und sollten spater zu den reichsten U n t e m e h m e m Petersburgs gehoren. D a s war ein typischer W e g einer erfolgreichen Familie, seien es Kaufleute oder H a n d w e r k e r gewesen. Eine b e s o n d e r s g l a n z v o l l e Karriere m a c h t e n die Gebriider Nikolaj u n d Sergej Alekseevid Tarasov. Nikolaj, ausgebildeter Bauingenieur, w u r d e in den 90er Jahren z u m Vorsitzenden der St. Petersburger Kreditgesellschaft mit einem Jahresgehalt v o n 60.000 Rubeln gewahlt. Sein Bruder wurde mehrere Male zum Stellvertreter des Hauptstadtoberhaupts gewahlt und war Vorstandsmitglied einer Bank . 1006 N e b e n Semen Tarasov waren in Ochta weitere Unternehmer wie Ivan Baev und Fedor Alekseev besonders erfolgreich. Sie fuhrten groBe Auftragsarbeiten im Schreinerhandwerk durch. E s gab eine klare Differenzierung nach sozialen und beruflichen Gesichtspunkten: die Ochtensker Gewerbetreibenden bildeten vier verschiedene Gruppen. Eine erste kleine Gruppe bildeten die oben erwahnten Meister, die groBe Auftragsarbeiten v o m Staat, d e m H o f oder von Privatkunden erhielten und diese mit Hilfe der anderen Ochtensker Schreiner durchfuhrten. Es ist anzunehmen, daB sie in Form einer Artel organisiert waren und daB die Meister anfangs im ArbeitsprozeB mitwirkten, sich mit der Zeit aber mehr und mehr organisatorischen Fragen widmeten und so allmahlich Aufgaben eines m o d e r n e n U n t e r n e h m e r s i i b e m a h m e n . Z u r z w e i t e n G r u p p e , die von einer Mittelschicht gebildet wurde, zahlten die Meister, die Werkstatten besaBen. V o n 965 H a n d w e r k e r n betrieben in Ochta u m die Mitte des 19. Jahrhunderts 177 eine Werkstatt: es gab 102 Schreinereien, 29 Holzschnitzereien, drei Drechslereien, 27 Holzvergolderwerkstatten, sieben Bootsbauer und je eine Schmiede, Malerwerkstatte und ein Versilbereratelier. Die iibrigen 788 H a n d w e r k e r bildeten die dritte Gruppe u n d verdingten sich in den oben erwahnten Werkstatten. Diese H a n d w e r k e r k o n n e n als Lohnarbeiter bezeichnet werden, da sie keine eigene Werkstatt griindeten, sondern sich mit einem gelegentlichen Verdienst abfinden muBten. Zuletzt g a b es noch eine vierte Gruppe, die sich von der dritten fast nur durch die Herkunft unterschied: die Handwerker bzw. Lohnarbeiter und Lehrlinge aus der Hauptstadt oder d e m St. Petersburger Gouvernement, die vertraglich g e b u n d e n arbeiteten. Selbst die Ochtensker Meister bezeichneten die Arbeitnehmer, die in ihren Werkstatten bzw. Heimwerken beschaftigt waren, als Lohnarbeiter (podensdiki) und nicht mehr als Gesellen, ein erster Hinweis darauf, daB sich Handwerksbetriebe immer m e h r zu U n t e r n e h m e n e n t w i c k e l t e n . V o n den 177 H a n d w e r k e r n mit eigenen Werkstatten arbeiteten 77 alleine oder mit Hilfe der Familienangehorigen. Die ubrigen 100 Meister stellten 4 9 4 H a n d w e r k e r ein, die im G r u n d e g e n o m m e n Lohnarbeiter waren, davon 150 z u g e w a n d e r t e und 344 aus Ochta. 9 4 Meister stellten einen bis acht, die ubrigen sechs 10 bis 50 Arbeitnehmer e i n . Interessant ist, daB in Ochta auch 17 Zunftmeister ansassig waren. Unter ihnen waren Vertreter verschiedener Stande, z. B . Evsej Nagibin, K a u f m a n n d r i t t e r G i l d e u n d M e i s t e r im G o l d s c h l a g e r - , S c h r e i n e r - u n d Holzschnitzerhandwerk, drei auslandische Backer, zwei Kleinburger, die als Schreiner und Haarverarbeiter tatig waren, neun Staatsbauern, zwei okonomische und zwei leibeigene B a u e r n . O c h t a h a t t e a l s o , eine r e c h t h e t e r o g e n e Gewerbestruktur, da es hier sowohl die Werkstatten der zunftigen und zunftfreien Meister, als auch die der H e i m w e r k e r und die der Artels gab. A m Anfang des 20. Jahrhunderts w a r die Differenzierung innerhalb des Arbeitsund Produktionsprozesses in O c h t a weit vorangeschritten. D e m Vertrieb nach kann m a n von einem Verlagshandwerk sprechen, da die Mehrheit der Meister die Auftrage von den stadtischen Meistern erhielt und fur sie Produkte anfertigte. Die Qualitat etwa der Schreinerarbeiten genugte hochsten Anspruchen. Es war j e d e m St. Petersburger bekannt, daB die beruhmtesten deutschen Mobelmeister der Stadt Tur und G a m b s in ihren Laden auch die Mobel aus Ochta verkauften. D a s w a r ein gewinntrachtiges Geschaft, denn die fur funf bis sechs Rubel eingekauften M o b e l w u r d e n fur 25 Rubel w e i t e r v e r k a u f t . A m Anfang des 2 0 . Jahrhunderts w a r es nicht nur fur St. Petersburg, sondern auch fur andere Stadte wie N o v g o r o d , Pleskau, Rybinsk, Rjazan' und andere typisch, daB auBerhalb der Stadtgrenzen eine Vielzahl von H a n d w e r k e r ansassig waren, die als L a n d h a n d w e r k e r die Zunftabgaben nicht zu zahlen brauchten, ihre W a r e n aber ausschlieBlich in der Stadt verkauften. Dies erinnert sehr an die H a n d w e r k e r s l o b o d e n u m die groBen russischen Stadte im 15. bis 17. Jahrhundert. D a s Gesetz zielte genau auf diese H a n d w e r k e r g r u p p e ab, als im Artikel 493 des 1007 1008 1 0 0 9 1 0 1 0 1011 1007 Vgl., Otnosenija ot peterburgskogo voennogo general-gubernatora i ot upravljajuScego morskim ministerstvom ot 31 oktjabrja 1845 i ot 22 ijunja 1847, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 381: Mogut li Ochtenskie poseljane (...). 1008 Mansurov, Ochtenskie, c. 3, S. 90f. 1009 Ebd., S. 106ff. 1010 Т. E. Veretenko, К voprosu о dejatePnosti masterskoj Genricha Gambsa (po dokumentam CGIA). In: Problemy razvitija russkogo iskusstva. Vyp. XVII, tematiceskij sbornik naucnych trudov, hrsg. v. I. A. Bartenev. L. 1984, S. 68-75. Handwerksstatutes v o n 1842 e m e u t wiederholt wurde, daB die Handwerker nicht auBerhalb der Stadtgrenzen arbeiten durften, „damit sie nicht aus der Stadt in die Vororte ausweichen und sich dadurch d e m EinfluB bzw. der Kontrolle der Handwerkszunfte entziehen und keine Zunft- bzw. Staatsabgaben z a h l e n " . Die zunftfreien H a n d w e r k e r waren besonders im Hausbau zahlreich vertreten: die Zimmerleute, Schreiner und Maurer bildeten Artels und erhielten groBe Auftrage. Letztere tibernahmen auch die Malerarbeiten und renovierten die Hausfassaden . Ein Beispiel fur diese Entwicklung geben die B a u h a n d w e r k e r aus Gali£ und dem Galifcsker Bezirk, das im Kostromsker G o u v e r n e m e n t etwa 700 km von St. Petersburg entfernt lag. Fast die ganze mannliche Bevolkerung dieser Gegend ging im Fruhling nach St. Petersburg und kam im Spatherbst zurtick, wobei sie nicht m e h r der heimischen Landwirtschaft nachgingen, sondern ihren Boden von a n d e r e n B a u e r n , d e n „ d o m o l e g i " (Zuhause-liegen-gebliebene), gegen Entlohnung bestellen lieBen. Die Bauern, die zuhause blieben, nannten die Handwerker, die nach St. Petersburg gingen, „ b e s k o b y l ' n i k i " (die Pferdelosen\ „farsovye oder ,,fortuny" . Wie gesagt, gingen die Saisonarbeiter aus Galid uberwiegend dem B a u h a n d w e r k als Maler und Zimmerleute aber auch als Schreiner, Ofensetzer, Dachdecker nach. Die L a n d f l u c h t w u r d e d u r c h den B o d e n m a n g e l u n d das unterentwickelte Gewerbe bedingt. Die Leibeigenen bzw. Staatsbauern leisteten keinen Frondienst, sondern gaben d e n groBten Teil ihres E i n k o m m e n s den G e l d z i n s bei den G r u n d h e r r e n b z w . b e i m S t a a t a b . D a d u r c h w a r e n sie g e z w u n g e n , z u m Geldverdienen in die Stadte zu gehen. Solovev vermutet zurecht, daB die historischen Wurzeln dieser Tradition bis zur Zeit Peters I. reichen, als v o m russischen N o r d e n massenhaft Rekrutierungen von Handwerkern und einfachen Arbeitern fur den B a u von St. Petersburg stattfanden. Die Berufe wurden von Generation zu Generation weitergegeben, so daB sich bei diesen Handwerkern eine besondere Mentalitat auspragte. Sie verabscheuten die landwirtschaftliche 1012 1013 u1014 10[5 1012 Otnosenie upravljajuScego Morskim ministerstvom к ministru vnutrennich del ot 22 ijunja 1847 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 381: Mogut li Ochtenskie poseljane (...), 1. 11. 1013 Fesenko, Na5i remeslermiki, S. 3. 1014 Das Adjektiv „farsovye" wird von Farce abgeleitet und ist von der Bedeutung her dem Verb „farsit'" ahnlich. Das bedeutet etwa: sich auff&llig gut kleiden bzw. wie die Studter gekleidet zu sein. 1015 Das Adjektiv „fartovye" wird von Fortuna abgeleitet. In der romischen Mythologie gilt Fortuna als die Schicksals- bzw. GlQcksgottin. „Fartovye" also bedeutete etwa: das eigene Schicksal bzw. Gluck erproben. Es war eine eigentUmliche Erscheinung sowohl in St. Petersburg als auch in Gali£, was A.N. Solov'ev veranlaBte, eine Studie tiber diese Saisonarbeiter von St. Petersburg anzufertigen: A.N. Solov'ev, PiterSdiki-galidane, etnograficeskij ocerk, GaliC 1923. 1 0 1 6 Arbeit und grenzten sich klar von den Bauern, die ihre Felder bestellten, a b . Die Beschreibung der Saisonarbeiter aus Galic ist insofern wichtig, weil sie ein typisches Bild v o n den B a u e r n in der H a u p t s t a d t liefert. Die bauerlichen Handwerker bildeten eine heterogene Gruppe, die eine klare Gliederungsstruktur erkennen laBt. A n der Spitze dieser Pyramide standen die Auftragnehmer, die die Artels leiteten. Jedes Artel wurde in kleinere Einheiten aufgeteilt, die v o n den Poliers gefuhrt w u r d e n . I h n e n folgten die „ g u t e n " oder „ n i c h t t r i n k e n d e n " (nep'juscie) Meister, die ubrigen Meister, die Gesellen und die Lehrlinge. Sie alle wurden v o m Auftragnehmer streng gehalten, da er das Ziel verfolgte, die Arbeiter abhangig, d.h. zu Schuldnern zu m a c h e n . D a s schwerste L o s trugen die Lehrlinge. Ein Lehrlingsjunge w u r d e von den Eltern fur dreieinhalb Jahre, meist vier S o m m e r und drei Winterlang, beim A u f t r a g s n e h m e r in die L e h r e g e g e b e n . W a h r e n d d e s W i n t e r s , w e n n die Bauarbeiten stillagen, g a b dann der Auftragnehmer den Lehrling an einen anderen H a n d w e r k e r bzw. Zunftmeister in die Lehre ab, um ihn nicht verkostigen zu miissen. Im ersten Sommer arbeiteten sie als Gehilfen, im zweiten bekamen sie einfache Aufgaben und muBten besonders „ d r e c k i g e " Arbeit erledigen und im dritten S o m m e r w u r d e n sie als Gesellen bzw. Vorarbeiter mit einfacheren Aufgaben beschaftigt, wodurch der Auftragnehmer sparen k o n n t e , weil ein Geselle nur etwa 3 0 0 Rubel pro Saison kostete. Der Geselle verdiente eineinhalb b i s z w e i R u b e l , d e r M e i s t e r h i n g e g e n b i s zu drei R u b e l a m T a g . Auftragnehmer konnten bis zu mehrere tausend Arbeiter beschaftigen u n d entwickelten sich so zu B a u u n t e r n e h m e n , die alle B a u h a n d w e r k e im Artel vereinigten. Die erfolgreichsten unter ihnen wohnten in der Hauptstadt, hatten eigene Hauser, n a h m e n an wohltatigen Gesellschaften teil und wurden z. B . durch die Ehrenburgerschaft zu Stadtburgern gemacht. Typisch fur ihr Verhalten war, daB sie ihre K i n d e r nicht in i h r e m H a n d w e r k a u s b i l d e n lieBen, s o n d e r n versuchten, ihnen eine Hochschulbildung zu ermoglichen, u m ihnen dadurch A u f s t i e g s c h a n c e n im Z i v i l - u n d M i l i t a r d i e n s t o d e r a l s I n g e n i e u r e u n d Rechtsanwalte zu v e r s c h a f f e n . 1017 1 0 1 8 1019 Z u m SchluB dieses Kapitels soil noch eine Frage erortert werden: Wie laBt sich die auf den ersten Blick widerspruchliche Tatsache erklaren, dafl einerseits die Zunfte so erfolgreich tatig w a r e n , die „ V e r z u n f t u n g " der G e w e r b e rasch fortschritt und andererseits so viele Handwerker zunftfrei arbeiten konnten. Z. B . gab es am Nikol'skij-Markt eine groBe Anzahl von StraBenschuhmachern. 10.6 10.7 Ebd., S. If. Im weiteren werden sie der Einfachheit halber als „Arbeiter" genannt, weil ihrer Lage nach waren sie auch Arbeiter und wurden rein formell nach der Handwerksordnung aufgeteilt. Betrachtet m a n ihre Tatigkeit genauer, stellt m a n fest, daB es sich hier im Grunde g e n o m m e n nicht u m Z u n f t h a n d w e r k " handelt, sondern u m eine Tatigkeit, die sich v o m traditionellen H a n d w e r k zur Dienstleistung hin entwickelt hat. Die StraBenschuhmacher reparierten alten Schuhe, die sie direkt v o n K u n d e n auf der StraBe bekamen oder sie erwarben sie bei Kramern, u m sie zu reparieren und w e i t e r z u v e r k a u f e n . Sie waren keine ernstzunehmende Konkurrenz fur die Zunftschuhmacher, sie ging von den Schuhfabriken aus. D a s N e b e n e i n a n d e r verschiedener Gewerbeformen konnte nicht vollstandig abgeschafft werden, weil der St. Petersburger Markt sehr schnell w u c h s , wodurch standige Umstnikturierungen und Umschichtungen stattfanden. So verdoppelte sich die Bevolkerung der Hauptstadt in der Zeit zwischen 1800 und 1834 von 220.000 auf rund 440.000 und zwischen 1834 und 1881 von 440.000 auf etwa 880.000. Dieser Trend ging weiter, so daB 1910 in der Stadt rund 2 Mill. M e n s c h e n lebten. Diese Entwicklungsdynamik der Stadtbevolkerung war nicht nur fur St. Petersburg, sondern auch fur Stadte wie Berlin, Paris und Wien typisch . 1020 1021 9.2.3 B a u e r l i c h e s H e i m g e w e r b e im St. P e t e r s b u r g e r u n d s e i n e n benachbarten G o u v e r n e m e n t s : G e w e r b e im Spannungsfeld von Stadt und L a n d Bis zu den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bedeutete das landliche H a n d w e r k in A n b e t r a c h t der entfernten L a g e ZentralruBlands v o n St. P e t e r s b u r g k e i n e Konkurrenz zum stadtischen Handwerk. Die Lage anderte sich sprunghaft in den 60er Jahren, als St. Petersburg durch den B a u der Eisenbahnlinien mit dem Zentralrussischen M a r k t verbunden wurde. Die viel betonte Bedeutung des bauerlichen G e w e r b e s fur die Entwicklung der russischen Wirtschaft ist k a u m zu tiberschatzen. D e n n o c h ist die Vernachlassigung der Geschichte des stadtischen H a n d w e r k s im 19. Jahrhundert nicht berechtigt. Die Tatsache, daB das Gewerbe auf d e m Land v o m V o l u m e n her viel groBer als in der Stadt war, laBt noch nicht den SchluB zu, daB die Rolle des stadtischen H a n d w e r k s u n b e d e u t e n d war. Im Gegenteil. A u c h in Westeuropa bestand dieses Spannungsfeld z w i s c h e n dem l a n d l i c h e n u n d s t a d t i s c h e n H a n d w e r k , dessen Intensitat v o n Zeit z u Zeit unterschiedlich war. So pladierten die Hafher u m 1590 in Ostschwaben dafur, „ d i e f r e m d e n H e r s t e l l e r , die h a u f e n w e i s e a u s B a y e r n s t r o m t e n , b e s s e r abzuschirmen" . 1022 Bachtiarov, Obs^estvenno-fiziologiceskie ocerki, S. 207f. B. R., Mitchell, European Historical Statistics 1750-1975, Alphen aan den Rijn 1980, S. 71. KieBling, Stadt, S. 685, 688. Im Unterschied zu Berlin, w o die H a n d w e r k e r K o n s u m g u t e r nicht nur fur den stadtischen Markt, sondern auch fur die Ausfuhr herstellten, produzierten die St. P e t e r s b u r g e r H a n d w e r k e r ihre W a r e n fast a u s s c h l i e B l i c h fur die e i g e n e Stadtbevolkerung, wobei der Mehrbedarf z u m groBten Teil durch Einfuhren aus ZentralruBland gedeckt w u r d e : 1023 „Ein bedeutender Teil der B e v o l k e r u n g w u r d e mit Kleidung Schuhwerk versorgt, die im industriellen Gurtel ZentralruBlands d e n L a n d h a n d w e r k e r n h e r g e s t e l l t w o r d e n w a r e n u n d in Schuhwerkhandelsstuben, in den Laden mit der fertigen K l e i d u n g v o n StraBenhandlern verkauft w u r d e n " . und von den oder 1024 N u r wenige Produkte wie z. B . Handschuhe, Hute oder auch Handarbeiten fur D a m e n b e k l e i d u n g wurden aus St. Petersburg ausgefuhrt, wobei diese Artikel auch v o m Ausland nach St. Petersburg importiert wurden. 1912 waren Biiros und Laden fur Heimgewerbeprodukte in St. Petersburg sehr z a h l r e i c h v e r t r e t e n . U n t e r 1140 s o l c h e r V e r k a u f s s t e l l e n w a r e n 4 0 7 auf Holzerzeugnisse, 29 auf Erzeugnisse aus Bast und Flechtgerte, 142 auf Produkte aus Faser, 370 aus Leder, 34 aus Wolle und Borste, 122 aus Metall und 36 waren auf andere Erzeugnisse des bauerlichen Gewerbes spezialisiert . Uberhaupt war St. Petersburg eines der groBten Handelszentren RuBlands. Hier gab es 1856 zwolf Markte und 5818 standige Handelsbetriebe v o n Kramerstuben bis hin zu den Modegeschaften a m Nevskij P r o s p e k t . Wie aus dem Verzeichnis deutlich wird, wurden in diesen Verkaufsstellen der Heimgewerbe uberwiegend Rohstoffe oder halbfertige Produkte verkauft, die v o m St. Petersburger Gewerbe bzw. 1025 1026 1023 Vgl. I. A. Gan, О nastoja§6em byte me§6an Saratovskoj gubernii. St. Petersburg 1860, S. 29f., aus: Ryndzjunskij, Gorodskoe grazdanstvo, S. 7; Janson, Naselenie Peterburga (...) 1869, S. 630. 1024 Janson, Naselenie, S. 630. 1025 Die Laden des Handelshauses „Gusev i Panov", der Gesellschaft fur die Verbesserung der Volksarbeit „Kustarnyj trud" (Obwestvo uluh+enia narodnogo truda „Kustarnyj trud), der Gesellschaft fur die Hilfe der Heimarbeit in St. Petersburg (Obwestvo pomowi ruhnomu trudu v Sankt-Peterburge), Der Pavlover Heimgewerbeartel (Pavlovskaa* kustamaa" artel/), Chr. RosmeSa (Xr. Rosme+), Russischer Importgenossenschaft (Russkoe importnoe tovariwestvo), von I. S. Ryzenkov, St. Petersburger Heimarbeitwarenlager (S.-Peterburgskij kustamyj sklad), St. Petersburger Gesellschaft der Stummen und Tauben (S.-Peterburgskoe obwestvo gluxonemyx), von I. N. Sirotkin, von I. F. Sysoev, des Asyls von Blinden zur Erinnerung an Doktor Blessig (Ube<iwe slepyx v pamSt/ doktora Blessiga) und von Graf Suvalov, aus: Ves' Peterburg 1912, in: Tarnovskij, Melkaja, S.31. 1026 B. N. Mironov, Vnutrennij rynok Rossii vo vtoroj polovine XVIII- pervoj polovine XIX veka. Leningrad 1981, S. 58, 188, aus: Kitanina, Rabo&e, S. 87. H a n d w e r k weiterverarbeitet wurden. Dagegen gait M o s k a u als groBter Markt fur die Fertigprodukte der H e i m g e w e r b e in R u B l a n d . Im St. Petersburger G o u v e r n e m e n t lebten zwischen 1897-1903 779.000, in St. Petersburg hingegen rund 1,25 Mill. Menschen. D i e Zahl der Beschaftigten betrug im St. Petersburger G o u v e r n e m e n t in verarbeitenden Branchen fur Holz 19.414, Faser 3.341, Leder 3.860, Mineralien 772, Metall 2.927 und verschiedenes 5.779. Insgesamt waren es 36.093 H e i m a r b e i t e r . Eine andere Quelle gibt an, daB im St. Petersburger Gouvernement zwischen 1899 u n d 1901 2 1 . 8 5 5 H e i m - u n d H a n d w e r k e r in d e n sieben o b e n g e n a n n t e n B e r e i c h e n beschaftigt oder der 2 8 % der mannlichen Bevolkerung im arbeitsfahigen Alter beschaftigt waren. Weiteren 3 9 , 1 % gingen nur teilweise der Arbeit in der Landwirtschaft n a c h u n d verdienten d i e a n d e r e Halfte ihres E i n k o m m e n s ebenfalls mit Heimarbeit. D i e restlichen 3 2 , 9 % wurden ausschlieBlich in der Landwirtschaft b e s c h a f t i g t . So schrieb der K e n n e r d e r St. Petersburger Verhaltnisse A . Bachtijarov im Jahre 1888, daB das 1027 1028 1029 „ganze St. Petersburger Gouvernement v o n St. Petersburg abhangig ist und v o n seinen rund 5 0 0 . 0 0 0 Einwohnern ,ernahrt' wird. Im St. Petersburger Bezirk sind viele Fabriken vorhanden. In d e n Bezirken N o v o l a d o z s k e r , Slisselburger u n d C a r s k o s e l ' s k e r s i n d s o w o h l Schiffahrt, Steinbruch, Kalksteinforderung als auch Stroh-, Brennholzund Baumaterialbeschafrung angesiedelt. D e r Gemuse- und Obstanbau ist in d e n Bezirken Carskosel'sker, St. Petersburger u n d Petershofer verbreitet. D i e Bevolkerung in d e n Bezirken Slisserburg u n d Petershof ist im F u h r m a n n g e w e r b e , Schiffbau, in d e r M u l l - u n d Exkrementenabfuhr beschaftigt, oder geht der Milchwirtschaft, d e m Pilz- u n d Beerensammeln n a c h " . 1030 1031 Im Petersburger G o u v e r n e m e n t waren folgende Gewerbearten vertreten. A m zahlreichsten w a r d a s holzverarbeitende Gewerbe mit 6 9 1 4 Beschaftigten. Ihm folgten die G e w e r b e fur Faserverarbeitung (5871), Lederverarbeitung (3271), M i n e r a l i e n f o r d e r u n g ( 2 2 8 2 ) , M e t a l l v e r a r b e i t u n g ( 1 7 8 2 ) . A u f die a n d e r e n Gewerbe kamen insgesamt nur 1626 B e s c h a f t i g t e . Diese Heim- u n d 1032 7 Tarnovskij, Melkaja, S. 32 * Ebd., S. 26f. 19 Kustarnye promysly S. Peterburgskoj gubernii, St. Petersburg 1902, S. 2ff. 0 In diesem Jahr gab es in St. Petersburg etwa 900.000 Bevolkerung. 1 A. Bachtijarov, Ob§destevnno-fiziologi6eskie ocerki, St. Petersburg 1888, S. 214ff. 2 Kustarnye promysly, S. 6. Handwerker verkauften ihre Produkte meistens in der naheren U m g e b u n g und hatten auf d e m St. P e t e r s b u r g e r M a r k t eine nur maflige B e d e u t u n g . D e n wichtigsten Platz unter den Gewerbetreibenden n a h m die Korbflechterei mit 1350 Beschaftigten ein. Dieses H a n d w e r k w a r b e s o n d e r s in den G d o v s k e r u n d Petershofer Bezirken verbreitet. Ein Teil ihrer Produktion wurde vor Ort von den Sommergasten gekauft, der andere Teil in groBen M e n g e n von den Kaufleuten v o m hauptstadtischen Markt am S e n n a j a - P l a t z . A u c h Naherinnen, Schmiede und Topfer fertigten einen Teil ihrer Produkte fur den St. Petersburger Markt an. Die 121 WeiBnaherinnen des CarskosePsker Bezirks beherrschten ihr H a n d w e r k so gut, daB ihre Waren von den groBen L a d e n in St. Petersburg aufgekauft wurden. Die 105 Schmiede der Rozdestvensker und Izorsker Kreise des CarskosePsker Bezirks fertigten Hufeisen fur den Verkauf in St. Petersburg. D a s Schuhmacher-, Schlosser- und Karrenbauhandwerk, die Lederverarbeitung und andere Gewerbearten hatten begrenzte regionale B e d e u t u n g und waren in erster Linie fur die Befriedigung des Eigenbedarfes der Landbevolkerung b e s t i m m t . Das H e i m g e w e r b e des St. Petersburger Gouvernements, das sich am stadtischen Markt orientierte, befand sich in volliger Abhangigkeit von den GroBhandlem und Fabriken. Die Korbmacherinnen, Weberinnen und Hulsenherstellerinnen v e r l o r e n ihre Selbstandigkeit. Sie b e k a m e n d a s A r b e i t s m a t e r i a l v o n den GroBherstellern und wurden zu Lohnarbeiterinnen im Verlagshandwerk. Im allgemeinen stellte das Gewerbe des St. Petersburger Gouvernement keine Gefahr fur das St. Petersburger H a n d w e r k dar, das auf viel hoherem N i v e a u stand. In anderen Gouvernements um St. Petersburg stellte sich das G e w e r b e ebenfalls auf die Bedurfhisse der Hauptstadt ein. Im O l o n e c k e r Gouvernement war die S t r o h h u t e h e r s t e l l u n g am St. P e t e r s b u r g e r M a r k t o r i e n t i e r t . Die holzverarbeitenden Handwerker und Topfer waren sowohl im Olonecker als auch in den N o v g o r o d e r u n d Pleskauer G o u v e r n e m e n t s zahlreich vertreten. Ihr technisches und qualitatives Niveau war aber so niedrig, daB sie sich mit ihren Produkten auf dem St. Petersburger Markt nicht behaupten konnten, da auch die E i n k a u f e r der H a u p t s t a d t a n s p r u c h s v o l l w a r e n . D a s h o l z v e r a r b e i t e n d e G e w e r b e hatte sich auf H o l z s c h n i t z e r e i e n u n d Dreharbeiten spezialisiert, Techniken, die Geschick und Geschmack verlangten. In den o b e n erwahnten Gouvernements beschaftigten sich die Handwerker dagegen uberwiegend im Zimmerer- und Bottcherhandwerk, stellten Holzgeschirr, Holzschaufeln, Karren und primitive FluBbarken her, wobei diese Waren meistens fur Eigenbedarf und 1033 1034 1 0 3 5 1 0 3 6 1033 Ebd. 1034 Ebd., S. 9ff. 1037 fur den lokalen M a r k t gefertigt w u r d e n . D e s w e g e n konnten die bauerlichen H a n d w e r k e r aus den benachbarten Gouvernements mit ihren Produkten am Apraksin-Markt, wo hauptsachlich gut verarbeitete und anspruchsvolle Holzerzeugnisse der H a n d w e r k e r aus Ochta verkauft wurden, dem Stadthandwerk k e i n e K o n k u r r e n z bieten. In An b etr ach t der A b s a t z s c h w i e r i g k e i t e n in St. P e t e r s b u r g e n t w i c k e l t e sich a l l m a h l i c h ein zahlreiches h o l z v e r a r b e i t e n d e s H e i m g e w e r b e am R a n d e der nord-westlichen Region, wobei die Handler sich an anderen M a r k t e n in entgegengesetzter Richtung v o n St. Petersburg orientieren muBten . 1038 A u c h die H e i m w e r k e r aus d e m Tverskaer Gouvernement orientierten sich am St. Petersburger Markt. Die Nagler waren A b n e h m e r von Metallresten aus den groBen St. Petersburger Putilov- und Alexandrinischen M e t a l l w e r k e n . Hier entwickelte sich das M a s s e n h a n d w e r k der Schuhmacher mit Zentrum in Kimry. D i e J u w e l i e r e in d e n Dorfern K r a s n o e und S i d o r o v s k o e im K o s t r o m s k e r G o u v e r n e m e n t w u r d e n mit Gold und Silber aus St. Petersburg und M o s k a u beliefert . Die Hornwaren- und Schatullenherstellung entwickelte sich im NordOsten von St. Petersburg im Vologoder Gouvernement, von w o H o r n k a m m e und A p o t h e k e n z u b e h o r auch nach St. Petersburg verkauft w u r d e n . Das Pavlover Artel der Messerschmiede, das 1890 gegrundet wurde, stellte jahrlich Waren fur 50.000 Rubel her u n d hatte sein zentrales L a g e r in St. P e t e r s b u r g . Die wirtschaftlichen B i n d u n g e n 2:wischen St. Petersburg und d e n u m l i e g e n d e n Regionen bestanden also in beiden Richtungen. 1039 1040 1041 In alien o b e n g e n a n n t e n H a n d w e r k s b e r e i c h e n w a r die A b h a n g i g k e i t der Heimarbeiter v o n d e n GroBhandlern, die sie mit den Werkstoffen belieferten, sehr groB. Die GroBhandler bzw. Auftragnehmer hielten ganze H e i m g e w e r b e unter ihrer Kontrolle und hielten die Heimarbeiter als Schuldner in A b h a n g i g k e i t . Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich die Heimwerker allmahlich der Kontrolle der GroBhandler entziehen, da sie z u n e h m e n d Regierungsauftrage erhielten. Die traditionelle weit verbreitete Heimarbeit entwickelte sich auf dem Land mit der Entstehung eines gesamtrussischen Binnenmarktes, die mit d e m intensiven Eisenbahnbau in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts wesentlich beschleunigt wurde, zu einem wichtigen Lieferanten sowohl v o n Rohstoffen u n d halbfertigen Waren als auch v o n fertigen Waren, die besonders in St. Petersburg durch die 1042 Ebd., S. 40,42f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 74f. Ebd., S.61. Ebd., S. 82f. Ebd., S. 48, 50,61,70, 74f. V e r m i t t l u n g s k o n t o r e n w e i t e r v e r k a u f t w u r d e n . F u r die W i c h t i g k e i t d i e s e s G e w e r b e s spricht auch die Tatsache, daB seit 1892 in St. Petersburg ein „Heimarbeitmuseum" auf Initiative des Landwirtschafts- und Staatsguterministeriums hin errichtet w u r d e . St. Petersburger M a r k t w a r so groB, daB hier nicht nur die P r o d u k t e des H e i m g e w e r b e s des St. Petersburger G o u v e r n e m e n t s , sondern auch die Produkte aus benachbarten Gebieten umgesetzt werden konnten. U m St. Petersburg hatte sich kein groBer Gewerbebezirk entwickelt, dafur w a r die Produktpalette des H e i m g e w e r b e s im St. Petersburger Gouvernement verglichen mit den anderen vielfaltiger . 1043 1044 9.3 Zusarnmenfassung Die Zunfte v o n St. Petersburg konnten w e g e n der Spezifik der russischen Gewerbegesetzgebung kein uneingeschranktes Zunftmonopol einfuhren bzw. durchsetzen, obwohl es viele Versuche gab, EinfluB auf den Arbeitsmarkt zu nehmen, z. B . in der Begrenzung von Produktionssegmenten und Werkstatten. D e r a r t i g e Eingriffe der Zunfte in die Stadtwirtschaft w u r d e n seitens der Stadtduma oder des Generalgouverneurs v o n St. Petersburg unterbunden. Die augenscheinliche Widerspruchlichkeit der Zunftpolitik wird z. B . dann offenbar, wenn von Fall zu Fall unterschiedlich uber die Zulassung der Bewerber in die Zunfte entschieden wurde. Die Selbstverwaltung entschied nach eigener MaBgabe und beeinfluBte auf diese Weise die Wettbewerbssituation. Diese Praktiken der Handwerksverwaltung wurden v o n den Angestellten des Finanzund Innenministeriums scharf kritisiert: „Es ist dem Bericht zu entnehmen, daB die Aufnahme der Meister in die Zunfte vollig willkurlich stattfand. Manchmal wurden die Kaufleute wie alle anderen Meister geprtift, ein andermal w u r d e n sie o h n e Prufung nur mit der V o r b e d i n g u n g , die Zunftabgaben zu zahlen, aufgenommen oder sie wurden dazu gezwungen, einen Zunftmeister fur die fachgemaBe Lehre des N a c h w u c h s e s e i n z u s t e l l e n " . 1045 Immer wieder gerieten Handwerksverwaltung und Obrigkeit miteinander in Konflikt. Z. B . erlaubte die Gildenreform v o n 1824 alien Kaufleuten, dem Zunfthandwerk n a c h z u g e h e n u n d sich dafur in die Zunfte einzuschreiben. I. Kel'berin, О merach к razvitiju remeslennoj promySlennosti, Kiev 1902, S. 38. Ebd., S. 38f. Zitiert nach Pazitnov, Problema, S. 107f. Ungeachtet dessen bedurfte es 1848 des Beschlusses der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g , der den Kaufleuten aller drei Gilden erlaubte, in die Zunfte einzutreten. D i e K o n f l i k t e z w i s c h e n der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g u n d d e n zunftlosen H a n d w e r k e r n g a b es solange, wie die Zunfte existierten u n d die industrielle Produktion auf die Fabriken und W e r k e einerseits, sowie auf die Werkstatten andererseits verteilt war. E s w a r unmoglich, eine klare Grenze zwischen diesen beiden Formen von Industriebetrieben z u Ziehen, w e s h a l b in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und in D M V T immer einzeln uber die Zugehorigkeit des Betriebes z u m j e w e i l i g e n Teil der Industrie entschieden w u r d e . In der Regel aber waren die meisten Betriebe, die v o m Manufakturdepartement Privilegien erhielten, nichts anderes als Werkstatten. D a s lag daran, daB sich die M e h r h e i t der GroBindustriebetriebe aus den fruheren Werkstatten Handwerksmeister entwickelt hatten. Deswegen ist in der den Genehmigungspraktiken v o n D M V T kein Widerspruch festzustellen, wenn es die Werkstatten als Fabriken anerkannte. D M V T versuchte vorauszusehen, o b der Betrieb g e n u g e n d Entwicklungspotential hatte, u m sich spater zu einer Fabrik bzw. einem groBeren Werk zu entwickeln. D e s w e g e n w u r d e mit den Genehmigungsverfahren oft MiBbrauch betrieben, weil es fur einen Meister bzw. Unternehmer vorteilhaft war, seine Werkstatt bei D M V T anzumelden, da er dann drei Jahre oder langer keine Steuer-, Zunft- u n d G i l d e n a b g a b e n bezahlen muBte 1046 . Es wird verstandlich, w a r u m D M V T die Eroffhung der Werkstatte mit dem Status einer Fabrik erlaubte und umgekehrt, w a r u m die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g die eigentlichen Fabriken weiterhin in den Zunften fuhrte. D a s Zusammenspiel verschiedener wirtschaftlicher Faktoren, das der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g immer m e h r Spielraum raubte, fuhrte dazu, daB sie ihre M o n o p o l r e c h t e nur begrenzt geltend m a c h e n bzw. durchsetzen konnte. A m E n d e des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts laBt sich eine stark korporative V e r h a l t e n s w e i s e der Zunftmeister g e g e n u b e r d e n zunftfreien Handwerkern feststellen. Die Zunftmeister betrachteten ihre Zunftzugehorigkeit als ein Privileg, das sie vor der K o n k u r r e n z schiitzen sollte, und beobachteten aufmerksam nicht nur die zunftfreien, sondern auch diejenigen Handwerker, die in die Zunft aufgenommen w e r d e n sollten, w i e z. B . die bekannten K u c k u c k s u h r e n b a u e r aus dem Schwarzwald, die seit etwa 1828 in St. Petersburg tatig waren. Sie hatten schon mehrmals ihre Aufhahme in die deutsche Zunft der Uhrenmeister beantragt. Ihre Aufhahmeantrage w a r e n aber immer wieder mit dem G r u n d abgelehnt worden, daB sie ihre U h r e n in holzernen Gehausen u n d nicht in Uhrgehausen aus Metall anfertigten und demzufolge ihr H a n d w e r k im strengen Sinne des Wortes nicht d e m U h r e n h a n d w e r k angehore, w a s 1843 als eine B e g r u n d u n g fur ihre Nichtaufhahme in die Uhrmacherzunft aufgefuhrt w u r d e 1047 . Es lassen sich Parallelen zum deutschen H a n d w e r k ziehen. Fast alle g r u n d s a t z l i c h e n Z u n f t r e g e l u n g e n d e r d e u t s c h e n Z u n f t e w u r d e n mit d e m Zunftstatut Katarinas II. ubernommen. A u c h die Verhaltensmuster u n d die Stellung des Zunftsystems im staatlichen und gesellschaftlichen System waren den deutschen angeglichen. So gab es auch die Unterscheidung nach h o m o g e n e n bzw. reinen und heterogenen bzw. gemischten Zunften in beiden Landern. Falls es in einer Stadt unterbesetzte Zunfte oder Zunfte mit ahnlichen Gewerbearten gab, wurden sie oft in einer Zunft vereinigt, um die Verwaltungskosten zu senken und eine bessere Gewerbekontrolle zu e r m o g l i c h e n 1048 . D e s weiteren war auch im Westen das Zunftmonopol auf das H a n d w e r k nicht allumfassend. Der bertichtigte P a r a g r a p h im H a n d w e r k s s t a t u t , d e r in d e n r u s s i s c h e n S t a d t e n die freie Handwerksarbeit auBerhalb der Zunfte im kleineren Umfang erlaubte, wurde, wie es der A h n l i c h k e i t w e g e n zu v e r m u t e n ist, sicher den westeuropaischen Stadtrechten entnommen: „Eine andere Art der Konkurrenz durch AuBenstehende erwachst vielen Zunften aus d e m im Mittelalter weit verbreiteten ,Recht auf freie Hausarbeiten . Danach bleibt es grundsatzlich den stadtischen Burgern uberlassen, selbst oder mit Hilfe ihrer F a m i l i e n a n g e h o r i g e n alles anzufertigen, wozu ihre Geschicklichkeit ausreicht. Erhohte B e d e u t u n g k o m m t d e m Recht der Eigenproduktion naturlich dann zu, w e n n eine Arbeit von groBeren Bevolkerungskreisen beherrscht und ausgefuhrt werden kann. So verstehen sich in den Stadten beispielweise relativ viele Burger auf die Kunst des W e b e n s und S p i r m e n s " . 4 1049 D a s Recht auf freie Hausarbeit gait also nicht nur fur die Kleinburger und P o s a d b e w o h n e r in St. Petersburg, sondern auch in westeuropaischen Stadten, 1047 Raport komissii, naznacennoj dlja izyskanij po sboru kazennych podatej s inostrannych remeslennikov v S. Peterburge ministru vnutrennich del, vom 5. Juli 1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 144: Po doneseniju komissii (...) о pripiske SvarzvaPdskich masterov derevjannych 6asov к su§6esrvuju§cemu v Peterburge casovomu cechu i о razresenii im remontirovat* stennye easy, hier 1. Iff. 1048 Ebd., S. 29f.; Vgl. Josef Ruch, Die alten Zunfte der Stadt Waldshut. Radolfzell 1954, S. 24f.; Andreas von Moos, Zunfte und Regiment. Zur Zunftverfassung Zurichs im ausgehenden 18. Jahrhundert. Zurich 1995. S. 8f. indem dem Burger die Hausarbeit fur den eigenen Bedarf gestattet wurde. Jedoch durften d i e P r o d u k t e n i c h t z u m V e r k a u f h e r g e s t e l l t w e r d e n , d a m i t d e n Zunftmeistem kein Schaden entstand. Die Vergleiche zwischen d e m deutschen und St. Petersburger H a n d w e r k zeigen, daB Phanomene wie Wettbewerb und Zunftmonopol, die in den deutschen Stadten das L e b e n des H a n d w e r k s bestimmten, auch in St. Petersburg vorhanden waren u n d daB die Zunfte in den beiden Landern mit ahnlichen Problemen konfrontiert waren. Hier soli durch das Aufsteigen von Parallelen zum deutschen H a n d w e r k versucht werden, das Geschehen in St. Petersburg etwas besser zu verstehen bzw. scharfere Konturen im Gesamtbild des russischen H a n d w e r k s zu gewinnen. Im G e g e n t e i l zu den V e r s u c h e n , die r u s s i s c h e G e s c h i c h t e aus d e m gesamteuropaischen Kontext auszusondern, konnen einige Vergleiche helfen, die russische Geschichte in die gesamteuropaische Geschichte zu integrieren. Dies heiBt nicht, daB die russische bzw. osteuropaische Geschichte als Teildisziplin der gesamteuropaischen Geschichte keine Existenzberechtigung als Sonderdisziplin besitzt, nur w u r d e in den letzten Jahrzehnten zu oft versucht, diese strikt abzusondern. D a d u r c h w u r d e manchmal die historische Perspektive getrubt und gesamteuropaische Z u s a m m e n h a n g e verwischt. E s darf also nicht darum gehen, die russische Geschichte u m j e d e n Preis abzusondern, sondern viel mehr darum, ihre Identitat im g e s a m t e u r o p a i s c h e n Kontext zu r e p r o d u z i e r e n . Es sei beispielweise im Z u s a m m e n h a n g mit den Akten des zivilen U n g e h o r s a m s , die o b e n beschrieben wurden, daran erinnert, daB im U m g a n g mit bestimmten traditionellen Formeln des historisch-wissenschaftlichen Instrumentariums wie z. B . der Tatsache der erdruckenden Rolle des russischen Staates in der Entwicklung des Unternehmertums, Vorsicht geboten ist. Die Versuche, durch diese Rolle des russischen Staates mehrere P h a n o m e n e in der russischen Geschichte erklaren zu wollen, besitzen keine universelle Erklarungskraft u n d konnen zu stereotypischen Urteilen verfuhren. D e r W e t t b e w e r b v e r l i e f in v e r s c h i e d e n e n w i r t s c h a f t l i c h e n B r a n c h e n unterschiedlich. In B e z u g auf das St. Petersburger H a n d w e r k laBt sich die Unterteilung der beiden Wettbewerbsphasen v o n Ennen ubernehmen: 1050 „Eine VorstoBphase, in der ein Wettbewerber zur G e w i n n u n g eines Vorteils gegeniiber seinen K o n k u r r e n t e n vorstoBt, und eine nachfolgende Verfolgungsphase zur Verringerung des V o r s p r u n g s " . 1051 D a in St. Petersburg deutsche und russische Zunfte vorhanden waren, verlief der Wettbewerb zwischen den beiden Institutionen bis zum spaten 19. Jahrhundert nach gleichem Muster: In der VorstoBphase befanden sich fast ohne A u s n a h m e n Vgl. Hildermeier, Osteuropaische Geschichte, S. 254ff. Ebd., S. 27. d i e a u s l a n d i s c h e n H a n d w e r k e r , in der V e r f o l g u n g s p h a s e d i e r u s s i s c h e n Handwerker. V o n daher war innovativer Wettbewerb mit einigen A u s n a h m e n H o h e i t s g e b i e t der A u s l a n d e r und imitatorischer W e t t b e w e r b d a s L o s der russischen Handwerker. Unter den negativen Nebeneffekten der Konkurrenz war die langsame V e r b r e i t u n g der I n n o v a t i o n e n im H a n d w e r k . D i e M e i s t e r v e r s u c h t e n die „Geheimnisse" ihrer Handwerkskunst ftir sich zu b e h a l t e n . 1052 1052 О predprinimaemom kolezskim sovetnikom Rejnbotom sostavlenii techniceskogo slovarja (1842), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1097,1. 1. 10. Die wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s Bei der Untersuchung der wirtschaftlichen Lage des St. Petersburger H a n d w e r k s im 19. Jahrhundert ist das T h e m a der Industrialisierung nicht w e g z u d e n k e n , weil sie am starksten den Wandel im Handwerk mitgepragt hatte. Der in der deutschen Historiographie allgemein gebrauchliche Begriff des „alten H a n d w e r k s " wird hier nur begrenzt verwendet, weil ihm im Z u s a m m e n h a n g mit d e m H a n d w e r k in RuBland eine etwas andere Bedeutung zukommt. Auch der Begriff des "traditionellen russischen H a n d w e r k s " kann in B e z u g auf St. Petersburg nur mit Vorsicht b e h a n d e l t w e r d e n , weil d a n k der Spezifik der Hauptstadt, seiner Entstehungsgeschichte, seiner sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur und seiner geographischen Lage, sich das H a n d w e r k hier in einer besonderen Lage befand. Trotz der Unterschiede zwischen d e m H a n d w e r k im Westen, dem L a n d h a n d w e r k in RuBland u n d d e m Stadthandwerk in St. Petersburg ist festzuhalten, daB fur alle H a n d w e r k s a r t e n die Industrialisierung der ProzeB war, der am starksten und nachhaltigsten auf das H a n d w e r k und alle andere Bereiche der Gesellschaft einwirkte. B e s o n d e r s seit der Mitte des 19. Jahrhunderts w u r d e das St. Petersburger H a n d w e r k durch die Industrialisierung zunehmend aufgespalten: die Struktur des Handwerksbetriebes, die Betriebshierarchie und der ProduktionsprozeB wurden nach und nach verandert; die Gruppe der Meister w u r d e in zwei ungleiche G r u p p e n geteilt, in erfolgreiche Handwerker, die ihren Betrieb modernisierten und vergroBerten, und in Handwerker, die zu allein produzierenden Handwerkern oder beschaftigten Lohnarbeitem wurden. Fur die letzteren bestand allerdings die Moglichkeit, in der Fabrik eine Meisterstelle zu b e k o m m e n , die in der Regel hoch bezahlt w u r d e . In d i e s e m Fall bedeutete es fur einen H a n d w e r k e r keinen Statusverlust, da diese Art v o n Mobilitat horizontal ausgerichtet war. Der Vertrieb, das Verhaltnis zum Kunden anderte sich ebenfalls, durch GroBabnehmer und die Vermittl ung der Zwischenhandler wurde diese Beziehung a n o n y m i s i e r t . U b e r h a u p t a n d e r t e sich die S t e l l u n g d e s M e i s t e r s u n d d e s Handwerksbetriebes im gesamtwirtschaftlichen System der H a u p t s t a d t . H i e r muB g e k l a r t w e r d e n , w i e sich der L e b e n s s t a n d a r d , d i e P r e i s - u n d Lohnverhaltnisse der Handwerker veranderten und wie sich wirtschaftliche Lage des Handwerks verandert hat. N a c h K.H. Kaufhold lassen sich vier Schwerpunkte 1053 1053 Vgl. Engelhardt (Hrsg.), Handwerker in der Industrialisierung, s. unter anderem S. 18, 29, 37-208; H.-J. Gerhard, Quantitative und Qualitative Aspekte von Handwerkereinkommen in nordwestdeutschen Stadten von der Mitte des 18. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: ebd., S. 51-77; Joseph Ehmer, Okonomischer und sozialer Strukturwandel im Wiener Handwerk von der industriellen Revolution zur Hochindustrialisierung, ebd., S. 78-104; Polarisierung und Verlag; Schuhmacher, Schneider und Schreiner in Dusseldorf 1816-1861, ebd. S. 127-145. d e r V e r a n d e r u n g h e r v o r h e b e n : D a s E i n k o m m e n , die H a n d w e r k e r z a h l e n , W a n d l u n g e n der Betriebsweise u n d Einflusse der Wirtschafts- und vor allem Gewerbepolitik . 1054 10.1 Die allgemeine wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r Die Gewerbereformen des Gesetzgebers, die Wirtschaftspolitik der Regierung und die gtinstige geographische Lage St. Petersburgs - die relative N a h e zu den westeuropaischen Markten - spielten fur das St. Petersburger H a n d w e r k eine wichtige Rolle. Alle Veranderungen in den obengenannten Bereichen bekam es als erstes zu spuren. Die wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r in St. Petersburg begann sich seit d e m Anfang des 19. Jahrhunderts w e g e n der z u n e h m e n d e n Geldentwertung immer m e h r zu destabilisieren. Als Katharina II. in Anbetracht hoher Verschuldung des Staates anfing, das Papiergeld zu emittieren (in der Zeit von 1768 bis 1799 w u r d e n 21 Mill. Papierrubel gedruckt), beschleunigte sich der Geldwertverlust wesentlich und das Verhaltnis des Papiergeldes zur Edelmetallwahrung sank auf 6 5 , 5 % . Die Napoleonischen Kriege und die damit verbundenen enormen Kriegsausgaben lieBen den russischen Staat noch m e h r verschulden. N a c h dem Krieg entwertete sich Papiergeld durch weitere Emissionen, so daB sein Wert w e i t e r a u f 2 0 % s a n k . E i n e s o h o h e I n f l a t i o n v e r a n l a B t e d e n S t a a t zu GegenmaBnahmen, so daB von 1817 - 1822 mit Hilfe von Anleihen 230 Mill. Rubel Papiergeld eingezogen w u r d e n . Nicht von ungefahr fallt die h o h e Steuerverschuldung der Zunfthandwerker in diese Zeit. 1 0 5 5 1056 Durch die allgemeine Verteuerung der Rohstoffe, der benotigten A r b e i t s m a t e r i a l i e n , d e r L e b e n s m i t t e l u n d einer E r h o h u n g der L o h n e d e s Arbeitspersonals w u r d e die Handwerkswirtschaft dermaBen geschwacht, daB viele Handwerker am Existenzminimum lebten. Eine Zahl aus d e m Jahr 1814 sei genannt: N u r j e d e r Hundertste Handwerker der deutschen Zunfte konnte als wohlhabend gelten. Im Einzelnen verteilten sich die auslandischen Meister im Jahre 1816 auf folgende Gruppen. V o n den 800 auslandischen Meistern hatten etwa drei Viertel ein V e r m o g e n zwischen 800 und 1000 Rubel. Die Pauschalsteuer lag bei 600 Rubel. Ftir die meisten Handwerker war dieser Beitrag 1054 Kaufhold, Einfuhrung, in: Engelhardt (Hrsg.), Handwerker, hier S. 37f. 1055 Vgl. J. de Bloch, Les Finances de la Russie au XIX siecle. Historique et statistique, Bd. 1, Paris 1899, S. HOff.; Hildermeier, Burgertum, S. 183f.; Kaskarov, Deneznoe obraS6enie v Rossii. Istoriko-statisticeskoe issledovanie, Bd. 1. St. Petersburg 1898, S. 24ff.; Mieck, Europaische, S. 759f.; A. P. Pogrebenskij, Ocerki istorii finansov dorevoljucionnoj Rossii (XIXXX w.). Moskau 1954, S. 2Iff. 1056 Mieck, Europaische, S. 760. zu hoch, sie w u r d e n in den Ruin getrieben. N u r 2 0 0 Meister waren in der Lage, diesen Steuerbeitrag ohne Beeintrachtigung ihrer E x i s t e n z z u z a h l e n . AuBerdem war fiir die verschlechterte wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r eine immer groBer werdende Anzahl von zunftfreien Handwerkern verantwortlich, die ihre Dienste giinstiger anbieten k o n n t e n . Die Staatsauftrage erschwerten betrachtlich das Leben der Zunfthandwerker, da sie regelmaBig dazu verpflichtet wurden, die A r m e e mit verschiedenen Waren zu beliefern. Sie erhielten z. B . im Jahre 1816 den Staatsauftrag, Armeeuniformen zu nahen. E s sollten 320 Uniformen fur die Jager (2,80 Rubel j e Uniform), 600 fur die Musketiere (2,40 Rubel j e Stuck) und 9 0 0 Paar Stiefel fur 1 Rubel pro Paar hergestellt werden, zu einem Preis, der k a u m die Unkosten deckte. D e s w e g e n b e k a m e n die Meister einen ZuschuB aus der Kasse der Handwerksverwaltung, eine K a s s e , die v o n den deutschen Handwerkern durch ihre Beitrage gefullt w o r d e n war. Die Jageruniform w u r d e mit 2,95, die Musketiereuniform mit 2,85 und die Stiefel mit 1.50 Rubel bezuschuBt. Die Staatsauftrage fur die Belieferung der A r m e e m i t K l e i d u n g w i e d e r h o l t e n sich regelmaBig, w o r a u f sich die H a n d w e r k e r d e r S c h n e i d e r - u n d Schuhmacherzunfte im J a h r e 1830 b e i m Handwerksoberhaupt beschwerten, da mit diesen Auftragen nichts zu verdienen war. Sie m a c h t e n z u d e m d e n V o r s c h l a g , den Auftrag den a u s l a n d i s c h e n H a n d w e r k e r n zu e r t e i l e n . 1 0 5 7 1058 1059 Zwischen 1823 und 1843 verzeichnete das St. Petersburger H a n d w e r k infolge der stabilen Finanzpolitik der Regierung ein hohes Wachstum. Die Einfuhrung des Silberrubels 1839 wirkte sich ebenfalls g u n s t i g a u f die E n t w i c k l u n g des Geldmarktes aus. D e r W o h l s t a n d der H a n d w e r k e r laBt sich mittels ihrer A n t e i l s unter den Hauseigentumern nicht definitiv zu ermitteln, weil die H a n d w e r k e r zu alien moglichen sozialen Schichten (Kleinburger, Bauer, Kaufleute und Adeligen) gehoren konnten. Die ersten zwei Quellen, die zur Untersuchung dieser Frage herangezogen w e r d e n , stammen aus den Jahren 1804 und 1 8 0 9 . Die erste Quelle ist eine offizielle E r h e b u n g uber die Hauseigentumer der Hauptstadt und die zweite das erste St. Petersburger AdreBbuch. Allerdings sind die unten vorgefuhrten Zahlen 1060 1057 Prosenie remeslennogo golovy ministru finansov ot 25 ijulja 1816 g., in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337,1. 83. 1058 Predstavlenie departamentu raznych podatej i sborov ot S. Peterburgskoj remeslennoj upravy, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati s inostrannych remeslennikov v stolicach, 1. 29f. 1059 1060 Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 41. TabeP о ocenke domov, St. Petersburg 1804, aus: Ivanova, Deutsche Handwerker, S. 295ff.; Sanktpeterburgskaja adresnaja kniga na 1809 god, St. Petersburg [1809]. ein A u s z u g aus diesen E r h e b u n g e n , der nur die deutschen Eigentumer v o n Immobilien b z w . Handwerkern betrifft, w a s wiederum nur einen Bruchteil der G e s a m t z a h l der d e u t s c h e n H a n d w e r k e r a u s m a c h t . D i e Z u g e h o r i g k e i t z u r deutschen N a t i o n a l i t y kann nur durch den Familiennamen bestimmt werden, es tauchen dabei aber immer wieder Zweifelsfalle auf. Z w i s c h e n 1804 u n d 1809 blieb die Anzahl der Hauseigentumer unter den deutschen Handwerkern mit 169 bzw. 161 etwa konstant. D e n groBten Anteil im Jahre 1804 hatten die Backer und Schneider mit jeweils 19 Eigentumern. Ihnen folgten die Sattler (16), Tischler (15), Schmiede (14), W a g e n b a u e r (9) und andere. Die Verteilung im Jahre 1809 sah wie folgt aus: 15 Backer, 19 Schneider, 15 Sattler, 17 Tischler, 18 S c h m i e d e , 12 Wagenbauer, 15 Schlosser und andere. Es ist selbstverstandlich, daB hier nur ein Bruchteil u n d nicht alle deutschen Handwerker, wie N . I . Ivanova falschlicherweise meint, aufgezahlt worden waren, weil nicht alle v o n ihnen Hauseigentumer w a r e n . Die uberwiegende Mehrheit der deutschen H a n d w e r k e r w o h n t e und arbeitete in angemieteten W o h n u n g e n . W e n n wir annehmen, daB die deutschen H a n d w e r k e r unter den auslandischen Zunftmeistem mehr als die Halfte ausmachten, so sollten in der Hauptstadt zu j e n e r Zeit etwa 500 deutsche Meister gelebt haben. Ihre Anzahl muB aber noch h o h e r gewesen sein, w e n n wir in Betracht ziehen, daB in der Hauptstadt rund 20.000 D e u t s c h e n lebten, die meistens Handwerker und Kaufleute w a r e n . Es w a r a u c h n i c h t s e l b s t v e r s t a n d l i c h , daB a l l e d e u t s c h e n H a n d w e r k e r Zunfthandwerker w a r e n . Im Gegenteil die Mehrheit der deutschen Handwerker stand auBerhalb der Zunft. Insgesamt gab es 1809 rund 600 deutschstammige Hauseigentumer, das waren 8 , 3 % aller Hausbesitzer der Hauptstadt. Die groBten Gruppen unter den deutschen Eigentumern stellten H a n d w e r k e r (161), Beamten (146), Kaufleute (121), Militars (75) und Hofangestellte (20). A u c h fur die spateren Zeitabschnitte m a c h t I v a n o v a inkorrekte Vergleiche bezuglich der A n z a h l der d e u t s c h e n H a n d w e r k e r , z. B . fur das Jahr 1849, da si
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