Die Handwerker in St. Petersburg : von der Mitte des 19

Die Handwerker in St. Petersburg
Europaische Hochschulschriften
Publications Universitaires Europeennes
European University Studies
Reihe III
Geschichte und ihre Hilfswissenschaften
Serie III Series III
Histoire, sciences auxiliaires de I'histoire
History and Allied Studies
Bd./Vol. 934
PETER LANG
Frankfurt am Main • Berlin • Bern • Bruxelles • New York • Oxford • Wien
Andreas Keller
Die Handwerker in St. Petersburg
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum
Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914
PETER LANG
Europaischer Verlag der Wissenschaften
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Keller, Andreas:
Die Handwerker in St. Petersburg : von der Mitte des 19.
Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 /
Andreas Keller. - Frankfurt am Main ; Berlin ; Bern ; Bruxelles ;
New York; Oxford ; Wien : Lang, 2002
(Europdische Hochschulschriften : Reihe 3, Geschichte
und ihre Hilfswissenschaften ; Bd. 934)
Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 2000
ISBN 3-631-39403-9
Gedruckt auf alterungsbestendigem,
sSurefreiem Papier.
D25
ISSN 0531-7320
ISBN 3-631-39403-9
© Peter Lang GmbH
Europdischer Verlag der Wissenschaften
Frankfurt am Main 2002
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Printed in Germany 1 2
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4567
meiner Frau Irina
"Die magnalia, welche die alte Welt unter dem N a m e n der sieben
Wunderwerke hinterlassen, sind an sich selbst einer sonderbaren
Bewunderung wtirdig, aber in Betrachtung ihrer jemals gehabten
Nutzens, und der geraunien Zeit, welche darauf verwendet ist, mit
der Stadt Petersburg in keine Vergleichung zu ziehen, denn deise ist
in zehn Jahren erbauet, i ^ d kann in Ansehen des aus der ganzen
Welt dahin gezogenen Handels mit Recht ein Wunderwerk der Welt
heiBen".
Friedrich Christian Weber
"Wer hat, meine Brtider, sich unter euch vor 30. Jahren traumen
lassen, daB ihr mit mir an der Ostsee hier zimmern, und mit einer
teutschen Kleidung in denen durch unsere Mtihe und Tapferkeit
eroberten Landern eure Wohnstadt aufschlagen, (...) solche
geschickte und aus fremden Landern zu Haufe g e k o m m e n e Sonne,
soviel ausheimische Kunstler und Handwerksleute in unserm
Gebiethe (...) sehen und erleben wurde".
Rede Peter des GroBen im Mai 1714 auf
dem fertiggebauten Schiff in St.
Petersburg, nach F. Ch. Weber
Vorwort
Die Handwerkerschaft v o n St. Petersburg genoB aufgrund der Qualitat ihrer
Arbeit einen aufierordentlich ^juten Ruf. Sie tat sich in der Adaptation neuer
Fertigungsmethoden hervor und w a r fur technische Neuerungen aller Art
aufgeschlossen.
Die Entwicklung des Handwerks in St. Petersburg war im Sinne Peters des
Groflen. Sein Anliegen war es, die Ausbildung hochqualifizierter Handwerker
voranzutreiben, u m der Wirtschaft Russlands Impulse zu geben.
Diese Arbeit mochte zeigen, wie sich das H a n d w e r k in der Hauptstadt des
Russischen Reiches entwickelte und w a r u m es z u m Vorbild fur die tibrige
Handwerkerschaft wurde. D a diese Entwicklung mit den Strukturen der
Selbstverwaltung und denen des Ausbildungswesens eng verbunden ist, sollen
auch sie in dieser Arbeit thematisiert werden. Die Periode der Industrialisierung
bildet den historischen Schweipunkt dieser Untersuchung, da in dieser Zeit das
Handwerk durch die fortschreitende industrielle Produktion unter erheblichen
Konkurrenzdruck k a m .
Der Autor mochte den Mitarbeitern des Russischen historischen Staatsarchivs in
St. Petersburg und denen der Russischen Nationalbibliothek v o n St. Petersburg
fur ihr Engagement und ihre H ilfe bei der Suche nach den benotigten Materialien
herzlich danken.
D e m Deutschen Akademischen Austausch Dienst danke ich fur das halbjahrige
Stipendium sowie der Burkhaidt-Stiftung der Universitat Freiburg i. Br. fur die
fmanzielle Unterstutzung meines Vorhabens.
Diese Arbeit ware ohne die Hilfe von Birgit Sawatzki und Felix Gollinger nicht
zustande gekommen. Fur wertvolle Ratschlage danke ich Herrn Prof. Dr. Heiko
H a u m a n n und Herrn Dr. Guido Hausmann. Mein besonderer D a n k gilt meinem
Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dittmar Dahlmann, der mir mit Rat und Tat zur
Seite stand.
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
15-20
D e r Stadtplan von St. Petersburg in der zweiten Halfte
des 19. Jahrhunderts
EINLEITUNG
23
0.1 Problemstellung
23
0.2 Forschungsgegenstand und Untersuchungszeitraum
28
0.3 M e t h o d e
34
0.4 Begriffe
39
1. D a s H a n d w e r k in Rufiland vor Einfuhrung der Ziinfte 1722
45
2. Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik der russischen
Regierung v o m 18. Jahrhundert bis 1914
49
2.1 Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik Peters I.
vor der Einfuhrung der Ziinfte
2.2 Die Einfuhrung der Zimfte 1722
49
54
2.3 Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik nach
Peter I. bis 1762
2.4 Die Gewerbepolitik Katharinas II. 1 7 6 2 - 1796
60
69
2.4.1 D a s Handwerksstatut v o n 1785: Innovation
und Kontinuitat
70
2.5 Der Senatserlafl von 1796
75
2.6 D a s Zunftstatut von 1799
78
2.7 Z u r Typologie russischer und westeuropaischer bzw.
deutscher Ziinfte
79
2.8 Die Gewerbegesetzgebung und die Gewerbepolitik
in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts
2.9 Staatliche MaBnahmen z u m Schutz des hauptstadtischen
82
Zunfthandwerks
87
2.10 Die Reformversuche v o n 1850
88
2.11 Die Regierungskommissionen 1857-1864
92
2.12 Die Regierungspolitik v o n 1870 bis 1914
96
2.13 Zusarnmenfassung
98
3. Die Entwicklung des H a n d w e r k s im 18. Jahrhundert
103
3.1 D a s Zunfthandwerk
103
3.2 D a s nichtzunftige H a n d w e r k
109
3.3 Zusarnmenfassung
113
4. D i e H a n d w e r k e r u n d ihr G e w e r b e im Stadtbild St. Petersburgs
des 19. Jahrhunderts
5. D i e Selbstverwaltung der Zunfthandwerker
119
121
5.1 D i e Selbstverwaltung der russischen Ziinfte
127
5.2 Die Selbstverwaltung der deutschen Ziinfte
132
5.3 Die Zeit v o n der Reform der offentlichen Selbstverwaltung
St. Petersburgs im Jahr 1846 bis z u m E n d e der 1850er Jahre
139
5.4 Die Selbstverwaltung der russischen Ziinfte wahrend der
„groBen Reformen" 1860er Jahre bis 1914
146
5.4.1 Die Handwerksverwaltung und die standigen
Zunfthandwerker
146
5.4.2 Die Handwerksverwaltung u n d die zeitweiligen
Zunfthandwerker
5.5 Die Gerichtsbarkeit der Handwerksverwaltung
5.5.1 D a s RechtsbewuBtsein der H a n d w e r k e r
164
179
183
5.6 Die finanzielle Lage der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die
Entwicklung des Verwaltungsapparates
5.7 Zusarnmenfassung
6. D e r Fiskus u n d das H a n d w e r k
6.1 Die Besteuerung der auslandischen H a n d w e r k e r
186
189
195
195
6.2 Die Besteuerung russischer Handwerker
212
6.3 Die Besteuerung der n b h t zUnftig organisierter H a n d w e r k e r
224
6.4 Die Aufgaben der russischen Handwerksverwaltung bei der
Besteuerung der H a n d w e r k e r
6.5 Zusarnmenfassung
7. Die soziale L a g e der H a n d w e r k e r
227
232
235
7.1 Die soziale Herkunft der Handwerker und ihre demographische
Verteilung
235
7.2 D i e L e b e n s - u n d Arbei sverhaltnisse i m H a n d w e r k
249
7.3 Die soziale V e r s o r g u n g der Handwerker
267
7.4 Die Unterstutzungs- u n d andere Kassen der H a n d w e r k e r
269
7.5 Zusarnmenfassung
273
8. Die Fach- u n d Allgemeinbildung im H a n d w e r k
277
8.1 Die Allgemeinausbildung im H a n d w e r k
277
8.2 Die Fachausbildung im Handwerksbetrieb bei den ztinftigen und
nichtziinftigen Handwerkern
8.3 Die Rolle der Handwerksverwaltung in der Berufsausbildung
284
296
8.4 Die nichtzunftige Handwerksausbildung u n d die Rolle
des Staates
300
8.5 D i e Kaiserliche Russisehe Technische Gesellschaft und die
technische Ausbildung
8.6 Die privaten Ausbildungsanstalten im H a n d w e r k
312
315
8.7 Staatliche Mafinahmen :mm Aufbau der Berufsschulen in
RuBland u n d St. Petersburg
318
9. M o n o p o l und Konkurrenz im H a n d w e r k
323
9.1 M o n o p o l
323
9.1.1 Die Ziinfte und die zunftfreien Handwerker
323
9.1.2 Die M o n o p o l k a m p f e zwischen den Ziinften
336
9.1.3 Zur Definition des Monopolrechts in der russischen
Gesetzgebung
9.2 Konkurrenz
342
352
9.2.1 Zunftige Handwerker
352
9.2.2 Nichtzunftige H a n d w e r k e r
361
9.2.3 Bauerliches H e i m g e w e r b e im St. Petersburger u n d seinen
benachbarten Gouvernements: G e w e r b e im Spannungsfeld
v o n Stadt und Land
9.3 Zusammenfassung
10. Die wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s
10.1 Die allgemeine wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r
371
376
381
382
10.1.1 Die Kreditbildung im H a n d w e r k und
die Genossenschaften
410
10.1.2 Die Preis- und Lohnbildung
416
10.2 D e r Absatzmarkt und regionale Verteilung des H a n d w e r k s
423
10.3 Die allgemeine Entwicklung der St. Petersburger Industrie und des
H a n d w e r k s im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Wandel
im H a n d w e r k
434
10.3.1 Die Rolle der auslandischen H a n d w e r k e r
448
10.3.2 Die Entwicklung des Zunfthandwerks und die
zeitgenossische Rezeption
10.4 Zusammenfassung
460
470
SCHLUSS
473
Abkurzungsverzeichnis
475
Russische Mafle vor 1917
476
Verhaltnis v o m Silber- und Papierrubel im 19. Jahrhundert
476
Handwerksaltestenverzeichnis russischer und deutscher Ziinfte
477
Tabellenanhang
479
Quellen und Literaturverzeichnis
565
Tabellenverzeichnis
Tabellen im Text
Tabelle 1
Tabelle 2
Tabelle 3
Manufaktur- b z w . Fabrikarbeiter und die H a n d w e r k e r v o n
St. Petersburg 1785-1900
31
Handel mit Pelzwaren in den Jahren 1837-1854 u n d
die Zollabgaben
85
A u s g e w a h l t e Handwerksbranchen unter den deutschen und
russischen Zunfthandwerkern in den Jahren 1724, 1766
und 1790
105
Anzahl der Meister in den russischen und deutschen Zunften
in ausgewahlten H a n d w e r k e n v o n St. Petersburg 1766 und
1789/1790
107
Tabelle 5
H a n d w e r k e r in der Admiralitat in den Jahren 1715 -1721
Ill
Tabelle 6
B e v o l k e r u n g von St. Petersburg 1720-1800
116
Tabelle 7
Anzahl der Meister in ausgewahlten Zunften nach den
Tabelle 4
Tabelle 8
A n g a b e n von Dittmar und Korf 1840
135
A u s g a b e n der Handwerksverwaltung im Jahre 1849
137
Tabelle 9
E i n n a h m e n und A u s g a b e n der auslandischen
Handwerksverwaltung 1850
Tabelle 10 Die soziale Herkunft der Zunftmeister 1 8 1 1 , 1 8 1 5 - 1 8 1 6
und 1834-1835
138
240
Tabelle 11 Anzahl der Beschaftigten und der Arbeitsstunden in den
kontrollierten Betrieben 1841
250
Tabelle 12 Anzahl der W o h n u n g e n und H o h e der Miete
257
Tabelle 13 A u s g a b e der Meisi:er- und Gesellendiplome 1866, 1867
und 1910
297
Tabelle 14 Anzahl der Lehrlinge in den Handwerksbetrieben der
zunftigen Meister und mittlere Zahl der Gewerbebetriebe in
M o s k a u u n d St. Petersburg 1900 und 1910
298
Tabelle 15 Einfuhr v o n Rohrstocken 1832 bis 1834, in Papierrubel
355
Tabelle 16 Die Betragszahlen nach der sozialen Zugehorigkeit 1847
411
Tabelle 17 Verteilung der Handwerksbetriebe nach Stadtvierteln
1815, 1869, 1881 u n d 1889
429
Tabelle 18 H a n d w e r k e r im Petersburger, M o s k a u e r und Taurischen
G o u v e r n e m e n t und in RuBland 1858
436
Tabelle 19 Handwerksbetriebe in St. Petersburg und M o s k a u 1900
und 1910
442
Tabelle 20 Anzahl der Zunfthandwerker in St. Petersburg
und RuBland 1900 und 1910
469
Tabellen im A n h a n g
Tabelle 1 St. Petersburger Handwerker von 1722 bis 1914
479
Tabelle 2 Zunfthandwerker; Meister, Gesellen u n d Lehrlinge im
Jahr 1724
485
Tabelle 3 Zimfthamdwerker im Jahr 1766
486
Tabelle 4 Zunftige u n d zunftfreie Handwerker im Jahr 1789/90
488
Tabelle 5 Russische Ziinfte 1866
491
Tabelle 6 Russische Ziinfte 1867
494
Tabelle 7 Russische Ziinfte 1868
495
Tabelle 8 Russische Ziinfte 1873
497
Tabelle 9 Z u - bzw. A b n a h m e cler Handwerkerzahlen in den russischen
Ziinften 1866-1873
498
Tabelle 10 Mittlere WerkstattgroBe 1866-1873
500
Tabelle 11 Silberschmiede- u n d Posamentiererzunft 1866-1891
502
Tabelle 12 K o n d i t o r e n - u n d Backerzunft 1874-1891
504
Tabelle 13 Schuhmacher- und Ledererzunft 1874-1891
505
Tabelle 14 S c h r e i n e r - u n d Zimmererzunft 1866-1891
506
Tabelle 15 Malerzunft 1874-1891
507
Tabelle 16 Schlosser- und Schmiedezunft 1866-1879
508
Tabelle 17 Schneiderzunft 1865-1891
509
Tabelle 18 Tapezierer- u n d Haarverarbeiterzunft 1866-1891
511
Tabelle 19 Gesamtzahl der Handwerker russischer Ziinfte
in St. Petersburg 1866-1891
512
Tabelle 20 Prozentualer Anteil v o n Meistern, Gesellen u n d Lehrlingen
p r o Betrieb in den russischen Zunften v o n St. Petersburg
1 8 6 6 - 1891
514
Tabelle 21 Handwerksbetriebe 1869
515
Tabelle 22 Handwerksbetriebe 1890
516
Tabelle 23 Verhaltnis der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberzahlen 1890
. . . 517
Tabelle 24 Ausgewahlte Gewerbebranchen in St. Petersburg 1900
518
Tabelle 25 Gesamte Gewerbebranchen in St. Petersburg 1900
521
Tabelle 26 Zahlenverhaltnis der Arbeitnehmer zu einem Arbeitgeber
in St. Petersburg 1890 und 1900
Tabelle 27 Anzahl der Werkstatten nach ihrer Grofle 1900 u n d 1910
522
523
Tabelle 28 Anzahl der Lehrlinge entsprechend der BetriebsgroBe
1900 u n d 1910
Tabelle 29 Mittlere Anzahl der Lehrlinge pro Betrieb 1900 u n d 1910
Tabelle 30 Neugegrundete Industriebetriebe in St. Petersburg zwischen
1881 und 1897
Tabelle 31 Steuerberechnungen des Finanzministeriums, der
Zunftaltesten und des Handwerksoberhauptes deutscher
Zunfte 1840
Tabelle 32 Eingezahlte Steuerbeitrage der auslandischen Meister in
den russischen Zunften, 1811 -1816, in Rubel
524
525
526
527
529
Tabelle 33 Eingezahlte Steuerbeitrage der Gesellen bei den
auslandischen Meistern in den russischen Zunften
in den Jahren 1811-1816
530
Tabelle 34 Eingezahlte Steuerbeitrage der Lehrlinge bei den
auslandischen Meistern in den russischen Zunften
in den Jahren 1811-1816
530
Tabelle 35 Bezahlte u n d ausstehende Steuer der auslandischen
Meister in den deutschen Ziinften 1818-1821
531
Tabelle 36 E i n n a h m e n der Handwerkskasse der deutschen Ziinfte
1850 und 1851
531
Tabelle 37 A b g a b e n der auslandischen Zunfthandwerker 1849, 1850
und 1851 in SilbeiTubel
532
Tabelle 38 Kopfsteuer und andere A b g a b e n eines Meisters in
Papierrubel im Jahr 1825/26
533
Tabelle 39 Kopfsteuer in K o p e k e n in den Jahren 1724, 1794,
1816/18 und 1839/50
533
Tabelle 40 Akzisesteuer zwischen 1835 und 1837 in Papierrubel
534
Tabelle 41 Die Besteuerung der Zunfthandwerker im Jahr 1864
in Silberrubel
535
Tabelle 42 Die Entwicklung der Steuerlast j e Person der Bevolkerung
in RuBland zwischen 1861-1913 in Silberrubel
535
Tabelle 43 Steuersatz der Kaufleute von 1775 bis 1824 in Rubel
536
Tabelle 44 Die Anzahl verkaufter Handelslizenzen (svidetel'stva na
melocnyj torg und torgovye bilety)
537
Tabelle 45 Verkaufte Gewerbeerlaubnisse (promyslovye svidetel 'stva)
fur Handwerksstaiten und Handelsbetriebe im Jahr 1909
538
Tabelle 4 6 Die A b g a b e n der Zunfthandwerker und der
Gewerbetreibenden im St. Petersburger Gouvernement fur
die G e w e r b e - und Handelslizenzen 1873-1891 in Rubel
539
Tabelle 47 Beitrage in die Kasse der Handwerksverwaltung von den
zeitweiligen und standigen Handwerkern fur 1876, 1880,
1884, 1885 und 1903
540
Tabelle 48 Beitrage in die Zunftkassen von den standigen
H a n d w e r k e r n 1886-1888
541
Tabelle 4 9 Beitrage in die Zunftkassen v o n den zeitweiligen
H a n d w e r k e r n 1881-1888
Tabelle 50 E i n n a h m e n der Handwerksverwaltung 1 8 6 6 - 1909
542
543
Tabelle 51 Kapital der Handwerksverwaltung in der B a n k 1876 - 1884 . . . 544
Tabelle 52 E i n n a h m e n der Handwerksverwaltung 1886-1891
544
Tabelle 53 Prozentualer Anteil an verschiedenen Posten in den
Finanzen der Handwerksverwaltung 1886 bis 1891
545
Tabelle 54 E i n n a h m e n und A u s g a b e n der St. Petersburger H a n d w e r k s ­
verwaltung in den Jahren 1908-1912
546
Tabelle 55 Verhaltnis der Arbeitskrafte weiblichen Geschlechts zur
Gesamthandwerkerzahl in den russischen Zunften
St. Petersburgs 1874-1891
547
Tabelle 56 Verpflegte Personen im Altersheim fur H a n d w e r k e r
1 8 5 0 - 1910
548
Tabelle 57 Unterrichtsfacher und -stunden in den drei Klassen der
Alexandrinischen Schule 1887/1888
549
Tabelle 58 Schuler und Schiilerinnen in der Alexandrinischen
Schule 1 8 6 6 - 1910
550
Tabelle 59 Malschule der russischen Handwerksverwaltung
1887-1891
551
Tabelle 60 Anzahl der Lehrlinge und Ausgaben in Rubel in der
Fursorgegesellschaft 1902 -1906
551
Tabelle 61 Anzahl der Lehrlinge in den Sonntagsklassen der
Malschulen auf der Vasilij-Insel und bei der technischen
H o c h s c h u l e 1846
552
Tabelle 62 Anzahl der Schuler in der Handwerksberufsschule
1875 - 1895
553
Tabelle 63 Absolventen der Handwerksberufsschule 1877 - 1895
554
Tabelle 64 Werkstatten auslandischer Meister 1827 bis 1840
555
Tabelle 65 Die Immobilienwerte v o n St. Petersburg 1845
556
Tabelle 66 Die Veranderung der mittleren BetriebsgroBe bei den Zunfthandwerkern 1790 - 1891
557
Tabelle 67 D a s Verhaltnis der Handwerkeranzahl zu der Bevolkerung
St. Petersburgs und Zuwachsraten 1840-1910
558
Tabelle 68 Verteilung der Werkstatten nach ausgewahlten
Gewerbebranchen 1815 und 1869
559
Tabelle 69 Prozentuales W a c h s t u m des H a n d w e r k s und mittlere
BetriebsgroBe zwischen 1864, 1890 und 1900
560
Tabelle 70 Zahl der Einwohner j e Handwerker bzw. ihr prozentualer
Anteil an der Bevolkerung 1864, 1890 und 1900
561
Tabelle 71 Klavierbauer in St. Petersburg 1863
562
Tabelle 72 Aufstellung der Handwerksbetriebe nach den Branchen
im Jahr 1869
563
t. Petersburger Viertel:
аз.
-
ол. -
[
-
Admiralitatsviertel
Kazanerviertel
Spasskerviertel
Kolomenskerviertel
Naroverviertel
Moskauerviertel
AH
P
Л
В
П
Выб. -
Alexander-Nevskij - Viert<
Rozdestvenskerviertel
Litejnerviertel
Vasilijinsel viertel
Petersburgerviertel
Vyborgerviertel
Quelle: Juchneva, N. V., Etniceskij sostav i etnosociaTnaja
struktura naselenija Peterburga. L. 1984.
EINLEITUNG
0.1
Problemstellung
Die v o r l i e g e n d e Arbeit setzl: sich zum Ziel, die Lage des H a n d w e r k s in St.
Petersburg im 19. Jahrhundert und besonders wahrend der Industrialisierung in der
zweiten Halfte dieses Jahrhunderts darzustellen.
Die Frage der Industrialisierung RuBlands im 19. Jahrhundert beschaftigte viele
Historiker. Sie versuchten aus verschiedenen Blickwinkeln heraus zu klaren, ob
es zu diesem fruhen Zeitpunkt uberhaupt eine Industrialisierung in RuBland gab
und w e n n ja, welche spezifischen Ztige sie trug. Dabei w u r d e a u c h auf die
russische Besonderheit hingewiesen, daB die Arbeiter in der russischen Industrie
meistens aus leibeigenen Bauern rekrutiert wurden. Unter anderem wurde
konstatiert, daB die russische Wirtschaft in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts
z u m groBten Teil staatlich gelenkt und zugleich subventioniert w u r d e und daher
in h o h e m Grade von der Wirtschaftspolitik des Staates und weitgehend von
Staatsauftragen abhangig war Vielfaltige RestriktionsmaBnahmen der russischen
R e g i e r u n g gegen private Unternehmen und die hohe Besteuerung dieser
Unternehmen fanden ihren Niederschlag in der mangelnden Entwicklung privater
Initiativen in der Wirtschaft und in standigem Kapitalmangel. Infolge dieser Fehlentwicklung war es schwierig, mit den westlichen Industrielandern zu
konkurrieren.
Durch diesen F o r s c h u n g s s c h w e ф u n k t auf die Entwicklung der Industrie wurde
dem weitentwickelten und hochspezialisierten H a n d w e r k von St. Petersburg nur
wenig B e a c h t u n g geschenkt. W e n n schon die russischen Industriebetriebe der
harten Konkurrenz der westlichen Industrie ausgesetzt waren, die billigere und
von der Qualitat her auch bessere Waren lieferte, und nur mtihsam standhielten,
wie sollte es dann um die B e d e u t u n g des H a n d w e r k s in den russischen
Hauptstadten und in RuBland allgemein bestellt sein? Tatsachlich war das
H a n d w e r k in St. Petersburg mit dem Beginn der Industrialisierung ahnlichen
Problemen wie in Westeuropa ausgesetzt. Infolge der Industrialisierung eroberten
die groBen Industriebetriebe mehrere Handwerksbranchen und verdrangten die
Handwerksstatten aus ihren traditionellen Produktionsnischen. Dadurch entstand
der Eindruck, daB das H a n d w e r k keine Zukunft und keine Entwicklungs- bzw.
Innovationskraft m e h r hatte. Mit der Zeit bewies es aber, daB es durchaus imstande
war, einige Marktbereiche fur sich zu sichern oder sogar neue zu gewinnen.
E s ist wichtig, die Rolle der auslandischen - z u m groBten Teil deutschen H a n d w e r k e r in St. Petersburg; zu untersuchen, die Innovationen im technischen
und betriebsorganisatorischeii Bereich mit sich brachten, w a s eine nachhaltig
positive W i r k u n g auf das russische Handwerk hatte.
Zur Lage des H a n d w e r k s in RuBland lassen sich in der russischen Historiographie
vor 1917 und in der sowjetrussischen Historiographie einige Arbeiten finden. W a s
aber das H a n d w e r k von St. Petersburg betrifft, so fehlen hier ubergreifende
Darstellungen. N . Stepanov veroffentlichte 1864 eine Untersuchung, in der er die
Organisations- und Rechtsformen des russischen und des westeuropaischen
H a n d w e r k s verglich. Zehn Jahre spater erschien die Arbeit v o n I. Ditjatin uber die
russischen Stadte und ihre Verwaltung, in der er auch uber die stadtischen
H a n d w e r k e r berichtete. SchlieBlich ist ein Aufsatz von M . Dovnar-Zapol'skij uber
die M o s k a u e r H a n d w e r k e r im 17. Jahrhundert zu nennen, der aber auch wie die
zwei obengenannten Autoren v o m Standpunkt des Rechtshistorikers schrieb. In
A n b e t r a c h t der b e h e r r s c h e n d e n K l a s s e n t h e o r i e in d e r
sowjetischen
Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte wurde in der F o r s c h u n g tiberwiegend
der Bauern- und Arbeitergeschichte nachgegangen. D a g e g e n befand sich die
Geschichte des H a n d w e r k s in RuBland im 18. und besonders im 19. Jahrhundert,
als das H a n d w e r k mehr und m e h r im Schatten der Industrialisierung stand, immer
am R a n d e des Forschungsfeldes der Historiker und es wurde nicht systematisch
darauf eingegangen. Die erschienenen Arbeiten wurden meistens als Artikel
zusammengefaBt und stellten das H a n d w e r k uberwiegend im Mittelalter dar. S. V.
Bachrusin widmete einige seiner Arbeiten d e m russischen H a n d w e r k im
Spatmittelalter, in denen er die allgemeine Lage des H a n d w e r k s im zentralisierten
RuBland des 16. u n d 17. Jahrhunderts, insbesondere die d e r L e h r l i n g e , erforschte.
1
2
3
4
5
1
N. Stepanov, Sravnitel'no-istoriceskij обегк organizacii remeslennoj promySlennosti v
Rossii i zapadno-evropejskich gosudarstvach, Kiev 1864.
2
1 . Ditjatin, Ustrojstvo i upravlenie gorodov Rossii Bd. 1: Vvedenie. Ustrojstvo i upravlenie
gorodov Rossii v XVIII stoletii, St. Petersburg 1875; Bd. 2: Gorodskoe samoupravlenie do
1870 goda. Jaroslavl' 1877.
3
M. Dovnar-Zapol'skij, Organizacija moskovskich remeslennikov v XVII veke, in: 2MNP
(September 1910).
4
A. V. Arcichovskij, Novgorodskie remesla v XVI veke, in: NIS 6, S. 3-15, Novgorod 1939;
V. I. Sunkov, Remeslo v Pskove i Novgorode po dannym syska 1639-1640, in: IZ 5, S. 102117, Moskau 1939; N. V. Ustjugov, Remeslo i melkoe tovamoe proizvodstvo v Russkom
gosudarstve XVII veka, in: IZ 34, S. 166-197, Moskau 1950; K. N. Serbina, Ocerki iz
social'no-ekonomideskoj istorii russkogo goroda. Tichvinskij posad v XVI-XVIII vekach,
Moskau-Leningrad 1951; L. V. Danilova, Melkaja promySlennost' i promysly v russkom
gorode vo vtoroj polovine XVII i naeale XVIII vekov (po materialam goroda Jaroslavlja), in:
Istorija SSSR 3, 1957, S. 87-111; A. P. PronStejn, Velikij Novgorod v XVI veke, Char'kov
1957; A. M. Orechov, Tovamoe proizvodstvo i naemnyj trud v promySlennosti po
pererabotke zivotnogo syr'ja v Niznem Novgorode 17 veka, in: Russkoe gosudarstvo v XVII
veke, S. 75-109, Moskau 1961; K. N. Serbina, Remeslo i manufaktura v Rossii v XVI-XVII
vekach, in: Remeslo i manufaktura v Rossii, Finljandii i Pribaltike, S. 20-31, Leningrad 1975.
5
S. V. Bachrusm, Ocerki po istorii remesla, torgovli i gorodov russkogo centralizovannogo
gosudarstva XVI - naeala XVII vekov, in: Naucnye trudy Bd. 1, hier: Moskva как
remeslennyj i torgovyj centr v XVI v., S. 107-142, Moskau 1952; Ebenda, Remeslennye
uceniki v XVII veke, Bd. 2, S. 101-118, Moskau 1954.
W a s das H a n d w e r k im 18. und 19. Jahrhundert betrifft, so lassen sich einige
Studien erwahnen. 1952 erschien das Buch von K. A. Pazitnov uber die rechtliche
Stellung der H a n d w e r k e r in der Gesetzgebung des russischen A b s o l u t i s m u s .
Seine U n t e r s u c h u n g betont die Besonderheiten der russischen Ziinfte im
Unterschied zu denen in Westeuropa.
E s laBt sich eine Fallstudie von S. I. Sakovi
nennen, in der er den
Handwerkerstand in bezug auf die bauerliche B e v o l k e r u n g M o s k a u s der 1720er
Jahren erforschte. In den 1960er Jahren versuchten F. Ja. Poljanskij und Ju. R.
K l o k m a n ein vergleichsweise hohes Entwicklungsniveau des H a n d w e r k s zu
belegen, w a s angesichts einer schwach entwickelten Klein- u n d Mittelindustrie
wenig iiberzeugend ist. AuBerdem wurde uber die Handwerker in den allgemeinen
Studien der Wirtschafts- und i\rbeitergeschichte berichtet.
Die H a n d w e r k e r in St. Petersburg sind T h e m a der Aufsatze von A. I. K o p a n e v und
N . I. I v a n o v a . Als letztes soil in der sowjetischen Historiographie die ethnosoziologische Untersuchung von N . V. Juchneva erwahnt w e r d e n , in der
verschiedene Gruppen von H a n d w e r k e r n nach N a t i o n a l i t y und sozialer
Zugehorigkeit behandelt werden. SchlieBlich sind noch die zwei B a n d e uber die
6
7
8
9
10
11
6
K. A. Pazitnov, Problema remeslennych cechov v zakonodatel'stve russkogo absoljutizma,
Moskau 1952.
7
S. I. Sakovi, Social'nyj sostav moskovskich remeslennikov 1720-ch godov, in: Istoriceskie
zapiski, Bd. 42, S. 238-261, Moskeu 1953.
8
Klokman, Ju. R., Social'no-ekonomi6eskaja istorija russkogo goroda. Vtoraja polovina 18go veka, Moskau 1967; Poljanskij, F.Ja., Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii XVIII
veka. Moskau 1960.
9
E. I. Zaozerskaja, U istokov krupnogo proizvodstva v russkoj promySlennosti, Moskau
1947; P. G. Ljubomirov, 06erki po istorii russkoj promySlennosti, Moskau 1947; R. S.
LivSic, RazmeScenie promySlennosti v dorevoljucionnoj Rossii, Moskau 1955; Istorija
rabo&ch Leningrada (Hrsg. S. N. Valk u. a.), Bd. 1 (1703 - Februar 1917), Leningrad 1972;
L. N. Semenova, Raboeie Peterburga v pervoj polovine XVIII veka, Leningrad 1974.
10
A. I. Kopanev, Remeslenniki Peterburga v pervoj polovine XIX veka, in: Remeslo i
manufaktura v Rossii, Finljandii i Pribaltike (Hrsg. A. S. Kan u.a.), S. 78-89, Leningrad 1975;
Ders., Naselenie Peterburga v pervoj polovine XIX veka, Moskau-Leningrad 1957; Ders. in:
Ocerki istorii Leningrada Bd. 1, S. 485-490 und 512-520, sowie Bd. 2, S. 178ff. und 21 If; N.
I. Ivanova, Deutsche Handwerker und Unternehmer in St. Petersburg vom Beginn des 19.
Jahrhunderts bis zum Jahre 1913. In: Dittmar Dahlmann u. Carmen Scheide (Hrsg.), „... das
einzige Land in Europa, das eine grofle Zukunft vor sich hat". Deutsche Unternehmen und
Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frtihen 20. Jahrhundert, Essen 1998
(Veroffentlichungen des Instituts fiir Kultur und Geschichte der Deutschen im 6stlichen
Europa, hrsg. v. Detlef Brandes, DietmarNeutatz u. Maria Rhode, Bd. 8), S. 275-312.
11
N. V. Juchneva, Etni6eskij sostav i etnosocial'naja struktura naselenija Peterburga.
Statistische Analyse, Leningrad 1984, S. 56-65.
Geschichte der russischen Kultur im 18. Jahrhundert zu nennen, in denen auf die
12
allgemeine Entwicklung des russischen H a n d w e r k s eingegangen w i r d .
W a s die nichtrussischsprachige Geschichtsschreibung anbelangt, so schenkten die
meisten Autoren ihre Aufmerksamkeit fast ausschlieBlich den Arbeitern in den
13
Fabriken und erwahnten die Handwerker nur am R a n d e . R e g i n a l d Zelnik und
Joachim von Puttkamer gingen zwar der Problematik der Zunfte nach, sie wurde
aber nur im Z u s a m m e n h a n g mit der allgemeinen Gewerbegesetzgebung sowie der
Arbeit der Regierungskommissionen (1857-1862) erortert, deren Stellungnahme
bezuglich des Zunftsystems eindeutig negativ war und deren Vorschlage ihren
zeitgemaBen A u s d r u c k nicht zu Unrecht in der geauBerten Option der zukiinftigen
14
Gewerbefreiheit wiederfanden . In diesem Z u s a m m e n h a n g ist es wichtig, eine
klare historiographische Linie bzw. ein Bundel von Vorstellungen iiber die Zunfte
zu erlautern.
Die russische
liberal-demokratische
(Ditjatin),
sowjetische
(Pazitnov) und westliche (Zelnik, Hildermeier) Geschichtsschreibung iiber die
russischen Zunfte sind sich in der Erkenntnis einig, daB diese Zunfte „freilich nicht
den Nutzen [brachten], den sich der Reformer erhoffte", eine restriktive Rolle fur
die gewerbliche Entfaltung besonders im 19. Jahrhundert spielten und eine
Erweiterung
staatlich-polizeilicher
Lenkungsmechanismen
15
darstellten .
12
Ocerki russkoj киГгигу XVIII veka Bd. 1, S. 157-177 und Bd. 2, S. 254ff. und 260, Moskau
1985 und 1990.
13
Victoria E. Bonnell, Roots of rebellion; workers' politics and organisations in St.
Petersburg and Moscow, 1900-1914, Berkeley, Calif. 1983; Daniel R. Brower, The Russian
city between tradition and modernity: 1850-1900, Berkeley 1990; Olga Crisp, Labor and
industrialisation in Russia, in: The Cambridge Economic History of Europe. Vol. VII, Part 2,
London 1976; Manfred Hildermeier, Biirgertum und Stadt in RuBland 1760-1870: Rechtliche
Lage und soziale Struktur, Koln/Wien 1986; Heather Hogan, Forging revolution:
(metalworkers, managers and the state in St. Petersburg), 1890-1914, Bloomington, Indiana
1993; Robert B. McKean, Saint Petersburg between the revolutions: (workers and
revolutionaries, June 1907-February 1917), New Haven 1990; R. Pipes, Social Democracy
and the St. Petersburg labor movement, 1885-1897, Cambridge 1963; Joachim v. Puttkamer,
Fabrikgesetzgebung in RuBland vor 1905: Regierung und Unternehmerschaft beim Ausgleich
ihrer Interessen in einer vorkonstitutioneller Ordnung (Beitruge zur Geschichte Osteuropas
Bd. 20). Koln 1996; Michael Share, The Central Worker's Circle of St. Petersburg, 18891894: A Case study of the "Workers' Intelligentsia", New York and London 1987; Gerald D.
Surh, 1905 in St. Petersburg: labor, society and revolution, Stanford 1989; Reginald E.
Zelnik, Labor and Society in Tsarist Russia. The Factory Workers of St. Petersburg 18551870, Stanford 1971.
14
15
Zelnik, Labor, S. 1 If., 69-119, 283-331; Puttkamer, Fabrikgesetzgebung.
Ditjatin, Bd. 1 Ustrojstvo, S. 296-299; Pazitnov, Problema, S. 49-51; Zelnik, Labor, S. 12;
Hildermeier, Burgertum, S. 45 f.
Zusammenfassend laflt sich das traditionelle Bild des russischen H a n d w e r k s mit
den Worten von Reginald Zelnik in Erinnerung rufen:
, J n addition to their leadership roles within the tsekh, the elders were
expected to function as administrative and fiscal agents of the
government, thus contravening the concept of the guild as an
independent association of producers. Furthermore, in contrast to the
guilds of Western Europe, the tsekh w a s not a truly closed corporation.
N o t only w a s its membership not restricted numerically, it was even
open to such nonurban categories of the population as manorial serfs if
the serf w a s granted authorization to j o i n by his lord. Within certain
limitations, membership w a s not required of all local artisans. Finally,
there were n o provisions for limiting the quantity of items produced in
each tsekh. In short, the tsekh was not so m u c h a voluntary association
for protective and monopolistic purposes as it w a s a quasigovernmental
administrative unit aimed at providing a more rational basis for the
organisation and stimulation of production and for taxing the urban
population" .
16
Z w a r werden diese Charakteristika des Zunfthandwerks im allgemeinen nicht
bestritten, doch wird in dieser Arbeit versucht, ein facettenreicheres Bild des
Zunfthandwerks auszugreifen, das auch andere N u a n c e n ergibt und die moglichen
Verzerrungen oder gar optischen Tauschungen in der Bewertung der Rolle des
Zunfthandwerks im sozialen und wirtschaftlichen Leben RuBlands vermeiden
hilft .
Das St. Petersburger H a n d w e r k blieb bis heute weitgehend eine terra incognita in
der Geschichtsschreibung iiber RuBland. 1985 schrieb T. Steffens in seiner
Dissertation in b e z u g auf das Handwerk St. Petersburgs, daB die "Zahlenangaben
tiber den Anteil der Handwerker in einzelnen Branchen [...] allerdings nirgendwo"
zu finden s e i e n . Der Autor bedauerte, daB ein solch bedeutender wirtschaftlicher
Faktor wie das H a n d w e r k derart im 'toten Winkel der zeitgenossischen, aber auch
der neueren Forschung" blieb. Speziell iiber die Handwerker in St. Petersburg,
17
18
11
16
1
Zelnik, Labor, S. 12.
17
Vgl. Ralph Tuchtenhagen, Osteuropaische Geschichte en panne, in: OE 5, 1999, S. 518526, hier S. 524.
18
Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917. Soziale Lage, Organisation
und spontaner Protest zwischen zwei Revolutionen, Freiburg 1985, S. 45.
bedingt durch ihr Interesse fur die finnischen H a n d w e r k e r in der Hauptstadt,
schrieben nur einige finnische A u t o r e n .
J. H. Bater erwahnte in seiner Arbeit zur Industrialisierung v o n St. Petersburg nur
einige wenige Branchen des Handwerks, wie Schmiede, Backer, Konditoren,
G o l d s c h m i e d e und J u w e l i e r e , und analysierte sie im Z u s a m m e n h a n g mit der
allgemeinen Entwicklung der Industrie St. Petersburgs und der Stadttopographie.
Die umfangreiche Darstellung von Manfred Hildermeier uber die russische Stadt
und das Burgertum ist aufschluBreich und bietet einiges Material uber die
H a n d w e r k e r in RuBland. In seiner Arbeit werden aber angesichts des schwach
entwickelten stadtischen H a n d w e r k s unter Burgertum meistens die Kaufleute und
Kleinbiirger (mescane)
verstanden und die Handwerker nur ausnahmsweise
behandelt .
In der Arbeit wird unter anderem untersucht, wie die Ziinfte als eine fremde
Institution in RuBland FuB fassen konnten. U m einiges v o r w e g z u n e h m e n , ist hier
festzustellen, daB die Ziinfte in RuBland durchaus eine Zukunft hatten, w a s ihre
Geschichte im 19. u n d Anfang des 20. Jahrhunderts belegt. Ein Teil der
gewerbetreibenden Mittelschicht in den russischen Stadten nutzte die
Moglichkeiten dieser neu geschaffenen Institution und machte sie sich zu eigen.
Die Petrinische Reform der Gewerbeordnung, die friiher freilich in einer
gesetzlichen F o r m auch nicht existierte (und hier wird ein N e r v der bis heute
andauernden Diskussion uber die „Westernisierung" bzw. „Modernisierung"
RuBlands beriihrt), war beziiglich der Herausbildung des mittleren Biirgertums im
19. Jahrhundert sowie eines Kerns von Fachleuten mit hohem Qualifikationsgrad
wenigstens in St. Petersburg auf langere Sicht ein Erfolg.
19
20
21
0.2
Forschungsgegenstand und Untersuchungszeitraum
Das generelle Ziel dieser Arbeit ist es, das H a n d w e r k als eine Gesamterscheinung
unter sozialen, rechtlichen, administrativ-politischen und wirtschaftlichen G e sichtspunkten zu beschreiben. Als erstes soli auf die Urspriinge des H a n d w e r k s in
St. Petersburg im 18. Jahrhundert hingewiesen und dann eine Bestandsaufhahme
19
E. Westerlund, Pietarin suomalaiset kultaja hopease ppamestarit v. 1714-1814, Helsinki
1938; О. K. Ky6sti6, Suomalaiset Pietarissa kasityota oppimassa, in: Historiallinen
Aikakauskirja 3 (1951); L. Backsbacka, St. Petersburgs juvelerare, guld- och silversmeder
1714-1870, Helsingfors 1951; Sune Jungar, Finnljandskie remeslenniki v S.-Peterburge, in:
Remeslo (s. Anm. 10), S. 90-99.
20
James H. Bater, St. Petersburg. Industrialization and change (Studies in urban history 4,
hrsg. v. H. J. Dyos), London 1976, S. 129, 138f, 194, 197, 269, 372f.
21
Manfred Hildermeier, Burgertum und Stadt in Rufiland 1760-1870. Rechtliche Lage und
soziale Struktur, K6ln-Wien 1986, S. 15,23, 61, 142.
des Handwerks in St. Petersburg in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts gemacht
werden, um die D y n a m i k und die Tendenzen der Entwicklung des H a n d w e r k s zu
verdeutlichen. W a s die wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s in St. Petersburg
anbetrifft, so wird der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung in der zweiten
Halfte des 19. Jahrhunderts liegen, da sich, wie oben gesagt, zu dieser Zeit der
ProzeB der Industrialisierung v o l l z o g , der auf das stadtische H a n d w e r k eine
besonders starke A u s w i r k u n g hatte. Daran anschlieBend soil die Frage behandelt
werden, ob sich die strukturelle Wandlung, die im H a n d w e r k am Ende des 19.
Jahrhunderts augenscheinlich ist, wahrend der Industrialisierung vollzog, oder
schon fruher begann und vielleicht auch andere Griinde hatte, die auBerhalb der
Industrialisierung liegen.
Die negativen Entwicklungstendenzen wirkten sich aber fur das damalige St.
Petersburger H a n d w e r k nicht existenzbedrohend aus. Es war in der Lage, sich den
neuen R a h m e n b e d i n g u n g e n anzupassen. Dies wurde dadurch erleichtert, daB der
Handwerkerstand der Hauptstadt hochentwickelt war. Als Anhaltspunkt dafur
dient die Aussage von H. L. Attenhofer, der 1820 bezuglich der auslandischen
Handwerker schrieb, daB deren Lebensbedingungen fur ihre Zunftgenossen in
Deutschland beneidenswert seien. E s steht auBer Zweifel, daB eine solch vage
Aussage eines Zeitgenossen mit Vorsicht behandelt werden muB. Auffallend ist
aber die Tatsache, daB in St. Petersburg ein gewisser Wohlstand, zumindest bei
einigen deutschen Handwerkern, einem Auslander auffiel und das heiBt, daB in der
Stadt ein gewisser Prozentsatz der deutschen Handwerker einen relativ hohen
Lebensstandard erreichen konnte und folglich auch dementsprechende
R a h m e n b e d i n g u n g e n vorhanden sein muBten, die einen solchen Wohlstand
erlaubten .
22
23
DaB die Handwerksmeister von St. Petersburg um die Mitte des 19. Jahrhunderts
im Durchschnitt eine ziemlich hohe Anzahl an Gesellen und Lehrlingen im
Vergleich zum ubrigen RuBland hatten, kann durch ihre A n p a s s u n g an die rasche
industrielle Entwicklung St. Petersburgs und durch den hohen Entwicklungsgrad
des H a n d w e r k s erklart werden. In wirtschaftlicher Hinsicht soli den Fragen
nachgegangen werden, wie sich das Spektrum der meistvertretenen Berufe unter
den H a n d w e r k e r n anderte, welche Handwerksmeister diese wirtschaft lichen
U m w a l z u n g e n uberstanden und welche K o n k u r s anmeldeten, wie groB die
wirtschaftliche B e d e u t u n g des St. Petersburger H a n d w e r k s bei der
22
S. hierzu: Heiko Haumann, Kapitalismus im zaristischen Staat 1906-1917:
Organisationsformen, Machtverhultnisse und Leistungsbilanz im IndustrialisierungsprozeB,
Konigstein 1980, S. 23fT.; R. Portal, Die russische Industrie am Vorabend der
Bauernbefreiung, in: Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionaren RuBland, hrsg. v. D.
Geyer, S. 133-163; Heinrich Scherer, Der Aufbruch aus der Mangelgesellschaft. Die
Industrialisierung RuBlands unter dem Zarismus (1860-1914), Giessen 1985.
23
Vgl. Heinrich Ludwig Attenhofer, Medikotopograficeskoe opisanie S. Peterburga, St.
Petersburg 1820, S. 13f.
Warenproduktion und wie groB die Arbeitsintensitat im Vergleich mit anderen
wirtschaftlichen Bereichen war.
Die Tatsache, daB die Entstehung der Handwerkerschaft von St. Petersburg in
ihren Urspriingen hauptsachlich dem Staat zu verdanken war, stellt ein
wesentliches M e r k m a l ihrer Entwicklung dar. Schon vor der G r u n d u n g der Ziinfte
im Jahre 1722 wurden von Handwerksmeistern auf den Werften der Admiralitat,
im GuBeisenhof u n d in verschiedenen Manufakturen Kleidung fur die A r m e e ,
Segeltiicher und vieles andere, w a s fur die Bedtirfhisse des Staates bestimmt war,
hergestellt. Die russische Regierung bestimmte durch das Handwerksstatut und die
rechtlichen Regelungen das Wesen der Ziinfte v o n St. Petersburg. Die
Zunftverwaltung, die besonders in der ersten Zeit ihres Bestehens groBtenteils
fiskalischen Z w e c k e n und der Qualitatskontrolle der Handwerkserzeugnisse
diente, gewann in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts immer mehr an
B e d e u t u n g als eine soziale Institution, die der Ausbildung, der Wohltatigkeit und
der Entwicklung des H a n d w e r k s diente. Die Organisation des H a n d w e r k s in
Ziinften ermoglichte auch auslandischen insbesondere deutschen Handwerkern
eine schnelle Integration, da ihnen das Zunftwesen von ihrem Herkunftsland
vertraut war. Dies wird durch die Tatsache bestatigt, daB in St. Petersburg noch
vor 1722 schon etliche deutsche Ziinfte existierten.
Die biirgerlichen Reformen der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts forderten
die schnelle industrielle Entwicklung der Hauptstadt, die ihren Anfang in den
friihen 60er Jahren nahm und ihren Kulminationspunkt in den letzten zwei
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erreichte . Aus der unten aufgefuhrten Tabelle
ist zu ersehen, daB sich die Zahl der Handwerker in absoluten Zahlen im Laufe des
19. Jahrhunderts mindestens um das zwanzigfache steigerte und daB die
Fabrikarbeiter die Handwerker zahlenmaBig erst in den 1880er Jahren iiberholten
(siehe Tab. 1).
W a s die wirtschaftliche Existenz des H a n d w e r k s betrifft, ist zu priifen, wie
erfolgreich die Zunfthandwerker ihre Versorgungsaufgabe erfullten bzw. die
stadtische Gesellschaft mit Nahrungsmitteln und iiberhaupt mit Konsumgiitern
versorgten, sowie welchen Beitrag die Handwerker im Laufe des 18. u n d a m
Anfang des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung der Industrie v o n St. Petersburg im
Vergleich zu den Anstrengungen des Staates leisteten. Wie wirkte die
unterentwickelte und nicht fur den Markt produzierende Landwirtschaft in der
U m g e b u n g der Stadt auf das hauptstadtische H a n d w e r k ein? E s ist gleich zu
bemerken, daB die Landwirtschaft des St. Petersburger Gouvernements einen
wesentlich substitutionellen Charakter trug und verhaltnismaBig w e n i g
A u s w i r k u n g auf das hauptstadtische H a n d w e r k h a t t e . Die wenigen Bauern in der
24
25
24
25
Share, Central, S. 1; Steffens, Arbeiter, S. 26.
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, Leningrad 1955, S. 304, 490f; So gab es im St.
Petersburger Gouvernement zwischen 1897 und 1903 auf 779.000 Einwohner 36.093
U m g e b u n g v o n St. Petersburg, die selbst Getreideeinkaufe im Tver'jer oder
Jaroslavlsker Gouvernement tatigten, konnten die Metropole mit ihren rund
200.000 am Anfang des 18. und mit rund 500.000 E i n w o h n e r n u m die Mitte des
19. Jahrhunderts nicht ausreichend v e r s o r g e n .
26
Tabelle 1:
Manufaktur- bzw. Fabrikarbeiter u n d die H a n d w e r k e r v o n St.
Petersburg 1785-1900
v.H.
Handwerker
v.H.
Jahr
Manufaktur- und
Fabrikarbeiter
1785
5500-6000
100
7000
100
46,2/53,8
1845
11600
193,3
26000
371,4
30,9/69,1
1862
19300
166,4
75000
288,5
20,5/79,5
1869
40000
207,3
85000
113,3
32/68
81573
204
99889
117,5
45/55
133361
163,5
126757
126,9
51,3/48,7
1890
1900
27
Gesamtverhaltnis
in%
Quelle: Istorija raboeich LeningradaBd. 1, S. 8f.; Juchneva, Sostav, S. 56. Insgesamt gab es 1869
in der Stadt 139.290 Beschaftigte (104.242 Manner und 35.048 Frauen), davon waren etwa
85.000 in den Werkstatten tatig; Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2, Leningrad 1957, S. 122,183;
K.A. Pazitnov, Polozenie rabocego klassa v Rossii, t. 2, Leningrad 1924, S. 23; Ryndzjunskij,
Gorodskoe grazdanstvo, S. 426; Ab dem Jahr 1862 sind sowohl zunftfreie als auch
Zunfthandwerker ausgefuhrt.
Das bauerliche Hausgewerbe im St. Petersburger Gouvernement w u r d e vollig den
Bedurfhissen der Hauptstadt und des stadtischen H a n d w e r k s untergeordnet und
Gewerbetatigen, die fast ausschlieJ31ich auf Nachfrage der Landbevolkerung ihre Waren
produzierten. Nach St. Petersburg wurden vor allem die Waren geliefert, die fur das
hauptstadtische Handwerk, mit Ausnahme des Schuhmachers- und Schneiderhandwerks,
keine starke Konkurrenz darstellten, sondern sein Sortiment erganzten, in: K. N. Tamovskij,
Melkaja promySlennosf Rossii v konce 19-go - nacale 20-go vekov. M. 1995, S. 26f., 38-49;
Juchneva, EtniCeskij sostav, S. 146-150.
26
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2. S. 132f.; L. N. Semenova, Snabzenie chlebom Peterburga
v XVIII v. (praviterstvennaja politika), in: N.V. Juchneva, Peterburg i gubernija. Istorikoetnograficeskie issledovanija, Leningrad 1989, S. 5-20.
27
Istorija goroda Peterburga za 200 let. St. Petersburg1905, S. 72; Die Anzahl von 133.361
Arbeitern in den 631 Fabriken und Werken von St. Petersburg bezieht sich auf das Jahr 1902,
in: S. Peterburgskoe kupecestvo i torgovopromySlennye predprijatija goroda к 2001etnemu
jubileju stolicy, St. Petersburg 1903, S. 1.
erfullte seine Funktion als Rohstoff- oder Halbfertigproduktelieferant. Es bildete
v o n daher keine e m s t z u n e h m e n d e Konkurrenz fur das hauptstadtische Handwerk.
Im Gegenteil g e w a n n das bauerliche Hausgewerbe, das in ZentralruBland weit
entwickelt war und sich auf eine Massenherstellung bestimmter Waren
spezialisierte, besonders seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als St. Petersburg mit
dem inneren RuBland durch die Eisenbahnlinien verbunden war, allmahlich an
Bedeutung. Also traten die bauerlichen Handwerker (kustari), die ihr H a n d w e r k
(kustarnye promysly)
neben der Hauptbeschaftigung in der Landwirtschaft
betrieben, als der Konkurrenzfaktor auf, der durch den standigen Preisverfall den
Lebensstandard der St. Petersburger Handwerker absinken lieB, etliche Meister
zugrunde richtete und zur Verbreitung des Verlagshandwerks beitrug.
Diese "kustarnye promysly" konnen als selbstandiger Forschungsgegenstand,
methodologisch gesehen, hilfreich sein, da dadurch das stadtische H a n d w e r k
scharfere Konturen gewinnt. Besonders im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
erwuchs fur die stadtischen H a n d w e r k e r in der Gestalt der Kustari ein ernster
Konkurrenzfaktor. E s ging so weit, daB die Kustari, organisiert in besonderen
Genossenschaften, nicht nur v o m Verleger, sondern auch v o m Staat Auftrage
erhielten. Als ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor wurde das bauerliche
H a n d w e r k im Jahre 1888 unter die Obhut des Staatsguterministeriums
(ministerstvo gosudarstvennych
imuscestv) gestellt. M e h r noch - in St. Petersburg
wurde auf Initiative privater Personen ein H e i m g e w e r b e - M u s e u m
(kustarnyj
muze'}) beim Kaiserlichen Landwirtschaftlichen M u s e u m (imperatorskij
seVskochozjajstvennyj
muzej) gegriindet, w a s auf die groBe Bedeutung des bauerlichen
H a n d w e r k s hindeutet. Seiner Konkurrenz mit dem stadtischen H a n d w e r k wird in
der Forschung besondere Beachtung geschenkt. AuBerdem soli als ein weiterer
Faktor berucksichtigt werden, inwieweit das H a n d w e r k von den h o h e n saisonalen
Schwankungen der Bevolkerung profitierte. Jeden Sommer k a m e n 40.000 bis
50.000 Bauern in die Stadt, die in Fabriken, Manufakturen oder im Baugewerbe
tatig w a r e n .
28
Es ist zu prtifen, o b die Handwerksmeister ihre Produkte fur den stadtischen Markt
und fur bestimmte K u n d e n anfertigten oder auch die Moglichkeit zur Ausfuhr in
das innere RuBland oder sogar ins Ausland hatten, in w e l c h e m Umfang also der
Warenaustausch im handwerklichen Bereich fortgeschritten war. Fest steht, daB
die Handwerker die Kapazitaten ihrer Betriebe wegen allgemeinen Kapitalmangels
nicht beliebig saisonal vergroBern oder verkleinern konnten. Sie konnten sich
dadurch nicht so schnell an groBe Nachfrageveranderungen anpassen. Deswegen
muB nachgeforscht werden, in w e l c h e m Umfang die nicht zunftigen Handwerker,
die aus dem D o r f kamen, die starken Nachfrageschwankungen ausglichen.
28
Das waren haupts&chlich Bauern aus benachbarten Gouvernements, da der Einzugsbereich
St. Petersburgs sich auf mehrere hundert Kilometer erstreckte. Vgl. Juchneva, Etni6eskij
sostav, S. 83-88, 142-146.
W a s die Konkurrenz zwischen den Zunfthandwerkern und den zugewanderten
Handwerkern v o m Lande betrifft, so laBt sich hier folgendes bemerken: Die
zugewanderte bauerliche Bevolkerung St. Petersburgs, die in Manufakturen,
Fabriken und handwerklichen Kleinbetrieben beschaftigt war, deckte ihren
Existenzbedarf an primar benotigten Produkten, z. B . EB- und Bekleidungswaren,
indem sie sie von den „freien" Meistern gunstig auf den Stadtmarkten kaufte. D a
der Staat ein Preismonopol seitens der Handwerksziinfte nicht zulieB, gab es
betrachtliche Preisunterschiede zwischen den Waren, die von den oben genannten
Erzeugern angeboten wurden und denjenigen, die die Zunfthandwerker
produzierten. D u r c h diese Kanalisierung des Angebots iiber die Nachfrage wurde
die bauerliche Expansion gedampft und wirkte sich nicht entscheidend auf das
eigentliche Stadthandwerk aus: Die billigere Produktion wurde eher in
Stadtrandindustriegebieten im nordostlichen Teil des Petersburger Bezirks, in den
Vyborger und Narvsker Bezirken angeboten, wahrend die Waren besserer Qualitat,
die fur das anspruchsvollere Sladtpublikum bestimmt waren, in der Mittelstadt zu
entsprechend hoheren Preisen verkauft wurden.
Diese Aussage ist stark schematisiert und soil nur dazu dienen, generelle
Strukturmerkmale beziiglich der zugewanderten Handwerker und ihrer
Konkurrenz mit dem ziinftigen H a n d w e r k zu charakterisieren. GewiB gab es unter
den ziinftigen und auBerhalb der Zunft stehenden Handwerkern einen gewissen
wirtschaftlichen Wettkampf, w a s aber seine Intensitat und seine Folgen betrifft,
so muB er erst erforscht werden. AuBerdem sollen nicht nur Konkurrenz und
Polaritat in Betracht gezogen werden, sondern auch die vielseitigen
Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen diesen beiden berufsstandischen
Organismen. Die zugewanderten Handwerker besaBen z. B . eine gewisse soziale
Mobilitat und versorgten auch die stadtische Zunfthandwerkerschaft mit
Arbeitskraften, w a s seinen Niederschlag in den Statistiken fand. Die ziinftigen
zeitweiligen (vremennye)
Handwerker, die zum Geldverdienen aus dem Dorf
kamen, um ihrem Herrn und Gutsbesitzer Pflichtzahlungen entrichten zu konnen,
waren quantitativ am starksten in den Zunften vertreten. Die Handwerkerschaft
bestand zu zwei Dritteln aus Bauern oder aus Meistern und Handwerkern
bauerlicher Herkunft, w a s einerseits auf die groBe Aufhahmefahigkeit des
stadtischen H a n d w e r k s , andererseits aber auch auf mogliche QualitatseinbuBen
hinweist. Die stadtische "Gesellschaft" selbst, d. h. die hohere Gesellschaft, das
Beamtentum, die Kaufleute, die Kleinbiirger, die Besitzer von Immobilien und nun
auch die Zunfthandwerker, machten im Vergleich zur Gesamtbevolkerung einen
viel kleineren Teil aus. Unter diesem Blickwinkel gewinnen die deutschen
Zunfthandwerker in der standi sch sehr abgegrenzten stadtischen Gesellschaft eine
viel groBere Bedeutung.
Wie bereits erwahnt, wurden die handwerklichen Zunfte von St. Petersburg in die
"russischen" und in die "deutschen" geteilt. In die "russischen" Zunfte wurden die
einheimischen Handwerker und in die "deutschen" Zunfte die auslandischen
H a n d w e r k e r eingeschrieben. Die Mitglieder dieser Zunfte unterschieden sich
betrachtlich nach ihrer rechtlichen Stellung. So wurden die Handwerker der
"russischen" Ziinfte v o m Staat v o n Zeit zu Zeit mit Auftragen verpflichtet, die sie
in einigen Fallen in den wirtschaftlichen Ruin trieben. Sie hatten auch eine hohere
Steuerlast im Vergleich zu den auslandischen Handwerkern. Als Zunftmitglied
besaB ein H a n d w e r k e r entweder eine standige (vecnyj) oder eine zeitweilige
(vremennyj)
Zugehorigkeit. In der Regel gehorten zu den zeitweiligen die
Handwerker bauerlicher Herkunft, also die ehemaligen bauerlichen Handwerker
oder Kustari, die das H a n d w e r k als Nebenerwerb mit Hauptbeschaftigung in der
Landwirtschaft betrieben. Sie erhielten in der Regel eine Aufenthaltsgenehmigung
fur ein Jahr, die sie haufig verlangerten.
A b e r die meisten bauerlichen Handwerker, die aus den zentralen russischen
Gebieten nach St. Petersburg zugewandert waren, schrieben sich nicht als
zeitweilige H a n d w e r k e r in die Ziinfte ein sondern arbeiteten zunftfrei, w a s eine
erhebliche K o n k u r r e n z fur die ziinftigen H a n d w e r k e r darstellte. Sie konnten
billiger produzieren, weil sie keine groBen Betriebskosten hatten und weniger
Steuern im Vergleich mit den Zunftmeistern zahlten: sie mieteten in der Regel eine
Ecke in einer H a n d w e r k s w o h n u n g an und arbeiteten dort mit alien notigen
Werkzeugen.
Die Erforschung des H a n d w e r k s von St. Petersburg soil einerseits die Fragen uber
seine soziale, wirtschaftliche, rechtliche und administrativ-politische Lage in der
Stadt und seinen Entwicklungsgrad im Vergleich mit dem iibrigen RuBland
verdeutlichen und andererseits zur Wirtschaftsgeschichte St. Petersburgs selbst
beitragen. Des weiteren ist es ihr Ziel, ein detaillierteres soziales Profil des St.
Petersburger H a n d w e r k s in der groBstadtischen Landschaft im ausgehenden
Zarenreich zu rekonstruieren .
0.3
Methode
Die A n n a h m e , daB das "Generalthema einer neuzeitlichen Wissenschaft v o m
Handwerk" die "Einordnung der modernen Handwerksexistenz in den
G e s a m t z u s a m m e n h a n g des modernen Industrialismus" ist, ist fur die Erforschung
des H a n d w e r k s zur Zeit der Industrialisierung prinzipiell w i c h t i g .
Generell lassen sich die folgenden grundsatzlichen methodischen Fragen bei der
Erforschung der wirtschaftlichen Lage des St. Petersburger H a n d w e r k s und des
Wandels dieser L a g e beschreiben:
Zur Klarung der wirtschaftlichen Lage der H a n d w e r k e r sind vor allem Materialien
aus St. Petersburger Archiven herangezogen worden. AufschluBreich zur gesamten
Lage des St. Petersburger H a n d w e r k s im 19. Jahrhundert sind die Protokolle und
Berichterstattungen verschiedener Regierungskommissionen, die die rechtliche
29
29
Wilhelm Wemet, Gegenstand und Aufgaben der Handwerksforschung. Minister 1959
(Beitrage zur Handwerksforschung, Bd. 1), S. 16.
und wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s erforschten und nach den Ursachen
suchten, die die Lage des Handwerks bestimmten. Des weiteren sind die
Veroffentlichungen und Statistiken der Zeitschrift des Innenministeriums fur die
zweite Halfte des 19. Jahrhunderts bezuglich der E n t w i c k l u n g des H a n d w e r k s
sowie die Veroffentlichung von N . Stepanov iiber die Organisation des H a n d w e r k s
in RuBland b e d e u t s a m . Unter dem regionalem Aspekt ist die handwerkliche
Nebentatigkeit der Bauern im St. Petersburger Gouvernement und deren
Auswirkung auf das stadtische H a n d w e r k zu beriicksichtigen, w a s in dem Aufsatz
von A. A. Lipskij behandelt w i r d . Der Wohlstand der Handwerker und die reale
H o h e ihres Gehaltes lassen sich durch den Vergleich der H o h e der Preise fur Brot
in St. Petersburg ermitteln . Dariiber hinaus werden auch zahlreiche Urkunden
und D o k u m e n t e im Hinblick auf bestimmte Handwerker der Stadt herangezogen,
die auch in rechtlicher Hinsicht sehr informativ sind. Uber den technischen
Standard und die Fertigkeiten der Handwerker konnen Informationen aus der
Beschreibung der St. Petersburger handwerklichen Ausstellung im Jahre 1899
herangezogen werden. Eine weitere methodologische Hilfe soli die Teilung des
H a n d w e r k s in folgende groBe Bereiche leisten: Nahrungsmittel-, Bekleidungs-,
holz- und metallverarbeitendes H a n d w e r k und das der Dienstleistungsbereiche
sowie die Handwerksberufe im Zulieferer- und Reparaturbereich, die sich durch
die
Industrialisierung
etabliert
hatten.
AuBerdem
werden
die
Entwicklungstendenzen des H a n d w e r k s von St. Petersburg in den Phasen der
Industrialisierung und Hochindustrialisierung durch solche Aspekte konkretisiert
und beobachtet wie - die Veranderung oder Beibehaltung der Betriebsordnung und
Produktionsweise durch den Lfaergang v o m kleinen Handwerksbetrieb zur Fabrik,
- die A n d e r u n g der BetriebsgroBe, die Absatz- und Preispolitik.
Die Wirtschaftlichkeit eines handwerklichen Betriebes laBt sich an der
Entwicklung des Lebensstandards der Handwerker und ihres Reallohns messen.
Diesem Z w e c k dienen die M e t h o d e n von H.-J. Gerhard und F. L e n g e r , die fur
den deutschen Fall erarbeitet wurden. Unter anderem hat Lenger gezeigt, daB es
z u m Teil moglich ist, die E i n k o m m e n der Meister iiber die gezahlten Steuern zu
30
31
32
33
30
N. Stepanov, Sravnitel'no-istoriceskij ocerk organizacii remeslennoj promySlennosti v
Rossii i zapadno-evropejskich gosudarstvach, Kiev 1864.
31
A. A. Lipskij, Kustarno-remeslennye promysly v S. Peterburgskoj gubernii, in: S.
Peterburgskij zemskij Vestnik 1903, 1-2, S. 61-70.
32
A. Rykadev, Ceny na chleb i na trud v S. Peterburge za 58 let, in: VFPT, vom 31. April und
13. August 1911, Nr. 31, S. 201-206.
33
Hans-Jurgen Gerhard, Quantitative und qualitative Aspekte von Handwerkereinkommen in
nordwestdeutschen Stadten von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: U.
Engelhardt, Handwerker in der Industrialisierung, hier S. 51-76; Friedrich Lenger,
Polarisierung und Verlag: Schuhmacher, Schneider und Schreiner in Dtisseldorf 1816-1861,
in: U. Engelhardt, Handwerker in der Industrialisierung, hier S. 146-163.
ermitteln. Fur die Ermittlung des tatsachlichen Lebensstandards der Handwerker
und als konjunkturelle Indikatoren k o n n e n zwei HilfsgroBen wie die
durchschnittliche BetriebsgroBe und die Wohnungsverhaltnisse d i e n e n . Weitere
Indikatoren zur Kontrolle von Einkommensschatzungen sind: die Zahl der im
H a n d w e r k Beschaftigten, die Entwicklung der gesamten Handwerkerzahlen und
die Handwerkerdichte. Daran anschlieBend sind die W a n d l u n g e n der
Betriebsweise, die technische und organisatorische Gestaltung des Betriebes
sowie des H a n d w e r k s h a n d e l s von Bedeutung.
Die rechtliche L a g e des H a n d w e r k s , nicht nur in St. Petersburg, sondern auch in
ganz RuBland, laBt sich anhand reichlich erhaltener Gesetze und rechtlicher
Regelungen verdeutlichen. Unter anderem sind die wichtigsten rechtlichen Quellen
die "Vollstandige Sammlung der Gesetze RuBlands" (Polnoe sobranie
zakonov
Rossijskoj imperii)* , die "Protokolle der K o m m i s s i o n fur die Uberarbeitung der
Fabrik- und Handwerksstatuten" (Protokoly komissii dlja peresmotra
ustavov
fabridnogo
i remeslennogo)
unter der Leitung v o n Baron A d o l f Fedorovic
Stackelberg zu erwahnen, (was die staatlichen Aktivitaten anbetrifft). AuBerdem
geben die R e g e l u n g e n innerhalb der Ziinfte wichtige Informationen iiber ihre
innere E n t w i c k l u n g . Besonders behandelt w u r d e im 19. Jahrhundert das T h e m a
der rechtlichen L a g e der L e h r l i n g e .
34
5
36
37
Die soziale Lage des H a n d w e r k s fand ihren Ausdruck am E n d e des 19.
Jahrhunderts und in den Jahren vor 1914 in der Griindung verschiedener
Gesellschaften seitens der Handwerker. Das soziale E n g a g e m e n t laBt sich anhand
34
S. hierzu: Bruno Fritzsche, Handwerkerhaushalte in Zurich 1865-1880. Eine
Bestandsaufhahme, in: U. Engelhardt, Handwerker in der Industrialisierung, S. 105-125;
Peter Heumos, Zur Sozialstruktur von Kleingewerbe und Handwerk in Prag 1890-1910, in:
ebd.,S. 165-182.
35
Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii (PSZRI), 1-е sobranie. St. Petersburg 1830,
torn 3,4, 5, 6, 7, 9, 11, 12, 13, 14, 15,16,20,21,22, 23,25,27, 28, 29, 30,31,35, 36, 37,38,
39, 40; 2-е sobranie, torn 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 10, 13, 14, 17, 18,20, 21, 23, 24, 27, 30, 31, 36,
37, 39, 40,41.
36
Trudy komissii ucrezdennoj dlja peresmotra ustavov fabridnogo i remeslennogo v trech
tomach. St. Petersburg 1863, 1879; Sobranie postanovlenij remeslennych dlja rukovodstva
masterov vsech cechov i sluza§£ich u nich podmaster'ev i ucenikov izvlecennoe iz svoda
zakonov. St. Petersburg 1860; D.A. Dril', Polozenie remeslennikov i remeslennoe
zakonodatel'stvo, in: Juridiceskij Vestnik 1891, Nr. 1, S. 29-59 (Statuten von verschiedenen
handwerklichen Zunften und Innungen).
37
G. F. Rakeev, Ob uluesenii polozenija remeslennych ucenikov, St. Petersburg 1890; D. G.
Sel'diScev, О polozenii ucenikov remeslennych masterskich po dejstvujuScemu russkomu
zakonodatel'stvu, in: Trudy pervogo s-ezda russkich dejatelej po obScestvennomu i dastnomu
prizreniju 8-13 marta 1910 goda.
38
der Vielfalt der handwerklichen Organisationen analy sieren . Die Statistiken iiber
die Handwerker erlauben sowohl soziale als auch wirtschaftliche Aussagen, die in
39
ihrem Zusammenspiel ein komplexes Bild vermitteln sollen . Bei der Erforschung
der
sozialen
Lage
der
Handwerker
von
St.
Petersburg
soli
der
gesamtgesellschaftliche Kontext herangezogen werden: Die russische Hauptstadt
hatte eine groBe Garnison, eine Vielzahl von Beamten, Dienstboten, Bauern und
Kleinbiirgern. AuBer der sozialen Stellung des H a n d w e r k s in der stadtischen
Gesellschaft ist seine innere Sozialstruktur zu erforschen, fur die der Begriff der
horizontalen Mobilitat verwendet werden kann. Die soziale Mobilitat des
Handwerkers zwischen dem Arbeiter einerseits und dem Fabrikanten oder dem
GroBhandler andererseits kann im weiteren als vertikale Mobilitat bezeichnet
werden. AuBerdem diirfen auch die Wirtschafts- und Gewerbepolitik
des
russischen Staates und ihre Auswirkungen auf das H a n d w e r k nicht vernachlassigt
40
werden .
Des weiteren sollen Fragen zu sozialen, wirtschaftlichen und steuerpolitischen
Bereichen behandelt werden. Dazu gehoren etwa: Wie viele Meister waren zu
verschiedenen Zeiten in der Stadt? W o h e r erhielten sie ihr Rohmaterial? W o haben
die H a n d w e r k e r ihre Produkte verkauft, also die Frage nach der Struktur des
Warenabsatzes und der Art und Weise, in der er erfolgte. Wie viel Steuerlast lag
auf den Waren (sogenannter akciznyj
Handwerker
zur
nalog)!
Gesamtbevolkerung?
Wie verhielt sich die Anzahl der
Nach
welchen
Leitvorstellungen
strukturierte der Handwerker sein Leben? Welche N o r m e n der Arbeitsgestaltung
und der Arbeitsorganisation, welche Erziehungs- und Lebensformen und welche
Formen offentlicher Reprasentation gab es um die Mitte des 19. Jahrhunderts?
38
Listok dlja remeslennych raboeich, St. Petersburg 1908; Remeslo, St. Petersburg 18811883; Proekt obrazovanija novogo "S.-Peterburgskogo obScestva remeslennoj
promySlennosti", St. Petersburg 1871; Otdet sobranija S.-Peterburgskich cechovych masterov,
St. Petersburg 1899; Otcet Remeslennogo bjuro za 1886 g., St. Petersburg 1899; Otcet
obScestva "NastojaSCij remeslennik" za 1911-1912 g., St. Petersburg 1913.
39
Statisticeskie svedenija о S. Peterburge, St. Petersburg 1836; Cislo remeslermikov v S.
Peterburge v 1839 godu, in: ЁМТ 1840 Nr. 6, S. 395-398; Ju. E. Janson, Naselenie
Peterburga. Ego social'nyj sostav po perepisi 1869, in: Vestnik Evropy 1875 Nr. 5, S. 606-41;
Nr. 6, S. 55-95; Pamjatnaja knizka S.-Peterburgskoj gubernii na 1882-1914 g., St. Petersburg
1875-1915.
40
PSZ RI 1, Bd. 15, No. 11308; Bd 12, No. 16188; Bd. 25, No. 19187.
Als orientierendes Beispiel im Z u s a m m e n h a n g mit den theoretischen u n d
methodologischen Grundlagen der Arbeit kann die Handwerksforschung
in
41
Deutschland herangezogen w e r d e n .
42
Die Studie von Jiirgen B e r g m a n n uber das Berliner H a n d w e r k im 19. J a h r h u n d e r t
spielt fur diese Arbeit eine besonders wichtige Rolle. Dabei ist nicht zu vergessen,
daB der Vergleich auch typologisch ahnlicher Stadte wie St. Petersburg und Berlin
bzw. H a m b u r g nicht per se zu analogen Schltissen fuhren soil. Deshalb ist der
methodologische Hinweis v o n Manfred Hildermeier wichtig, statt „typologisch
verwandte Stadte zu betrachten [...] die Stadtlandschaften
miteinander [zu]
vergleichen oder Burgertums- bzw. Unternehmergrwppew in bestimmten zeitlichen
G r e n z e n " , w o z u die Arbeit v o n Bergmann in reichem MaBe Moglichkeiten bietet.
Die komparative E i n b i n d u n g des deutschen Handwerks in die Geschichte des St.
Petersburger H a n d w e r k s ist erkenntnisbringend, weil es in einigen Fallen erlaubt,
die DifFerenzen in der technischen und institutionellen Entwicklung des russischen
Stadthandwerks zum deutschen festzustellen. Die Etablierung des H a n d w e r k s in
RuBland als einer sozialen und professionellen Institution ging im Unterschied zu
43
41
S. dazu: Wilhelm Abel (Hrsg.), Handwerksgeschichte in neuer Sicht, 2. Aufl., Gottingen
1978 (Gottinger Beitrage zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 1), darin Abels Beitrag:
"Neue Wege handwerksgeschichtlicher Forschung", S. 1-25; R. S. Elkar (Hrsg.), Fragen und
Probleme einer interdisziplinaren Handwerksgeschichte, in: Elkar (Hrsg.), Deutschlands
Handwerk in Sp&tmittelalter und Fruher Neuzeit, in: Gottinger Beitrage zur Wirtschafts- und
Sozialgeschichte, Bd. 9, Gottingen 1983, S. 3-31; Ulrich Engelhardt, Handwerker in der
Industrialisierung: Lage, Kumar und Politik vom spa4en 18. bis ins fruhe 20. Jahrhundert
(Industrielle Welt, Schriftenreihe des Arbeitskreises fur moderne Sozialgeschichte, Hrsg. v.
Werner Conze), Stuttgart 1984; ebd., Karl Heinrich Kaufhold, Handwerksgeschichtliche
Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Uberlegungen zur Entwicklung und zum
Stande, S. 20-33; Friedrich Lenger, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800.
Fr./M. 1988; Karl Friedrich Wernet, Handwerksgeschichte als Forschungsgegenstand. Т. 1. u.
2, Munster 1961 (Forschungsberichte aus dem Handwerk, Bd. 4, 5); Ders.,
Handwerksgeschichtliche Perspektiven, Munster 1963 (Forschungsberichte aua dem
Handwerk, Bd. 10; Ders., Handwerksgeschichte als Forschungsgegenstand T.l u. 2., Munster
1961 (Vorschungsberichte aus dem Handwerk 4-5); Ders., Handwerksgeschichtliche
Perspektiven Munster 1963 (Vorschungsberichte aus dem Handwerk 10); Ders., Zur
Abgrenzung von Handwerk und Industrie. Die wirtschaftlichen Zusammenhange in ihrer
Bedeutung fur die Beurteilung von Abgrenzungsfragen, Munster 1965; Ders., Wettbewerbsund Absatzverhultnisse des Handwerks in historischer Sicht, Bd. 1: Nahrung, Getranke,
GenuBmittel, Berlin 1967; Wernet, Wilhelm, Gegenstand; Ders., Handwerk im Widerstreit
der Lehrmeinungen. Das neuzeitliche Handwerksproblem in der sozialwissenschaftlichen
Literatur (Forschungsberichte aus dem Handwerk. 3), Miinster/W. 1960.
42
Jiirgen Bergmann, Das Berliner Handwerk in den Fruhphasen der Industrialisierung. Berlin
1973 (= Einzelver6ffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 11).
43
Manfred Hildermeier, Zwischen Burgertum und Adel: Unternehmer im Zarenreich, in: D.
Dahlmann, C. Scheide (Hrsg.), „... das einzige Land", S. 87-99, hier S. 90.
Westeuropa zogernd vor sich und fand viel spater statt. D a s Handwerk in der
russischen Stadt blieb Jahrhunderte lang durch uberlieferte Traditionen gepragt,
die die u b e r k o m m e n e n F o n n e n des H a n d w e r k s , die noch im 16. und 17.
Jahrhunderten existierten, bis ins 19. Jahrhundert hinuberrettete. Diese Tradition
erlaubte z. B . alien, die keine Fachqualifikation besaBen, einem H a n d w e r k
nachzugehen. Die durchaus heterogene soziale Struktur der russischen
B e v o l k e r u n g k o n n t e sich im V e r h a l t n i s zur A u t o k r a t i e , die alle
Verselbstandigungsbestrebungen im Keim erstickt hatte, nach Berufssparten nicht
differenzieren
b z w . sich s t a n d i s c h i n s t i t u t i o n a l i s i e r e n . D i e
spate
Institutionalisierung des russischen Handwerks in der Stadt im 18. und 19.
Jahrhundert verhalf ihm zur Herausbildung seiner sozialen Institutionen und zur
Herausbildung des StandesbewuBtseins.
0.4
Begriffe
ti
Zuerst soil geklart werden, was unter , Handwerk
verstanden wird. A m besten hat
sich in der historischen Handwerksforschung die Definition von Karl Kaufhold
bewahrt. Unter ,JF{andwerJt versteht er eine ,jselbstandige gewerbliche
Tatigkeit\
die
y
l
„mit der Person ihres Tragers unlosbar verbunden ist und bei der auf
Grundlage individueller, erlernter Handfertigkeit und umfassender
Werkstoffbeherrschung produziert wird [...] oder Dienstleistungen
angeboten w e r d e n " .
44
Dabei schlieBt er die sogenannte Urproduktion und die Verkehrs- und
Bewirtungsdienstleistungen aus. Die Spezifik der Produktionstechnik im
H a n d w e r k laBt Werkzeuge und Maschinen nur zur Erganzung der Handarbeit zu.
Kaufhold unterscheidet die gewerbliche Betriebsform des H a n d w e r k s von
Manufaktur und Verlag durch das Merkmal der wirtschaftlichen Selbstandigkeit.
AuBerdem klammert er das Landhandwerk, Textilerzeugung und Heimgewerbe
v o m H a n d w e r k aus. Ausgehend von dieser Definition des H a n d w e r k s wird in
dieser Untersuchung versucht zu verdeutlichen, welche Anderungen sich im
H a n d w e r k mit dem Anfang der Jndustriellen
Revolution '' in RuBland im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts vollzogen. Wobei wahrend der ersten Zeitperiode der
industriellen Entwicklung in Westeuropa zwischen etwa 1750 und 1870 unter dem
Begriff Industrie"
wirtschaftliche Tatigkeiten aller Art, folglich auch das
1
44
Vgl. К. H. Kaufhold, Umgang und Gliederung des deutschen Handwerks um 1800, in: W.
Abel (Hrsg.), Handwerksgeschichte in neuer Sicht, Gottingen 1978, hier S. 27f.
45
Handwerk, verstanden wurden. In RuBland vollzog sich dieser Begriffswandel mit
einer Verzogerung bis ins ausgehende 19. Jahrhundert. D e s w e g e n kann in dieser
Arbeit davon ausgegangen werden, daB an der starken E x p a n s i o n der
hauptstadtischen Industrie das St. Petersburger H a n d w e r k z u s a m m e n mit den
groBeren Werken u n d Fabriken bis ans Ende dieses Jahrhunderts einen groBen
Anteil. Dies fand seinen Niederschlag nicht nur in den russischen, sondern auch
in den westeuropaischen Berufsstatistiken, w o das „Handwer№ unter
Jndustrie"
zusammengefaBt w u r d e . A u s g e h e n d von der Definition des H a n d w e r k s bei
Kaufhold wird versucht, die besonderen M e r k m a l e eines Handwerkers aus St.
Petersburg im Unterschied zu seinen westeuropaischen Kollegen herauszuarbeiten.
Die ersten Unterschiede treten schon mit den Kategorien der standigen"
und
zeitweiligen"
Zunfthandwerker auf, die im westeuropaischen Zunfthandwerk
nicht vorhanden waren. Diese zwei Kategorien von Handwerkern wurden schon
angesprochen.
46
A u c h innerhalb der Werkstatt sind wesentliche Unterschiede zu der in Westeuropa
festzustellen. Die russische Werkstatt unterschied sich durch die noch weiter
aufgefacherte Betriebshierarchie, w o es auBer der des Meisters (master),
Gesellen (podmaster
Arbeiter (rabodj)
der
'e) und der Lehrlinge (udenik) noch die vierte Kategorie der
gab. Die letzteren fiihrten einfachere und schwerere Arbeiten
aus und waren w e n i g qualifiziert. Sie waren fast ausschlieBlich zugereiste
Saisonarbeiter v o m Land, deren „Einschulung" bzw. Einarbeitung nur wenige
Tage
47
dauerte. Allerdings
wurde
in
den
Untersuchungsberichten
der
Regierungsbeamten oft nicht unterschieden zwischen einem Gesellen und einem
Arbeiter,
48
demzufolge die Gesellen selbst als „Arbeiter" bezeichnet w u r d e n . S e l b s t
in der offiziellen Zeitschrift des Innenministeriums hieB es: D e r Geselle ist als ein
Handwerker zu bezeichnen, der sein H a n d w e r k gelernt hat, aber noch keine
vollstandige Erfahrenheit in seinem H a n d w e r k besitzt und unter der Leitung des
Meisters als einfacher
Arbeiter
seinen Aufgaben nachgeht. Er hat kein Recht,
andere Gesellen u n d Lehrlinge zu unterhalten und soli fur den Meister arbeiten und
49
seine Kunst den Lehrlingen z e i g e n . Erst seit 1852, als in einigen Regionen und
45
Vgl. Reinhart Koselleck (Hrsg. u. a.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3. Stuttgart 1982, zu den Begriffen
„Industrie" und „Gewerbe" s. S. 237f., 249, 286 und „Industrielle Revolution" S. 293ff., 297.
46
Ebd., S. 297.
47
Vgl. Vladimir Dal , Tolkovyj slovar' v detyrech tomach, Moskau 1990, Bd. 2, 3,4.
48
Zum Arbeiterbegriff s. auch: Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 32ff.
49
4
Ob ustrojstve remeslennogo soslovija i remeslennoj promySlennosti, in: 2MVD, 1853,
otdelenie 2, t. 3, kn. 5, S. 1-40, hier S. 3.
kleineren Stadten eine vereinfachte Handwerksverwaltung eingefuhrt wurde, war
in den Werkstatten tatsachlich eine vierte Kategorie »der Arbeiter"
offiziell
vorhanden.
Trotzdem ist es notig, im 19. Jahrhundert und besonders in seiner ersten Halfte
zwischen einem Gesellen und einem Saisonarbeiter
zu unterscheiden, weil sie
zwei verschiedene Gruppen bildeten. Ein Geselle durchlief eine drei- bis
funfjahrige Lehre bei einem Zunftmeister und bekam nachher ein Gesellendiplom
von der Handwerksverwaltung, das ihn berechtigte weiter bei einem Meister zu
arbeiten. Bis er dann die Meisterpriifung ablegen durfte und eine eigene Werkstatt
eroffhen konnte, sollte er mindestens drei Jahre bei einem Zunftmeister gearbeitet
haben. Diese Gesellenzeit sollte dazu dienen, alle fachspezifischen Seiten eines
H a n d w e r k s in vollem Umfang zu erlernen. Der Saison-
bzw. Lohnarbeiter
hatte
diese Rechte nicht und durfte sein Leben lang nur als Facharbeiter, w a s im Grunde
g e n o m m e n auch der Geselle war, arbeiten. Mit dem Beginn der Industrialisierung
w u r d e die Grenze zwischen einem Gesellen und einem Lohnarbeiter immer
undeutlicher, bis sie durch den BewuBtseinswandel, der besonders durch die erste
Russische Revolution von 1905 und die industrielle Revolution hervorgerufen
wurde, und die Auflosung der traditionellen Hausgemeinschaft, in der die beiden
Spharen Arbeit und Privatleben in einem verschmolzen waren, in den ersten zwei
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erlosch.
Der Begriff „deutsche Zunfte" bedeutet nicht, daB in diesen Zunften ausschlieBlich
die Handwerker deutscher N a t i o n a l i s t , sondern auch andere meist west- und
mitteleuropaische
Nationalitaten
vertreten
waren.
deutschen Handwerker innerhalb der „deutschen
Allerdings
bildeten
die
Zunfte" die zahlenmaBig groBte
Gruppe.
Der Begriff „Verlag" ist fur die russischen Verhaltnisse ebenso anwendbar wie in
der westeuropaischen Geschichtsschreibung. Hier heiBt es: Verlag ist eine
Herstellungsweise, bei der „der Verleger eine groBere Anzahl v o n Arbeitskraften
in
dezentralisierten,
formal
selbstandigen
Betriebsstatten"
regelmaBig
50
beschaftigt. An den Begriff des Verlags schlieBen sich noch weitere Begriffe wie
Lohn- bzw. Stuckarbeiter (podensdiki
oder rabotniki
und postudniki)
an. D a s
Vorhandensein dieser Kategorie der gewerbetreibenden Bevolkerung beschaftigte
die Regierung schon am Anfang der 1860er Jahre, als in St. Petersburg eine
50
Klaus ABmann, Verlag-Manufaktur-Fabrik. Die Entwicklung groBbetrieblicher
Unternehmensformen im G6ttinger Tuchmachergewerbe. In: Handwerksgeschichte in neuer
Sicht, W. Abel (Hrsg.), S. 211-240, hier S. 213.
Vielzahl solcher Gewerbetreibenden vorhanden war, die meistens meisterfrei
arbeitende Gesellen w a r e n .
51
Schon in den 1840er Jahren tauchen in den Beamtenberichten uber die Lage der
gewerbetreibenden Bevolkerung in St. Petersburg Begriffe wie
„Arbeitervo№
(rabodie ljudi) und Arbeiterklasse
(rabodij klass) auf, die nicht im marxistischen
Sinne oder wie in der sowjetischen Historiographie verwendet wurden. Unter
diesen Begriffen w u r d e n entweder die 30.000 bis 50.000 bauerlichen
Saisonarbeiter verstanden oder die armen Einzelhandwerker bzw. allein arbeitende
Gesellen, deren soziale Gruppe nach unten an die der Bettler grenzte. AuBerdem
k a m e n als weitere Kategorie von Beschaftigten in der Werkstatt die „Arbeitenden"
(rabotniki) hinzu, die den weiteren Begriffswandel im H a n d w e r k zum Ausdruck
brachte.
Die flieBenden Grenzen zwischen Werkstatt, W e r k oder Fabrik verursachten eine
Ubertragung der Begriffe aus dem H a n d w e r k in die Industrie und u m g e k e h r t . Die
D y n a m i k der wirtschaftlichen Entwicklung machte es unmoglich, eine klare
Grenze zwischen beiden Betriebsformen zu Ziehen. So arbeiteten in den
Werkstatten Arbeiter",
obwohl sie ihrem Stand nach im Heimbetrieb des Meisters
Gesellen waren; neben Saisonarbeitern wurden in den Fabriken ebenfalls
^belter"
beschaftigt, obwohl sie ihrem Qualifikationsgrad nach Meister waren.
AuBerdem wurden groBere Werke in Ziinfte" (cechi) gegliedert, wie die GieBerei
(litejnyj cech), Schmiedehalle (kuznednyj cech), Dreherhalle (tokarnyj cech) und
andere, die ihrem W e s e n nach eigenstandige Betriebseinheiten darstellten, die aber
nur Teil des Produktionsablaufes waren. AuBerdem verbarg sich haufig hinter d e m
Begriff der „Fabrik" eine Werkstatt, die nur deshalb solchen Status besaB, weil sie
52
53
54
51
Delo chozjajstvennogo departamenta ministerstva vnutrermich del, po predpoloieniju S.
Peterburgskoj ObScej i rasporjaditernoj dumy ob ustrojstve klassa remeslennikov, izvestnych
pod nazvaniem poStuCnikov i о neudobstvach su56estvuju§£ich pravil о porjadke perechoda
podmaster'ev ot odnogo mastera к drugomu, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 2384 (fevral
1861g.); Po zapiske (..) Smimova (1843), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172,1. 45; Dmitrij
Drir Polozenie remeslennikov i remeslennoe zakonodatel'stvo, in: Juridiceskij vestnik(1891),
Bd. 7, Nr. 1 (Januar), S. 29-59.
4
52
О merach к iskoreneniju niScenstva v meSCanskom i remeslennom soslovijach S.
Peterburgskoj stolicy (1.12.1861-15.04.1864), in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 112,1. Iff., 12,
15,17.
53
Mnenie S.-Peterburgskoj remeslennoj upravy po proektu polozenija ob ustrojstve i
soderzanii promySlennych zavedenij i о nadzore za proizvodstvom v nich rabot. St.
Petersburg 1897, S. 1.
54
S. zu den Begriffen „fabrika" und „zavod": Klaus Heller, Typen und Rechtsformen
groBgewerblicher Unternehmer in RuBland im 18. und in der ersten Hulfte des 19.
Jahrhunderts, in: Berliner Jahrbuch fur osteuropaische Geschichte 1997. Unternehmertum in
RuBland, hrsg. v. Klaus Heller, hier S. 7-27.
beim Manufakturdepartement registriert war oder der Meister den Titel eines
Hoflieferanten trug, w a s ihm das Recht verlieh, sich als „Fabrikant" zu bezeichnen.
Es ist durchaus zulassig, unter den „ F a b r i k e n " der Kaufleute der dritten Gilde,
unter denen sehr viele Handwerksmeister waren, eine Ubergangsform v o m
Handwerksbetrieb zu einem GroBbetrieb zu vermuten.
Der Begriff des Artels bzw. artel wird im Z u s a m m e n h a n g mit dem bauerlichen
bzw. nichtztinftigen H a n d w e r k verwendet. Es war ein Kollektiv, das sich
„gemeinschaftlich
v e r d i n g t e u n d am A r b e i t s o r t g r o B t e n t e i l s
auch
z u s a m m e n l e b t e " . Die Artelsarbeiter waren die Arbeitnehmer im Artel, die in der
Regel v o n einem Auftragsnehmer (podrjadcik) organisiert wurden, der vorzeitig
aufs Land reiste u n d sie vor der Sommersaison schon am Wohnort veфflichtete.
D a s Artel w a r eine Genossenschaft der Arbeiter bzw. Handwerker, die mit
wenigen A u s n a h m e n ihrem Stand nach Bauern waren und uberwiegend in der
Bauindustrie und im StraBenbau eingesetzt wurden.
Wahrend und nach der ersten Russischen Revolution 1905 vollzog sich, wie
gesagt, ein sprunghafter Wandel im SelbstbewuBtsein der Handwerker, der
allerdings Jahrzehnte vorher vorbereitet wurde. Mit der Radikalisierung der
russischen Gesellschaft wurden klare Grenzen zwischen den verschiedenen
sozialen Gruppen gezogen. In der Presse und in den Diskussionen auf dem
HandwerkerkongreB 1911 etablierten sich dann letztlich Begriffe wie
iiArbeiterklasse",
Arbeitgeber",
,yArbeitnehmer"
und ^JClassenkampf
im
Sprachgebrauch der H a n d w e r k e r .
1
55
yy
56
55
Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 197; Das Wort Artel wurde uberwiegend in der
Bildungssprache verwendet und hatte viele Synonyme wie vataga, druiina, staja, kotljana.
Ihre Mitglieder hieBen artel 'Stiki, pajs&ki, uzen$&ki, pokrudniki u.a., aus: G. Sazonov,
Programma dlja sobiranija svedenij о russkoj narodnoj arteli, in: R.M., janvar' 1881, kn. 1, S.
278-300, hier S. 284.
56
M. Gu-n, Zabastovki i organizacija kapitala, in: Narodno-socialistifceskoe obozrenie, vyp. 1
(1906), S. 68-73; B. Bogdanov, Itogi remeslennogo s-ezda, in: Nasa Zarja, Nr. 2 (fevral')
1911, S. 62-75.
1. Das H a n d w e r k in RuBland v o r Einfuhrung der Ziinfte 1722
Bevor uber die Ziinfte in RuBland gesprochen wird, bleibt zu fragen, in welchem
Zustand sich das russische H a n d w e r k vor der Einfuhrung der Zunfte befand. O b
bestimmte Organisationsmerkmale
des russischen Handwerks
dem
westeuropaischen Zunftwesen ahnlich waren oder beide nicht miteinander
vergleichbar sind?
Es gibt in der russischen Historiographie unterschiedliche Interpretationen
bezuglich der Organisation des H a n d w e r k s in RuBland vor Einfuhrung der Zunfte
1722. Die These uber die korporative Organisation des H a n d w e r k s a m Beispiel des
Artels im mittelalterlichen RuBland wurde 1852 von V. N . Leskov und spater von
F. D e m e n t ' e v aufgestellt, die sie als Vorlaufer der Zunfte in RuBland rezipierten.
Leschkov betonte, daB die Reform Peters I. der gesetzliche Ausdruck dessen war,
w a s langst in RuBland existierte. . W e n n wir aber unter einer Korporation eine
Korperschaft mit den verliehenen Rechten einer juristischen Person verstehen, so
sind die zeitweiligen, saisonal bedingten losen Vereinigungen russischer
Handwerker, die keine Struktur und keine Organisationsmerkmale aufwiesen, die
wiederum fur die westeuropaischen Zunfte typisch waren, nicht mit j e n e n zu
vergleichen . A u c h Ditjatin verneinte den Vergleich der russischen Artels mit den
ZUnften in Westeuropa. Seiner M e i n u n g nach existierten alle Artels, die es in
RuBland zu j e n e r Zeit gab, wie die Gewerbeartels (arteli promyslov),
d. h.
saisonalbedingt und mit bauerlichem Charakter.
Ahnlicher M e i n u n g war N . Ryckov, der zeigte, daB die H a n d w e r k e r in der
M o s k a u e r R u s wahrend der Regierungszeit von Aleksej Michajlovid keinen
Beschrankungen v o n gesetzlicher Seite unterlagen und ihre Gemeinschaften keine
Ahnlichkeit mit den westeuropaischen Ziinften aufwiesen. Er unterstrich zu Recht
die Eigenartigkeit der russischen Handwerksorganisationen, der Artels, und gab
ein treffliches Charakteristikum der petrinischen Reformen: Peter I. fuhrte die
Reformen in den russischen Stadten aus fiskalischen und polizeilichen Grunden
ein, um die Qualifikation der Handwerker zu erhohen und die Qualitat der Waren
uberpriifen zu konnen, wodurch der Konsument besser geschutzt gewesen ware
und dem Staat hochqualifizieite Fachkrafte jederzeit zur Verfugung gestanden
hatten. Diese W u n s c h e Peters I. gingen aber, so Rydkov, aufgrund der fur die
russischen H a n d w e r k e r vollig fremden Institution der Zunfte, nicht in Erfullung .
Bemerkenswert ist, daB Ryckov, der seine Schrift 1863 verfaBte und die
Zunftreform Peters I. als Totgeburt bezeichnete, die Tatsache ignorierte, daB vor
57
58
4
59
57
M. Kuliser, Cechi и nas i v Evrope, in: Russkaja Mysl', Kn. 11-12. 1877, hier kn. 11, S. 3272, hier S. 44.
58
V. N. LeSkov, Обегк drevnich russkich zakonov о remeslennoj i zavodskoj promySlennosti.
In: Moskvitjanin 1852, Nr. 23, S. 361-368; F. Dement'ev, Cechi v Rossii. In: BrokgauzEfron, 1903, t. 38, S. 131-134.
59
N. D. RyCkov, О cechach v Rossii i Zapadnoj Evrope. In: Russkij vestnik, Bd. 47 (1863)
Nr. 11, S. 789-822, hier S. 811.
seinen A u g e n die russischen Zunfte in M o s k a u und besonders in St. Petersburg
gerade in den 1840er - 1860er Jahren ihre Blutezeit erlebten.
Dovnar-Zapol'skij u n d T. P. Efimenko konnten keine Analogien zwischen der
Organisation der Handwerker in der M o s k a u e r Periode und den westeuropaischen
Zunften finden, obwohl ihrer M e i n u n g nach einige M e r k m a l e dafur sprachen, daB
unter den Moskauer Gold- und Silberschmieden die T e n d e n z zu einer к о ф о г а ^ е п
Bildung vorhanden war. Als Indiz dafur fugten sie hinzu, daB diese Handwerker
ihre Waren beim Altesten der H a n d e l s r e i h e n (torgovye rjady) z u m Abstempeln
vorlegen sollten. Dies kann noch nicht als Hinweis auf eine innungsartige
Vereinigung unter den Gold- und Silberschmieden gewertet werden, sondern nur
als Hinweis auf die Qualitetskontrollfunktionen seitens der kaufmannischen
Institution in der Person des Altesten einer H a n d e l s r e i h e . Es ist hier zu bemerken,
daB D o v n a r - Z a p o r s k i j und Efimenko die Ansicht von LjaScenko kritisierten, daB
die Artels die Vorlaufer der Zunfte gewesen seien, und ihre Aufinerksamkeit den
Sloboden und Handelsreihen widmeten, in denen sie einige Elemente der
к о ф о г а ^ е п Organisation der Zunfte zu erkennen glaubten.
In den 1950er Jahren versuchten die sowjetischen Historiker M. N . Tichomirov
und A. M . Sacharov die Thesen Leskovs iiber die russischen Artels und andere
Attribute des russischen H a n d w e r k s als Vorlaufer der petrinischen Zunfte im 18.
Jahrhundert weiter zu entwickeln. Mit Fakten wie unter anderem der Existenz v o n
Handwerkersloboden und Hundertschaften, der Spezialisierung in den
Handelsreihen auf d e m Stadtmarkt, dem Vorhandensein der Patronatskirchen, die
von bestimmten Handwerkern gestiftet wurden, versuchten die beiden Autoren
diese Ansichten Leskovs zu untermauern und behaupteten, daB unter den
russischen H a n d w e r k e r n bestimmte Organisationsmuster vorhanden waren, die
denen in den westeuropaischen Zunften ahnelten . Obwohl Tichomirov meinte,
daB es eine ubertriebene Modernisierung ware, solche Vergleiche mit den
russischen H a n d w e r k e r n des 12. u n d 13. Jahrhunderts anzustellen, hielt er solche
Vergleiche mit denselben im 16. Jahrhundert fur durchaus moglich.
N u n warfen die obengenannten Fakten, die diese Thesen belegen sollten, weitere
Fragen auf, die nicht eindeutig beantwortet werden konnten. Die M e r k m a l e des
russischen H a n d w e r k s , die v o n den oben erwahnten Autoren angefiihrt wurden,
erlauben noch nicht, iiber eine Ahnlichkeit der Organisation russischer
Handwerker mit den westeuropaischen Zunften zu sprechen. In dem Versuch,
60
61
62
60
Torgovyj rjad - der Stadtmarkt, wo die Kaufleute nach der Art der Ware ihre Handelsstuben
reihenweise aufgestellt gehabt hatten. Es gab z. B. die Handelsreihen der Fleisch- und
Stoffhandler (mjasnoj i sukonnyj rjad) sowie Silberreihen (serebrjanye rjady), wo die Waren
aus dem Gold, Silber und anderen hochwertigen Materialien verkauft aber nicht von den
Handwerkern hergestellt wurden. Das war eine Vertriebsweise rein kaufinannischer Natur,
wo der Handwerker die Rolle eines Herstellers und Lieferanten des Kaufmanns ausftihrte.
61
Dovnar-Zaporskij, Organizacija moskovskich remeslennikov v XVII veke. In: 2MNP
(September 1910), S. 137ff.; Vgl. Pazitnov, Problema, S. 14; Efimenko, Т. P., Обегк
organizacii gorodskich remeslennikov v Moskovskom gosudarstve XVI i XVII vekov. In:
2urnal ministerstva justicii (1914) Nr. 4, S. 114-162.
62
A. M. Sacharov, Cechi v Rossii, in: SIE Bd.15, S. 762ff.
Parallelen zu den westeuropaischen Zunften aufzustellen, ist die T e n d e n z der
sowjetischen Historiker der 1950er Jahre abzulesen, die „historische
GesetzmaBigkeit" zu belegen und den „Determinismus" der historischen
Entwicklung am Beispiel der „korporativen Institutionen" der Handwerker im
mittelalterlichen RuBland zu beweisen. Mit diesen Versuchen sollte wieder zur
Schau gestellt werden, daB die theoretischen Grundsatze der marxistischleninistischen Theorie auf alle Gebiete der Geschichte a n w e n d b a r seien und einerlei, ob in den westeuropaischen Landern oder in RuBland - es sollten fur beide
Regionen analoge GesetzmaBigkeiten in der Entwicklung der Stadte feststellbar
sein, bei deren Entstehung die Handwerker in Westeuropa eine erhebliche Rolle
spielten .
63
Die angebliche Ahnlichkeit der mittelalterlichen russischen handwerklichen
Vereinigungen mit den westeuropaischen Zunften kann rein formal begriffen
werden. Bei naherer Betrachtung enthullt sich diese Ahnlichkeit als eine optische
Tauschung. Inhaltlich gesehen hatten die Organisationsformen russischer
Handwerker mit den westeuropaischen Zunften nichts Gemeinsames und Rydkov
hatte recht, w e n n er behauptete, daB die Zunfte in RuBland eine vollig neue und
fremde Institution waren. Was aber die Entwicklung russischer Zunfte betrifft, so
besteht hier eine prinzipielle Diskrepanz zwischen den Ansichten von Ditjatin,
Sacharov und Tichomirov und denen, die in dieser Arbeit vertreten werden.
Ditjatin bezeichnete die Zunftreform als gescheitert. Die sowjetischen Autoren
bewerteten das Bestehen der Zunfte in RuBland nur fur die erste Zeit positiv, w a s
aber ihre Rolle im 19. Jahrhundert und b e s o n d e r s nach dem Beginn der
Industrialisierung betrifft, so bezeichneten sie die Zunfte als eine Institution des
mittelalterlichen Feudalismus. Dieser Vergleich russischer Zunfte mit den
westeuropaischen Zunften des Mittelalters und ihre D e u t u n g als einer rein
restriktiven Organisation fur das 19. und beginnende 20. Jahrhundert ist verfehlt.
Eine andere Gruppe sowjetischer Historiker wie P. I. Ljascenko, K. A. Pazitnov,
F. Ja. Poljanskij und K. N . Serbina kamen im Gegensatz dazu zu d e m SchluB, daB
es ktinstlich und erzwungen sei, Parallelen zum westeuropaischen Zunfthandwerk
aufzustellen. D a s russische H a n d w e r k sollte besser in seiner Eigenartigkeit
w a h r g e n o m m e n und untersucht w e r d e n . Pazitnov klarte den Unterschied
64
63
A. M. Sacharov, Goroda severo-vostodnoj Rusi XIV-XV w., Moskau 1959; M. N.,
Tichomirov, Drevnerusskie goroda, Moskau 1956, S. 33; ders., О kupeceskich i
remeslennych ob-edinenijach v Drevnej Rusi (XI-XV w.). In: VI 1 (1945).
64
P. I. LjaS6enko, Istorija narodnogo chozjajstva SSSR, torn 1. Moskau 1947, S. 268f; K. A.
Pazitnov, Organizacija remeslennoj promySlennosti v Moskovskoj Rusi i reforma Petra. In:
IZ 8 (1840); ders., Problema remeslennych cechov v zakonodatel'srve russkogo absoljutizma.
Moskau 1952; F. Ja. Poljanskij, Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii XVIII veka.
Moskau 1960, S. 15; K. N. Serbina, К voprosu ob ucenicestve v remesle russkogo goroda
XVII v. In: IZ 18 (1946); dies., Ocerki iz social'no-ekonomideskoj istorii russkogo goroda.
Tichvinskij posad v XVI-XVIII vekach. Moskau, Leningrad 1951; dies., Remeslo i
manufaktura v Rossii v 16-17 vekach, in: Remeslo i manufaktura v Rossii, Finljandii i
zwischen den zwei Organisationsformen „Artel" und „Zunft", indem er unter
anderem aufzeigte, daB sie den verschiedenen Organisationsformen „societas" Artel und „universitas" - Zunfte angehorten. Die Artels w u r d e n mit den N o r m e n
des Zivilrechts, die Zunfte aber auch mit administrativen Rechtsnormen geregelt.
Er wies mit R e c h t darauf hin, daB sich nicht nur Leskov, der die Parallelen
zwischen den westeuropaischen Zunften aufstellte, sondern auch DovnarZaporskij und Efimenko tauschten, wenn sie die Hundertschaften, Sloboden und
Handelsreihen mit den Zunften verglichen .
Die Entwicklung des russischen H a n d w e r k s lief nicht unbedingt auf eine Form der
Zunftorganisation hinaus, sondern hatte durchaus die Moglichkeit, sich weiter auf
e i g e n e m W e g e zu entwickeln. Es ist j e d o c h zu fragen, o b diese Entwicklung
erfolgreicher als die v o n Peter I. eingeschlagene ware oder nicht? Die Petrinische
Reform wollte in erster Linie eine geregelte Handwerksindustrie schaffen.
Allerdings sollten noch mehr als 150 Jahre vergehen, bis der Traum v o n Peter I.
in Erfullung gehen sollte, weil die gesellschaftlichen und sozialen Verhaltnisse bis
in die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts nicht gegeben waren. O b w o h l die
russischen Zunfte v o n St. Petersburg und M o s k a u im 18. Jahrhundert gewiB ein
bescheidenes Dasein fuhrten, konnten sie sich seit dem Ende des 18. und im 19.
Jahrhundert im wirtschaftlichen Leben mehr und mehr behaupten und sich zu einer
Institution entwickeln, die im 19. Jahrhundert von einer bestimmten sozialen
Schicht der Gewerbetreibenden fur ihre Z w e c k e instrumentalisiert wurde.
D e s weiteren wird hier versucht, die Frage zu beantworten, welche soziale und
wirtschaftliche Rolle die Zunfte in St. Petersburg spielten? Welche B e d e u t u n g k a m
ihnen in der H e r a u s b i l d u n g eines standischen BewuBtseins bei den ziinftigen
Handwerkern und in der Integration der bauerlichen H a n d w e r k e r in die stadtische
Gesellschaft zu? O b am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts das
standische BewuBtsein der Zunfthandwerker in St. Petersburg die K e i m e einer
burgerlichen Moral bzw. Verhaltensweise und die Ubergangserscheinungen zu
einer burgerlichen Gesellschaft ohne standische Hindernisse und Vorurteile
aufwies?
65
Pribaltike, Leningrad 1975, S. 20-31.
65
Pazitnov, Problema, S. 27f.
2. Die
Gewerbegesetzgebung
und
die
Gewerbepolitik
der
russischen
Regierung v o m 18, J a h r h u n d e r t bis 1914
2.1
Die G e w e r b e g e s e t z g e b u n g und die Gewerbepolitik Peters I. v o r der
Einfuhrung der Zunfte
Das T h e m a der Gewerbegesetzgebung und der Gewerbepolitik der russischen
Regierung im 18. Jahrhundert bringt vor allem die Frage uber die Kontinuitat der
Gewerbepolitik des Staates auf. Geklart werden muB auch, ob und w e n n j a welche
Ansatze in der Organisation des russischen H a n d w e r k s fruher schon bestanden und
inwieweit die spatere Regierungspolitik diese Ansatze weiterfuhrte bzw. sie wieder
verwarf. Es soil versucht werden, die Inhalte des „russischen Zunftwesens", die es
von den Zunften in Westen Europas unterschied, aufzuzeigen.
Die russische Geschichtsschreibung in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts
schied sich an der Frage, ob die Regierung 1722 mit der Einfuhrung der Zunfte ein
generelles Zunftmonopol und damit ein volliges Verbot des freien H a n d w e r k s oder
aber ein beschranktes Zunftmonopol,
welches das Bestehen eines
freien
H a n d w e r k s erlaubte, einfuhrte.
N a c h M e i n u n g von N . Stepanov versuchte Peter I. das unterentwickelte russische
H a n d w e r k zu unterstutzen,
indem er die Zunfte
mit einem
universellen
Monopolrecht versah. Er wollte damit die Konkurrenz seitens der nichtzunftigen
66
Handwerker ausschalten . Ditjatin und Leskov meinten dagegen, daB die Worte:
4
„a v nevolju ne p r i n u z d a t "
67
(die Handwerker gegen ihren Willen nicht zwingen)
in den Erlassen v o m 27. April und 16. Juli 1722 den SchluB zulieBen, daB die
Zunfte keinen Monopolcharakter hatten. Jeder, der in die Hauptstadt kam, durfte
68
frei die Zunfthandwerke a u s u b e n . Kizevetter gelang es, die M e i n u n g e n der
beiden obengenannten Autoren zu vereinigen, indem er behauptete, daB z u m
Zunfteintritt nur die Posadleute gezwungen wurden. Die ubrigen, die in die Stadt
66
N. Stepanov, Sravnitel'no-istorideskij ocerk organizacii remeslennoj promySlennosti v
Rossii i zapadno-evropejskich gosudarstvach. Kiev 1864, Vgl. Pazitnov, Problema, S. 52.
67
68
Vgl. mit dem Gesamttext des Erlasses im Dokumentenanhang.
V. N. LeSkov, Ocerk drevnich russkich zakonov о remeslennoj i zavodskoj promySlennosti.
In: Moskvitjanin 1852, Nr. 23; ders.. Russkij narod i gosudarstvo. Istorija russkogo
obSdestvennogo prava do XVIII veka. Moskau 1858; 1.1. Ditjatin, Ustrojstvo i upravlenie
gorodov Rossii. Bd. 1. St. Petersburg 1875, Bd. 2, Jaroslavl' 1877; Vgl. Pazitnov, Problema,
S. 52f.
kamen und nicht zur stadtischen Gesellschaft gehorten, durften dem H a n d w e r k
ohne Zunfteintritt n a c h g e h e n .
69
K. A. Pazitnov gelang es in seiner Arbeit am besten, die Ziele des Gesetzgebers zu
interpretieren und seine Argumentation zu b e l e g e n . Er behauptet, daB im Sinne
des Erlasses v o m 27. April 1722 alle Handwerker, die in der Stadt arbeiteten, ohne
Unterschied des Standes in die Zunfte eintreten sollten. Diesen ZusammenschluB
bekraftigen weitere D o k u m e n t e . So fugt er den Auftrag (nakaz) der Stadt Simbirsk
hinzu, der zeigt, daB der zusatzliche ErlaB v o m 16. Juli in der Provinz gerade in
diesem Sinne verstanden wurde:
70
„Denjenigen, die in die Zunft nicht eingetreten sind, ist dem Gesetz nach
verboten, die Waren z u m Verkauf anzufertigen, wie es der ErlaB v o m
16. Juli 1722 befehligt. W e n n aber j e m a n d ohne in die Zunft einzutreten
sein H a n d w e r k a u s u b e n wird, so werden denjenigen nicht nur das
W e r k z e u g w e g g e n o m m e n , sondern sie werden dariiber hinaus bestraft
und aus der Stadt in ihre Dorfer hinausgeschickt" .
71
Eine Frage, die sich aus oben gesagtem ergibt, ist: Ist die Gewerbegesetzgebung,
die das Handwerk betraf, allein aus den fiskalischen und polizeilichen Interessen
des Staates abzuleiten, oder entstand sie zumindest teilweise unter einem gewissen
Sachzwang, einem D r u c k von „unten"? Es ist anzunehmen, daB hier beide
Faktoren, Staatsrason und Sachzwang, eine Rolle gespielt haben. Das zeigt gerade
der erganzende ErlaB v o m 16. Juli 1722, der die H a n d w e r k e r aus alien
Bevolkerungskategorien
aufzahlt, d a b e i a b e r im U n t e r s c h i e d
zum
vorangegangenen ErlaB eine A u s n a h m e einfuhrt, daB namlich die Handwerker in
den Adelshausern und Klostern die Waren fur den eigenen Bedarf, nicht aber z u m
Verkauf anfertigen durften. Der Gesetzgeber lieB einen KompromiB mit den
einfluBreichsten Schichten der Gesellschaft wie dem Adel und der Kirche zu,
wodurch das Zunftmonopol nur in einer beschnittenen Form existierte. Ein
weiteres Beispiel, das zeigt, daB der Gesetzgeber den russischen Verhaltnissen
R e c h n u n g trug, ist das Institut der zeitweiligen Handwerker, das in Westeuropa
undenkbar war, da dort die mit der weltlichen und klerikalen M a c h t ausgehandelte
Regel gait: „Stadtluft macht frei". In Anbetracht dieser Andersartigkeit der
r u s s i s c h e n V e r h a l t n i s s e w u r d e v o m G e s e t z g e b e r im V e r l a u f
des
Anpassungsprozesses der russischen Gesetzgebung „in die ganze Struktur der
69
A. A. Kizevetter, Posadskaja ob§6ina v Rossii XVIII st. Moskau 1903.
70
Pazitnov, Problema, S. 53.
71
Ebd.: A ne zapisavSis' v cech nikomu nikakogo rukodelija na prodazu po zakonam, как
ukaz 1722 goda ijulja 16 dnja povelevaet, ne proizvodit*. A eieli kto, ne zapisavSis' v cech,
какое remeslo budet imet , u tech ne tol'ko instrumenty otbirat , no i ich nakazyvat', iz
goroda vysylat' v te ze ziterstva, gde kto napisan.
4
4
V e r o r d n u n g e n eine gewisse Elastizitat eingebaut [..], die der Gesetzgeber
akzeptiert[e]" .
Die Beweggriinde Peters I. werden durch den historischen Hintergrund
verstandlicher. Peter der GroBe w a r der erste Zar, der in RuBland eine staatliche
Wirtschaftspolitik im modernen Sinne betrieben hat. Er leitete sie aus dem
Merkantilismus her, dessen Grundprinzipien er durch seine auslandischen Berater
erlautert bekam. Diese Grundprinzipien w a r e n eine Rezeption der Politik des
franzosischen Finanzministers J. B . Colbert und der Stuarts in England, wobei die
Steuer- und Wirtschaftspolitik von Peter I. den Charakter eines Merkantilismus mit
stark ausgepragten fiskalischen Z u g e n t r u g , w a s auch ein M e r k m a l des deutschen
Kameralismus war. Eines seiner Grundprinzipien war, die Besteuerung nach dem
Finanzbedarf der Fursten zu richten. Die Ausgaben fiir A r m e e und Marine im
Z u s a m m e n h a n g mit d e m GroBen Nordischen Krieg hatten Prioritat und uberhaupt
war der Krieg ein Hauptmotor und Ursache fur die Entstehung der
Manufakturindustrie in RuBland .
72
73
74
75
Die Befriedigung des steigenden Geldbedarfs setzte die Steigerung der Steuerkraft
der Bevolkerung voraus, wodurch wiederum die „pflegliche" B e h a n d l u n g der
Beisassengemeinde,
die
sich
zum
groBen
Teil
aus
Zunfthandwerkern
zusammensetzte, zu erklaren ist. Peters I. Wirtschaftspolitik stellte, wie es das
Beispiel
der Verfassungsmethodik
der Zunftregelungen
verdeutlicht,
eine
76
M i s c h u n g aus verschiedenen westeuropaischen Erfahrungen d a r . Die russische
72
Walther Kirchner, Die deutsche Industrie und die Industrialisierung RuBlands 1815-1914,
St. Katharinen 1986, S. 328.
73
Max Weber, Wirtschaftsgeschichte: AbriB der universellen Sozial- und
Wirtschaftgeschichte, 4. Auflage.. Berlin 1981, S. 293f.
74
Vgl. ebd., S. 296-300. Allgemein zum Merkantilismus und Kameralismus in Europa: Rolf
Walter, Wirtschaftsgeschichte: vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Koln,
Weimar, Wien 1998, S. 22-32; Immanuel Wallerstein, Der Merkantilismus: Europa zwischen
1600 und 1750, 0.0.1998; Rainer Gommel, Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des
Kameralismus 1620-1800. Mtinchen 1998; Maximilian Walter, Das Furststift Kempten im
Zeitalter des Merkantilismus: Wirtschaftspolitik und Realitatenentwicklung (1648-1802/03),
Beitrage zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 68), Stuttgart 1995; Richard H. Tilly (Hrsg.),
Geschichte der Wirtschaftspolitik: vom Merkantilismus zur sozialen Marktwirtschaft,
Miinchen 1993; Fritz Blaich, Die Epoche des Merkantilismus, Wiesbaden 1973; Hans
Hausherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit: vom Ende des 14. bis zur Hohe des 19.
Jahrhunderts, 4. Aufl, Koln, Wien 1970, hier uber M. in RuBland S. 271-276; H. Kellenbenz,
Der Merkantilismus in Europa und die soziale Mobilitat, Wiesbaden 1965.
75
E. V. Anisimov, Gosudarstvennye preobrazovanija i samoderzavie Petra Velikogo v pervoj
cetverti XVIII veka, St. Petersburg 1997, S. 14.
76
Unter dem Sammelbegriff „Wes teuropa" wird hier, wie es in der russischen Historiographie
gelaufig ist, West-, Slid-, Mittel- und Nordeuropa verstanden.
Regierung erteilte Handelsprivilegien, griindete Manufakturen, baute Kanale und
StraBen, wie es auch fur die Entwicklung in Frankreich typisch war, w o im 18.
Jahrhundert ein Strafiennetz, das mit den romischen StraBen vergleichbar ist,
ausgebaut wurde, u m den Binnenhandel zu fordern und St. Petersburg mit dem
77
Inland zu v e r b i n d e n . Es m a g paradox erscheinen, daB, wahrend die Landesherren
in Europa die Zunftrechte zu beschneiden versuchten, Peter I. die Zunfte - eine
standische Organisation der H a n d w e r k e r in RuBland - griindete. Ihrem W e s e n nach
hatten die Zunfte in RuBland eine andere Natur als in Westeuropa. Sie waren ein
Instrument des Zaren, der damit das H a n d w e r k zu entwickeln, sein Fachniveau zu
heben und die Produktion zu steigern versuchte, wodurch die Steuereinnahmen des
78
Staates verbessert werden sollten .
Die fehlenden Informationen iiber die tatsachliche Lage der St. Petersburger
H a n d w e r k e r im 18. Jahrhundert sind ein Hindernis in der Erforschung des
Zusammenspiels zwischen Praxis und regulierender Staatsrason, die ihren
Ausdruck in der Gesetzgebung fand. Trotzdem ist es dank der Spezifik der
Zusammenstellung der Erlasse im 18. Jahrhundert fast immer moglich, nicht nur
den rein gesetzgeberischen Willen, sondern auch die von „unten" k o m m e n d e n
Impulse fur die Freigabe des jeweiligen Erlasses festzustellen.
N o c h vor der Einfuhrung der Zunfte versuchte Peter I. in den Erlassen v o n 1699,
1 7 0 3 , 1 7 0 4 u n d 1708 die gewerbetreibende Bevolkerung zu organisieren, u m die
Einnahmen der Staatskasse fur die Modernisierung der A r m e e , der Marine, des
Staatsapparates u n d des Bildungswesens zu verbessern, u m die wichtigsten
Reformbereiche zu nennen. Als er feststellte, daB diese MaBnahmen wenig effektiv
waren, startete er zu Beginn der 20er Jahre, als der 20jahrige Krieg zu Ende war,
ein Projekt zur Organisation der Handwerker in Zunften.
Der ErlaB v o n 1699, der den ersten Versuch darstellte, die stadtische Bevolkerung
von den iibrigen Schichten abzugrenzen und eine gesonderte V e r w a l t u n g in der
Gestalt der Rathauser (Burmisterskie
izby) einzufuhren, scheiterte an der Passivitat
und dem Desinteresse der gewerbetreibenden Schichten der Stadte, der Kaufleute
und Handwerker. Eines der Motive dieses Erlasses war, die Kaufleute und andere
Gewerbetreibende v o n der Willkiir mehrerer Staatsamter zu befreien, durch deren
Burokratismus sie groBe Zeit- und Geldverluste erlitten. D e n Kaufleuten und
Gewerbetreibenden
77
78
wurde
befohlen,
aufgrund
ihrer
Einnahme-
und
Vgl. Blaich, Die Epoche des Merkantilismus. Wiesbaden 1973, S. 185f
Vgl. Hans Hausherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit: vom Ende des 14. bis zur Hohe
des 19. Jahrhunderts, 4. Aufl., Koln-Wien 1970, S. 273.
Ausgabebucher
jahrliche
Kostenvoranschlage
und
Warenverzeichnisse
79
aufzustellen, u m Willkur der Amter bei der Besteuerung zu v e r m e i d e n .
Mit dem ErlaB v o n 1703 trachtete der Gesetzgeber danach, den Arbeitgeber zu
schiitzen und es einem unzuverlassigen Gesellen oder Lohnarbeiter schwerer zu
machen, eine Stelle zu finden. Ein Arbeitssuchender sollte bei der Einstellung ein
Empfehlungsschreiben bzw. ein Gutachten v o m frtiheren Arbeitgeber vorweisen.
80
Selbst die Meister waren dazu v e ф f l i c h t e t .
D e r dritte aus dieser Reihe v o n Erlassen von 1704 war ein weiterer Versuch, die
Handwerker ohne Zunfte zu organisieren und von ihnen Steuern in vollem Umfang
einzutreiben. E s wurde namlich verfugt,
daB sich alle Handwerker
und
Lohnarbeiter in der Semenov-Kanzlei fur die H o n i g s a m m l u n g in M o s k a u und in
anderen Stadten bei den Heerfuhrern
(yoevody)
registrieren lassen sollen.
Handwerker, wie z. B . Maurer. Farber, Schuhmacher und Schneider sollten zwei
Grivna
81
und die einfachen Arbeiter oder Lohnarbeiter 2 A l t y n
82
im Jahr dafur
abgeben, daB sie in den Stadten arbeiteten. N a c h der Entrichtung der Steuer
bekamen sie jahrlich eine schriftliche Bestatigung, in der Stadt arbeiten zu
83
durfen .
Mit dem letzten ErlaB aus dieser Reihe vom 14. N o v e m b e r 1708, als Peter I. die
Lage des H a n d w e r k s mit Sondererlassen zu regeln versuchte, wurde den
Glockenspielem, Kutschem, KanonengieBem, Wachtern bzw. Torwartern, Klosterund Metropolithandwerkern und den Bauern befohlen, in die Beisassengemeinde
einzutreten, andernfalls wurde ihnen verboten, in den Stadten Gewerbe oder
Handel zu treiben, u m den stadtischen Beisassengemeinden keine Schaden
84
zuzufugen und ihre Ertragslage zu verbessern . Das war nicht die erste gesetzliche
Regelung, die den oben erwahnten Bevolkerungsgruppen eine Gewerbetatigkeit
verbot. Das Strafgesetzbuch von 1550 (Sudebnik),
die Standesversammlungsbriefe
79
PSZ RI1, Bd. 3, Nr. 1674 (30.1.1699): Ob ucrezdenii Burmisterskoj palaty (...), S. 598600.
80
PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 1927 (1.3.1703): О pisanii krepostej v knigi (...), S. 214f.
81
Grivna - altrussische Geldeinheit ist am Anfang des 18. Jahrhunderts zehn Kopeken
gleichzusetzen. Ein Rubel beinhaltet 100 Kopeken. Von „Grivna" wurde spater „grivennik"
abgeleitet, was bis heute eine Bezeichnung der Zehnkopekenmunze bedeutet.
82
Altyn - altrussische Geldeinheit, die im 18. Jahrhundert drei Kopeken gleichzusetzen ist.
83
PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 1972 (1.3.1704): О sbore vnutrennej poSliny s chleba (...), S. 248-252.
84
PSZ RI-1, Bd. 12, Nr. 9201 (19.08.1745): Ukaz Kamer-kollegii - Ob oznadenii tovarov,
kakimi mogut krest'jane torgovat' v boPSich selach i derevnjach, S. 441.
(Sobornye
gramoty)
nach 1550 und das Gesetzbuch (Sobornoe
ulozenie)
von 1649
85
versuchten dies gleichfalls zu r e g e l n .
Es darf nicht u b e r s e h e n werden, daB das Hauptziel dieser Erlasse war, die
Steuersammlung zu regeln, aber auch das Gewerbe zu organisieren, den
Arbeitgeber einerseits vor der Willkur der A m t e r und andererseits vor
unzuverlassigen A r b e i t n e h m e m zu schutzen, w a s durch eine ordentliche
B u c h h a l t u n g und durch die Einfuhrung der Empfehlungsbriefe gewahrleistet
werden sollte. Mit den zwei letzten Erlassen sollte die Steuersammlung fur
Handwerker und unqualifizierte Arbeiter, die auBerhalb der Sloboden lebten und
v o m Land zugereist waren, geregelt, sowie die stadtischen Handwerker in der
Beisassengemeinde vor den freien Handwerkern, die keine Steuer zahlten,
geschutzt werden. All diese administrativen u n d fiskalischen Aufgaben, die der
Gesetzgeber nach alter Tradition durch eine Vielzahl von Erlassen u n d Regelungen
zu losen versuchte, sollten n u n v o n einer neuen Institution gelost werden - die
Zunfte waren das Instrument, mit d e m eine wichtige gewerbetreibende Gruppe der
Bevolkerung organisiert und institutionalisiert wurde - die Handwerker.
2.2
Die Einfuhrung der Zunfte 1722
Die Einfuhrung der Zunfte durch Peter I. mit mehreren Erlassen in den Jahren
1721 -1722 war eine grundlegend neue Entwicklung fur das H a n d w e r k in RuBland
und vor allem in St. Petersburg und M o s k a u . Der Unterschied zu den fruheren
Reformen war, daB diese neue - v o m Staat geschaffene - Organisationsform das
Ziel hatte, einerseits die Steuereinnahmen zu sichern, andererseits die Qualitat der
handwerklichen Erzeugnisse und der Ausbildung zu erhohen und eine besondere
gewerbetreibende Schicht in den Stadten zu bilden, woraus eine Erweiterung des
Blickfeldes des Gesetzgebers und das Verstandnis einer engeren Abhangigkeit
wirtschaftlicher und innenpolitischer Z u s a m m e n h a n g e zu konstatieren ist. Das
qualitativ hochstehende H a n d w e r k sollte den N a c h s c h u b an qualifizierten
Handwerkern fur staatliche Z w e c k e leisten, aber auch die Entwicklung der
staatlichen und privaten Industrie fordern. Peter I. beabsichtigte wenigstens in den
Hauptstadten, die Entstehung einer starken industriellen Mittelschicht zu fordern,
die die Wirtschaft weiterentwickeln konnte, was bis dahin v o n der Wirklichkeit
86
85
86
Pazitnov, Problema, S. 34.
Vgl. K. A. Pazitnov, Organizacija remeslennoj promySlennosti v Moskovskoj Rusi i
reforma Petra. In: IZ 8 (1840); ders., Problema remeslennych cechov v zakonodatel'stve
russkogo absoljutizma. Moskau 1952; F. Ja- Poljanskij, Gorodskoe remeslo i manufaktura v
Rossii XVni veka. Moskau 1960, S. 15.
weit entfernt und nur als ein langfristig angelegtes innenpolitisches und
wirtschaftliches Ziel zu akzeptieren w a r .
Die neue Richtung der Gewerbepolitik von Peter I. war ein Ergebnis der Suche
nach einer besseren wirtschaftlichen Ordnung, die d e m Gewerbe erlaubte,
expandieren zu k o n n e n . Schon seit seinen Reisen in Westeuropa, w o ihm das
hohe Niveau des Zunfthandwerks und die Kunstfertigkeit der Meister aufgefallen
waren, hatte er den Wunsch, eine solche Fulle hochqualifizierter H a n d w e r k e r eines
Tages in RuBland zu sehen. Seine Einsicht, daB das H a n d w e r k modernisiert bzw.
reformiert werden musse, war, abgesehen von seinen westeuropaischen Beratern
wie Franz Lefort oder Patrik Gordon auch dem Universalgelehrten Jurij Krizanic
gelaufig, der zur Zeit von Aleksej Michajlovic in der zweiten Halfte des 17.
Jahrhunderts seine Bemerkungen uber das H a n d w e r k machte: „Die Handwerker
sind fur einen Staat gewinntriichtiger als die reichsten Gruben und Goldminen".
Krizani6 n e t , auslandische Handwerker nach RuBland zu rufen, u m das H a n d w e r k
zu fordern, russische Fachkrafte auszubilden, und ahnliche Statuten fur die
Handwerker, wie es sie in den westeuropaischen Zunften gab, einzufuhren, u m sie
besser organisieren zu k o n n e n .
87
88
89
Ivan T. Pososkov, der 1724 in seinem bekannten Buch „Kniga о skudosti i
b o g a t s t v e " (Das B u c h uber die Armut und den Reichtum) den Ursachen und
Wirkungen des schwachen H a n d w e r k s in RuBland nachging, w a r ebenfalls ein
Befurworter der Reformen. Pososkov wies auf die Probleme der unzulanglichen
Ausbildung der Lehrlinge hin, die jederzeit ihre Meister verlassen konnten, ohne
das H a n d w e r k ordentlich erlemt zu haben; sie gingen ihm dann nicht fachmannisch
nach und trieben die Preise durch ihre schlechte Arbeit nach unten, wodurch sie
und ihre Kollegen Verluste erlitten. D e s weiteren fehlte im russischen H a n d w e r k
87
PSZ RI-1, Bd. 6 (1720-1722), Nr. 3708 (16.01.1721): Reglament ili ustav Glavnogo
Magistrata (Reglement des Hauptmagistrats), S. 291-309; Nr. 3980 (27.04.1722): „О
cechach" (Uber die Zunfte), S. 664f; Nr. 4054, S. 746, St. Petersburg 1830.
88
Allgemein zu den Reformen: E. V. Anisimov, The reforms of Peter the Great: progress
through coercion in Russia. Armonk, New York 1993; E. Donnert, Peter der GroBe. Wien,
Koln, Graz 1988; Peter Hoffmann, RuBland im Zeitalter des Absolutismus. Vaduz 1988; K.
Kersten, Peter der GroBe. Vom Wesen und von den Ursachen historischer GroBe. Amsterdam
1935; R. Wittram, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des GroBen in seiner Zeit.
Bd. 1-2. G6ttingen 1964. Allgemein zum Thema des Absolutismus in Europa: Giinter
Barudio (Hrsg.), Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklarung 1648-1779, Augsburg
1998; Heinz Durchardt, Das Zeitalter des Absolutismus, Munchen 1998; Fritz Wagner,
Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklarung, Stuttgart 1996; Doreen Sommer,
Das RuBland Peters des GroBen und der europaische Absolutismus, Marburg 1995; E.
Hinrichs (Hrsg.), Absolutismus, Fi./M. 1986; J. Kunisch, Absolutismus. Europaische
Geschichte vom Westfalischen Frieden bis zur Krise des Ancien Regime, Gottingen 1986; K.
O. Freiherr v. Aretin, Der Aufgekliirte Absolutismus, Koln 1974.
89
Ju. KrizaniS, Russkoe gosudarstvo v polovine XVII veka. St. Petersburg 1859, S. 30ff.,
zitiert nach Pazitnov, Problema, S. 9.
j e d e Regelung, die technische N e u e r u n g e n vor dem Plagiat anderer Meister
schutzte u n d die W a r e n v o n niedriger Qualitat v o m Markt fernhalten half. Zur
Qualitatssicherung wurde v o n PosoSkov vorgeschlagen, Meister- bzw.
Warenzeichen einzufuhren, die friiher nur fur Gold- und Silberschmiede
vorgesehen w a r e n . Die MiBstande, die die Entwicklung des H a n d w e r k s hemmten,
sollten beseitigt werden.
Die erste E r w a h n u n g der Zunfte ist im ErlaB v o m 16. D e z e m b e r 1720 iiber die
Verfassung der Magistrate {Ob udinenii formy dlja upravlenija magistratskogd)
zu
f m d e n . Einen M o n a t spater wurde dann auch die Instruktion fur den
Hauptmagistrat verfaBt . Als erstes sollten alle H a n d w e r k e r in ihre Sloboden
zuriickkehren u n d Steuern entrichten. Die Aufgabe des Hauptmagistrats bestand
vor allem darin, „die Kaufmannschaft und die Manufakturen" zu fordern. Unter
„Manufakturisten" verstand der Gesetzgeber Handwerker wie Schmiede,
Schneider, Schuhmacher, Zimmerleute, Silberschmiede. Die gewerbetreibende
Stadtbevolkerung w u r d e in zwei Gilden eingeteilt, wobei in beiden die
Zunfthandwerker prasent waren, w a s eine Bestrebung des Gesetzgebers, die
Beisassengemeinde nach dem Berufsprinzip zu gliedern, deutlich m a c h t . D a s ist
dadurch zu erklaren, daB die Handwerker nicht nach Hirer Zugehorigkeit zur Zunft,
sondern auf Grund ihrer jeweiligen Steuerkraft zu der einen oder anderen Gilde
gezahlt wurden. Eine Analogie ist unter anderem in Bayern zu finden, w o 1770
vier Biirgerklassen existierten, wobei in der ersten Klasse unter anderem
Bierbrauer und Tuchmacher, in der zweiten Buchbinder, Konditoren, Uhrmacher
und andere, in der dritten Backer, Hutmacher, Schneider, Schuhmacher und andere
ihrer Steuerkraft entsprechend vertreten w a r e n .
90
91
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94
In RuBland zahlten zur ersten Gilde auBer den GroBhandlem u n d Bankiers die
wohlhabendsten Gold- und Silberschmiede; zur zweiten Gilde alle anderen
Handwerker wie Schmiede, Schneider, Schuhmacher, Zimmerer, Schreiner,
Schnitzer, Dreher und andere. Jede Handwerksart sollte eine entsprechende Zunft
haben, in der die jeweiligen Handwerker eingeschrieben sein sollten.
Mit diesem D o k u m e n t wurde das F u n d a m e n t der Selbstverwaltung der
H a n d w e r k e r gelegt, die sich erst in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts ganz
90
I. PosoSkov, Kniga о skudosti i bogatstve. Moskau 1937, S. 216f., Vgl. Pazitnov, Problema,
S. 10.
91
PSZ RI1, Bd. 6, Nr. 3690 (16.12.1720): Ob udinenii formy dlja upravlenija magistratskogo
(Uber die Verfassung der Magistrate), S. 273.
92
Reglament ili ustav Glavnogo Magistrate in: PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 3708 (16.01.1721), S.
291-309.
93
94
Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 47.
Uwe Puschner, Handwerk zwischen Tradition und Wandel. Das Munchener Handwerk an
der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, G6ttingen 1988, S. 76.
entfalten sollte. Die Handwerker einer Zunft sollten Versammlungen abhalten, u m
die Altesten der Zunfte aus ihren eigenen Reihen zu wahlen. Falls der Alteste sich
als gewissenhaft und redlich in der Ausfuhrung seiner Aufgaben envies, bestand
die Moglichkeit, sogar in den Staatsdienst als Stadtrat oder auch z u m
Burgermeister der Stadt aufzusteigen . Der Versuch, alle H a n d w e r k e r statistisch
zu erfassen und sie zu registrieren, fand im ErlaB dadurch seinen Ausdruck, daB
alle H a n d w e r k e r der Stadt ohne A u s n a h m e bis zum letzten Schuhmacher und
Schneider („do poslednego sapoznika iportnogo")
aufgezahlt sein sollten .
Die komplizierte soziale Zusammensetzung der Bevolkerung der Stadt verlangte
nach einer umfassenden Beschreibung der Handwerker aller Schichten der
gewerbetreibenden Bevolkerung. A m 27. April, 16. und 3 1 . Juli 1722 kamen drei
weitere Erlasse heraus, die fast ohne A u s n a h m e fur alle Stadthandwerker eine
obligatorische Zunftzugehorigkeit verordneten.
95
96
91
Laut dem ErlaB „ О cechach" (iiber die Zunfte)
vom 27. April durften w e d e r
russische noch auslandische Handwerker, noch andere Burger der Stadt, die einem
H a n d w e r k nachgingen, zunftfrei arbeiten. Dartiber hinaus sollten die bauerlichen
und aus anderen Stadten zugereisten Handwerker, die in der Stadt lebten, sich bei
der Zunft melden und dort eine Prufung ablegen. Andernfalls wurden sie nicht in
die Zunft aufgenommen und mit dem weiteren Verbot der Austibung eines
H a n d w e r k s belegt. Des weiteren schrieb der Gesetztgeber eine siebenjahrige
Lehrzeit fur Lehrlinge vor. Der Meister durfte die Zahl der Gesellen und Lehrlinge
in seinem Betrieb ohne Beschrankungen festlegen.
Es muB noch eine wesentliche Besonderheit der russischen Zunfte erwahnt werden.
Die Korperschaft der Zunftmeister bestand aus zwei Teilen. Z u m einen Teil
gehorten die standigen Zunfthandwerker, die freie Burger der Stadt waren und die
stadtischen Amter des Stadtrates oder gar das A m t des Btirgermeisters und des
Zunftaltesten bekleiden konnten. Der andere Teil, die zeitweiligen Handwerker,
wurden nur befristet in die Zunft aufgenommen und waren ihrem Stand nach
meistens Bauern. Im 19. Jahrhundert blieb diese G r u p p e der Zunfthandwerker
immer noch sehr mobil, weil ihre Grenzen flieBend waren, allerdings mit einem
wesentlichen Unterschied zum 18. Jahrhundert, als sich in den russischen Zunften
unter den zeitweiligen Meistern eine selbstbewuBte und bestandige Mitte
herausbildete, v o n denen eine tiberwiegende Mehrheit mit ihren Familien in St.
Petersburg seBhaft geworden war.
Laut ErlaB sollten die Handwerker mehr auf die Qualitat ihrer Waren achten. Es
durften v o n ihnen in der Stadt nur die Waren verkauft werden, die das
Warenzeichen des Meisters und des Zunftaltesten hatten. Ein VerstoB gegen diese
Regel wurde streng bestraft und w e n n j e m a n d zum dritten Mai uberfuhrt wurde,
95
Reglament, S. 306f.
96
Ebd., S. 293.
97
PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 3980 (27.04.1722): О cechach, S. 664f.
wurde ihm die Handwerksaustibung verboten. Falls der Zunftalteste selbst eine v o n
der Qualitat her schlechte Ware mit einem Gutesiegel versah und z u m Verkauf
zulieB, w u r d e er bestraft und, falls er z u m dritten M a i uberfuhrt w u r d e , zu einer
Galeerenstrafe verurteilt. D e s w e g e n ist die B e h a u p t u n g von Pazitnov uber das
Fehlen v o n Strafsanktionen im Fall eines VerstoBes gegen den ErlaB unbegrtindet.
U m den Warenabsatz der Zunftmeister zu sichern, wurde ein Verkaufsmonopol
eingefuhrt. N i e m a n d durfte seine Ware ohne Zeichen verkaufen oder eine Ware
ohne dasselbe kaufen.
Die Frage, ob mit dem ErlaB v o m 2 7 . April ein Zunftmonopol in dem Sinn
eingefuhrt worden war, daB sich alle Handwerker der Stadt ohne A u s n a h m e in die
Zunfte einschreiben sollten, laBt sich zustimmend beantworten. Der zweite
Hauptsatz im ErlaB „nicht gegen den Willen z w i n g e n " („a v nevolju
ne
prinuzdat'"),
der am meisten fur Meinungsunterschiede sorgte und v o n den
Verfechtern einer „Gewerbefreiheit" als entscheidender Beweis angefuhrt wurde,
bezieht sich auf den Nebensatz „welche sich standig oder zeitweilig einschreiben
wollen" („ kotorye pochotjat vecno Hi vremenno " ) , w o n a c h auch leibeigene Bauer
in die Zunfte eintreten konnten. Genau diese Interpretation gibt unmiBverstandlich
der ErlaB v o m 6. Februar 1796 w i e d e r . D e s w e g e n ist es hochst unwahrscheinlich,
daB in der Stadt j e m a n d zunftfrei arbeiten durfte, w e n n selbst leibeigene Bauern,
wollten sie als H a n d w e r k e r in der Stadt arbeiten, zum Zunfteintritt verpflichtet
wurden. H a n d w e r k e r sollten sich also als zeitweilige oder standige Handwerker
in die Zunfte einschreiben, wobei ihnen iiberlassen wurde, sich entweder als
zeitweilige oder als standige Handwerker einzuschreiben. D e s weiteren gibt es im
ErlaB indirekte Hinweise auf das Zunftmonopol. D e r letzte Satz des Erlasses
beseitigt schlieBlich alle MiBverstandnisse, indem er fordert, daB aus alien in der
Stadt existierenden Handwerkern Zunfte zu organisieren s e i e n " .
Im ErlaB v o m 16. Juli wurde nochmals bestatigt, daB die ganze handwerkstatige
Bevolkerung der Stadt in Zunfte gehore: Kaufleute, Raznoeincy, Hofgesinde,
Synodal-, Episkopal- und Klosterbauern, Bauern der Gutsbesitzer und H a n d w e r k e r
aus den Sloboden und dem Posad. A u c h die leibeigenen Bauern, die mit ihren
Passen fur einige M o n a t e in die Stadt kamen, sollten als zeitweilige Handwerker
in die Zunfte eintreten. Eine A u s n a h m e gab es fur die Handwerker in den Hausern
des Adels oder in den Klostern der Stadt. Lediglich unter einer B e d i n g u n g wurde
den letzteren ihre Tatigkeit erlaubt: Sie durften die Waren nicht fur den Verkauf,
sondern nur fur den Eigenbedarf des Herrenhauses oder Klosters anfertigen. Dieser
ErlaB schuf endgultig die juristische Grundlage fur ein Vorgehen, das seit
Jahrhunderten v o n weltlichen und geistlichen Wurdentragern in RuBland
praktiziert wurde. Sie stellten ihre Grundstucke, die sich inner- oder auBerhalb der
98
98
PSZ RI 1, Nr. 17438; Ob ustrojstve remeslennogo soslovija i remeslennoj promySlennosti,
in: 2MVD, otd. 2, 6. 2, kn. 4, S. 63-108, hier S. 83.
99
PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 3980 (27.04.1722): О cechach, S. 664f.
Stadte befanden, Sloboden zur Verfugung, in denen die H a n d w e r k e r abgabenfrei
arbeiteten . Der ErlaB endete, wie alle Erlasse Peters I. iiber die Zunfte, mit den
Worten, daB die Organisation der Zunfte im Hauptmagistrat in aller Eile
vorangetrieben werden s o l l t e .
Fur die umfassende Bedeutung der Zunftzugehorigkeit sprach auch der ErlaB, der
zwei W o c h e n spater, am 3 1 . Juli, herauskam, in d e m auch die pensionierten
Dragoner, Soldaten und Matrosen, die einem H a n d w e r k nachgehen wollten,
entsprechend ihrem H a n d w e r k in Zunfte eintreten s o l l t e n .
D a s letzte Gesetz aus dieser Reihe, welches zur Zeit Peters I. herauskam, war der
ErlaB iiber die auslandischen Meister in St. Petersburg, v o n denen viele in der
Hauptstadt lebten, ohne zu einer Zunft zu gehoren und ohne Kopfsteuer zu zahlen.
Interessant ist, daB diese Handwerker den W u n s c h auBerten, in die Zunfte
einzutreten, ohne dazu g e z w u n g e n worden zu s e i n . O b alle Betroffenen diesem
SenatserlaB folgten und o b dieser Wunsch aus vollem Herzen kam, bleibt offen.
Tatsache ist, daB es zur Zeit Katharinas II. viele waren, die zunftfrei in der
Hauptstadt arbeiteten; dafur waren j e d o c h andere Ursachen und vor allem der ErlaB
von 1762 verantwortlich, der eine Masseneinwanderung vor allem aus den
deutschsprachigen Landern ausloste.
Die Vielzahl der oben genannten Erlasse beziiglich der Regelung des
Zunfthandwerks, die Ungeduld und der Zorn, den der Zar zum Ausdruck brachte,
wenn die Ausfuhrung zu lange dauerte, legen Zeugnis davon ab, v o n welch groBer
Bedeutung dieses Projekt fur Peter I. war. Der weitere Verlauf der Geschichte der
Zunfte von St. Petersburg sollte aber einige Korrekturen an den petrinischen
Reformen vornehmen.
So entwickelte sich im Zarenreich das stadtische Zunftwesen parallel z u m
bauerlichen H a n d w e r k auf dem Lande und in der Stadt. E s laBt sich am Beispiel
St. Petersburgs erkennen, daB bauerliche und aus anderen Stadten zugewanderte
Handwerker die Moglichkeit erhielten, in der Stadt im Handwerkerstand, also im
Zunfthandwerk, eine zeitweilige Zugehorigkeit als Handwerksmeister zu erhalten.
D a s heiBt, daB sie Werkstatten, Gesellen und Lehrlinge unterhalten konnten, aber
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Vgl. Pazitnov, Problema, S. 34.
101
PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 4054 (16.07.1722): О zapisi v cechi, S. 746.
102
PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 4066 (31.7.1722): О zapisi dragun, otstavnych soldat i matrosov v
cechi, S. 754.
103
PSZ RI 1, Nr. 4395 (20.12.1723): О pisanii v cechi masterovych ljudej, priSlych iz-za
rubeza i о s£islenii onych dljy plateza podusnych deneg s drugimi posadskimi (Uber die
Einschreibung der Handwerker in die Zunfte und iiber ihre Zahlung fur die Besteuerung
gleich wie die anderen Stadtbewohner), S. 188f.
104
Zur Geschichte des Regierenden Senats: Istorija pravitePstvujuScego senata za dvesti let
1711-1911. St. Petersburg 1911.
ihre vorherige Standeszugehorigkeit behielten (Bauern blieben also dem Stande
nach Bauern).
Die Zunfte sollten nach dem Vorbild v o n Riga und Reval, sprich nach d e m
deutschen Muster, organisiert werden. Formal gesehen waren sie im groBen und
ganzen den Statuten und auBeren Formen der deutschen Zunfte ahnlich. A u c h
Lehnworter wie „Zunft" und „ A l ' d e r m a n " weisen darauf hin. D e n n o c h gab es
wesentliche inhaltliche Unterschiede. Hier sollen die Besonderheiten der
russischen Zunfte hervorgehoben werden: Die Zahl der Meister, Gesellen und
Lehrlinge, der Werkstatten und die M e n g e der produzierten Waren wurde nicht
eingeschrankt, wie es z. B . fur die Zunfte in Deutschland typisch war.
Es gab noch eine andere Kraft, die d e m ordentlichen bzw. Zunfthandwerk
Konkurrenz machte - die Kaufleute und die Meister, die Fabriken und W e r k e
grtindeten, die meistens nichts anderes als Handwerksstatten waren. Diese Art v o n
Unternehmern unterlag aber der Verwaltung des M a n u f a k t u r k o l l e g i u m s . N a c h
seinem Reglement durfte j e d e r Fabriken griinden, der uber genug Kapital verfugte.
Die G e n e h m i g u n g des Manufakturkollegiums w u r d e auch dann erteilt, w e n n
j e m a n d sich weigerte, sich in die Zunft einzuschreiben. In d e m Fall lieB er seine
Werkstatt beim Manufakturkollegium als Fabrik registrieren, die dann der
Zunftverwaltung nicht mehr unterstand. A u s diesen Griinden w a r es auch
unmoglich, das Zunftmonopol durchzusetzen. Dafiir gab es zu viele A u s n a h m e n ,
die wiederum die Existenz von bauerlichen Handwerkern, die auf den
W o c h e n m a r k t e n ihre Waren anboten, von Handwerkern in den Herrenhausern und
den Klostern und „den Manufakturisten", die d e m Manufakturkollegium
unterstanden, ermoglichten.
105
2.3
Die G e w e r b e g e s e t z g e b u n g nach Peter I. bis 1762
In der Zeit nach Peter I. gab es Erlasse und Verordnungen, die die Petrinischen
bestatigten oder einen Sonderfall z u m V o r w a n d hatten. So verlangte der Senat am
19. Mai 1731 v o n der M o s k a u e r „Ratusa" einen Bericht uber die Einrichtung der
Zunfte und die Anzahl der Zunfthandwerker. Aufgrund dessen stellte sich heraus,
daB es in M o s k a u 153 Zunfte mit 6885 Beschaftigten g a b . A m 6. Februar 1737
wurde auch den Kirchendienern erlaubt, in die Zunfte e i n z u t r e t e n . A m 3. August
1744 erschien der ErlaB bezuglich der nichtrussischen Untertanen, die nur bei
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105
PSZ RI 1, Bd. 7, Nr. 4378 (3.12.1723): Reglament Manufaktur-Kollegii (Reglement des
Manufakturkollegiums), S. 167-174, hier S. 169ff.
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107
Pazitnov, Problema, S. 47f.
PSZ RI 1, Bd. 12 Nr. 9113 (28.2.1745) Senatskij: О nevykljudke iz podusnogo oklada
cerkovnikov, zapisannych na osnovanii ukaza 14.2.1737, v cechi i v kupeiestvo, po ich
sobstvennomu zelaniju, S. 329ff.
einem Wechsel zum russisch-orthodoxen Glauben den russischen Zunften beitreten
d u r f t e n . Hier ist der klare Wille des Gesetzgebers zu erkennen, die Zunfte fur
eigene Z w e c k e in einer assimilierenden Konfessionspolitik zu instrumentalisieren
und sie nicht selbst durch den Zulauf zusatzlicher H a n d w e r k e r zu entwickeln. A m
26. M a r z 1745 w u r d e der Wiederaufbau der Zunfte nach dem Muster des Erlasses
von 1722 v e r o r d n e t . Dieser ErlaB war aber seiner Art nach nur eine Bestatigung
und hatte keinen verpflichtenden Charakter, weil er keine konkreten MaBnahmen
vorsah.
Im groBen und ganzen laBt sich sagen, daB die Regierungspolitik auch im weiteren
Verlauf bis z u m Anfang der 1760er Jahren dem gleichen Muster folgte und nur
bestimmte Vorfalle zum V o r w a n d nahm, um die eigentliche E n t w i c k l u n g des
H a n d w e r k s zu fordern. D a s Interesse der Regierung an den Handwerkern war
d e s w e g e n so groB, weil sie im Interesse des Fiskus und weil die Handwerker
Auftrage fur A r m e e und Marine ausfuhren sollten. Die Sonderkonferenz beztiglich
des andauernden Siebenjahrigen Krieges am 2. Dezember 1760 stellte dann auch
fest, daB das Vorhandensein eines entwickelten Handwerks besonders wichtig sei
und daB letzteres unterentwickelt bliebe, solange die Zunfte „im jetzigen Verfall
verharren" w u r d e n . Diese staatlichen Aktivitaten wurden durch konkrete
Vorfalle oder Bedurfhisse der Regierung, sei es die Uniformherstellung wahrend
des Siebenjahrigen Krieges, der Wiederaufbau der Eremitage oder der Eintritt der
M o h a m m e d a n e r und der Kirchendiener in die Zunfte, und nicht durch einen
gezielten Aufbau des Zunftsysterns hervorgerufen .
Die Erlasse weisen darauf hin, daB die Zunfte nicht ausreichend entwickelt waren
bzw. nicht alle Meister umfaBten, die das H a n d w e r k im vollen Umfang mit
Gesellen und Lehrlingen betrieben. 1760 auBerte der Senat seine Besorgnis uber
eine zu groBe Zahl v o n Schneidern, die „fur den L u x u s " arbeiteten und dadurch
„den Staat schadigten. Als es aber notig war, gentigend Meister zu fmden, um die
Uniform fur die Armee herzustellen", war keiner zu f i n d e n . Im Z u s a m m e n h a n g
mit dem andauernden Siebenjahrigen Krieg sollten Lieferungen
von
Armeeuniformen erfolgen, die w e g e n der mangelnden Anzahl von Schneidern in
der Zunft nicht ausgefuhrt werden konnten. Die Sorge des Gesetzgebers gait also
ausschlieBlich einer effizienten Steuersammlung und einer reibungslosen
Verteilung der lastigen Staatsauftrage, wodurch der eigentliche Inhalt der
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109
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112
108
PSZ RI 1, Bd. 12 Nr. 9012 (3.8.1744) Senatskij: Vsledstvie donoSenija generala Fermora О zapisanii v reviziju vyvedennych v Rossiju inovercev, S. 192f.
109
Poljanskij, Gorodskoe remeslo, S. 108.
1,0
PSZ RI 1, Bd. 15, Nr. 11158 (7.12.1760): Protokol Osoboj konferencii, S. 574ff.
111
Ebd.; PSZ RI 1, Nr. 9012 (3.8.1744); Der ErlaB vom 6. Februar 1737: Uber das freiwillige
Einschreiben der Kirchendiener in die Zunfte und Gilden. Vgl. Pazitnov, Problema, S. 60f.
1,2
PSZRI l,Nr. 11158.
Reformen Peters I., neben einer geregelten Steuersammlung die Entwicklung des
H a n d w e r k s zu fordern, untergraben wurde. Die B e m u h u n g e n des Senats gipfelten
schlieBlich in einem ErlaB, die Register der H a n d w e r k e r in der Hauptstadt
zusammenzustellen. D a s war fur die damalige Zeit eine typische H a n d h a b e fur die
L o s u n g eines Problems. E s wurde nicht nach d e m wirtschaftlich schlechten
Zustand der Zunfte gefragt, sondern ein regulativer Versuch unternommen, ihre
Lage mit Zirkularen und formalen Zahlungen zu verbessern.
Im Jahr darauf b e k a m der St. Petersburger Stadtmagistrat den M a n g e l an Tischlern
zu spiiren. Er berichtete im Z u s a m m e n h a n g mit d e m B a u des Winterpalastes am
9. Juli 1761:
„[...] von den hauptstadtischen russischen Tischlern, die seit der letzten
Volkszahlung in die Ztinfte eingeschrieben wurden, hat sich, seitdem sie
nach Carskoe Selo abkommandiert und in die anderen Arbeitsbrigaden
fur staatliche Aufgaben aufgenommen worden waren, keiner im
Gildenhaus gemeldet. Es ist keiner in diese Zunft eingetragen worden
und keiner zu finden. A u c h o b in der deutschen Zunft der Tischler
Meister vorhanden sind, davon ist dem Gildenhaus nichts bekannt, da
die letzteren w e g e n ihrer Sturheit keine Steuer zahlen und deswegen
auch im Gildenhaus nicht vertreten s i n d " .
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Dieser Textabschnitt liefert uns vielfaltige Informationen iiber die Lage des
Zunfthandwerks in der Hauptstadt. Erstens besagen die Worte: „[...] seit der letzten
Zahlung in die Zunfte eingeschrieben wurden", daB die Handwerker nur wahrend
der periodischen Zahlungen der mannlichen „ S e e l e n " in den Statistiken erfaBt
wurden. In der Zwischenzeit kiimmerte sich keiner u m sie. Die meisten
Handwerker nutzten diesen Umstand aus und traten nur pro forma in die Zunfte
ein. N a c h B e e n d i g u n g der Z a h l u n g gingen sie wieder ihren Geschaften nach und
erschienen nicht einmal bei der Zunftverwaltung, u m die Steuer zu zahlen. Folglich
waren 1761 die Zahlen der Zunfthandwerker seit der letzten V o l k s z a h l u n g im
Jahre 1744 nicht m e h r aktualisiert worden. Zweitens iiberstiegen die Bediirfhisse
des Staates die Moglichkeiten der Zunfte u m ein Vielfaches. Sie wurden in
m a n c h e n Zeiten zu Lieferanten von Fachkraften degradiert. Drittens konnten die
Tischler der deutschen Zunfte aufgrund „ihrer Sturheit" der Steuerzahlung
entgehen. Dariiber hinaus erfahren wir, daB die deutschen Zunfte ihre
Unabhangigkeit uneingeschrankt gegeniiber der russischen Handwerksverwaltung
bewahrten.
Die Berichterstattung des Stadtmagistrats veranlaBte den Senat, a m 10. A u g u s t
1761 an das Hauptkontor des Polizeimeisters v o n St. Petersburg den Befehl zu
113
PSZ RI 1, Bd. 15, Nr. 11308 (10.8.1761): Ukaz Senata glavnoj kontore policmejstera
nemedlenno perepisat' po imenam vsech nachodjaS&chsja v Peterburge как russkich, tak i
inozemcev stoljarnych i prodich masterov (...), S. 767f.
erteilen, alle Handwerker, ohne Ausnahmen, zu registrieren und die Verzeichnisse
ohne Zeitverlust d e m Senat vorzulegen, um die ordentlichen Zunfte nach d e m Sinn
des Erlasses von 1722 einrichten zu k o n n e n .
Ungeachtet steuerrechtlicher Fragen und eigener Bediirfhisse, denen die Regierung
ihre Aufmerksamkeit hauptsachlich widmete, w e n n v o m H a n d w e r k die Rede war,
konnte langsam die Idee einer ziinftigen Organisation des H a n d w e r k s in RuBland an den russischen Verhaltnissen orientiert - eigene positive Inhalte ausbilden. So
waren in RuBland 1764 unter den 171.363 Mitgliedern der Beisassengemeinde
kaufmannisches Standes 24.507 Personen, die ihren Lebensunterhalt mit einem
H a n d w e r k verdienten, wobei 12.679 Personen oder 7,4% v o n ihnen Mitglieder der
Zunfte w a r e n . Dies besagt, daB die Zunftmitgliedschaft v o n vielen Kaufleuten,
die ihren Lebensunterhalt in A u s u b u n g eines H a n d w e r k s verdienten, als eine
durchaus akzeptable Losung ihrer problematischen Situation als nicht erfolgreiche
Kaufleute angesehen wurde.
Es soil an dieser Stelle eine Frage angesprochen werden, die, j e nachdem, wie sie
beantwortet wird, unterschiedliche Akzente in der allgemeinen Sicht auf die
Entwicklung der Beisassengemeinde und dementsprechend die Rolle der
Zunfthandwerker als einen Teil davon setzt: W a r u m konnte sich das
Zunfthandwerk im RuBland des 18. Jahrhunderts nicht vollstandig entfalten und
w a r u m konnte oder wollte die Regierung keine straffe Zunftorganisation
einfuhren?
Die Regierung forderte zum einen die „GroBindustrie mittels Bau einer Vielzahl
von uberwiegend staatlichen Rustungs- und Schwerindustriebetrieben am Ural und
in ZentralruBland. Diese Betriebe produzierten fast ohne A u s n a h m e nur Verluste.
Sie muBte aber auch die kleineren Privatunternehmen unterstutzen, wenn sie auf
langere Zeit eine erfolgreiche industrielle Politik betreiben und ein festes
industrielles F u n d a m e n t aufbauen wollte. Ein Reglement fur das ManufakturKollegium, das die Entstehung von Industriebetrieben fordern sollte, wurde nach
den Erlassen iiber die Zunfte am 3. Dezember 1723 freigegeben. W a s waren aber
die privaten „Manufakturen und Fabriken", w e n n nicht die Werkstatten, die sich
von denen der Zunftmeister oft kaum unterschieden? Die auslandischen
„Industriellen", die dem Manuiaktur-Kollegium unterstanden, bekamen besondere
Vergiinstigungen, indem sie fur einige Jahre von der Mehrwertsteuer befreit
114
115
ul 1 6
1,4
PSZ RI l,Bd. 15, Nr. 11308(10.8.1761): Uber die Zahlung aller russischer und
auslandischer Handwerker und aller freien oder leibeigenen mit den Passen, S. 767f.
115
Po opredeleniju komissii о kommercii, RGADAf. 397 d. 441 1. 74ff., zitiert nach
Hildermeier, Burgertum, S. 49.
116
Die Begriffe „Grofi-„ und „&einindustrie" sind als relativ zu verstehen. Sie sind aber
notig, um formell die Grenzen zwischen dem Zunfthandwerk und den groBeren
Manufakturbetrieben oder Werkstatten der Kaufleute, die oft den Werkstatten der ziinftigen
Meister ahnlich waren, zu Ziehen.
wurden, Arbeitsmaterialien und Rohstoffe aus dem Ausland nicht verzollen
muBten, eine W o h n u n g zur Verftigung gestellt b e k a m e n u n d iiberhaupt v o n alien
Steuern, Diensten sowie der Einquartierung v o n Soldaten verschont b l i e b e n .
Andererseits sollte das Handwerk, also die „Kleinindustrie", entwickelt werden,
die gleichzeitig der Nahrboden fur die „GroBindustrie" war. Die Entwicklung des
H a n d w e r k s aber hing mit der Entwicklung der Zunfte eng z u s a m m e n . Die Zunfte
sollten Privilegien bzw. das Zunftmonopol erhalten, u m ihre wirtschaftliche Kraft
entfalten zu k o n n e n , w a s nicht der Fall war. D a s Zunftmonopol gait als zu
begrenzt.
Daraus resultiert dann eine weitere Frage: W o r a u s sollte sich die Schicht der
Privatunternehmer, sprich: Handwerker und Kaufleute, rekrutieren, w e n n in
RuBland nur eine kleine Anzahl von Stadten ein entwickeltes H a n d w e r k vorweisen
konnten? Dieses Problem der Herausbildung der starken mittleren industriellen
Schichten wurde mit dem Problem der Herausbildung des „dritten" bzw. „mittleren
Standes" in den Stadten g e k o p p e l t . Die Stadtbevolkerung machte nur einen
Bruchteil der Gesamtbevolkerung aus. U m die Mitte des 18. Jahrhunderts betrug
die Beisassengemeinde etwa 250.000 Seelen oder 3,1 % von 8 Mill, der Gesamtzahl
der steuerpflichtigen B e v o l k e r u n g . U n d gerade hier war der Schwachpunkt - es
fehlte an Geld u n d an Menschen. Es w a r die bauerliche Bevolkerung, das Land, w o
Arbeitskrafte im UberfluB vorhanden waren, es w a r aber auch die Leibeigenschaft,
die zur Zeit Katharinas II. die schlimmsten Formen annahm und die menschlichen
Ressourcen fesselte und sie nicht entfalten lieB. D a s anderte aber w e n i g an den
Optionen der Regierung, die auf welche Weise auch immer versuchen wollte, den
M a k e l der unterentwickelten Stadte zu beseitigen. U m aus dem groBen
menschlichen Reservoir schopfen zu konnen, hatte die Regierung die feste
117
118
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117
PSZ RI 1, Bd. 7, Nr. 4378 (3.12.1723): Reglament Manufaktur-kollegii, hier Abschnitte 68, 10, 23,25, S. 169-173.
118
Um mogliche MiBverstandnisse auszuschlieBen, ist hier und im weiteren Verlauf dieser
Darstellung der Wirtschaftsraum in den Stadtgrenzen von St. Petersburg gemeint. Falls
andere Regionen Rufilands behandelt werden sollen, wird dies extra erlautert.
1,9
Dazu: Hildermeier, Burgertum, S. 59f., 8Iff.; S. M. Troickij, Dvorajnskie proekty
sozdanija „tret'ego ста", in: ObScestvo i gosudarstvo feiodaPnoj Rossii. Sbomik statej,
posvjaScennyj 70-letiju akademika Cerepnina. Moskau 1976, S. 226-236; D. M. Griffiths,
Eighteenth-Century Perceptions ob Backwardness: Projects for the Creation af a Third Estate
in Catherinian Russia, in: CASS 13 (1969), S. 458; D. Geyer, „Gesellschaft" als staatliche
Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behordenstaates im 18.
Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionaren RuBland.
K6ln 1975, S. 20-52; ders., Staatsaufbau und Sozialverfassung. Probleme des russischen
Absolutismus am Ende des 18. Jahrhunderts, in: CMRS 7 (1966), S. 366-377; M. Raeff, The
Well-Ordered Police State. Social and Insitutional Change through Law in the Germanies and
Russia, 1600-1800. New Haven, London 1983, S. 181ff.
B i n d u n g des Bauern zur Dorfgemeinde oder des Mitglieds der Beisassengemeinde
an eine Bevolkerungsgruppe aufweichen mussen, u m ersteren die A u s w a n d e r u n g
in die Stadt und letzteren die Arbeit im Zunfthandwerk zu erleichtern .
Folglich konnte die Regierung nicht einfach formal so strenge Standesgrenzen
Ziehen, wie es sie z. B . in franzosischen Generalstanden oder Reichstagen v o n
Ungarn, Polen oder Schweden
gab, um oben genanntes Unterfangen zu
verwirklichen. Freilich gab es in RuBland auBer d e m Adel, der sich gerade im 18.
Jahrhundert als Stand etablieren konnte, keine so entwickelten Stande, die den
EinfluB auf die Staatspolitik n e h m e n konnten, wie sie es in den Staaten Mittel-,
West- und N o r d e u r o p a s gab. Sie bekamen erst durch die Gouvernements- (1775)
und Stadtreform (1785) Katharinas II. ihre Konturen. A u s diesen zwei Grtinden,
dem Fehlen der entwickelten Stande und dem Vorhaben, die Beisassengemeinde
zu konsolidieren, u m aus ihr einen gewerblichen Mittelstand zu e n t w i c k e l n ,
konnte kein uneingeschranktes Zunftmonopol eingefuhrt werden, das fur das
H a n d w e r k in der ersten Periode ganz forderlich gewesen w a r e .
W e n n die Regierung obengenanntes M o n o p o l (Marktbann, Beschrankung der Zahl
von Meistern, Gesellen, Lehrlinge und Werkstatten) eingefuhrt hatte, ware den
Bauern die Moglichkeit versagt geblieben, in den Stadten Arbeit zu finden. Dies
hatte dann zur Folge gehabt, daB die ohnehin geringe Entwicklungsrate der
Bevolkerung in den Stadten weiter gemindert w o r d e n w a r e und sich die
Entwicklung der stadtischen Gemeinden verzogert hatte. Die Unrentabilitat der
Zwangsarbeit w a r schon Peter I. bewuBt, als u m 1720 mehr und mehr zum
Vertragssystem ubergegangen und die Anzahl der zwangsweise z u m B a u der neuen
Hauptstadt verpflichteten Bauern reduziert wurde. Im Laufe des 18. Jahrhunderts
wurden die meisten staatlichen Manufakturen in private H a n d e ubertragen, wobei
die Privatunternehmer oft dazu gezwungen wurden, diese Betriebe zu ubernehmen.
Diese Standes- und Gewerbepolitik war demnach einem Zusammenspiel zwischen
d e m Entwicklungsgrad der russischen Gesellschaft und dem P h a n o m e n des
russischen Zunftwesens zu verdanken, dessen Entstehung in RuBland in die Zeit
fiel, in der sich die Zunfte in Westeuropa in der Spatphase ihrer Entwicklung
befanden und fruher oder spater mit der Frage ihrer Auflosung konfrontiert waren.
In St. Petersburg gab es im 18. Jahrhundert Uberlappungen, die es ermoglichten,
verschiedene historischen P h a n o m e n e auf dem engen R a u m der Hauptstadt zu
beobachten. Deshalb konnte man St. Petersburg nicht nur als das „Laboratorium
121
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121
S. zum Problemkreis Standeswechsel, Standetrennung und Standesflucht: Hildermeier,
Burgertum, S. 91-124.
123
Ebd., S. 45.
124
der M o d e r n e " , sondern auch als das „russische Laboratorium des 18.
Jahrhunderts"
bezeichnen, in d e m alle moglichen „westeuropaischen
Entwicklungsrezepte" ihre Approbation durchliefen und an die russischen
Verhaltnisse angepaBt wurden.
Die Situation der Zunfte fing langsam an, sich zu andern, als Katharina II. schon
in den ersten T a g e n ihrer Regierung den Zunften ihre Aufmerksamkeit widmete.
A m 14. Juli 1763 veranstaltete der Senat eine Sitzung z u m T h e m a Zunfte, auf der
beschlossen w u r d e , die Meister wie auch friiher im Hauptmagistrat zu
registrieren . Die aktive Teilnahme Katharinas II. an der Gewerbepolitik fuhrte
noch deutlicher die Diskrepanz zwischen den Ideen des Merkantilismus und der
freien Entfaltung wirtschaftlicher Krafte einerseits und d e m Zunftsystem und
seinem beschrankenden Wesen andererseits vor Augen. Dies ist im Auftrag
Katharinas II. an die Gesetzgebende Kommission leicht a b z u l e s e n .
Infolge der oben geschilderten Standes- und Gewerbepolitik der Regierung und
weil die Beisassengemeinde sich im Werden befand und die stadtischen Stande
sich noch herausbildeten, „fullte sich der Beisassenverband mit einer bunten
Vielfalt sozialer G r u p p e n " . Durch die D y n a m i k des Herausbildungsprozesses der
Stande ist es zu erklaren, daB z. B . „ein erheblicher Teil der Kaufleute seine
Standesbezeichnung zu Unrecht f u h r t e " . Hildermeier konstatiert, daB besonders
seit Peter I. nach d e m Prinzip gehandelt w u r d e , daB der ausgeubte Beruf ein
V o r w a n d fur den Standeswechsel sein konnte - und das ist ein B e l e g fur die oben
erlauterte „offene" Standes- und Gewerbepolitik der Regierung. Diese flieBenden
125
126
127
128
124
K. Schlogel, Jenseits des GroBen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg
1909-1921. Berlin 1988.
125
F. Ja. Poljanskij, Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii 18 veka (Das studtische
Handwerk und die Manufaktur in RuBland des 18. Jahrhunderts). Moskau 1960, S. 109.
126
Nakaz imperatricy Ekateriny П., dannyj komissii о soeinenii proekta novogo ulozenija. St.
Petersburg 1907, S. 113, § 400, 401, 402.; Zu den Gesellschaftstheorien s.: E. Donnert,
Politische Ideologic der russischen Gesellschaft zu Beginn der Regierungszeit Katharina II.
Gesellschaftstheorien und Staatslehren zu Beginn der Regierungszeit Katharinas II.
Gesellschaftstheorien und Staatslehren in der Ara des aufgeklarten Absolutismus. Berlin
1976; Seebohm, T.M., Ratio und Charisma. Ansatze und Ausbildung eines philosophischen
und wissenschaftlichen Weltverstandnisses im Moskauer RuBland. Bonn 1977. Allgemein zu
Katharina И.: I. Madariaga, Russia in the Age of Catharine the Great. London 1981; H.
Rimscha, Katharina II. Von der preuBischen Generalstochter zur Kaiserin von RuBland.
Gottingen 1961.
G r e n z e n existierten als eine e i n p r o g r a m m i e r t e G e g e b e n h e i t in der
Beisassengemeinde fort, womit ihre hohe soziale Heterogenitat zu erklaren i s t .
D a s Ziel des Gesetzgebers war nicht, die stadtischen Bevolkerungsgruppen klar
gegeneinander abzugrenzen, w a s auch unmoglich war, sondern einen Konsens
zwischen diesen Gruppen zu finden. Die Vielschichtigkeit der Beisassengemeinde
war ein Ergebnis der historischen Entwicklung, die Regierungspolitik wollte daran
nichts andern. D a r a u s laBt sich die soziale Vielfalt der Zunfte erklaren, in denen
nicht nur die standigen 2'unftmeister, die als ein Stand innerhalb des
kleinburgerlichen Standes verstanden wurden, sondern auch Bauern, Kleinbtirger,
Kaufleute und spater auch Auslander vertreten waren.
Die v o m Gesetzgeber zugelassenen flieBenden Standesgrenzen konnen also als
eine bewuBte F l e x i b i l i t y des Gesetzgebers gewertet werden, der sich dariiber im
klaren war, daB es in RuBland w e n n nicht unmoglich, so bestimmt aber schwierig
war, eine Standesgesellschaft einzurichten, wie es sie in Westeuropa gab. Folglich
war es unmoglich, die dem „Stand" der Zunfthandwerker verliehenen
„Standesprivilegien" in die Praxis umzusetzen, was die Etablierung des
Zunfthandwerks - v o n etlichen erfolgreichen Zunftmeistern einmal abgesehen erschwerte.
Die russische Regierung war dazu g e z w u n g e n , sich mit der L o s u n g prinzipiell
unterschiedlicher und einander ausschlieBender Probleme, fur deren Losung
Westeuropa Jahrhunderte gebraucht hatte, zu befassen. Die Entstehung der
stadtischen G e m e i n d e n bzw. Beisassengemeinden, die Entwicklung des
H a n d w e r k s und der Zunfte und die nachfolgende Herausbildung der
Standesgesellschaft - all diese Institutionen, die in Westeuropa in verschiedenen
Entwicklungsperioden entstanden,
fielen in RuBland im 18. Jahrhundert
zusammen. W e n n die Regierung der Entwicklung der Zunfte eine absolute Prioritat
eingeraumt hatte, hatte sie die Herausbildung und das A n w a c h s e n der
Beisassengemeinde gebremst; andersherum ruinierte diese die Zunfte.
A u f dem Hintergrund der Tatsache, daB die Beisassengesellschaft bzw. die Stande
schwierig durch eine klare Definition von anderen Bevolkerungsgruppen zu
unterscheiden bzw. abzugrenzen waren, entstand in der Regierung unter der
Befurwortung Katharinas II. ein Konzept, das bis zu den groBen Reformen der
1860er Jahre beibehalten w u r d e - die Konkurrenz des bauerlichen und des
kaufmannischen Standes; daB der Handwerkerstand am starksten davon betroffen
war, war unvermeidlich und sollte beibehalten werden, u m den Handelsverkehr
zwischen der Stadt und d e m Land zu verstarken und d e m Landadel seine
Geldzinsen zu sichern. Dadurch blieb die „strukturelle Vielschichtigkeit"
129
Vgl. ebd., S. 47, 608ff.
1
(mnogoukladnost )
sowohl der russischen Wirtschaft als auch der russischen
Gesellschaft weiter b e s t e h e n .
Als Peter I. bzw. Katharina II. die Stadtreformen v o n 1722 bzw. 1785
durchfuhrten, lieBen sie zum Teil die alten Institutionen in das Zunftsystem
integrieren. D a s gait z. B . fur die leibeigenen Handwerker, die noch nach dem
Gesetzbuch v o n 1649 das Recht hatten, mit der Erlaubnis ihrer Grundherren in die
Stadte zu gehen u n d dort ihre Geldrente als H a n d w e r k e r zu verdienen. Dies gait
auch fur die Staatsbauern. Diese Handwerker w u r d e n in St. Petersburg, wie gesagt,
seit 1722 in die Zunfte als zeitweilige Handwerker eingeschrieben und blieben dort
solange, bis ihre Passe ungultig wurden. V o n daher sei die Eigenart der russischen
Stadt dadurch zu kennzeichnen, daB sie „акеге sozialokonomische Strukturen
bewahrte und den spezifischen R a h m e n b e d i n g u n g e n entsprechend fortbildete" .
Diese oben erwahnten Faktoren storten die Entwicklung des Zunfthandwerks in St.
Petersburg, da es durch die flieBenden Standesgrenzen schwierig oder unmoglich
war, „Storer" u n d „Pfuscher" auszugrenzen oder sie wenigstens teilweise durch
Gewerbeverbote auszuschalten.
So waren 1751 in St. Petersburg die zunftfreien Meister keine Seltenheit, sondern
eher die Regel, w a s ein Prazedenzfall aus diesem Jahr belegt. Der Senat untersagte
dem M u n z a m t , Produkte v o n nichtziinftigen Gold- und Silberschmieden einer
Qualitatsprufung zu unterziehen oder sie gar abzustempeln. Die Tatsache, daB
einige der wohlhabendsten und daher auch bekanntesten H a n d w e r k e r wie die
Gold- und Silberschmiede ihr H a n d w e r k frei austiben konnten, weist darauf hin,
daB in der Stadt ziemlich groBe „Gewerbefreiheit" bestand, die v o n den Zunften
oder gar seitens verschiedener Staatsressorts nicht unterdriickt werden k o n n t e .
D a s Interesse, Zunftmitglied zu werden, war nur bei den wohlhabendsten
Mitgliedern der Beisassengemeinde deutlich ausgepragt, die Werkstatten im
groBeren Umfang betrieben, dementsprechend Waren in einer betrachtlichen
M e n g e produzierten und sich durch die Zunftzugehorigkeit und entsprechende
Privilegen beim Warenabsatz so gut wie moglich abzusichern suchten. A n d e r s war
es bei den kleinen Posad- bzw. kleinburgerlichen u n d bauerlichen Handwerkern
bestellt, die in einem kleineren Umfang W a r e n produzierten und kein Interesse
daran zeigten, Zunftmitglieder zu werden. Sie sahen darin nur eine Belastung fur
130
131
132
130
S. dazu: Heiko Haumann, Unternehmer in der Industrialisierung Rufilands und
Deutschlands. Zum Problem des Zusammenhangs von Herkunfl und politischer Orientierung,
in: Scripta Mercaturae 20, 1986, S. 143-161, besonders S. 157, 159; Hildermeier, Burgertum,
S. 17, 234-246.
131
132
Hildermeier, Burgertum, S. 24.
Vgl. Ilja Mieck (Hrsg.), Europuische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des
17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Handbuch der europ&schen Wirtschafts- und
Sozialgeschichte, hrsg. v. Wolfram Fischer, Jan A. van Houtte, Hermann Kellenbenz u.a., Bd.
4). Stuttgart 1993, S. 774.
sich und hatten damit auch Recht: Die Zunfthandwerker wurden immer wieder zu
Staatsauftragen verpflichtet, die keine Einnahmequelle, sondern nur einen Verlust
an Material und Zeit fur sie darstellten . M e h r noch, manchmal sollten sie in die
eigene Tasche greifen, u m einen Staatsauftrag finanzieren zu konnen. Wofur sollte
sich ein Handwerker, sei es ein Sloboden- oder Posadhandwerker oder ein
H a n d w e r k e r aus dem Dorf, in eine fur ihn vollig fremde Zunftordnung
hineinzwingen lassen, w e n n der L a u f der D i n g e es zuliefl, o h n e j e d e Aufsicht zu
arbeiten? Die Statuten, Regelungen, Qualitatskontrollen, Ausbildung der
Lehrlinge, genauso wie die Wahl des Handwerksoberhaupts: alles das war fur
einen russischen H a n d w e r k e r im 18. und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einzig
und allein durch den Willen des Gesetzgebers entstanden und muBte ihm vollig
uberflussig erscheinen. Der Staat konnte mit einer Unterstutzung der Reformen
durch die H a n d w e r k e r nicht r e c h n e n .
133
134
2.4
Die Gewerbepolitik Katharinas II. 1762 - 1796
Eine wichtige Quelle tiber die Lage der Handwerker u m die Mitte des 18.
Jahrhunderts ist das Projekt der N e u e n Gesetzessammlung (Projekt
Ulozenija),
Novogo
an dem v o n 1767 bis 1769 gearbeitet wurde. Die gesetzgebende K o m -
mission (Ulozennaja
komissijd),
in die Deputierte aus alien Regionen RuBlands
berufen w u r d e n , erarbeitete eine Reihe von Vorschlagen, die das H a n d w e r k
135
betrafen . Unter anderem wurde die unverziigliche Implementierung (keine
Einfuhrung, sie wurde schon 1722 beschlossen) der Zunfte in den russischen
Stadten, besonders in M o s k a u und St. Petersburg, gefordert. Dabei verlangten die
Deputierten ausdriicklich, die Regelungen der Erlasse von 1721/22 wieder in Kraft
zu setzen. Die Deputierten wiederholten die obligatorische Teilung in standige und
zeitweilige Zunfthandwerker, die Befreiung der Handwerker in den Adelshausern
von der Zunftmitgliedschaft, unter dem Vorbehalt, daB sie nicht fur den freien
133
Vgl. Hildermeier, Burgertum,. S. 45f.
134
Ebd. S. 27.
135
Zur Gesetzgebenden Kommission s.: Ja. Abramov, Soslovnye nuzdy, zelanija i stremlenija
v epochu Ekaterininskoj komissii, in: Severnyj Vestnik 1886 Nr. 4 S. 145-180, Nr. 6 S. 4784, Nr. 7 S. 69-99, Nr. 8, S. 159-187; A. V. Florovskij, Sostav Zakonodatel'noj komissii
1767-1774 gg. Odessa 1915; V. N. Latkin, ZakonodatePnye komissii v Rossii v XVIII v., torn
1. St. Petersburg 1887; G. Sacke, Die Gesetzgebende Kommission Katharinas II. Ein Beitrag
zur Geschichte des Absolutismus in RuBland. Breslau 1940; D. D. Semenov, Gorodskoe
predstavitel'stvo v Ekaterininskuju epochu. (Po materialam komissii 1767 g.), in: Russkoe
bogatstvo 1898 Nr. 1, S. 36-58; S. Voznesenskij, Gorodskie deputatskie nakazy v
Ekaterininskuju komissiju 1767 goda, in: 2MNP t. 24 (1909) Nr. 11 S. 89-119, Nr. 12 S.
241-284.
Verkauf produzieren sollten. Zur Dampfung der Konkurrenz u n d z u m endgultigen
Verbot des zunftfreien H a n d w e r k s in den Stadten sollten nichtzunftige Meister
136
schriftlich verpflichtet werden, kein H a n d w e r k in der Stadt a u s z u t i b e n .
Die Deputierten v o n St. Petersburg gaben im Wahlerauftrag bekannt, daB die Zunf­
te in St. Petersburg zur Zeit der Zusammenkunfte der Gesetzgebenden Kommission
unorganisiert und insgesamt in einem schlechten Zustand waren. Sie beklagten sich
daruber, daB jegliche A n g a b e n iiber die Gesamtzahl der H a n d w e r k e r in St.
Petersburg fehlten. Nicht j e d e r Meister wurde auf seine Fertigkeiten gepriift und
es fehlte eine Kontrolle der Warenqualitat. Die nichtziinftigen H a n d w e r k e r lebten
frei in der Stadt und hatten sogar Aushangeschilder iiber ihren Laden. Die
Deputierten verlangten, daB die Meister und die Gesellen, die nicht in die Ziinfte
eingeschrieben waren und kein Zeugnis von der Zunftverwaltung besaBen, nicht
137
in der Stadt arbeiten durften .
Die Vielzahl der Erlasse anderte wenig an der konkreten Situation. Es muBte ein
Wandel im BewuBtsein
der Gewerbetreibenden und eine A n d e r u n g ihrer
Einstellung zur Zunftordnung stattfinden. A u c h 45 Jahre nach Einfuhrung der
Zunfte gab es 1767, veranlaBt durch die Einberufung der gesetzgebenden
Kommission, einen grofien Streit daruber, ob es in den russischen Stadten Ziinfte
138
geben sollte oder n i c h t . Dieser Streit entflammte immer wieder, weil die Plane
des Gesetzgebers nach einer L o s u n g verlangten, scheiterten aber an der Realitat.
2.4.1
D a s H a n d w e r k s s t a t u t v o n 1785: Innovation und Kontinuitat
D a s Handwerksstatut von Katharina II. beinhaltete keine prinzipiellen Anderungen
der Grundlinien der Zunftpolitik, die Peter I. gelegt hatte. Im Detail wurden
allerdings bestimmte N e u e r u n g e n eingefuhrt, die unter anderem eine gewerbliche
Tatigkeit kleineren Umfangs unter den Kleinbiirgern und Bauern, die nicht in den
Zunften eingeschrieben wurden, legalisierten. D e s weiteren wurde das Artikel iiber
139
die zeitweiligen H a n d w e r k e r im Handwerksstatut g e s t r i c h e n .
136
Proekt novogo ulozenija, sostavlennyj zakonodaternoj komissiej 1754-1766,6ast' III: О
sostojanii poddannych voobSce, Hrsg. V. N. Latkin. St. Petersburg 1893, S. 215-233.
137
Ebd.
138
PSZ RI 1, Nr. 12945 (24.7.1767): Nakaz Komissii po sostavleniju proekta novogo
Ulozenija, S. 181f.
139
PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 16187: Gramota na prava i vygody gorodam Rossijskoj imperii,
Remeslennoe polozenie, S.369-379, § 120-123, podpunkty 1-117, hier § 120: In die Zunfte
кбппеп sich alle einschreiben, die dem Stand der Kleinbtirger zugezShlt werden кбппеп; Vgl.
In diesen zwei A n d e r u n g e n spiegelt sich ein wesentliches Merkmal des
Reformwerks von Katharina II., namlich seine Vielseitigkeit.
Einerseits wurde den nichtzunftigen Handwerkern eine bessere Moglichkeit
gegeben, ungestort ihrem Kleingewerbe nachzugehen, andererseits kann die
W e g l a s s u n g des Artikels uber die zeitweiligen Handwerker so gedeutet werden,
daB die katharinische Gesetzgebung versuchte, die Zunfte als einen festen
Bestandteil der stadtischen Gesellschaft zu etablieren und ihre korporativen
Grenzen deutlicher zu ziehen, wodurch die Zunfte zusatzliche Kontrollbefugnisse
bekamen.
So konnten die Zunfte die Zahl der auBer Zunft stehenden H a n d w e r k e r eventuell
begrenzen oder w e n i g s t e n s kontrollieren, indem sich die staatlichen und die
Handwerker in den Adelshausern im Unterschied zu dem Gesetz v o m 16. Juli 1722
bei der Handwerksverwaltung melden sollten, falls sie eine Arbeit neben ihrer
Hauptbeschaftigung verrichteten . Es blieb aber unklar, w o z u sich diese Art von
Handwerkern bei der Handwerksverwaltung melden sollte: u m zeitweilig oder aber
standig in die Zunfte einzutreten? Da im Statut die Gruppe der zeitweiligen
Handwerker nicht erwahnt und zugleich im Paragraph 120 klar darauf hingewiesen
wurde, daB nur die Handwerker in die Zunfte eintreten durften, die ihrem Stande
nach zu den Kleinbtirgern gezahlt werden konnten, gab es viele MiBverstandnisse
und MiBbrauche seitens der St. Petersburger Handwerksverwaltung. Ihr durch die
Etablierung von 1785 gesteigertes SelbstbewuBtsein veranlaBte sie, diesen Artikel
z u m eigenen Vorteil zu interpretieren, worauf spater noch eingegangen wird.
Die Forderungen der Deputierten, den Handwerkerstand mit der Einrichtung
ordentlicher Zunfte
zu r e g l e m e n t i e r e n
und die
Zunftorganisation
wiederherzustellen, um der wirtschaftlich starkeren Schicht der wohlhabenden
Zunfthandwerker den Warenabsatz zu sichern, wurden j e d o c h nicht nach ihrem
W u n s c h erfullt, weil eine einseitige Zunftmonopol nicht eingefuhrt bzw. das freie
H a n d w e r k erlaubt wurde.
Es handelt sich um eine A n d e r u n g von 1785, die spater immer wieder von den
nichtzunftigen H a n d w e r k e r n benutzt wurde, wenn sie dazu g e z w u n g e n waren, sich
in die Zunft einzuschreiben, namlich: Die Zunft konnte n i e m a n d e m verbieten,
„sich durch Arbeit seinen taglichen Unterhalt zu erwerben" - unter dem Vorbehalt,
keine Gesellen und Lehrlinge zu beschaftigen . Die Regierung legitimierte dies
damit, daB die wirtschaftliche Freiheit nicht eingeschrankt werden sollte.
AuBerdem g a b es in der Stadt andere Institutionen wie die Sloboden und den
Posad, die sich parallel z u m Zunfthandwerk entwickelt h a t t e n . Diesen Status quo
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142
Pazitnov, Problema, S. 81.
140
PSZRI l,Nr. 16187, S. 374.
141
Vgl., Hildermeier, Burgertum, S. 85.
142
Vgl. Pazitnov, Problema, S. 43.
bestatigte der ErlaB von 1785, in dessen Paragraph 263 stand: „Keinem ist es
verboten, in den Posad einzutreten. Die P o s a d b e w o h n e r k o n n e n verschiedenen
H a n d w e r k e n nachgehen und Werk-Stuhle (stany) besitzen. Sie b r a u c h e n dafur
keine zusatzliche E r l a u b n i s " . Die P o s a d b e w o h n e r bzw. Kleinburger durften die
Waren ihres H a n d w e r k s in ihren Hausern verkaufen. AuBerdem erlaubte das
Gesetz, den L a n d b e w o h n e r n in der Stadt ihre Erzeugnisse zu verkaufen. Sie
brauchten dafur, wie auch die Posadbewohner, keine Erlaubnis.
Die oben erwahnten stany sorgten spater fur viele MiBverstandnisse, da nicht klar
definiert wurde, w a s genau unter ihnen zu verstehen war. Normalerweise war unter
einem stan ein Werk-Stuhl bzw. ein Webstuhl im kleineren Format gemeint. Die
Posadleute, Kleinburger und bauerlichen H a n d w e r k e r haben diesen Begriff sehr
freizugig interpretiert und unterhielten mittlerweile regelrechte Werkstatten mit
einer Vielzahl v o n Beschaftigten.
M i t der Einfuhrung des Stadtprivilegs v o n Katharina II. im Jahre 1785 erhielt die
Zunftverwaltung der Stadt St. Petersburg die Form, die im wesentlichen bis 1917
erhalten b l i e b . Alle Zunfte, die vorher getrennt existiert hatten, wurden als ein
Stand unter der Leitung einer allgemeinen Handwerksverwaltung
(obsdaja
remeslennaja
uprava) und einem Handwerksoberhaupt (remeslennyj
golova)
zusammengefaBt. D a s Handwerksoberhaupt vertrat in seiner Person alle
Zunfthandwerker der Stadt. Z u m ersten Mai w u r d e eine neue, im einzelnen
ausgearbeitete Zunftordnung erlassen, die in das Stadtprivileg integriert war.
In Kurze sollen hier die Rechte genannt werden, die im Stadtprivileg den Kleinb u r g e r n sowie den Zunfthandwerkern eingeraumt wurden:
1. O h n e ein Gerichtsurteil sollte niemand von ihnen z u m T o d e verurteilt bzw. ihr
H a b und Gut nicht konfisziert werden.
143
144
145
143
PSZ RI 1, Nr. 16187 (21.04.1785): Gramota na prava i vygody gorodam Rossijskoj
imperii, § 263.
144
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PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 16187 (21.04.1785): Der Stadtstatut, S. 369-379, Punkt 120-123.
meSeane - Kleinburger. Die mit den Erlassen von 1775 und 1785 neueingefilhrte Gruppe
der stadtischen Bev6lkerung. Sie genossen gleiche Rechte wie Stadtbtirger und
Zunfthandwerker. Das Wort „meS6ane" wurde schon in denfrUherenErlassen erwahnt. So
wurde das Wort im ErlaB vom 20.11.1760 unter Nr. 11145: ne „me§cane, pol'zujuSCiesja
odnako i meSdanskimi preimuScestvami", im allgemeinen Sinne der Stadtbtirger benutzt. S.
dazu: Hildermeier, Burgertum, S. 73ff.; ders., Was war das meScanstvo? In: Forschungen zur
OsteuropSischen Geschichte 36,1985, S. 15-53; Klokman, Ju. R., SociaTno-ekonomiceskaja
istorija russkogo goroda. Vtorajapolovina 18-go veka. Moskau 1967; Ryndzjunskij, P. G.,
Gorodskoe grazdanstvo doreformennoj Rossii. Moskau 1958; ders., Soslovno-podatnaja
reforma 1775 g. i gorodskoe naselenie. In: Ob§cestvo i gosudarstvo feodal'noj Rossii.
Sbornik statej posvja§6ennyj 70-letiju akademika L.V. Cerepnina. Moskau 1975; Russkij
Vestnik, 1863, Bd. 47, Nr. 11 (Oktober), S. 789-822; N. D. Ryckov, О cechach v Rossii i
Zapadnoj Evrope, S. 814f.; M. I. My§, О meSdanskich i remeslennych upravlenijach. Sbornik
uzakonenij, 2. Ausgabe, St. Petersburg 1896, S. 498.
2. Der Handwerksverwaltung wurde die Gerichtsbarkeit verliehen und v o n nun
an wurde uber die Handwerker beim Standesgericht geurteilt.
3. Kleinbiirger und Handwerker genossen die gleichen Rechte.
4. Die H a n d w e r k e r konnten in der Stadt eine Standesverwaltung haben.
5. Sie durften Immobilien und Grundstucke in der Hauptstadt erwerben.
Zunftige und nichtzunftige Handwerker hatten in St. Petersburg unterschiedliche
Rechte:
1. Grundsatzlich konnten in St. Petersburg alle Stadtbewohner einem H a n d w e r k
nachgehen, allerdings wurde denjenigen ein Verkaufsrecht versagt, die keiner
Zunft angehorten.
2. N u r die standigen Zunfthandwerker konnten an den Wahlen fur die
Handwerkerselbstverwaltung teilnehmen (Wahlrecht).
3. N u r zunftige H a n d w e r k e r durften Werkstatten in der Stadt unterhalten.
4. N u r ein Meister der Zunft - ausgebildet und von der Zunftverwaltung gepruft
- durfte Lehrlinge aufhehmen und Gesellen beschaftigen .
V o n Beginn an wurden die Handwerker in St. Petersburg in "russische" und
"deutsche" Zunfte unterteilt, wobei unter die Kategorie "deutsche" alle
westeuropaischen H a n d w e r k e r fielen. An der Spitze j e d e r Zunft stand ein
Zunftaltester, der die Steuern eintrieb, die dann zum Teil an den Staat abgefuhrt
werden muBten, z u m kleineren Teil aber auch bei der Zunft verblieben. Die
Handwerksverwaltung w u r d e wie fruher d e m Hauptmagistrat unterstellt. Das
Handwerksoberhaupt war ein standiges Mitglied der Sechsstimmigen D u m a , in der
die Interessen der Handwerker z u m Ausdruck gebracht werden sollten. Es waren
auch Gesellenherbergen vorgesehen, die aber nicht organisiert wurden, da es in
RuBland wie auch in St. Petersburg keine Gesellen mit stark ausgebildetem
SelbstbewuBtsein gab und ihnen die gemeinschaftliche Tradition, wie es sie in
Westeuropa gab, fremd war. Die Gesellen hatten kein Interesse an einer eigenen
Institution, da diese gewerbliche Gruppe sehr mobil und ihre Grenzen sehr flieBend
waren. Oft wechselten die Gesellen den Meister oder das H a n d w e r k , bis sie es
ganz verlieBen und nach Hause in ihr Dorf zuruckkehrten; keiner zog sie zur
Rechenschaft, da die Meister dies selbst immer wieder praktiziert hatten.
AuBerdem fehlte in RuBland die Begrenzung der Meisterzahlen, die in Westeuropa
als eine Hauptursache fur die Entstehung des Geselleninstituts genannt werden
darf .
Die B e m u h u n g e n des Gesetzgebers bei der Einrichtung eines Handwerkerstandes
wurden aber gleichzeitig von einer anderen R e g e l u n g uberschattet, die die
146
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146
147
Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 84f., 88f.
Vgl. Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 133; О predostavlenii zamedanij na svod
remeslennych postanovlenij ot 12 dekabrja 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172: Po
zapiske statskogo sovetnika N. Smirnova, hier 1. 40.
standischen Grenzen der Zunfthandwerker aufweichte. So sollte sich ein
H a n d w e r k e r in eine kaufmannische Gilde einschreiben, falls er Umsatze iiber 500
Rubel hatte, w o d u r c h er einen doppelten sozialen und standischen Status als
Handwerker und als Kaufmann erwarb. Damit war der Grundstein fur die
Loslosung v o n der Zunft gelegt. Als Kaufmann konnte der H a n d w e r k e r seine
Werkstatt als Fabrik beim Manufakturkollegium registrieren lassen und unterstand
somit nicht mehr der Zunftverwaltung.
In der neuen Zunftordnung wurde z u m ersten Mai detailliert auf die Rechte und
Pflichten der Handwerksverwaltung eingegangen. Eine Zunft sollte mindestens 5
Meister zahlen, die alle A n g e l e g e n h e i t e n der Zunft w a h r e n d
der
Zunftversammlung zu erledigen h a t t e n . D a s Protokoll fuhrte w a h r e n d j e d e r
V e r s a m m l u n g der Makler, der auch fur die ordentliche Buchfuhrung der
Handwerksverwaltung verantwortlich war. Die Verwaltung oder die Versammlung
der Meister durfte das Statut nicht a n d e m , wodurch ihre Tatigkeit nur a u f
Kontrollfunktionen beschrankt wurde. Jede Zunft hatte j e d e s Jahr den
Zunftaltesten und zwei seiner Stellvertreter zu wahlen, die v o m Stadtmagistrat im
A m t bestatigt w u r d e n . V o n der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g w u r d e
das
Handwerksoberhaupt g e w a h l t .
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149
Z u m ersten Mai in der russischen Geschichte wurden, allerdings nur im R a h m e n
eines Standes, einige Schritte in Richtung einer sozialen Absicherung getan. Falls
ein H a n d w e r k e r krank wurde und keine Gesellen und Lehrlinge hatte, die seine
Arbeit verrichten konnten, war die Verwaltung verpflichtet, ihm sowohl arztliche
Hilfe und Arzneimittel als auch Gesellen und Lehrlinge oder das entsprechende
Geld zu Verfugung s t e l l e n . D e s weiteren sollte die Verwaltung, falls ein
H a n d w e r k e r ein Zunftamt inne hatte und aus irgendwelchen Grunden, Trunksucht
und dergleichen a u s g e n o m m e n , verarmte oder erkrankte, ihm gemaB seiner
Beitragshohe seitens der V e r s a m m l u n g der Meister aus der Kasse ein zinsloses
Darlehen gewahren. Falls der besitzlose Zunftmeister verstarb, w u r d e er auf
Kosten der Verwaltung bestattet. Der Betrieb wurde in diesem Fall v o n der Frau
des verstorbenen Handwerkers u b e r n o m m e n und weitergefuhrt. Dabei sollte die
Verwaltung ihr, falls sie nicht v o r h a n d e n waren, Gesellen und Lehrlinge zur
Verfugung s t e l l e n . Der Meister hatte in seinem H a u s , w o auBer seiner Familie
die Gesellen und Lehrlinge in Vollpension wohnten, alle Rechte eines Hausherren.
AuBerdem sollte derjenige, der in der Stadt als H a n d w e r k e r arbeiten wollte,
unbedingt bei einem Zunftmeister in der Lehre gewesen sein. Die Lehrzeit wurde
fur die Lehrlinge v o n sieben auf funf, wenigstens aber drei Jahren herabgesetzt.
150
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PSZRI l,Nr. 16187, S. 369.
149
Ebd., S. 370.
150
PSZRI 1, Nr. 16187, S. 373.
151
PSZRI 1,Nr. 16187, S. 375.
N a c h B e e n d i g u n g der Lehre b e k a m ein Lehrling ein Zeugnis und sollte dann als
Geselle mindestens drei Jahre lang weiter arbeiten. Es dauerte also mindestens
sechs Jahre, bis ein Handwerker seine Meisterprufung ablegen konnte. Z u m
Zeitpunkt der Meisterprufung sollte er aber nicht j u n g e r als 24 Jahre sein.
D a s Statut reglementierte den Ablauf des Arbeitstages und die Verhaltnisse
zwischen dem Meister und seinen Gesellen und Lehrlingen. Die Lange des
Arbeitstages w u r d e auf zwoif Stunden von sechs U h r m o r g e n s bis sechs Uhr
abends festgelegt, wobei fur das Frtihstuck und die Mittagszeit j e w e i l s eine halbe
Stunde bemessen wurde. Arbeitsfreie Tage waren der Sonntag und die
Weihnachtszeit. Der Meister hatte das Recht, den Gesellen fur ein halbes Jahr in
ein Zuchthaus zu sperren, falls dieser den Meister oder seine Frau beleidigte,
wobei nach d e m Vollzug der Strafe das Gesetz den anderen M e i s t e m verbot, einen
vorbestraften Gesellen einzustellen.
Die B e d e u t u n g der G n a d e n u r k u n d e bzw. des Gewerbestatutes fur die
Zunfthandwerker von St. Petersburg ist nicht hoch genug einzuschatzen. Wie aber
Hildermeier zurecht feststellt,
„enthielt die Gnadenurkunde nicht wenige Regelungen, die ihrem Z w e c k
entgegenwirkten. Dazu zahlten in erster Linie die Zulassung des
bauerlichen Handels in den Stadten und die Bestatigung der
ausgedehnten adligen Wirtschaftsrechte. Trotz anderslautender,
programmatischer Absichtserklarungen unterlieB es die Regierung, jeden
Stand wirksam auf eine bestimmte ,Sphare der Industrie zu
begrenzen" ,
4
152
w a s dem St. Petersburger Zunfthandwerk ebenfalls nicht zugute kam, wie aus der
Angelegenheit, die mit dem SenatserlaB von 1796 geklart wurde, ersehen werden
kann.
2.5
D e r SenatserlaB von 1796
Die Handwerksverwaltung interpretierte die fehlende R e g e l u n g uber die
zeitweiligen Handwerker im Handwerksstatut von 1785 in der Weise, daB alle
Handwerker, die in der Hauptstadt tatig werden wollten, sich in die Zunfte
einschreiben muBten, wodurch die bauerlichen und kleinbiirgerlichen Handwerker
automatisch ausgeschlossen bzw. zur Illegalitat g e z w u n g e n waren, denn u m als
standiger Meister in die Zunft eintreten zu konnen, muBte man eine Prufung bei der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bestehen, w o z u diese H a n d w e r k e r k a u m imstande waren.
Vermutlich auf Betreiben der Handwerksverwaltung schaffte die St. Petersburger
Stadtduma mit B e z u g auf Paragraph 120 des Handwerksstatutes von 1785 das
Institut der zeitweiligen Zunftmeister ab, wodurch die bauerlichen H a n d w e r k e r
erhebliche Schwierigkeiten b e k a m e n . So verringerte sich in den nachsten Jahren
die Anzahl der zeitweiligen Handwerker in St. Petersburg drastisch. V o r der
Einfuhrung des neuen Handwerksstatutes v o n 1785 gab es 1554 zeitweilige
Handwerker, deren Anzahl sich im Jahre 1786 mit 3058 fast verdoppelt hatte.
D a v o n blieb im Jahre 1793 nur noch der Bruchteil v o n 317 Handwerkern i i b r i g .
Die Lage solcher Handwerker wurde mit dem SenatserlaB v o n 1796 g e k l a r t . Er
bestatigte, daB die Handwerker, die ihrem Stand nach leibeigene bzw. Staatsbauern
blieben und in der Stadt arbeiteten, die Fabrikarbeiter, die H a n d w e r k e r aus anderen
Stadten und aus d e m Ausland zeitweilig in die Zunfte eintreten durften. O h n e
Standeswechsel traten Kaufleute und personlich Geadelte in die Zunfte auf Zeit
ein, w e n n sie d e m H a n d w e r k mit Hilfe anderer H a n d w e r k e r und Lehrlinge
nachgingen. AuBerdem besagte der Artikel 57 des Handwerksstatutes
unmiBverstandlich, daB es „in der Stadt, in welcher es eine Handwerksverwaltung
gibt, verboten ist, zunftfrei zu a r b e i t e n " .
Der ErlaB von 1796 ist eine wichtige Quelle fur das Verstandnis dessen, w a s der
Gesetzgeber am E n d e des 18. Jahrhunderts unter Gewerbepolitik verstand, wobei
seine negative Stellung zur „Gewerbefreiheit" und d e m Versuch der
Handwerksverwaltung, einen kompromiBlosen Zunftzwang einzufuhren, offenbar
ist. Es ist an dieser Stelle anzumerken, daB es in RuBland einen bedingten
Zunftzwang gab, der durch die Klausel iiber die zeitweiligen H a n d w e r k e r bestehen
konnte. Also wies der Senat der Handwerksverwaltung Grenzen zu, die in einem
krassen Widerspruch zu ihrem M o n o p o l w e s e n standen. Seinen Worten nach hatte
die B e s t i m m u n g der Handwerksverwaltung, die Handwerker nur als standige
Meister in die Zunfte einzuschreiben, zur Einschrankung des H a n d w e r k s gefuhrt
und den H a n d w e r k e r n geschadet, w a s nicht im Sinne des Gesetzes sei. Der
Gesetzgeber fuhr fort:
153
154
155
156
„Es ist nicht selten der Fall, daB ein M e n s c h [kein Handwerker
oder
Fachmann,
A.K.] mehrere H a n d w e r k e beherrscht und j e nach der
Konjunktur dieses oder j e n e s H a n d w e r k betreibt oder entsprechend
seinen Umstanden sein Gliick in einem anderen H a n d w e r k versucht, das
ihm ein besseres E i n k o m m e n verspricht, weshalb er immer zeitweilig in
verschiedene Zunfte eintreten wird. [...] Inzwischen, w e n n solche
153
Pazitnov, Problema, S. 81.
154
S. Tabelle 1 im Tabellenanhang.
155
PSZ RI 1, Bd. 23, Nr. 17438 (6.2.1796): „О nevospreScenii meScanam, kazennym i
gospodskim remeslennikam zapisyvat'sja v ob§die cechi na takoe vremja, skol'ko kto v onych
byt' pozelaet...", S. 865f.
156
PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 16187, S. 374.
Handwerker dazu g e z w u n g e n werden, in die Zunfte als standige Meister
einzutreten, werden sie mit staatlichen Auftragen uber ihre Krafte
belastet, w o d u r c h sie nicht imstande sein werden, ihre Arbeit zu
verrichten. Sie werden die Preise zum Nachteil der Bevolkerung erhohen
oder bei den standigen Zunftmeistern in den Dienst treten, wobei die
letzteren bei ihrem M o n o p o l den Lohn beliebig hoch oder herunter
setzen konnen.
[...] D e m Gouvernementskontor (gubernskoe pravlenie) wird verordnet,
daB es aufgrund der freien A u s u b u n g des H a n d w e r k s unter keinen
U m s t a n d e n KleinbUrgern, leibeigenen und staatlichen Handwerkern den
zeitweiligen Eintritt in die Zunfte versagen darf. Demzufolge sollen
auch leibeigene oder staatliche H a n d w e r k e r in die Zunfte
wiederaufgenommen werden, die fruher als zeitweilige Meister in die
Zunfte eingeschrieben w a r e n " .
157
Mit einer so breiten Interpretation des Zunfthandwerks wurde seine fachmannische
Seriositat und der Anspruch auf hohe Qualitat in Frage gestellt und das
StandesbewuBtsein der standigen Zunftmeister verletzt, die Anspruch auf
Etablierung im hauptstadtischen Gewerbe erhoben. Hier wird noch einmal deutlich,
daB es d e m Gesetzgeber nicht u m das Zunfthandwerk selbst, sondern u m die
allgemeine gewerbliche bzw. industrielle Entwicklung ging. Die Zunfte waren eine
Institution, die das fachmannische Niveau im H a n d w e r k e r h o h e n sollten. Wie
erfolgreich sie das tun konnten, bleibt freilich unter diesen Voraussetzungen
fraglich. Damit w u r d e der Versuch der Handwerksverwaltung, das hauptstadtische
H a n d w e r k zu monopolisieren, erstmals unterbunden. Z w a r kann im
Z u s a m m e n h a n g mit den St Petersburger Zunften keine Rede v o n ihrer
Vormachtstellung in der Hauptstadt sein, doch ist dies ein Indiz fur einen
betrachtlichen Z u w a c h s an SlandesbewuBtsein der Zunfthandwerker und ihrer
gestiegenen wirtschaftlichen Macht, die sie dazu verleitete, den Umfang des
Arbeitsmarktes durch den AusschluB der zeitweiligen, sprich bauerlichen,
Handwerker aus den Zunften zu regulieren, um den stadtischen Markt, sei es auch
partiell, fur sich zu gewinnen.
So bildete sich langsam eine Schicht unter den Handwerkern heraus, die im 19.
Jahrhundert im ganzen Handwerkerstand fur groBe Konflikte sorgte - die der
zeitweiligen Zunfthandwerker. Der SenatserlaB von 1796 war aber nicht Ausloser
dieser Entwicklung, wie Ende des 19. Jahrhunderts haufig geschrieben wurde,
sondern er bestatigte lediglich eine bereits von Peter I. stammende und in der Zeit
zwischen 1785 u n d 1796 abgeschaffte Regelung.
157
PSZ RI 1, Bd. 23, Nr. 17438, S. 866f.
2.6
D a s Zunftstatut von 1799
158
D a s Handwerksstatut von 1785 und das Zunftstatut v o n 1 7 9 9 , das unter anderem
versuchte, das W e s e n der Handwerksarbeit genauer zu definieren, dienten als
Grundlage fur die Gesetzgebung im 19. Jahrhundert.
N a c h dem Zunftstatut von 1799 unterschied sich die handwerkliche Arbeit v o n der
Arbeit in der Fabrik
- in der Herstellung der Waren durch Handarbeit,
- in der Gewahrleistung des Arbeitsverfahrens durch die Einstellung von Gesellen,
welche dank ihrer profitablen Arbeit dem Meister ermoglichten, G e w i n n zu
erzielen,
- in der Ausbildung der Lehrlinge.
Dieser Versuch, das Wesen der Handwerksarbeit zu definieren, war zu allgemein
und verfehlte das Ziel, das H a n d w e r k von den GroBbetrieben bzw. Fabriken zu
trennen, um so steuerpolitische Fragen zu klaren. Z w a r ist es moglich, diese
Grenze nach unten, z u m Gewerbe, deutlich zu erkennen. Aber viel wichtiger fur
den Gesetzgeber war, sie nach oben abzugrenzen, denn dort v e r s c h w a m m die
Grenze bis zur Unkenntlichkeit, da gewisse M e r k m a l e genauso gut auf „Fabriken"
wie auch auf die Werkstatten zutrafen. Aufgrund dieser Unklarheit der
Gewerberegelungen im Stadtstatut konnte auch keine effektive Standespolitik
betrieben werden, wie sie von der Regierung angestrebt w u r d e . Dartiber soil im
Z u s a m m e n h a n g mit der Gildenreform von 1824 j e d o c h noch gesprochen werden.
In gewisser Weise lieB sich der Gesetzgeber im Zunftstatut v o n 1799 von den
wirklichen Bediirfhissen der Gegenwart leiten und lieB einige Regelungen zu, die
w e n i g mit d e m W e s e n des Zunfthandwerks korrespondierten. Der Handwerker
konnte namlich sein H a n d w e r k in der Fabrik ausuben, wobei er auch dann als
Zunftmeister der Zunftverwaltung unterstand und bestimmte Beitrage zahlte. Ein
Meister durfte seine Werkstatt mit dem gesamten W e r k z e u g einer anderen Person
v e ф a c h t e n , wobei offen blieb, ob diese Person ihre Qualifikation nachweisen
muBte oder nicht. D e s weiteren w u r d e das Verlagshandwerk konstituiert, das dem
H a n d w e r k e r erlaubte, Auftrage und Material von einem Auftraggeber zu
empfangen und gegen Stucklohn weiterzuverarbeiten. Diese Regelung weist auf
ein typisches M e r k m a l des St. Petersburger H a n d w e r k s am E n d e des 18.
Jahrhunderts hin, namlich auf die fruhe Entwicklung des Verlagshandwerks, das
die Zersplitterung des H a n d w e r k s in verschiedene Produktionsweisen forderte, die
dem traditionellen H a n d w e r k fern s t a n d e n . Im Gegensatz zu den Handwerkern
raumte das Gesetz den Fabrikanten das Recht ein, ihre Produkte uberall zu
verkaufen. Die ersteren dagegen durften ihre Produkte nur in der Stadt verkaufen.
Im Verwaltungswesen sollte der vergroBerte Verwaltungsapparat effektivere Arbeit
159
158
PSZ RI 1, Bd. 25, Nr. 19187 (12.11.1799): Der Zunftstatut, S. 864-886.
leisten, statt vorher zwei waxen jetzt vier Alteste der russischen und vier der
deutschen Zunfte t a t i g .
160
2.7
Z u r Typologie russischer und westeuropaischer bzw. deutscher Zunfte
Die starke Orientierung der russischen Gesetzgebung an westlichen Mustern laBt
die Frage aufkommen, in welc hem Zustand sich das Zunftwesen in Westeuropa im
18. Jahrhundert befand. Als erstes laBt sich feststellen, daB - wahrend in RuBland
die Zunfte noch in ihrer Entstehung begriffen waren - sich die Geschichte des
Zunfthandwerks in Westeuropa ihrem Ende naherte: 1791 wurden die Zunfte in
Frankreich, 1810/11 in Preuflen und 1859 in Osterreich abgeschafft. Der ProzeB
der Abschaffung des Zunftsystems im deutschsprachigen R a u m vollzog sich, wie
zu sehen ist, etwas spater. Hier behielten die Zunfte nicht unbedingt ihr
mittelalterliches W e s e n bei, sondern wurden immer wieder v o m Staat modifiziert
bzw. modernisiert, wie z. B . mit der Reichshandwerksordnung von 1731, die unter
anderem den Z u g a n g zum Handwerk erleichterte. Einerseits wurden diese
Modernisierungsbestrebungen durch die Staatsrason und die Ideen des
Merkantilismus oder des im deutschsprachigen R a u m ofter v o r k o m m e n d e n
Kameralismus bewirkt, andererseits waren die Erlasse eine Folge der inneren
Auflosung des Zunftwesens nach dem DreiBigjahrigen Krieg.
D a s Zunftwesen in RuBland war vollig neu. Die Fremdartigkeit der Zunfte fur die
russischen Verhaltnisse und cias Fehlen fruherer Organisationen, auf deren Basis
sich das Zunftsystem hatte aufbauen lassen, beweist die Tatsache, daB nach den
Erlassen v o m 16. Dezember 1720 und 16. Januar 1 7 2 1 , die die Organisation der
Handwerker in Zunften verfug ten, ein ganzes Jahr lang v o m Hauptmagistrat nichts
unternommen wurde, w a s Peter I. dazu bewog, dem Oberprasidenten und seinem
Stellvertreter mit der Galeerenstrafe zu drohen. Die Schwierigkeiten, mit denen
Peter I. zu kampfen hatte, veranlaBten ihn, an auslandische Erfahrungen
anzukntipfen. Dmitrij Solov'ev, den der Zar mit einer Analyse der Zunftordnungen
im Ausland beauftragt hatte, reichte einen Bericht an den Senat ein, der als
Grundlage fur den ErlaB uber die Zunfte v o m 27. April 1722 diente, wobei die
Zunftordnungen aus Danemark, Deutschland, Schweden, Li viand und Estland zum
Vorbild g e n o m m e n w u r d e n . Das N e u e in der petrinischen Zunftordnung war,
daB sie nicht nur in Analogic zur schwedischen Zunftordnung die Anzahl der
Zunfte und der Zunftmitglieder unbeschrankt lieB, sondern daruber hinaus das
Handwerk auch auBerhalb der Zunfte erlaubte. D a s war ein KompromiB mit dem
161
160
161
Nr. 19187, S. 866.
Vgl. Aleksandr A. Kizevetter, Gorodovoe polozenie Ekateriny II 1785 g. Opyt
istoriceskogo kommentarija. Moskau 1909, S. 184f.
Adel und der Kirche, der diesen gestattete, weiterhin H a n d w e r k e r unter der
B e d i n g u n g zu beschaftigen, daB sie fur den Eigenbedarf produzierten.
Als Katharina II. sich mit der neuen Stadtordnung befaBte, die 1785 erlassen
wurde, waren ihr die M e i n u n g e n in Westeuropa iiber die okonomische B e d e u t u n g
des Zunftwesens bekannt. Als Verfechterin des staatlichen Merkantilismus u n d der
Gewerbefreiheit wuBte sie einerseits den N u t z e n des Zunftsystems in der
Organisation des ordentlichen H a n d w e r k s zu schatzen, andererseits war sie sich
der Gefahr des Zunftzwanges fur die Entwicklung der Wirtschaft bewuBt, w a s sie
in der Arbeitsversion des Artikels 4 0 0 der Instruktion fur die Gesetzgebende
K o m m i s s i o n z u m Ausdruck brachte:
„Es ist eindeutig, daB fur die Entstehung des kunstfertigen H a n d w e r k s
die Zunfte niitzlich sind. Sie sind aber nur fur kurze Zeit niitzlich, da sie
die Mehrheit der Gewerbetreibenden unterdriicken, sobald sie
organisiert s i n d " .
162
Diese Problematik k o m m t in der letzten Version von Paragraph 4 0 0 zum
Ausdruck, in der darauf hingewiesen wird, daB die Niitzlichkeit der Ziinfte in den
Stadten umstritten sei und daB noch daruber entschieden werden musse, welche
Zunftbestimmungen, in die Praxis umgesetzt werden sollten. Bestatigend wird
dann im nachsten Paragraphen darauf hingewiesen, daB die Ziinfte fur die
Entwicklung des H a n d w e r k s niitzlich seien, solange sie die Zahl der H a n d w e r k e r
nicht begrenzten. Katharina II. sah sich in ihren Beschlussen in Hinblick auf die
westeuropaische Entwicklung bestatigt, auch dort war zu ihrer Zeit die Anzahl der
Meister in den Zunften nicht b e g r e n z t . Kizevetter analysierte richtig, daB die
Reformtatigkeit Katharinas II. beziiglich des stadtischen H a n d w e r k s nicht darauf
abzielte, das Zunftmonopol zu starken, sondern die gewerblichen Aktivitaten unter
der Stadtbevolkerung und die Entwicklung des H a n d w e r k s anzuregen, w o r a n sich
deutlich Ziige des Merkantilismus erkennen l a s s e n .
A n dieser Stelle muB eine neue o k o n o m i s c h e Schule, die der P h y s i o k r a t e n
erwahnt werden, deren Lehre u m die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand und die
sicherlich eine W i r k u n g auf die Einsichten von Katharina II. ausiibte, w o d u r c h
auch ihre aktive Tatigkeit bei der Ansiedlung v o n deutschen Kolonisten in der
163
164
165
162
Ders., S. 269.
163
Nakaz imperatricy Ekateriny П., dannyj komissii о so&nenii proekta novogo ulozenija. St.
Petersburg 1907, S. 113, § 400,401,402.
164
165
Kizevetter, Gorodovoe polozenie, S. 269.
Physiokraten schrieben allejn der Landwirtschaft produktive Kraft zu und fanden in ihr
eine Quelle der SchGpfung aller Werte vor. Das Gewerbe erklSrten sie dagegen als
unproduktiv. Vgl. Hausherr, Wirtschaftsgeschichte, S. 278.
U m g e b u n g von St. Petersburg und an der mittleren Wolga zu erklaren ist. Es
scheint, daB Katharina II. keinen Widerspruch darin sah, beide Wirtschaftstheorien
zu untersttitzen, und sich von dem Prinzip leiten lieB: Jede Theorie kann niitzlich
sein, falls sie z u m allgemeinen Wohlstand und zur Forderung v o n Industrie und
Landwirtschaft beitragt.
Welche besonderen Merkmale wies das St. Petersburger Zunfthandwerk im
Gegensatz zu dem in Westeuropa auf und welche Gemeinsamkeiten hatten sie? E s
soli hier immer im A u g e behalten werden, daB es sich u m grundsatzlich
verschiedene Zunftprinzipien, um verschiedene konzeptionelle Losungen der
Zunftorganisation im H a n d w e r k handelte.
Wenn wir das Zunftsystem stark schematisch nach d e m Innen-AuBen-Verhaltnis
auswerten, so laBt sich im allgemeinen feststellen, daB sowohl nach d e m InnenVerhaltnis: R e g e l u n g der Asbeit, als auch nach dem AuBen-Verhaltnis:
Monopolisierung, welche die Konkurrenz ausschalten sollte (abgesehen von
einigen Gemeinsamkeiten z. B. bei der Betriebsordnung bzw. -hierarchie oder der
Qualitatskontrolle des Produktes) das russische Zunftsystem anders gestaltet wurde
als in Westeuropa. Im russischen Fall wurde das Zunftrecht so modifiziert, daB die
Ziinfte nie imstande waren, eine Monopolstellung in St. Petersburg einzunehmen,
so daB sie im Unterschied zu Westeuropa nie verlangen konnten, daB alle Meister
der Hauptstadt der Zunft beitreten sollten, falls sie ein H a n d w e r k ausiibten .
Diese Bestrebung Katharinas II., die Ziinfte in ihren Rechten zu beschranken, war
nicht neu. Sie konnte in dem Fall an die westeuropaischen Erfahrungen unter
anderem PreuBens und Schweden ankniipfen, w o nach dem DreiBigjahrigen Krieg
die absolutistischen Monarchien sich behaupten konnten und alle andere
Machtmonopolisten, hier die Zunfte, unterdriickt w u r d e n .
Die Zunfte in RuBland waren von Anfang an eine Schopfung des Staates, der mit
seinem gesetzgeberischen Instrumentarium die Begriffe fur ihre Konstituierung
auswahlte, die am besten seinen Zielen entsprachen. Die Ziele sowohl Peters I. als
auch Katharinas II. waren die gleichen: Steigerung der Gewerbeproduktion bzw.
des Wohlstandes der Bevolkerung und folglich der Steuereinnahmen, w a s nicht
durch die Einfuhrung des Zunftmonopols, sondern im wesentlichen durch die
Beschaftigung einer maximalen Zahl von Personen an der Produkt- bzw.
Wertschopfung zu erreichen war. D e s w e g e n konnten die Zunfte die Anzahl der
Beschaftigten im H a n d w e r k bzw. in den Betrieben nicht begrenzen. Nach AuBen
konnten und durften die Zunfte keinen M a r k t z w a n g einfuhren, und sie durften
auch die Einkaufspreise von Rohstoffen bzw. die Verkaufspreise ihrer Produkte
166
167
168
Vgl. Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 130f.
Ebd.,S. 127.
169
nicht selbst festlegen. A u c h war es ihnen untersagt, den Zunftbann einzufuhren .
Solche R e g e l u n g e n waren ein Ergebnis der allgemeinen westeuropaischen
Gewerberechtsentwicklung, die Peter I. bzw. Katharina II. zur Kenntnis g e n o m m e n
hatten. Modell waren hier Verordnungen in PreuBen und Schweden, die gegen die
Zunftregelungen vorgingen, die der Produktionsausweitung hinderlich w a r e n .
170
Bei der Einfuhrung der Zunfte, besonders seit der Zunftreform v o n 1785, muBte
sich der Gesetzgeber aber auch dariiber Gedanken machen, wie er in Konflikt
zwischen eigenen und kontraren Interessen der Zunfte das B e s t e h e n der Zunfte
bzw. des Qualitatshandwerks und das Entstehen einer fachmannischen Tradition,
die in RuBland noch geschaffen werden sollte, sichern konnte. So ist es zu
erklaren, daB die Zunfte einige Funktionen der Gewerbepolizei bzw. des
Gewerbegerichts sowohl nach innen als auch nach auBen ausubten, indem sie d e m
H a n d w e r k e r seine Tatigkeit verbieten konnten, falls er Lehrlinge und Gesellen
ohne Meisterdiplom unterhielt. D e s weiteren hatte das Handwerksoberhaupt die
Befugnis, Lehrlinge einem Meister w e g z u n e h m e n und bei einem anderen zu
beschaftigen, w e n n der erste ihn schlecht behandelte. Freilich, n a h m das
Handwerksoberhaupt diese Moglichkeit fast nie wahr, weil dies als eine innere
Angelegenheit des Meisters gait, ob und welche BestrafungsmaBnahmen er
gegenuber d e m Lehrling a n z u w e n d e n fur richtig hielt. Die Handwerksverwaltung
fungierte als Schlichtungsstelle bei Streitigkeiten zwischen Handwerkern, Kunden
und Zunften. D a s neu eingefuhrte A m t des Handwerksoberhaupts, das die Leitung
aller Zunfte in seiner Person vereinigte, war uberhaupt eine N e u e r u n g in der
Zunftverfassung Europas, die die spezifischen Seiten der russischen Sozialordnung
bzw. Machtverhaltnisse widerspiegelte und als A u s d r u c k einer starken N e i g u n g
zur Zentralisierung zustande k a m .
171
2.8
Die G e w e r b e g e s e t z g e b u n g und die Gewerbepolitik d e r russischen
Regierung in der ersten Halfte des 19. J a h r h u n d e r t s
Z u r russischen Gewerbegesetzgebung im 19. Jahrhundert sind mehrere Arbeiten
e r s c h i e n e n . D a aber die gesetzgeberische Tatigkeit der R e g i e r u n g uberwiegend
172
169
Vgl. Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 131.
170
Gommel, Entwicklung, S. 25; Kizevetter, Polozenie, S. 240ff.
171
Vgl. Kizevetter, Polozenie, S. 255.
172
V. Ja. Laverycev, Carizm i rabocy vopros v Rossii (1861-1917), Moskau 1972; Pazitnov,
Polozenie rabocego klassa v Rossii; A. F. VovCik, Politika carizma po rabocemu voprosu v
predrevoljucionnyj period (1895-1904), L'vov 1964; Puttkamer, Fabrikgesetzgebung; ders.,
Die Anfange der russischen Arbeiterschutzgesetzgebung und ihre westeuropaischen
Vorbilder. In: Reformen in RuBland des 19. und 20. Jahrhunderts: Westliche Modelle und
d e m russischen Fabrikwesen gait u n d die ersten Gesetze tiber Kinderarbeit, das
Verbot der Nachtarbeit fur Kinder und Frauen, sowie die Einschulung der
Fabrikkinder keine Gultigkeit fur die Werkstatten besaBen, konnen diese
A b h a n d l u n g e n nur bedingt in unsere Untersuchung einbezogen w e r d e n .
Sehr eingehend k a m auf die Gesetzgebung tiber das H a n d w e r k in der ersten Halfte
des 19. Jahrhunderts bis zu den 1860er Jahren Ju. Ja. R y b a k o v zu sprechen, der
allerdings dieses Problem mit einer generell negativen Einstellung zum
Zunfthandwerk
b e h a n d e l t e u n d konstatierte, daB die V e r s u c h e
der
Gewerbegesetzgebung, die Probleme des H a n d w e r k s im standischen R a h m e n zu
losen, keine positiven Ergebnisse b r a c h t e n .
Die Zoll- und Tarifpolitik der R e g i e r u n g w a r fur das St. Petersburger H a n d w e r k
v o n groBer B e d e u t u n g , da es dadurch unmittelbar betroffen war. A b g e s e h e n von
Riga war St. Petersburg der groBte Warenumschlagplatz RuBlands. Sehr negativ
envies sich die Zollpolitik v o n 1817 bis 1822 w a h r e n d der Amtszeit des
Finanzministers D.A. G u r ' e v (1810-1823), der, entsprechend der Richtlinien des
Wiener Kongresses in der H a n d e l s p o l i t i k , eine niedrige Verzollung der
importierten Waren e i n f u h n e . Sein Amtsnachfolger, Finanzminister E.F.
173
174
175
176
russische Erfahrungen, hrsg. v. Dietrich Beyrau, Igor' CiCurov und Michael Stolleis.
р1Ш1кгш1/Ма1п 1996, S. 85-107; weitere Literatur zur Arbeiterfrage in RuBland s. in: Ju. I.
Kir'janov, 2iznennyj uroven raboiich Rossii (konec 19 - naCalo 20 vekov), Moskau 1979, S.
20f.
4
173
Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 366,441.
174
Ju. Ja. Rybakov, PromySlennoe zakonodaterstvo Rossii pervoj poloviny XIX veka.
Istoenikovedceskie ocerki. Moskau 1986.
175
Der Wiener KongreB fand vom 18.9.1814 bis 9.6.1815 in Wien start, wo unter den rund
200 Staaten, Herrschaften, Stadten und Korporationen die vier (sputer fiinf) GroBmachte
GroBbritannien, PreuBen, Osterreich, RuBland (und Frankreich) eine fiihrende Rolle spielten;
Literatur hierzu s.: Rudolf Weber-Fas, Deutschlands Verfassung: vom Wiener Kongress bis
zur Gegenwart, Bonn 1997; Markus Kutter, Der modernen Schweiz entgegen Bd. 3: Die
Schweiz von vorgestern; Vom Wiener Kongress bis zu den kantonalen Revolutionen (18141830), Basel 1997; Alexandra v. Ilsemann, Die Politik Frankreichs auf dem Wiener
Kongress; Talleyrands auflenpolitische Strategien zwischen erster und zweiter Restauration,
Hamburg 1996 (Beitrage zur deutschen und europaischen Geschichte; 16); Michael Handt,
Die mindermachtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress, Mainz 1996
(Veroffentlichungen des Instituts f. Europaische Geschichte Mainz; 164: Abteilung
Universitutsgeschichte); Anselm Doering-ManteufFel, Vom Wiener Kongress zur Pariser
Konferenz: England, die deutsche Frage und das Muchtesystem 1815-1856, Gottingen 1991
(Veroffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 28).
176
Handbuch der europaischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hrsg. von Wolfram
Fischer, Jan A. van Hautte u.a., hier Bd. 4: Europaische Wirtschafts- und Sozialgeschichte
von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. Jlja Mieck.
Stuttgart 1993, S. 758.
Kankrin (1823-1844), verfolgte bis z u m Ende seiner Amtszeit eine konsequente
Schutzzollpolitik und 1842 w u r d e n die Zolle wieder etwas erhoht. Als die h o h e n
Zollsatze und Importverbote fur Luxuswaren vor allem im 19. Jahrhundert
eingefuhrt wurden, k a m es zu einem schwunghaften Schmuggel an den
Westgrenzen des Reiches, wodurch ein Teil des Edelmetalls ins Ausland
g e l a n g t e . Dies w a r aber nicht ungewohnlich in Anbetracht der allgemeinen
europaischen Entwicklung nach d e m Wiener KongreB, da England und Frankreich
eine protektionistische Politik betrieben, der PreuBen, Osterreich-Ungarn und
RuBland ebenfalls folgten . 1844 bis 1850 wurden die Zolle wieder gesenkt,
wodurch der legale Handel erleichtert wurde.
Die Folgen der Zollpolitik sollen am Beispiel des deutschen Kurschners J o s e p h
Griinberg gezeigt werden, der auf eigene Kosten eine U n t e r s u c h u n g uber die
Einfuhr von Pelzwaren an der russischen Westgrenze 1822/42 anstellte und deren
Ergebnisse er 1835 Finanzminister Graf E. F. (Georg) Kankrin bzw. 1836
Innenminister Graf D . N . Bludov z u k o m m e n lieB. Der Leitgedanke des Projektes
war, daB das Handelsmonopol der Russisch-Amerikanischen Handelsgesellschaft
(Rossijsko-Amerikanskaja
kompanijaf
uber Pelzwaren, in diesem Fall F u c h s und Iltispelze aus Virginia in Nordamerika, dem AuBenhandel groBen Schaden
zufuge und d e m Fiskus eine groBe Steuersumme durch den Schwarzhandel
e n t g a n g e n war. Seinen Worten nach wurden uber die Westgrenze und vor allem
uber Finnland jahrlich 40.000 bis 50.000 Waschbarpelze sowie Fuchs- und
Iltispelze aus Virginia nach St. Petersburg eingeschmuggelt. D a s geschah uber eine
177
178
19
177
Die ersten Gold- und Silbermtinzen in RuBland wurden im 10. und am Anfang des 11.
Jahrhunderts gepragt. Seit der Mitte des 12. und bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts war im
Zusammenhang mit der Zersplitterung auf mehrere Fiirstenttimer und der politischen
Abhangigkeit von der Goldhorde kein russisches Geld mehr im Umlauf. Wahrend des 14.-17.
Jahrhunderts wurde das Geld aus dem aus Westeuropa eingefuhrten Gold und Silber gefertigt.
Im 17. Jahrhundert wurden fast ausschlieBlich Kupfermunzen mit dem reduzierten
Metallgewicht herausgebracht, wodurch die Hyperinflation eintrat und 1660 mit der
sogenannten „Kupferrevolte" {Mednyj bunt) endete. Seit der Geldreform anfangs des 18.
Jahrhunderts und der Einfiihrung des Dezimalsystems in der Wahrung wurden in RuBland seit
1701 bzw. 1704 regelmSBig Gold- und Silbermttnzen gepragt, die nach der Einfuhrung des
Papiergeldes (assignacii) seit 1769 als harte Wahrung galten. Unter „Edelmetall" konnen in
den 1820er-1830er Jahren die Silber- und Goldrubel und besonders die goldenen
Niederlandischen Dukaten (zolotye niderlandskie dukaty) verstanden werden, die seit 1768 in
RuBland gepragt und als Zahlungsmittel im Handelsverkehr mit dem Ausland verwendet
wurden. Die letzteren erfuhren besonders seit 1817 einen regen Umlauf auch als
Zahlungsmittel innerhalb Rufllands. Vgl. Otecestvennaja istorija. Istorija Rossii s drevnejSich
vremen do 1917 goda. Enciklopedija Bd. 2, Moskau 1996, S. 20-25: „Den'gi".
178
179
Burg, Wiener KongreB, S. 127f.
Die Russisch-Amerikanische Handelsgesellschaft wurde 1799 gegriindet, um das
„Russische Amerika", sprich Alaska, zu erschlieBen und wurde 1868, im Zusammenhang mit
dem Verkauf russischer Gebiete in Nordamerika an die USA, geschlossen.
Handelskette, die die Pelzwaren aus Nordamerika zuerst nach H a m b u r g
transportierte, u m sie dann uber die finnische Grenze nach St. Petersburg zu
bringen, w o sie von den Handwerkern weiterverarbeitet und verkauft wurden. Er
schlug vor, das M o n o p o l der Russisch-Amerikanischen Handelsgesellschaft
abzuschaffen und die Zollabgaben zu senken, w a s mit den Zolltarifen von 1834/36
auch geschah, die unter anderem die Einfuhr von Waschbarpelzen erlaubte.
Grunbergs Worten nach lieB sich dadurch das E i n k o m m e n der H a n d w e r k e r und
Kaufleute in St. Petersburg deutlich verbessern, weil seinen Berechnungen nach
die KUrschner jahrlich von 35.000 bis 40.000 Silberrubel oder etwa 500.000
Silberrubel in 14 Jahren verdienten, wodurch auch der Staat profitierte, da dieses
Geld in RuBland blieb, und dadurch eine bessere Handelsbilanz erzielt werden
konnte .
O b w o h l laut A u s s a g e des Manufaktur- und Innenhandelsdepartements die
Vorschlage Grunbergs „auBer Acht" gelassen wurden, senkte der Zolltarif v o m 6.
D e z e m b e r 1836 die Zollabgaben fur Pelzwaren erheblich. Z. B . wurden v o n nun
an die Waschbarpelze mit 0,8 start zwei Silberrubel pro Pud verzollt, wodurch der
Schmuggelhandel drastisch gesenkt werden konnte. A u c h im allgemeinen laBt sich
ein Z u s a m m e n h a n g zwischen Liberalisierung des Handels und S e n k u n g der
Zolltarife einerseits und der Steigerung des Handelsvolumens andererseits
feststellen. Z w i s c h e n 1837 und 1854 steigerten sich die Einfuhr von Pelzwaren und
dementsprechend die Zollabgaben an den Staat wie folgt:
180
Tabelle 2:
Handel mit Pelzwaren in den Jahren 1837-1854 und die Zollabgaben
Jahre
Anzahl in Pud
Gesamtpreis in Rubel
Zollabgaben in Rubel
1837- 1840
6 8 8 6 0 . 110,2 t
973032
191381
1842- 1845
14280 o. 228,5 t
2256031
490708
1850- 1854
25361 o. 405,8 t
3757410
662913
Quelle: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii Korfom inostrannoj remeslennoj upravy v
Peterburge (1842-1854), hier: Otnosenie ministra finansov к ministru vnutrennich del ot 29
janvarja 1854 g., 1. 125f.
Es war ein Zeichen der Zeit, daB der Staat die Heimindustrie mit Schutzzollen vor
der auslandischen Konkurrenz zu schutzen versuchte.
180
RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii Korfom inostrannoj remeslennoj upravy v
Peterburge (1842-1854), hier: Proserrie J. Grjunberga к ministru vnutrennich del D.G.
Bibikovu ot 29 aprelja 1853 g., 1. 113-119.
W a s die Innenpolitik betraf, stellte die Gildenreform v o m 14. N o v e m b e r 1824
einen tiefen Einschnitt in die Rechte der Zunfthandwerker d a r . V o n n u n an
b e k a m e n die Kaufleute der ersten und zweiten Gilde das Recht, ohne eine
Meisterprufung in der Handwerksverwaltung eine Handwerksstatte mit einer
unbegrenzten Anzahl an Lehrlingen, Gesellen u n d Meistern zu unterhalten. Das
nach dem franzosischen Vorbild eingefuhrte Patentsystem erlaubte den bauerlichen
Handwerkern, die das Patent der vierten und funften Klasse kauften, jeweils eine
Fabrik bzw. eine Werkstatt in St. Petersburg zu fuhren. D e s weiteren sollten alle
Artelsarbeiter ein Patent der sechsten Klasse fur 25 Rubel kaufen, w a s eine
wesentliche B e s c h r a n k u n g fur sie darstellte .
D e n Zunfthandwerkern wurde dagegen keine Erweiterung ihrer Rechte, was das
Handwerksrecht betraf, zugestanden. Ihnen w u r d e verboten, fremde Produkte
weiterzuverkaufen, w a s in der Regel fur das Zunftrecht in Westeuropa typisch war.
Die Gildenreform lehnte sich hier noch an die russische G e w e r b e g e s e t z g e b u n g
a n . Fuhrten die H a n d w e r k e r neben ihrer Werkstatte auch noch Ladengeschafte,
durften sie ihre Produkte nur dort verkaufen. Mit anderen Worten das A n g e b o t
durfte die Nachfrage nicht ubersteigen. Falls die Handelsdeputation feststellte, daB
in der Werkstatt zu viele Fertigprodukte gelagert wurden, wurden die H a n d w e r k e r
unverziiglich dazu gezwungen, sich in die Gilde einzuschreiben. AuBerdem
w u r d e n die H a n d w e r k e der Schmiede, Karrenbauer, Radmacher, Bottcher und
Reifenmacher auch auBerhalb der Stadtgrenzen zugelassen, w a s den gleichnamigen
Zunfthandwerkern der Hauptstadt zusatzliche Konkurrenz b e r e i t e t e .
Die groBten Probleme bereiteten aber die mes£ane, aus deren Schicht die
Handwerker und Kaufleute rekrutiert wurden und zu deren Rechten es gehorte,
beides, das H a n d w e r k und den Handel in zugelassenen Grenzen, zu betreiben. D a
aber,
wie
schon
fruher
bemerkt
wurde,
das
Gesetz
viele
Interpretationsmoglichkeiten zulieB, war es in Wirklichkeit schwierig, die mes6ane
bzw. Beisassen (posadskie) effektiv zu kontrollieren und ihnen rechtzeitig Grenzen
aufzuzeigen. Finanzminister Kankrin prangerte bezuglich der Gildenreform 1824
diesen M a n g e l an, als er feststellte, daB „viele steuerfreie , W e r k b a n k e ' [...] in
Wahrheit ,ziemlich groBe' gildenpflichtige ,Fabriken gewesen s e i e n " . E s wurde
181
182
183
184
4
185
181
Zur Gildenreform s.: Hildermeier, Burgertum, S. 183-218; Ryndzjunskij, P.G.,
Gil'dejskaja reforma Kankrina 1824 goda, in: Istoriceskie zapiski AN SSSR, Bd. 40, S. 110139.
182
PSZ RI 1, Bd. 39, Nr. 30115 (14.11.1824): ЭороткеГпое postanovlenie ob ustrojstve
gil'dij i о trogovle proeich sostojanij, S. 588-612, hier § 98-118. Vgl. Hildermeier,
Burgertum, S. 188-197.
183
Hildermeier, Burgertum, S. 195; Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 131.
184
Dopolnitel'noe postanovlenie, § 98,118, S. 599, 602.
ihnen namlich erlaubt, Werkbanke zu besitzen und auBer den Familienangehorigen
bis zu drei Lohnarbeiter bzw. sechs Jungen zu beschaftigen .
186
2.9
Staatliche
MaOnahmen
Zunfthandwerks
zum
Schutz
des
hauptstadtischen
Ungeachtet aller staatlichen Einschnitte in die Zunftrechte soil der Politik der
Regierung Gerechtigkeit widerfahren, da sie mit ihren „StrafmaBnahmen" das
Zunfthandwerk schutzen wollte.
A m E n d e des 18. und in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts w u r d e v o n der
Regierung eine Reihe von Regelungen getroffen, die fur die Meister, die das
Handwerksstatut in irgendeiner Weise verletzten, Geld- oder Zuchthausstrafen
vorsahen, bis schlieBlich am 15. August 1845 das Strafgesetzbuch herausgegeben
w u r d e . Den Meistern muBten die neuen Regelungen zwiespaltig v o r k o m m e n .
Einerseits schutzte die Gesetzgebung die Zunfte von nichtzunftigen Handwerkern,
indem sie die gewerblichen Rechte der letzteren einschrankte, andererseits trugen
die Gewerberechte der Kaufleute zur wesentlichen Beschrankung der Meister bei.
So schutzten zwei Erlasse von 1795 und 1801 die Kaufleute vor d e m MiBbrauch
ihrer Handelsrechte durch die Handwerker. Der ErlaB von 1795 untersagte
Meistern, deren H a n d w e r k nach einem hohen Kapitaleinsatz verlangte, ihr
H a n d w e r k auszuuben, falls sie nicht Mitglied einer kaufmannischen Gilde waren.
1801 untersagte der Gesetzgeber Handwerkern, die nicht in die kaufmannische
Gilde eingeschrieben waren, Laden bei ihren Werkstatten zu offiien. In beiden
Fallen w u r d e ein erstmals uberfuhrter Meister mit der Halfte der S u m m e , die er fur
die kaufmannische Erlaubnis zahlen sollte, bestraft. D a s zweite Mai muBte er das
Doppelte zahlen und fur das dritte Mai wurde ihm eine Haftstrafe von drei bis
sechs M o n a t e n a n g e d r o h t .
187
188
N a c h d e m Gesetz v o n 1796 setzte sich jeder Handwerker, der kein Recht hatte,
eine vollstandig eingerichtete Werkstatt mit Lehrlingen und Gesellen zu fuhren,
der Gefahr aus, mit einer Geldstrafe von zehn bis 15 Rubeln bestraft zu werden.
Alle Erzeugnisse
und
Werkzeuge
wurden
konfisziert
und
die
Werkstatt
189
g e s c h l o s s e n . Besonders streng wurden die Gold- und Silberschmiede sowie
Juweliere bestraft, die ihre Produkte ohne Warenzeichen verkauften. N a c h dem
186
Dopolnitel'noe postanovlenie, § 100, S. 599.
187
PSZ RI 2, Nr. 19283 (1845): Uloienie о nakazanijach ugolovnych i ispravitePnych, hier
Kapitel 14: О narusenii ustavov fabricnogo, zavodskogo i remeslennoj promySlennosti, S.
916-926.
188
Ebd., S.918.
189
Ebd.
Gesetz v o n 1832 w u r d e n z u m ersten Mai uberfiihrte Meister mit der Konfiszierung
ihrer Waren bedroht und beim zweiten und dritten M a i j e w e i l s mit hohen
190
Zwangsgeldern bzw. einem Handwerksverbot bestraft . Die Strafgesetzordnung
von 1845 stufte das zunftfreie Handwerk schlieBlich als kriminelle H a n d l u n g ein
191
und stellte es unter Strafe .
Allgemein gesehen blieb die Handwerksgesetzgebung das ganze
19. u n d
beginnende 20. Jahrhundert immer konservativ und bewegte sich im vorgegebenen
R a h m e n des Handwerksstatutes von 1785 u n d des Zunftstatutes von 1799. D a s
Handwerksstatut in der ersten A u s g a b e der Gesetzesammlung v o n 1832 enthielt
insgesamt 2 7 0 Artikel, von denen 142 einen Verweis auf das Handwerksstatut von
192
1785 und 101 auf das Zunftstatut v o n 1799 e n t h i e l t e n .
2.10
Die Reformversuche v o n 1850
M i t der fortschreitenden Entwicklung vieler Handwerksbetriebe zu Fabriken sah
sich die Regierung gezwungen, dies gesetzlich zu regeln u n d festzulegen, welche
Betriebe d e m H a n d w e r k und welche der GroBindustrie angehoren sollten. Die
Ausarbeitung des neuen
Handwerksstatutes im Jahre 1850 w u r d e von diesen
193
G e d a n k e n g e l e i t e t . Die Regierung erkannte, daB die aktuellen B e s t i m m u n g e n fur
das H a n d w e r k eine wesentliche Diskrepanz zur herrschenden Realitat aufwiesen,
weil sie noch v o m Stadtstatut des Jahres 1785 u n d v o m Zunftstatut von 1799
194
h e r r u h r t e n . N a c h M e i n u n g des Gesetzgebers waren die Zunfte nicht sinnvoll
nach der Art der ausgeubten Tatigkeit aufgegliedert. Dies w u r d e damit belegt, daB
z. B . die Schmiede und Schlosser zwei verschiedenen Zunften angehorten, obwohl
sie
ihrem
Wesen
nach
dem
metallverarbeitenden
Handwerk
angehorten.
Umgekehrt waren mehrere Handwerksarten, die nichts miteinander zu tun hatten,
wie z. B . die Topfer und die K a m m m a c h e r , die Ikonenmaler u n d die Maler und
Tabakmacher, die Kunstmaler und die Gartner usw., in einer gemeinsamen Zunft
vereinigt.
190
Ebd., S. 922.
191
Ebd.; Vgl. PSZ RI 1, Bd. 25 Nr. 19187 (12.11.1799), S. 864-886.
192
Pazitnov, Problema, S. 104; Vgl. PSZ RI 1, Bd. 22 Nr. 16188 (21.4.1785), S. 369-379,
punkt 120-123.
193
Trudy komissii, ucrezdennoj dlja peresmotra ustavov fabricnogo i remeslennogo, cast' 1:
Proekt ustava о promySlennosti. St. Petersburg 1863, S. 30ff.
Diese Unterteilung, wie z. B . im Fall der Schmiede und Schlosser, war mit dem
195
Zunftstatut v o n 1799 eingefuhrt w o r d e n . Hier k a m der Wille der Regierung z u m
Ausdruck, die Zahl der Zunfte zu verringern, um die Kontrolle zu vereinfachen,
aber auch den finanziellen Aufwand, den die Zunftverwaltung verursachte, zu
reduzieren. D a s zeigt uns das n e u e Verzeichnis der Zunfte, das 1850 im
Innenministerium fur die „Stadte und Orte der Westlichen, Kleinrussischen und
Neurussischen G o u v e r n e m e n t s " zusammengestellt wurde. Unterschieden werden
insgesamt zwolf ubergeordnete Zunftgruppen, denen die einzelnen H a n d w e r k e
zugeteilt wurden. D i e Wagenbauerzunft versammelte z. B . die Wagenbauer,
Karrenbauer,
Radmacher,
Schmiede,
Tapezierer
und
Sattler,
die
Werkzeugherstellerzunft die Schlosser, Mechaniker, Optiker, Uhrmacher und
196
uberhaupt alle W e r k z e u g m e i s t e r . Ihnen folgten noch sieben H a n d w e r k e , die
einzeln aufgefuhrt wurden. Aber auch in dieser Unterteilung unterlief dem
Gesetzgeber ein Widerspruch: die Schmiede und Schlosser, die in eine Zunft
gehoren sollten, wurden von neuem getrennt. D e s weiteren gab es h o m o g e n e
Zunfte einer einzigen Berufsgruppe wie die der Waffenschmiede, der Buchbinder,
der Tabakmacher, der Topfer, der Maler und der Fensterscheibenmeister, der
Glaszunft und der Meister fur das glaserne Geschirr.
AuBerdem waren auch nichthandwerkliche Zunfte w i e die der Kutscher und der
Gartner vorgesehen. Die B a u h a n d w e r k e wie die der Zimmerleute, Maurer,
Steinmetze,
Dachdecker,
Steinsetzer
und
der
Stuckarbeiter
gelangten
197
paradoxerweise in diese nichthandwerklichen Z u n f t e , w a s dadurch zu erklaren
195
PSZ RI 1, Nr. 19187, S. 685, § 6, 7.
196
Weitere Zunfte: 1. Kupfer- und EJronzeschmiedezunft: Kupferschmiede, Bronzegiesser,
Galvanoplastik, Lampenmacher, Laternenmacher, Giefier, Knopfmacher und
Stecknadelmacher, 2. Tischlerzunft: Tischler, Holzschnitzer, Burstenmacher, Schirmmacher,
Korbflechter, Korkmacher, 3. Schneiderzunft: Schneider, Miitzenmacher, Hutmacher,
WeiBgerber, 4. Weberzunft: Weber, Spinner, Farber, Posamentierer, Goldsticker,
Kattundrucker, Meister fur Haarerzeugnisse, 5. SchOne Kunste: Kunstmaler, Ikonenmaler,
Graveure, Lithographen, Buchdrucker, Bildhauer, Musiker, Graveure und Steinschnitzer, 6.
Ledererzeugnissezunft: Schuhmacher, eine Art der Schuhmacher - BaSmaCniki,
Handschuhmacher und allgemein die Meister der Leder-, Wildleder- und Gummierzeugnisse,
7. Backerzunft: Kochmeister, Koche, Konditoren, Weiflbrotbacker, Lebkuchenmeister,
Wurstmacher, Kvasbrauer, 8. Juwelierzunft: Brilliantenmeister, Gold- und Silberschmiede, 9.
Arzthelferzunft: Friseure, Barbiere, die Meister fur Pomade, Seife und Parfumerie, 10.
Ofensetzer: Ofensetzer und Kaminfeger.
197
Trudy komissii, cast' 2: Obzor praviterstvennych mer, S. 58ff.
ist, daB sich diese H a n d w e r k e fast ausschlieBlich in den H a n d e n v o n bauerlichen
Handwerkern befanden, die in den Artelen vereinigt w u r d e n
198
.
Der Leiter der Zweiten Abteilung der kaiserlichen Kanzlei, Graf D . N . Bludov,
kritisierte diese Klassifizierung und die rasante V e r m i n d e r u n g der Anzahl der
Zunfte durch die Vereinigung verschiedener Handwerksbereiche in einer Zunft. Er
betonte, daB eine bessere Kontrolle iiber die Qualitat der Ware nur im engen
Zunftkreis durchgefuhrt werden konne, denn nur hier war die entsprechende
199
Fachkompetenz vertreten . Er befurwortete die Erhaltung getrennter Zunfte, deren
es insgesamt 60 gab. Die Beibehaltung der Zunftverwaltungen hielt er zur
Verbesserung
der
Handwerkskunst
fur
richtig.
Bludov
unbefriedigende Zusammenstellung des Verzeichnisses. Z u r
bemangelte
die
Schneiderzunft
gehorten z. B . a u c h die Mutzenmacher, die Hutmacher und die Kiirschner; zur
Backerzunft gehorten die WeiBbrotbacker, Lebkuchenmeister, die Wurstmacher
200
und die K v a s b r a u e r . Er unterstrich die Bedeutung der Zunftverwaltungen bei der
201
schnellen und nachhaltigen Losung von Streitfragen zwischen den H a n d w e r k e r n .
Bludov betonte als Ziel der Reform die Beseitigung aller H e m m n i s s e der
Gewerbearbeit und wies auf die ungleichen Rechte fur die Fabrikanten einerseits
202
u n d fur die H a n d w e r k e r andererseits h i n . N a c h d e m diese Tatsachen festgestellt
worden waren, gab es Versuche, eine deutlichere Grenze zwischen den Fabriken
und den Werkstatten zu ziehen, w a s beinahe unmoglich war, weil hier eine
„ G r a u z o n e " existierte, „in der ein Betrieb sich zwar noch als handwerklich
bezeichnete, in der Wirklichkeit aber bereits eine kleine Fabrik w a r "
203
.
Als Ergebnis dieser Arbeit wurde 1852 eine vereinfachte H a n d w e r k s o r d n u n g
veroffentlicht, die allerdings fur St. Petersburg, Moskau und andere groBere Stadte
keine Gultigkeit hatte. A n der genaueren B e s t i m m u n g der Art der Betriebe w u r d e
weiter in einem Sonderkomitee des ManufaktuiTats gearbeitet. D a s Komitee faBte
drei Verzeichnisse zusammen, in denen die Betriebsarten in drei groBe G r u p p e n
j e nach der Branche aufgeteilt wurden:
198
Die Tendenz in den Bauhandwerken, grdBere Arbeitsgemeinschaften aus technischwirtschaftlichen Grunden zu bilden, war nicht nur fur St. Petersburg typisch, sondern machte
sich auch in Berlin bemerkbar: hier kamen z B. 1861 auf einen Zimmerer 14,4 Gesellen und
auf einen Maurer 17,3 Gesellen, aus: Bergmann, Berliner, S. 160.
199
Trudy komissii, Cast* 1: Obzor praviterstvennych mer, S. 34.
200
Ebd., S. 35.
201
Ebd., S. 36.
202
Ebd., S. 134.
1.
2.
Fabrikbetriebe (55),
handwerkliche Betriebe, die potentielle oder wirkliche Fabrikbetriebe waren
(65) und
3.
handwerkliche Betriebe (58).
Diese Aufgabe muBte 1855 die M o s k a u e r Abteilung des Manufakturrates losen,
die daraufhin ein Verzeichnis verfaBte, in d e m alle ihrer M e i n u n g nach
zunftpflichtigen H a n d w e r k e (insgesamt 103) aufgelistet wurden.
Bei genauer Betrachtung der Verzeichnisse stellte sich heraus, daB drei
verschiedene Staatsressorts zu einer unterschiedlichen Zahl von H a n d w e r k e n
kamen. Beim Innenministerium waren es 60, beim Manufakturkollegium 120 und
bei der M o s k a u e r Abteilung 103. D e n Mitarbeitern der Regierung schien es
beinahe so, als lage die L o s u n g nicht in einer formalen Teilung, sei es in
qualitativer oder quantitative! Hinsicht, sondern in einer grundsatzlich anderen
Vorgehensweise. Diese Schwierigkeiten des Gesetzgebers, das H a n d w e r k v o n der
Industrie rechtlich abzugrenzen, wurden nicht nur in RuBland, sondern auch in
Deutschland thematisiert, was erklart, warum sich der russische Gesetzgeber fur
die deutschen Erfahrungen imeressierte .
1857 erschien mit wenigen Anderungen Gewerbestatut, das fur die Entwicklung
der Industrie von ausschlaggebender Bedeutung war. Laut Statut teilte sich die
B e v o l k e r u n g in vier groBe Gruppen: Adel, Klerus, stadtische Kleinburger und
Bauern. Laut Gesetz hatten alle, die in die Gilde eingeschrieben waren und die
entsprechende Handelslizenz besaBen, Adelige, die in eine kaufmannische Gilde
eingeschrieben waren, Bauern mit einer Handelslizenz, zu denen noch Kolonisten
und Juden in ihren Wohnorten hinzugezahlt wurden, das Recht, eine Fabrik zu
griinden .
Hier sind eigentlich alle potentiellen Konkurrenten des Zunfthandwerks
aufgezahlt, die o h n e Zunfterlaubnis auch Handwerksbetriebe griinden konnten.
Das Statut trug zur S c h w a c h u n g des Zunftsystems der Hauptstadt bei, da es die
Meister in den Fabriken v o m Eintritt in die Zunft befreite .
Die 1843 von N . Smirnov vorgeschlagenen neuen Zunftordnungen
(obrjady)
wurden dann in den 50er Jahren weiterentwickelt, u m den EinfluBbereich
verschiedener Zunfte a b z u g r e n z e n . Dafiir sollte vor allem eine genauere
204
205
206
207
204
Ebd.
205
Trudy komissii, Cast' 1, S. 174f.
206
2MVD, 6ast' 36 (Mai 1859), S. 81.
207
Obrjady dlja S.-Peterburgskogo russkogo bulocnogo cecha, St. Petersburg 1850; -"brillianto-zolotogo i serebrjanogo cecha, St. Petersburg 1856; -„- cirkul'nogo i
parikmacherskogo cecha, St. Petersburg 1854; -"- goitfarno-pecnogo i truboeistnogo cecha,
St. Petersburg 1856; -"- konditerskogo cecha, St. Petersburg 1850; -"- prjanienogo cecha, St.
Petersburg 1850; -"- sapoznogo cecha, St. Petersburg 1852; -"- stoljarnogo cecha, St.
Beschreibung der verwendeten Rohstoffe und ihrer Z u s a m m e n s e t z u n g sowie die
Beschreibung der hergestellten Waren dienen.
Die Tatsache, daB seit den 30er Jahren groBe Streitigkeiten zwischen den Zunften
in St. Petersburg ausgetragen wurden und schlieBlich die neuen Zunftordnungen
in den 50er Jahren zusammengestellt wurden, spricht dafiir, daB in St. Petersburg
um diese Zeit ein harter K a m p f u m Marktanteile stattfand. Jede Zunft wollte sich
ein bestimmtes Marktsegment
sichern. Dies waren auBere Zeichen
einer
N e u o r d n u n g des Zunfthandwerks in der Hauptstadt. E s gab zwar eine klare
Spezialisierung der H a n d w e r k e , diese A b g r e n z u n g war aber insofern hinfallig, als
daB j e d e r Handwerker einem anderen H a n d w e r k nachgehen konnte, w e n n er sich
davon hohere E i n n a h m e n versprach. So konnte z. B . der Schuster
dem
Gerberhandwerk nachgehen und umgekehrt, w a s in Westeuropa undenkbar
gewesen ware. D a s schadete im Endeffekt der allgemeinen Lage des H a n d w e r k s
und verschlechterte das qualitative Niveau, was seinen Niederschlag besonders im
18. und 19. Jahrhundert fand, als Waren auslandischer H a n d w e r k e r in qualitativer
Hinsicht absolute Prioritat auf d e m russischen Markt hatten.
Dieses P h a n o m e n laBt sich dadurch erklaren, daB die Verselbstandigung der
G e w e r b e g r u p p e n teilweise per ErlaB schon im 18. Jahrhundert verordnet w u r d e ,
ihre Spezialisierung sich aber erst nachtraglich um die Mitte des 19. Jahrhunderts
vollzog.
Was
in
Verselbstandigung
Westeuropa
verschiedener
Ursache
und
Wirkung
Gewerbegruppen
war,
erfolgte
d.
infolge
h.
die
ihrer
Spezialisierung, erfuhr in RuBland eine umgekehrte Reihenfolge. Hier erfolgte
zuerst die Verselbstandigung der Gewerbegruppen in den Zunften, in denen die
H a n d w e r k e r weiterhin, ihrer alten Tradition folgend, auch anderen H a n d w e r k e n
nachgingen, u n d dann ihre Spezialisierung.
2.11
Die Regierungskommissionen 1859-1865
V o r und nach d e m Beginn der „groBen Reformen" wandte der Gesetzgeber seine
Aufmerksamkeit wiederholt der Situation des H a n d w e r k s zu. Die Aktivitaten der
Regierung in dieser R i c h t u n g fielen mit der Abschaffung der Zunfte bzw.
Petersburg 1856; -"- tokarnogo cecha, St. Petersburg 1851; sowie in PGIA, f. 223, op. 1, d.
2328,1. 2-5: Obrjady russkogo i inostrannogo slesarnogo cecha; Obrjady russkogo i
inostranngo pozumentnogo cecha. Ebd., op. 1, d. 2334,1. 2-11; Obrjady russkogo i
inostranngo kuznecnogo cecha. Ebd., op. 1, d. 2332,1. 8-15; Obrjady russkogo i inostranngo
perepletnogo cecha. Ebd., op. 1, d. 2333,1. 8-14; Obrjady russkogo i inostranngo casovogo
cecha. Ebd., op. 1, d. 2340,1. 2-15.
Einfuhrung der Gewerbefreiheit
in Westeuropa zusammen. Die Ironie der
Geschichte w a r auch Zelnik aufgefallen:
„Ironically, the guild system had barely taken root in Russia w h e n its
Western counterpart began to be uprooted by the foras of economic and
industrial
freedom" .
208
Die Gewerbefreiheit im deutschsprachigen R a u m vollzog sich w i e folgt: 1859
wurde sie in Osterreich, 1860 in Nassau, 1861 in Sachsen, 1862 in Wurttemberg
und B a d e n eingefuhrt. AuBerdem erschien 1858 in Bremen das B u c h v o n Victor
B o h m e r t uber die Gewerbefreiheit, das einen bedeutenden EinfluB auf die
Ansichten eines Teils der russischen Regierung a u s u b t e .
1857 wurde die Moskauer Abteilung des Manufakturrates unter Vorsitz des Grafen
I g n a t ' e v beauftragt, eine Gliederung der Industriebetriebe zu erarbeiten. M a n
wollte aus fiskalischen Griinden H a n d w e r k s - u n d GroBindustriebetriebe
voneinander trennen. 1859 wurde eine Regierungskommission zusammengerufen,
die eine Bestandsaufhahme sowohl des H a n d w e r k s als auch der Auswirkungen der
russischen Gewerbegesetzgebung durchfuhren s o l l t e . Die K o m m i s s i o n stand
unter dem Vorsitz des Ratsmitgliedes beim Innenminister Adolf Baron von
Stackelberg. U n t e r den Mitgliedern war auch der Sekretar der St. Petersburger
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g S. I. Gracinskij. 1860 sammelte Stackelberg die
notwendigen Materialien uber die Gewerbegesetzgebung in RuBland und im
Ausland. Die K o m m i s s i o n stellte fest, daB sowohl die M o s k a u e r Abteilung des
Manufakturrates als auch das Innenministerium in St. Petersburg zu dem SchluB
g e k o m m e n waren, daB die Zunfte vollig abgeschafft werden sollten. Die
A r g u m e n t e dafur waren:
209
210
1.
Die Zunftordnung setzt der Entfaltung der Industrie und des Handwerks
Grenzen,
2.
sie mindert den Wohlstand des groBten Teils der kleineren Produzenten,
3.
sie laBt die Moral im Stand der Handwerker sinken u n d
4.
sie entspricht nicht dem Entwicklungsgrad der Wirtschaft und der Natur des
russischen Volkes.
Charakteristisch fur die Arbeit der Stackelbergschen Kommission war, daB sie im
Geiste der russischen Gewerbegesetzgebung handelte, indem sie, wie schon vor ihr
Peter I. und Katharina II., ihre Aufmerksamkeit zuerst auf Westeuropa richtete und
dort Erfahrungen sammelte, wozu Stackelberg Deutschland bereist hatte. Ohne
208
Zelnik, Labor, S. 122.
209
Ebd. S. 119-159 und besonders S. 120-125.
210
Zur Bewertung der Arbeit der Kommission von Stackelberg s. auch: Puttkamer,
Fabrikgesetzgebung, S. 113-118.
Zweifel hatte das Gesetz iiber die Gewerbefreiheit v o m 15. Oktober 1861 im
Deutschen Reich u n d die Abschaffung der Zunftverfassung mit I n n u n g s z w a n g ,
L e h r z w a n g etc. z u m 1. Januar 1862 im Konigreich Sachsen eine enorme
A u s w i r k u n g auf die strikt negative Stellungnahme von Stackelberg zur
Zunftordnung in RuBland und sein Verlangen nach ihrer sofortigen Abschaffung
sowie seiner Forderung nach einer Neuorganisation des H a n d w e r k s durch die
Innungen, wie es in Deutschland der Fall w a r .
Die K o m m i s s i o n v o n Stackelberg unterstrich, daB selbst die Zunftobrigkeit bzw.
die Zunftverwaltung in den Zunften lediglich ein fiskalisches Instrument sah. Die
K o m m i s s i o n sah die einzig mogliche L o s u n g des Problems in der Beseitigung des
M o n o p o l s u n d des Zwangscharakters der Zunfte, die ihren A u s d r u c k in der
Abschaffung des Zunftsystems finden s o l l t e . N a c h der Auflosung des
Zunftsystems sollte die G r u n d u n g von Berufsverbanden oder Gesellschaften der
Arbeiter initiiert werden. Als Argument dafur w u r d e auf die Artels hingewiesen,
die in RuBland seit Alters her b e s t i i n d e n . Die Kommissionsmitglieder wollten
einen gesonderten „Stand" der Industriellen schaffen, da bisher nur die oben
aufgezahlten Standesmitglieder dem Handwerk nachgehen konnten, wodurch die
industrielle Entwicklung gebremst wurde.
211
212
213
1862 veroffentlichte die Kommission einen Entwurf des Industriestatutes, das fur
alle Gewerbetreibenden, seien es Handwerker oder GroBindustrielle, gelten sollte.
Betrachten wir einige wesentliche Vorschlage der K o m m i s s i o n , die den
Standpunkt ihrer Mitglieder am deutlichsten charakterisieren: Start der Zunfte
sollten allmahlich die Artels an ihre Stelle treten, die nach dem einstimmigen
BeschluB der Meister einer Zunft gegrundet werden sollten. N a c h der Bestatigung
des Beschlusses durch die Zunftaltesten und das Handwerksoberhaupt ware das
Artel zustandegekommen. D a s Artel sollte aus den wirklichen Artelmitgliedern
und den Neulingen (novik) bestehen und der Stadtduma u n t e r s t e h e n .
Fiir die F o r d e r u n g des Gewerbes sollte ein Wirtschaftsrat (promyslennyj
sovet)
zustandig sein, der Beratungsfunktionen in Fragen der Verbesserung der Industrie
haben s o l l t e . AuBerdem sollte ein Komitee beim Departement fur Manufakturen
und Binnenhandel gegrundet werden, das aus Gewerbetreibenden, zwei
Professoren fur C h e m i e und M e c h a n i k und einem Mechaniker bzw. Ingenieur
214
215
211
Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 362; K.H. Kaufhold, Das Handwerk zwischen
Anpassung und Verdrangung, in: H. Pohl (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Probleme der
Hochindustrialisierung (1879-1914). Paderborn 1979, S. 103-141.
2 , 2
Trudy komissii, Cast' 1, S. 137ff., 149.
213
Ebd., S. 148.
214
Novik ist derjenige, der sich aus der Leibeigenschaft noch nicht losgekauft hat, in: Trudy
komissii, cast' 1, S. 20, 179, 186.
2 , 5
Trudy komissii, cast' 1, S. 490.
bestehen und das Handwerk und Gewerbe allgemein erforschen und die Kenntnisse
uber sie auf den neuesten Stand bringen s o l l t e .
Im § 1 des Projektes w u r d e die selbstandige gewerbliche Tatigkeit aller russischen
Untertanen und von Auslandern j e d e n Standes und beiderlei Geschlechts in alien
Orten des Reiches erlaubt. D e s weiteren w u r d e fur die Griindung eines
Gewerbebetriebes eine Bescheinigung uber die Entrichtung aller Steuern v o n der
jeweiligen Stadtverwaltung b e n o t i g t . Das exekutive O r g a n fur die
Gewerbebetriebe war die Stadtduma, das Finanz- und Innenministerium galten als
hochste I n s t a n z e n . Laut § 31 sollten in Zukunft die Bezeichnungen „Meister",
„Geselle" und „Lehrling" durch „Inhaber", „Angestellte" u n d „Arbeiter" ersetzt
w e r d e n . Diese Unterteilung ist spater in alien Statistiken uber die
gewerbetreibende Bevolkerung der Stadt zu finden.
Die liberale Presse und die technische Intelligenz begruBten den Entwurf, der
allerdings in der Regierung keinen Widerhall fand. Die Vorschlage der
K o m m i s s i o n waren ihrer Zeit weit voraus und sollten durch die Neuorganisation
der Industrie und der Arbeiterschaft eine gewisse A b s c h w a c h u n g der Spannungen
in den sozialen Konfliktzonen und eine Schlichtung besonders scharfer Gegensatze
zustande bringen.
G e n a u in diesem Sinne verstanden die Zunfte St. Petersburgs ihre Rolle als
vermittelndes Glied zwischen den zwei „antagonistischen" Klassen der damaligen
Industrie: Fabrikarbeitern und Kapitalisten . D a s ist unter anderem darin zu
ersehen, daB die Zunfte eine abweisende Haltung gegentiber der organisatorischen
Vermischung v o n GroBindustrie und kleinerem Gewerbe bzw. gegen die Kontrolle
des H a n d w e r k s durch die Fabrikinspektion e i n n a h m e n . Mit anderen Worten, sie
betonten die Andersartigkeit des H a n d w e r k s und die daraus folgende
Notwendigkeit einer eigenen unabhangigen Organisation.
Im Gegensatz zu den Vorschlagen der K o m m i s s i o n von Stackelberg, das
H a n d w e r k zu reorganisieren, bestatigte das Gesetz v o m 20. M a r z 1862 den
standischen Charakter der Handwerksverwaltung und lieB die Teilung des
Handwerksstandes in standige und zeitweilige Handwerker weiter bestehen, ohne
216
217
218
219
220
221
2 . 6
Ebd., S. 181,183.
2 . 7
Ebd., S. 487.
218
Ebd., S. 489.
219
Ebd., S.495.
220
Vgl. Kaufhold, Handwerk, S. 132f.
221
Die Fabrikinspektion wurde 1882 eingefuhrt, um die Befolgung der Gewerbegesetzgebung
seitens der Fabrikbesitzern zu kontrollieren.
222
letzteren das Wahlrecht zu erteilen . Die Regierung beschrankte sich a u f die
Herausgabe einer Zeitschrift, die w e n i g R e s o n a n z in der Handwerkerschaft fand.
In der Zeitschrift, die „Der russische H a n d w e r k e r " hieB und v o n der Regierung
zwischen 1862-1864 herausgegebenen und finanziert wurde, sollten die Probleme
der Neuorganisation des H a n d w e r k s diskutiert werden.
Ein spezifisches Merkmal dieser Zeit, zu dessen Herausbildung auch die
Stackelbergsche K o m m i s s i o n beitrug, war, daB die Einstellung zu den Zunften in
Regierungskreisen m e h r und mehr negative Ztige einnahm. Eine Folge war die
Abschaffting des obligatorischen Eintritts in die Zunfte mit d e m Gesetz v o m 4. Juli
1866 in den Stadten des St. Petersburger Gouvernements und in den
Ostseepro v i n z e n .
223
2.12
Die Regierungspolitik von 1870 bis 1914
Die nachhaltige Wirkung der Arbeitsergebnisse der Stackelbergschen Kommission
ist im BeschluB des Reichsrates bezuglich des n e u e n Stadtstatutes von 1870 zu
sehen, in dem dieser seine M e i n u n g uber die Reorganisation des Zunftwesens mit
den Ergebnissen der Stackelbergschen K o m m i s s i o n begrundete und d e m
Innenministerium vorschlug, den Stand der Zunfthandwerker a u f z u l o s e n . Die
Ausfuhrung dieses Vorschlages zog sich hin, denn im Innenministerium w u r d e
sehr wohl verstanden, daB das Problem zu k o m p l e x war, u m es mit einem Schlag
bzw. mit der Auflosung der Zunfte zu losen. Die Uberlegungen waren nicht nur
fiskalischer Natur, sondern betrafen auch Fragen uber die Ausbildung im
H a n d w e r k und uber die elementare Kontrolle, die die Handwerksverwaltungen gut
oder schlecht ausfuhrten. AuBerdem mussen immer die E n t w i c k l u n g e n in
D e u t s c h l a n d im A u g e behalten werden, weil sie eine erhebliche Rolle in der
Orientierung der russischen Regierung in Fragen der Gewerbepolitik spielen. E s
ist bemerkenswert, daB gerade zu dieser Zeit, als die russische Regierung
versuchte, die liberalen Gesetze der 60er Jahre in Einklang mit der Realitat zu
bringen, w a s allzuoft als „restriktiv" interpretiert wurde, in Deutschland eine
innenpolitische W e n d e stattfand. A b 1881 w u r d e in der Gewerbepolitik des
224
222
G. S. VoPtke, О proekte remeslennogo ustava, in: Trudy vtorogo vserossijskogo s-ezda po
remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge. St. Petersburg 1911, S. 6.
223
Vortke, О proekte, S. 6; Die Zunfte wurden nicht generell abgeschafft (unictozenie
cechovogo remesla, proizvedennoe po rekomendacii komissii Stackelberga zakonom 4 ijulja
1866 goda), wie Pazitnov meinte, in: Pazitnov, Problema, S. 189.
Vol'tke, О proekte, S. 7.
Reiches begonnen, „die ,hyperliberalen G e s e t z e ' zugunsten des H a n d w e r k s "
umzuformen .
Wenigstens sollte eine Fabrikinspektion geschaffen werden, was auch 1882 der
Fall war, die schon mit der Uberprufung der ihr unterstehenden groBeren
Industriebetriebe vollig uberfordert war. Langfristig gesehen konnte die
Unterstellung der Werkstatten unter die Fabrikinspektion positive Wirkungen
haben, in Anbetracht der groBen Masse von Handwerksbetrieben aber war sie in
der naheren Zukunft nicht realisierbar. AuBerdem benotigten die Handwerker
eigene Organisationsformen, die von der GroBindustrie getrennt existieren sollten.
Eine KompromiBlosung wurde teilweise damit erreicht, daB die Fabrikinspektion
die „gr6Beren Werkstatten" (znaditel 'nye remeslennye zavedenija) ihrer Aufsicht
unterstellen durfte. Diese Methode der lokalen gesetzlichen Eingriffe im Bereich
der kleinindustriellen Betriebe wendete die Regierung auch in der Zukunft an. So
schlug der Reichsrat d e m Finanzministerium vor, das Gesetz v o m 3. Juni 1886
uber die Kinderarbeit auf Druckereien und andere polygraphische Betriebe wie
auch auf Werkstatten mit mehr als 16 Arbeitnehmern a u s z u d e h n e n .
Die O l ' c h i n - K o m m i s s i o n schlug 1894 Plane vor, die dem Projekt v o n 1862 ahnlich
waren und die Abschaffung der Teilung von Industrie- und Handwerksbetrieben
vorsah. In diesem Z u s a m m e n h a n g sollten auch die Zunfte abgeschafft werden.
Dieses Projekt w u r d e allerdings wie auch das vorherige nicht realisiert .
Es sind zwei Interessengruppen zu nennen, die fur die Verzogerung der Reform des
H a n d w e r k s verantwortlich waren. So verteidigten die standigen Zunfthandwerker
in ihren Vertretungsorganen vehement ihre Interessen. Sie wollten keine Reformen
und versuchten, ihre Privilegien zu behalten, obwohl an dieser Stelle gesagt
werden muB, daB mit Beginn der Industrialisierung die Handwerkerschaft tief
gespalten w u r d e und ein groBerer Teil fur die Reform der Zunfte nach dem
deutschen Muster in Richtung der Innungsform eintrat, w o r a u f unten noch
eingegangen wird. A b e r auch der konservative Flugel der Regierung und die
Vertreter des Hofes standen einer Reform des H a n d w e r k s ablehnend gegenuber.
D a s waren der Leiter der dritten Abteilung des Innenministeriums, Furst V. A.
Dolgorukov, und seit 1866 sein Amtsnachfolger, Graf I. A. Suvalov, der
Justizminister Graf V. N . Panin, der Hofminister Graf V. F. Adlerberg und der
Cousin des Zaren, der GroBfurst P. G. O l d e n b u r g .
In Anbetracht der entstehenden Schwierigkeiten bei der L o s u n g dieser Frage im
R a h m e n der Gesetzgebung schlug die Regierung einen anderen W e g ein: Nach und
nach schaffte
das Innenministerium auf dem Verwaltungsweg
die
225
226
227
228
Kaufhold, Handwerk, S. 133.
Vol'tke, О proekte, S. 8.
Ebd.; Pazitnov, Problema, S. 170f.
EroSkin, Istorija, S. 183.
Zunftverwaltungen ab, indem das Finanzministerium die Handwerksbetriebe der
Fabrikinspektion zu unterstellen versuchte. 1886 wurden die Zunftverwaltungen
in der R e g i o n Siid-West-RuBland mit A u s n a h m e von vier Stadten, in denen eine
vereinfachte Handwerksverwaltung eingefuhrt worden war, abgeschafft. 1891
w u r d e die gleiche MaBnahme in den Vilensker, K o v e n s k e r und Grodnensker
G o u v e r n e m e n t s durchgefuhrt, wobei eine vereinfachte Handwerksverwaltung in
den drei Gouvernementshauptstadten beibehalten wurde. In den 90er Jahren des
19. Jahrhunderts erfolgte die Abschaffung der Zunftverwaltungen in verschiedenen
Stadten und Ortschaften RuBlands, so daB zu Anfang des 20. Jahrhunderts
schlieBlich nur n o c h 136 Zunftverwaltungen existierten. Die letzte groBe Aktion
zur Abschaffung der Zunftverwaltungen erfolgte 1902/1903, nach der sie nur noch
in 28 Stadten erhalten blieben, wobei die Zunftverwaltungen (polnoe
remeslennoe
upravlenie)
in 22 Stadten, die vereinfachten Handwerksverwaltungen in vier
Stadten sowie in Odessa und Tiflis gesonderte Handwerksverwaltungen erhalten
blieben .
229
Als Gegenreaktion auf die MaBnahmen der Regierung reichten H a n d w e r k e r aus
Nikolaev, T a m b o v , Jaroslavl , Rybinsk, Kiev, Sevastopol und anderen Stadten
RuBlands Petitonen ein, mit der Bitte, die Zunftverwaltungen wieder zu errichten.
D a s neu geschaffene Ministerium fur Wirtschaft und Handel stellte sie nach der
Revolution 1905/06 teilweise wieder h e r . So blieb der Stand der standigen
Zunfthandwerker u n d ihre Zunftverwaltung eingeschrankt bis 1917 b e s t e h e n .
4
4
230
231
2.13
Zusammenfassung
Im Kapitel iiber die Gewerbegesetzgebung v o m 18. bis z u m Anfang des 20.
Jahrhunderts w a r zu klaren, w a s das H a n d w e r k in RuBland vor und n a c h der
Einfuhrung der Zunfte und daran anschlieBend, w a s das W e s e n der russischen
Ziinfte selbst im Sonderfall St. Petersburgs im Unterschied zu den Zunften in
Westeuropa war.
E s wurde festgestellt, daB sich die Gewerbepolitik Peters I. zwei zeitlichen
Perioden zuordnen laBt. Die erste Periode dauerte v o n 1699 bis z u m E n d e der
171 Oer Jahren, als noch in alter Tradition und im herkommlichen Gesetzesrahmen
gehandelt w u r d e , indem ad hoc verschiedene Gesetze zur R e g e l u n g des stadtischen
H a n d w e r k s herausgebracht wurden. N a c h der zweiten Auslandsreise Peters I.
229
4
S. V. Borodaevskij, Remeslennaja promySlennost na Zapade i v Rossii, in: Trudy vtorogo
vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge. St. Petersburg 1911.
230
231
Pazitnov, Problema, S. 170f.
Uber die Selbstverwaltung zur spateren Zeit s.: H. Gross, Selbstverwaltung und Staatskrise
in RuBland 1914-1917. Macht und Ohnmacht von Adel und Bourgeoisie am Vorabend der
Februarrevolution. Wiesbaden 1981.
1716-1717 und besonders im AnschluB an den GroBen Nordischen Krieg 1721
w u r d e das Zunftwesen in St. Petersburg auf einer prinzipiell neuen
Kodifikationsbasis in A n l e h n u n g an bzw. Entlehnung der westeuropaischen
Zunftverfassung aufgebaut. Die weiteren petrinischen Erlasse modifizierten den
ErlaB uber die Zunfte von 27. April 1722 und paBten ihn den russischen
Verhaltnissen an.
Die Zeitperiode zwischen den petrinischen Reformen und 1785 zeichnete sich
durch eine Passivitat des Gesetzgebers in der Einrichtung von regelmaBigen
Zunften in St. Petersburg aus, die an den augenblicklichen Bedtirfhissen der
Regierung, z. B . im Siebenjahrigen K r i e g oder beim B a u des Winterpalastes,
ausgerichtet worden war. Mit der Regierungszeit Katharinas II. fing eine neue
Periode in der Geschichte des H a n d w e r k s an, als seine Lage in der Arbeit der
Gesetzgeberischen K o m m i s s i o n erortert und 1785 das n e u e Handwerksstatut
eingefuhrt wurde, das die Institute des Handwerksoberhaupts und des
Handwerkerstandes als solche schuf.
Peter I. fuhrte im Unterschied zu Westeuropa ein stark modifiziertes Zunftsystem
ein, in d e m von Anfang an kein universelles Zunftmonopol im westeuropaischen
Sinne bestand. Erstens gait fur die Adels-, Staats-, Kloster- bzw. Metropolitbauern,
daB sie dem H a n d w e r k nachgehen durften, w e n n sie fur ihren eigenen Bedarf
produzierten oder Staatsauftrage ausfiihrten. Zweitens kann der Zunftzwang durch
die Einfuhrung des Instituts der zeitweiligen Handwerker nur als bedingt
verstanden werden. Es ist so, daB die petrinischen Erlasse einen Mittelweg gehen
wollten, indem sie einerseits das freie Handwerk in der Hauptstadt verboten,
andererseits aber auch kein generelles, sondern ein beschranktes Zunftmonopol
einfuhrten.
Die Beweggriinde zur Einfuhrung der Zunfte waren die H e b u n g des technischen,
quantitativen und qualitativen Niveaus des H a n d w e r k s in RuBland und gerade in
St. Petersburg, w o ein militarisch-industrieller K o m p l e x entstand, der nach
fachgemaB ausgebildeten Arbeitskraften verlangte. Wie aus d e m ersten ErlaB iiber
die Einfuhrung der Zunfte zu ersehen ist, beabsichtigte Peter I. nicht, die
westeuropaischen Zunfte bedenkenlos nachzuahmen, sondern uberlieB ihnen
zunachst die Moglichkeit, sich zu entwickeln, indem sie mit den zeitweiligen
Handwerkern den standigen N a c h s c h u b fur ihre mogliche VergroBerung bekamen.
Peter I. schuf den gesetzlichen R a h m e n fur die Entwicklung des Zunfthandwerks.
Es lag j e d o c h nicht in seinem Vermogen, den W a c h s t u m s m e c h a n i s m u s b z w . die
benotigte Wachstumszeit beliebig zu beeinflussen bzw. zu beschleunigen. Schon
deswegen nicht, weil St. Petersburg selbst eine j u n g e Stadt mit einem noch nicht
entwickelten M a r k t war, abgesehen davon, daB St. Petersburg bis zu Beginn des
19. Jahrhunderts den groBten Teil des Jahres v o m inneren RuBland abgeschnitten
war und erst mit dem Eisenbahnbau seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen
effektiven AnschluB an den inneren Markt bekam. Die Hauptstadt war sehr
rohstoffabhangig, weil fast alles v o n auBen, sei es hochwertiges Metall aus
England oder halbverarbeitete Produkte vom Inland, hergebracht werden muBte.
Wie zu ersehen ist, mangelte es auch den Deputierten der Katharinaischen
Gesetzeskommission in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts nicht am Willen, in
den Hauptstadten ein wohleingerichtetes Zunfthandwerk zu schaffen. Die
Mitglieder der K o m m i s s i o n sowie die Regierung stellten aber eine falsche
Diagnose iiber die Ursachen der Unterentwicklung der Zunfthandwerke, w e n n sie
m e i n t e n , daB e s a l l e i n an d e r k o n s e q u e n t e n D u r c h s e t z u n g
der
Gewerbegesetzgebung und nicht an den wirtschaftlichen und sozialen
R a h m e n b e d i n g u n g e n l a g e . Sie standen aber wie Peter I. zu seiner Zeit vor dem
gleichen Problem: D i e Entwicklung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur
der Hauptstadt lieB zu wiinschen iibrig. W a s aber dieses Problem unlosbar machte,
waren vor allem die Privilegien anderer Bevolkerungsschichten g e g e n u b e r dem
H a n d w e r k und die Vormachtstellung des Staates und des Adels, der nicht
beabsichtigte, seine Sonderrechte zu opfern. Die russische Wirtschaft war zu sehr
mit der Leibeigenschaft gekoppelt, wodurch die Freisetzung des Humankapitals,
welches das Stadthandwerk so dringend benotigte, verhindert w u r d e .
D a g e g e n anderte sich die Lage des St. Petersburger Zunfthandwerks in den 20er
Jahren des 19. Jahrhunderts, als nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die stark
a n g e w a c h s e n e n Ziinfte vorhanden waren, die ihre Monopolanspriiche in die
Wirklichkeit umzusetzen versuchten und sie auch manchmal mit Erfolg
durchsetzten, wie es mit der Backerzunft in den 30er Jahren der Fall w a r . Die
relativ stabile L a g e des Zunfthandwerks konnte dann bis z u m Anfang der 1860er
Jahre aufrechterhalten werden, als die groBen Reformen mit der Industrialisierung
zusammenfielen. Ihre Folge war eine z u n e h m e n d e Destabilisierung des
H a n d w e r k s . AuBerdem schlug der Wille des russischen Gesetzgebers, wiederum
in starkem MaBe durch die Entwicklungen in Westeuropa beeinfluBt, in eine vollig
andere Richtung um, da sich in der russischen Regierung seit den Kommissionen
am E n d e der 50er Jahre und der Stackelbergschen K o m m i s s i o n eine negative
Einstellung z u m Zunfthandwerk b e h a u p t e t e . Dieser M e i n u n g s u m s c h w u n g
brachte die Regierung zwar nicht dazu, die Ziinfte in den Hauptstadten
abzuschaffen. Sie schmalerte aber zumindest deren Rechte, z. B . w a s die
Gerichtsbarkeit betraf. Die Regierung war unfahig, das gesetzgeberische
Instrumentarium einzusetzen, u m die Ziinfte zu reformieren, sondern fing seit den
1880er Jahren an, die Zunftverwaltungen zuerst in den westlichen Gouvernements
und dann in den zentralrussischen Kleinstadten abzuschaffen. Allerdings blieb die
Zunftverfassung als Institution bis 1917 bestehen.
232
233
234
N a c h der Revolution von 1905 und mit der Griindung des Ministeriums fur
Wirtschaft und Handel w u r d e dann die Abschaffung der Zunftverwaltungen
232
Vgl. N. D. Rydkov, О cechach v Rossii i Zapadnoj Evrope, in: Russkij vestnik, t. 47,
nomer 11 (oktjabr') 1863, S. 789-822, hier S. 812.
233
S. unten Kapitel 9.1.
verlangsamt oder sie wurden gar in manchen Stadten wiederhergestellt. Jetzt
konnte aber auch keine Rede mehr v o m Zunfthandwerk sein, wie es im 18.
Jahrhundert oder in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts existiert hatte. N a c h der
vollzogenen Industrialisierung von St. Petersburg und nach d e m gewaltigen
sozialen Wandel in der gesamten Arbeiterschaft wahrend der Revolution befanden
sich das Zunftwesen und das H a n d w e r k selbst in einem strukturellen Wandel, der
sie zu anderen Organisationsprinzipien, sei es im Arbeitsablauf,
der
Herstellungsweise des Produkts oder des H a n d w e r k s insgesamt hinfiihrte.
3.
Die Entwicklung des hauptstadtischen H a n d w e r k s im 18. J a h r h u n d e r t
3.1
D a s Zunfthandwerk
Die Handwerkerschaft von St. Petersburg entstand, genauso wie die Hauptstadt
selbst, nach dem Willen Peters I. Die Handwerker sollten schnellstens der
Regierung zur Verfugung stehen, u m sowohl stadtebauliche Aufgaben zu losen als
auch am Aufbau der A r m e e und der Marine mitzuwirken. E s gab zwei W e g e , die
Anzahl der fachmannischen Kraften in St. Petersburg zu steigern. Erstens wurden
mittels russischer Botschafter und Gesandter im Ausland die verschiedensten
Handwerker durch Erlasse angeworben. Der erste offizielle ErlaB, der auch den
Aufruf an auslandische Handwerker beinhaltete, nach RuBland zu k o m m e n ,
erschien am 16. April 1 7 0 2 . Hauptsachlich kamen deutsche u n d hollandische
Handwerker nach St. Petersburg, die besonders im Schiffsbau benotigt wurden. Sie
blieben meist in der neuen Hauptstadt oder gingen nach M o s k a u als zweitstarkster
Anziehungspunkt fur die A n k o m m l i n g e .
Interessant ist, daB es in St. Petersburg schon vor 1722 einige „deutsche" bzw.
auslandische Zunfte gab, die fur die westeuropaischen Handwerker eine vertraute
Organisationsform darstellten und fur ihre berufliche Integration Sorge trugen. So
bestanden in St. Petersburg z. B . schon 1712 die Schneider- und Friseurzunfte,
denen die M o s k a u e r auslandischen Meister b e i t r a t e n . Als die Zunfte 1722
gegriindet wurden, traten ihnen bis zum Jahre 1726 365 auslandische Handwerker
bei. Im Laufe des 18. Jahrhunderts sorgten weitere Erlasse fur einen standigen
Zulauf v o n auslandischen Handwerkern und „Manufakturisten" nach St.
P e t e r s b u r g . In diesem Z u s a m m e n h a n g entstanden hier ganz neue
Handwerksarten, die es vorher in RuBland nicht g e g e b e n hatte. In den 1720er
Jahren schrieben sich Schiffs-, Galeeren-, Lastkahn-, Ruder- und KompaBbauer
sowie andere H a n d w e r k e r in die Zunfte e i n . Die Zunfte, in denen nur
auslandische Handwerker vertreten waren, waren im Jahre 1724 die
241
242
243
244
241
PSZ RI 1, Bd. IV, Nr. 1910 (16.C4.1702): О vyzove inostrancev v Rossiju, s obeScaniem
im svobody veroispovedanija, S. 192-195.
242
RGADA, f. 158, 1707 g., d. 211, aus: V. A. Kovrigina, Die Deutschen im Moskauer
Handwerk in der zweiten Halfte des 17. und im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts
(Hamburger Beitrage zur Geschichte der Deutschen im europSischen Osten, 4 hrsg. v.
Norbert Angermann). Luneburg 1997, S. 39f.
243
PSZ RI 1, Bd. 5, Nr. 3017; 4378 (3.12.1723): Reglament Manufakturkollegii, S. 169; Bd.
13, Nr. 10129; Bd. 16, Nr. 12290; Bd.21,Nr. 15331.
244
Zaozerskaja, К voprosu, S. 72, 75.
Goldschmiedezunft mit 17, die Zunft der Friseure mit 15 und die der Posamentierer
mit sechs M i t g l i e d e r n .
Die auslandischen Handwerksmeister waren seit der Griindung der neuen
Hauptstadt im Jahre 1703 ein integraler und untrennbarer Bestandteil der St.
Petersburger H a n d w e r k e r s c h a f t . Ein Teil v o n ihnen arbeitete in staatlichen
Betrieben; der Staat war anfangs der groBte Arbeitgeber fur die Auslander, bot
ihnen rechtlichen Schutz und stellte ihnen, w e n n notig, auch Arbeitskrafte zur
Verfugung. Ein anderer, groBerer Teil der Meister trat in die russischen oder in die
deutschen Zunfte ein.
U m die Geschichte der russischen Zunfte zu erlautern, miissen wir wieder z u m
Jahre 1722 zuriickkehren. N a c h der Griindung der Zunfte wurden in St. Petersburg
19 russische Zunfte registriert, in denen es anfanglich 535 H a n d w e r k e r g a b (439
Meister, 18 Gesellen und 78 L e h r l i n g e ) . In nur zwei Jahren verdreifachte sich
die Anzahl der H a n d w e r k e r in den russischen Zunften und stieg im Jahre 1724 auf
1.566 an. In den 1720er Jahren waren es ihrem Stand nach zumeist B a u e r n . Die
groBte Anzahl der russischen Zunfthandwerker stammte aus d e m Jaroslavlsker
Gouvernement. E s folgten in absteigender Reihenfolge die H a n d w e r k e r aus
M o s k a u und d e m M o s k a u e r Bezirk, Galid, Kostroma, R o m a n o v , P o s e c h o n ' e ,
Kasin, Rostov, N o v g o r o d , OstaSkov, Vologda und anderen Stadten und Bezirken.
Die H a n d w e r k e r aus den verschiedenen geographischen Regionen spezialisierten
sich in der Regel in bestimmten Handwerksbereichen. So waren die A n k o m m l i n g e
aus Ostaskov Mitglieder der Fischerzunft. Die Schuhmacher stammten aus Kimry
und Kasm. In den nahrungsmittelherstellenden Handwerken waren die Handwerker
aus Galie, K o s t r o m a , R o m a n o v und dem P o s e c h o n ' e - G e b i e t in der N a h e von
M o s k a u vertreten. Die meisten Piroggenbacker stammten aus J a r o s l a v l ' . In
M o s k a u , das fur die damalige Zeit das groBte Gewerbezentrum RuBlands war,
waren die Zunfte infolge schon vorhandener H a n d w e r k e r noch zahlreicher. Hier
wurden im Jahre 1726 in 150 Zunften 6.885 H a n d w e r k e r registriert .
Die Z u s a m m e n s t e l l u n g allgemeiner Statistiken tiber die H a n d w e r k e r wird durch
ihre uneinheitliche Erfassungsmethode im 18. Jahrhundert wesentlich erschwert.
Trotzdem lassen sich mit Hilfe der nachfolgenden Tabelle Aussagen zu diversen
Handwerksbranchen machen (siehe Tab. 3).
245
246
247
248
249
250
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 101.
Vgl. Kovrigina, Deutschen, S. 42.
Pazitnov, Problema, S. 48.
Zaozerskaja, К voprosu, S. 72, 75.
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. lOOf.
Kovrigina, Deutschen, S. 40ff.
Die wichtigsten Branchen waren die Nahrungsmittel- und Bekleidungsherstellung
sowie die Metallverarbeitung. Dort wurden im Jahre 1724 j e w e i l s 616, 398 und
283 Beschaftigte registriert. Dementsprechend waren in den beiden ersten
Branchen auch die meisten Zunfte anzutreffen. D e n ersten Platz n a h m unter ihnen
die Piroggenbackerzunft mit 339 Mitgliedern ein. D e n Piroggenbackern folgten in
der gleichen Branche die K a l a c b a c k e r (160), Backer (68) und Kvasbrauer (49).
251
Tabelle 3 :
Ausgewahlte Handwerksbranchen unter den deutschen und russischen
Zunfthandwerkern in den Jahren 1724. 1766 und 1790
1724
1766
Gesamt
Meister
Lebensmittelherstellung
616
82
180
328
Bekleidungsherstellung
404
388
1104
2805
Metallverarbeitung
283
250
523
870
Holzverarbeitung
58
90
239
739
Bauhandwerke
23
2
681
877
Transportmittel
-
46
129
378
Geratschaftenherstellung
-
2
34
34
Branche/Jahr -
1
1790
Meister
Gesamt
Quelle: Pazitnov, Problema, S. 48; PGIA, f. 221, op. 1, d. 80; I. G. Georgi, Opisanie stolicnogo
Sankt-Peterburga, Teil 1. St. Petersburg 1794, S. 236-253.
D e n zweiten Platz nach den Piroggenbackern n a h m die Zunft der Schneider mit
245 Mitgliedern ein, ihr folgte die Schuhmacherzunft mit 153 Mitgliedern. D e n
dritten Platz n a h m die Zunft der Kupferschmiede mit 161 Beschaftigten ein. In ihr
wurden meist Kupfergeschirr und Haushaltserzeugnisse ebenfalls aus Kupfer
produziert. E s g a b auch eine Zunft der Fischer, die wenig mit H a n d w e r k im
engeren Sinne zu tun hatte. W e n n wir die 127 Fischer abziehen, bleiben im Jahre
1724 1.439 Zunfthandwerker tibrig.
Infolge der Auflosung der russischen Backerzunfte verminderte sich die
Gesamtzahl der Beschaftigten in den nahrungsmittelherstellenden Zunften
betrachtlich. W e n n im Jahre 1724 die Gesamtzahl der Handwerker in der
Nahrungsmittelherstellung 616 betrug, so verminderte sie sich bis 1790 um fast die
Halfte auf 328 Handwerker. In Anbetracht der besonderen Abhangigkeit der
unteren Bevolkerungsschichten von billigen Lebensmitteln achtete die
G o u v e m e m e n t s v e r w a l t u n g w e n i g darauf, daB es in der Stadt eine Vielzahl
nichtzunftiger H a n d w e r k e r gab, und z w a n g sie nicht unbedingt, den Zunften
beizutreten, u m ihr bescheidenes H a n d w e r k nicht noch mehr zu gefahrden. Dafur
vergroBerte sich die Gesamtanzahl der Handwerker in der Bekleidungsherstellung
von 404 a u f 2 . 8 0 5 u m das siebenfache. Die Anzahl der Meister stieg ebenfalls v o n
388 im Jahre 1766 auf 1.104 im Jahre 1790 oder u m 2 8 5 % an. In der
Metallverarbeitung verdoppelte sich die Meisteranzahl zwischen 1766 und 1790
von 2 5 0 auf 523 Meister. D u r c h die rasche Verztinftigung der B a u h a n d w e r k e ,
hauptsachlich waren es Z i m m e r l e u t e , konnte sich die Anzahl der ihr
angehorenden Meister faktisch v o n Null (zwei Meister) im Jahr 1766 auf 681 im
Jahr 1790 vergroBern. Die H a n d w e r k e der holzverarbeitenden Branche profitierten
ebenfalls von der betrachtlichen Bauaktivitat in der zweiten Halfte des 18.
Jahrhunderts, als sich St. Petersburg rasch aus einer Garnison- und Beamtenstadt
zu einer zivilen Stadt entwickelte. In der transportmittelherstellenden Branche sind
nur die Wagenbauer aufgefuhrt. Hier stieg die Meisteranzahl von 46 im Jahr 1766
auf 129 im Jahr 1790.
252
Es sind zwei T e n d e n z e n festzustellen: einerseits verminderte sich der
Gesamtumfang des Zunfthandwerks im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts, da
die Zunfte w e n i g Z u l a u f hatten, wesentlich, andererseits vergroBerte sich die
Anzahl der Zunfte erheblich, w a s eine wichtige organisatorische Basis fur die
spatere Entfaltung des Zunfthandwerks in der Hauptstadt darstellte.
Wie sich die einzelnen H a n d w e r k e entwickelt haben, ist aus den Statistiken fur die
Jahre 1724, 1766 und 1790 zu e r s e h e n . Im Jahre 1724 gab es russische Brot(68), Piroggen- (339) und Kalacbackerztinfte (160) mit insgesamt 567
Handwerkern, die auf Russisch „chlebnyj, piroznyj" und „kala£nyj cechi" hieBen.
Die deutschen Meister hatten spater ebenfalls eine Backerzunft, die allerdings den
N a m e n „bulocnyj c e c h " trug. Trotzdem werden die Meister beider Zunfte, der
„chlebnyj" und „bulocnyj", auf Deutsch als Backermeister und ihre Zunfte
dementsprechend als Backerzunfte bezeichnet, obwohl in ihrem Sortiment
wesentliche Unterschiede vorhanden waren. Die beiden B e z e i c h n u n g e n sind
Synonyme u n d dienen nur als Hinweis auf die Spezifik beider Zunfte. Die drei
russischen Zunfte sind im Jahre 1766 nicht mehr zu finden. E s sind in den
Statistiken an ihrer Stelle die deutschen WeiB- und Roggenbrotbacker- (30
Meister) und Lebkuchenbackerzunfte (ein Meister) aufgefuhrt. In der nachsten Zeit
vollzogen sich wieder einige Umschichtungen, in deren Folge im Jahre 1790
jeweils zwei deutsche und zwei russische Zunfte angezeigt wurden. In den
deutschen und russischen Backerztinften gab es j e w e i l s 77 und neun Meister. In
253
Vgl. Georgi, Opisanie, S. 236-253.
S. 2, 3 und 4 im Tabellenanhang.
der deutschen Konditorenzunft waren elf Meister und in der russischen
Konfektmacher- und Lebkuchenbackerzunft 13 Meister aufgefuhrt.
Die Verteilung der Meister in den oben aufgefuhrten H a n d w e r k e n fiel in den
deutschen und russischen Zunften unterschiedlich aus. So behielten die
auslandischen Meister weiterhin ihre Prioritat in den Schneider-, Backer-, Goldu n d Silberschmiedezunften. D a g e g e n verloren sie ihre Vormachtstellung in den
Schmiede- und Schreinerzunften. Solche speziellen H a n d w e r k e , die ausschlieBlich
in den deutschen Zunften vertreten waren, waren im Jahre 1766 die der
Degenschmiede (sieben Meister), Kupfervergolder (21 Meister), W a n d - und
Taschenuhrmacher (funfMeister), Instrumentenbauer (drei Meister), Stuckarbeiter
und Formmeister (zwei Meister), Goldsticker (neun Meister), Buchbinder (17
Meister), Schlosser (26 Meister), Kaminfeger (sechs Meister), Stuhlmacher (acht
Meister) und a n d e r e . Im Jahre 1799 kamen Konditoren (elf Meister),
Knopfmacher (15 Meister), Sattler (59 Meister), Schlusselschmiede (sieben
Meister) und Nadler (vier Meister) h i n z u .
254
255
Tabelle 4 :
Anzahl der Meister in den russischen und deutschen Zunften in
ausgewahlten H a n d w e r k e n von St. Petersburg 1766 und 1790
Jahr
1766
1790
auslandische
Meister
russische
Meister
%
ge­
samt
auslan­
dische
Meister
russische
Meister
%
gesamt
Schneider
145
32
82:18
176
210
178
54:46
388
Backer
31
-
100:0
31
88
22
80:20
110
Schuh­
macher
65
128
34:66
194
54
255
24:76
309
Schmiede
40
23
63:37
63
60
88
41:59
148
Gold- u.
Silber­
schmiede
76
18
81:19
94
110
44
71:29
154
Schreiner
71
4
95:5
75
90
124
42:58
214
Gewerbeart
Quelle: PGIA, f. 221, op. 1, d. 80; Georgi, Opisanie, S. 236-253.
Vgl. PGIA, f. 221, op. l,d. 80.
Vgl. Georgi, Opisanie, S. 236-253.
AusschlieBlich russische Ziinfte, die keine entsprechenden deutschen Ziinfte
hatten, gab es im Jahre 1766 nicht. 1790 gab es bereits eine Vielzahl rein
russischer Ziinfte wie Konfektmacher- und Lebkuchenbacker (13 Meister),
D a m e n s c h u h m a c h e r (139 Meister), Pelzmantelschneider (24 Meister),
Matratzenmacher (drei Meister), Farber (sechs M e i s t e r ) . D e s weiteren waren die
Maurer (ftinf Meister), Zimmerleute (577 Meister), Seilmacher (32 Meister),
Blechner (22 Meister), Topfer (56 Meister) u n d andere H a n d w e r k e r ausschlieBlich
in den russischen Zunften Mitglieder.
Die parallelen Zunfte waren im Jahre 1790 solche wie z. B . die der Schneider (178
Meister in den russischen und 2 1 0 in deutschen Zunften), Schuhmacher (jeweils
255 und 54 Meister), Miitzenmacher (je 39 und 21 Meister), Posamentierer (je 75
und neun Meister), Glaser (je 85 und 14 Meister), Schreiner (je 124 und 90
Meister), W a g e n b a u e r (je 86 und 43 Meister), Schmiede (je 88 u n d 60 Meister),
Kupferschmiede (je 38 und zehn Meister), Gold- und Silberschmiede (je 4 4 und
100 Meister) und andere.
108Um die D y n a m i k des Entwicklungsprozesses zu klaren, werden wir die
russischen und die deutschen Zunfte vergleichen miissen. Die deutschen Zunfte
entfalteten sich anfangs d a n k ihrer Privilegien und Steuerbegiinstigungen und
hatten mit 770 Meistern in 53 Zunften gegeniiber 3 8 8 russischen Meistern in 36
Zunften oder im prozentualen Verhaltnis 6 6 , 5 % zu 3 3 , 5 % im Jahre 1766 das
Ubergewicht. Die Anzahl der russischen Zunfte blieb in 4 4 Jahren mit 19 gleich.
Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts schafften dann die russischen
Zunfthandwerker den Durchbruch und uberholten zahlenmaflig die auslandischen
Meister u m ein Vielfaches. Ungeachtet der deutlich angestiegenen Anzahl
auslandischer Zunfthandwerker bis zum Jahre 1789/90 mit 1.104 Meistern sowie
373 Gesellen und Lehrlingen oder insgesamt 1.477 Handwerkern, die in 55
H a n d w e r k s a r t e n tatig w a r e n , konnten sie den Abstand zu den rund 6.000
russischen H a n d w e r k e r n nicht a u s g l e i c h e n . So bestand
1790 ein
Zahlenverhaltnis von etwa 8 0 % russischen Handwerkern zu 2 0 % auslandischen.
Wie sich dieses Verhaltnis zwischen auslandischen und russischen Meistern in den
einzelnen Zunften anderte, ist in der oben aufgefuhrten Tabelle vier zu ersehen.
256
257
258
236
Im Gegensatz zu 1766, als nur zwei Farber in den deutschen Zunften tatig waren; eventuell
bekamen sie die russische Staatsangehflrigkeit und traten in die russischen Zunfte liber.
257
Johann Gottfried Georgi, Opisanie rossijsko-imperatorskogo stolicnogo goroda SanktPeterburga i dostopamjatnostej v okrestnostjach onogo 1794-1796, Teil 1., St. Petersburg
1794, S. 236-253; s. auch deutsche Ausgabe: Johann Gottlieb Georgi,, Beschreibung der
Ruflisch Kayserlichen Residenzstadt St. Petersburges und der Merkwurdigkeiten der Gegend,
... gedruckt bey Kayserlichen Akademie der Wissenschaften. St. Petersburg 1790; J. G.
Georgi stammte aus Pommern und hatte bei Linne in Uppsala studiert. Er stand seit 1770 in
Diensten der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg.
258
Vgl. Tabelle 1 im Tabellenanhang.
Allgemein ist eine steigende Tendenz bei der Anzahl der russischen und der
deutschen Zunfte zu beobachten, so daB im Jahre 1825 den 67 russischen Zunften
35 deutsche „erofmete" und 31 „uner6ffhete" Z u n f t e
gegentiberstanden.
Es gab in der Entwicklung der Zunfte gleich nach ihrer G r u n d u n g eine kurze
Aufschwungzeit, die drei bis vier Jahre lang andauerte und kurz nach d e m T o d e
v o n Peter I. ihr vorlaufiges E n d e erreichte. D a n n vollzog sich ein starker R u c k g a n g
der Zunfthandwerkerzahlen, wobei einige Zunfte, wie z. B . die der russischen
Backer, wieder aufgelost wurden. Der nachste A u f s c h w u n g ereignete sich mit der
Regierungszeit Katharinas II. in den 1770er Jahren und dauerte ungefahr bis z u m
Anfang der 1790er Jahre, als die St. Petersburger Handwerksverwaltung die
Anzahl der zeitweiligen Handwerker von 3.058 im Jahre 1786 auf 317 im Jahre
1793 reduzierte und in der Hauptstadt ein Zunftmonopol einzufuhren versuchte,
um die Nachfrage bei den standigen Meistern zu sichern. Die restriktive Politik der
Zunfte wurde v o n einem starken W a c h s t u m an standigen Meistern begleitet: in vier
Jahren wuchsen die Meisterzahlen von 811 (1786) a u f 2 . 4 3 4 (1790) u m 3 0 0 % an.
N a c h d e m SenatserlaB von 1796, der die M o n o p o l b e s t r e b u n g e n des
Zunfthandwerkerstandes unterband, verdoppelte sich dann die Gesamtzahl der
H a n d w e r k e r in funf Jahren auf 10.738 Zunfthandwerker im Jahre 1801. Mit den
deutschen Zunften gab es insgesamt rund 12.200 Zunfthandwerker in der
Hauptstadt.
259
3.2
D a s nichtzunftige H a n d w e r k
In den ersten Jahren nach der G r u n d u n g St. Petersburgs war die Hauptquelle des
H a n d w e r k e r z u w a c h s e s die Zwangsumsiedlung der H a n d w e r k e r aus zentral- und
nordrussischen Stadten. So wurden z. B . im Jahre 1711 aus den Stadten des
M o s k a u e r Gebiets 1417 Handwerker mit ihren Familien in die neue Hauptstadt
ubersiedelt. AuBerdem wurden Tausende qualifizierter und unqualifizierter
Arbeiter nach St. Petersburg - uberwiegend als Bauarbeiter - verpflichtet.
Besonders zahlreich waren Zimmerleute und Schreiner aus den nordrussischen
G o u v e r n e m e n t s Vologoda, Oloneck und Archangel sk; Schmiede und andere
Metallhandwerker k a m e n aus ZentralruBland, unter anderem aus Tula. So waren
z. B . im Jahre 1718 2 4 6 Waffenschmiede aus Tula bei der Artilleriehauptkanzlei
beschaftigt .
4
260
Nach dem ErlaB v o m 2 1 . Februar 1720 wurden an der Miindung des FluBes Ochta
am rechten Ufer der N e v a 500 Hauser fur die ubersiedelten Zimmerleute errichtet,
259
Die nicht „eroffheten" Zunfte haiten weniger als funf Meister und hatten keine
Zunftverwaltung. Solche Meister wurden formell als Zunfthandwerker aufgezuhlt, ihre Zunft
gait aber als nicht „er6ffhet".
260
Istorija rabocrch Leningrada, Bd. 1. Leningrad 1972, S. 21.
но
w o anfangs 824 Familien aus Vologda, Beloozero, K a r g o p o l ' und Ustjug
w o h n t e n . Sie unterstanden der A d m i r a l i t a t . Hier siedelten sich auch freie
H a n d w e r k e r a n , die sich auf holzverarbeitende H a n d w e r k e spezialisierten. Die
Ochtensker Zimmerleute u n d Schreiner wurden nach Bedarf beim staatlichen
Schiffsbau beschaftigt. In den ubrigen Zeiten gingen sie selbstandig ihrem Erwerb
nach, wobei die Befreiung v o n alien Steuern ihr H a n d w e r k begunstigte.
Zeitgenossen bemerkten 1779 und 1794, daB sich die H a n d w e r k e r v o n Ochta
durch ihre Kunstfertigkeit auszeichneten u n d den hauptstadtischen Kunsttischlern
in nichts nachstanden. Dafiir waren ihre W a r e n aber viel gunstiger zu haben.
AuBerdem waren 2 0 Ochtensker Schreiner von der kaiserlichen Theaterdirektion
verpflichtet w o r d e n , w a s fur ihre hohe fachmannische Qualifikation s p r a c h .
Mitte der 1720er Jahre beschaftigte die Regierung ausschlieBlich Lohnarbeiter, die
zu dieser Zeit in reichlicher Zahl auf der Suche nach Arbeit nach St. Petersburg
k a m e n . Die Z w a n g s u m s i e d l u n g e n und saisonalen R e k r u t i e r u n g e n
der
H a n d w e r k e r und Arbeiter auf dem Land und in den Stadten envies sich als zu
umstandlich und ineffektiv. Mit der Zeit bildeten sich regionale Unterschiede der
beruflichen Gliederung der Bauern heraus: die Maurer und Steinmetze kamen aus
d e m G o u v e r n e m e n t Oloneck, Maurer aus Jaroslavl' und Kostroma, andere
B a u h a n d w e r k e r aus d e m M o s k a u e r G o u v e r n e m e n t .
261
262
263
264
265
266
267
Der groBte Arbeitgeber in der Stadt war die Admiralitat. Im Jahre 1709 wurden
dort bis zu 30 und in den Jahren 1715-1721 etwa 70 Handwerksarten ausgeubt.
Hier waren auch etwa spezielle Handwerksberufe wie Mastbauer, Seiler,
Segeltuchweber und Kessler vertreten. Unter anderem beschaftigte die Admiralitat
folgende H a n d w e r k e r (siehe T a b . 5).
In sechs Jahren w u r d e der Bestand an Handwerkern v o n 2743 im Jahre 1715 auf
5320 im Jahre 1721 mehr als verdoppelt. A m zahlreichsten waren die
holzverarbeitenden Handwerke vertreten: Im Jahre 1721 gab es hier 3.609 Zimmer-
261
4
V. N. Tarnovskij, Melkaja promySlennost Rossii v konce 19 - nacale 20 v. Moskau 1995,
S. 38.
262
Admiraltejstvo - die Werft in St. Petersburg im engeren Sinne. Admiraltejstv-kollegija war
fur den Schiffsbau in RuBland zustandig.
263
S. P. Luppov, Istorija stroiterstva Peterburga pervoj cetverti XVIII v. Moskau 1957, S.
87f.; PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 2449 (9. November 1711), S. 755-758; B. Mansurov, Ochtenskie
Admiraltejskie poselenija. Istoriceskoe opisanie, 6. 1-3, St. Petersburg 1856, hier 6. 1, S. 9f.
264
Die Beschreibungen von Bogdanov und Georgi, aus: Mansurov, Ochtenskie, 6. 1, S. 55,
92.
265
Ebd., S. 90.
266
Vgl. Luppov, Istorija, S. 85-88.
267
06erki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 100.
Tabelle 5:
H a n d w e r k e r in der Admiralitat in den Jahren 1715-1721
Jahr
Gewerbeart
1715
1717
1720
1721
Zimmerer
1867
1483
3677
3609
Schmiede
251
308
351
500
Spinner
275
381
592
448
Segeltuchweber
135
185
100
246
Kalfaterer
-
242
111
228
Sagefuhrer
93
124
138
165
Schreiner
122
-
126
124
2743
2723
5095
5320
gesamt
Quelle: Materialy dlja istorii russkogo flota, t. 3. St. Petersburg 1866, S. 153ff., 264f., 277,280f.
leute,
165 S a g e a r b e i t e r
und
124 S c h r e i n e r . I h n e n
folgten
die
faserstofrverarbeitenden Handwerker wie die Spinner und Segeltuchweber mit
jeweils 4 4 8 und 2 4 6 Handwerkern. Die Anzahl der Schmiede war mit 500
ebenfalls sehr groB. AuBerdem waren bei der Admiralitat einige Tausend
unqualifizierter Arbeiter beschaftigt. Nach dem Tod von Peter I. wurden dann die
Kapazitaten im Schiffbau drastisch gekiirzt, so daB im Jahre 1727 in der
Admiralitat nur noch 51 Meister, 48 Gesellen und 99 Lehrlinge beschaftigt
waren .
268
E s ist verstandlich, daB nicht alle Handwerker in St. Petersburg in die Zunfte
eingeschrieben waren. Es fehlte als Voraussetzung dazu der allgemeine
Zunftzwang. N a c h Poljanskij war in den 1770er Jahren etwa nur ein Drittel aller
stadtischer H a n d w e r k e r Mitglied in den Z u n f t e n
W e n n wir dieses Verhaltnis auf St. Petersburg anwenden, kamen hier auf rund
4.000 Zunfthandwerker im Jalire 1783 rund 8.000 nichtzunftige Handwerker und
im Jahre 1790 j e w e i l s 7.000 und 14.000 H a n d w e r k e r . Dies ist nattirlich nur eine
annahernde Zahl, die eine Vorstellung uber die GroBenordnung bzw. Proportionen
des ziinftigen und nichtziinftigen H a n d w e r k s gegeben soil. Dieses Verhaltnis ist
durchaus wahrscheinlich und indirekt durch zeitgenossische Aussagen belegt. So
269
268
I. K. Kirilov, CvetuScee sostojarie Vserossijskogo gosudarstva, 2-е Ausgabe. Moskau
1977,S.48f.
269
F. J. Poljanskij, Gorodskoe remeslo i manufaktura v Rossii XVIII veka. Moskau 1960, S.
92.
wurde v o m Hauptmagistrat an die Gesetzgebende K o m m i s s i o n im Jahre 1767
berichtet, daB
„Insbesondere die herrschaftlichen Dienstleute, die nicht in den Zunften
eingeschrieben sind, [...] Verschiedene Gegenstande fur den Verkauf in
den Handelsreihen und auf Bestellung v o n Drittpersonen [fertigten] und
dadurch den wirklichen und eingeschriebenen Zunftmeistern [...] nicht
geringen S c h a d e n "
270
zufugten .
Der deutsche Universalgelehrte J. G. Georgi stellte ebenfalls im Jahre 1789 fest,
daB es in der Hauptstadt eine groBe Anzahl auslandischer und russischer Meister
gab, die keiner Zunft a n g e h o r t e n .
Dafur, daB es in St. Petersburg im 18. Jahrhundert viele nichtzimftige H a n d w e r k e r
gab, war die A u s w a n d e r u n g der kleinstadtischen H a n d w e r k e r hauptsachlich nach
St. Petersburg u n d M o s k a u sowie in die Gouvemementsstadte verantwortlich, die
dort nach Arbeit s u c h t e n . AuBerdem hatte die U m w a n d l u n g des Naturalzinses
in einen monetaren bewirkt, daB immer mehr Bauern saisonal in den Stadten tatig
waren, um Geld zu verdienen: zwischen 1760 und 1780 zahlten 6 5 , 7 % der Bauern
in den groBrussischen Gouvernements uberwiegend Geld- start N a t u r a l z i n s , auch
in St. Petersburg arbeiteten saisonal viele Bauern, wie die G e s e t z g e b e n d e
K o m m i s s i o n 1767 feststellte.
Eine wichtige Frage zur Lage der St. Petersburger Handwerker, deren jeweilige
Beantwortungsweise zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen fiihren kann, ist,
welche A u s w i r k u n g e n bauerliches H a u s g e w e r b e u n d Handel auf das stadtische
Zunfthandwerk hatten.
Mit dem ErlaB v o m 19. August 1745 wurde der frtiher genannte ErlaB v o m 14.
N o v e m b e r 1708 bestatigt. Er erklarte, daB die Bauern ihre Waren in der N a h e v o n
Stadten nicht verkaufen durften . W e n n sie aber in die Stadt kamen, durften sie
auf den stadtischen Markten nur ein bestimmter Warensortiment verkaufen, das
d e m der Zunfthandwerker nicht entsprach. Konkret waren das laut Zollstatut von
1755 z. B . verschiedene Brotsorten, Fisch, Kohl und andere Lebensmittel, Vieh,
271
272
273
274
270
SIRIO Bd. 43, S. 251, zitiert nach Hildemeier, Burgertum, S. 45.
271
Georgi, Opisanie, neue Ausgabe, St. Petersburg 1996, S. 195-207.
272
Archiv Akademii nauk, f. 3, op. 10, Nr. 47,1. 2f., aus: Ocerki russkoj kuPtury 18 veka, i.
4. Moskau 1990, S. 260.
273
274
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 252.
PSZ RI 1, Bd. 12, Nr. 9201 (19.08.1745): Ob oznacenii tovarov, kakimi mogut krest'jane
torgovat' v bol'Sich selach i derevnjach, S. 442.
275
Holz und W a l d p r o d u k t e . Wie aus dem Warensortiment zu ersehen ist, konnte das
bauerliche H a n d w e r k keine ernsthafte Konkurrenz fur die Zunfthandwerker sein,
da die Warensortimente gesetzlich reglementiert waren.
Die Handwerker aus dem U m l a n d waren fur das stadtische H a n d w e r k keine
ernstzunehmenden Konkurren ten und konnten in der Stadt meistens Lebensmittel
u n d Rohstoffe verkaufen. Das bauerliche Hausgewerbe im St. Petersburger und
den anliegenden Gouvernements war fast ausschlieBlich dazu bestimmt, eigene
Bedurfhisse der L a n d b e v o l k e m n g zu befriedigen. Die Konkurrenz war nur dann
spurbar, wenn die dorflichen Handwerker nach St. Petersburg nicht als Handler,
sondern als H a n d w e r k e r kamen und auch dort blieben. Die uberwiegende Mehrheit
der Bauern war im B a u h a n d w e r k tatig und stellte zu dieser Zeit keine existentielle
B e d r o h u n g fur die meisten Zunfthandwerke dar. Seit Katharina II. den Bauern mit
den Gesetzen von 1775 und 1785 erlaubte, in den Stadten Handel zu b e t r e i b e n ,
war die Position der Zunftmeister etwas geschwacht. Diese A b g r e n z u n g sicherte
aber den Warenabsatz der Zunftmeister relativ gut ab. DaB es den
Zunfthandwerkern gerade in den 1770er und 1780er Jahren verhaltnismaBig gut
ging, zeigt ihre schnell anwachsende Anzahl. Dieses Wachstum fand parallel zu
einem starken Bevolkerungszuwachs start.
276
D e m Zunfthandwerk bereitete nicht der bauerliche Handel Sorgen, sondern
vielmehr die Heimindustrie. Die Gewerbegesetzgebung des 18. Jahrhunderts
verbot den Bauern, in der Hauptstadt Werkstatten zunftfrei zu unterhalten. W e n n
sie aber keine Werkstatt hatten und als Heimarbeiter tatig waren, konnte ihnen
keine Zunft ihre Arbeit verbieten. Hier lag die eigentliche Gefahr fur das
Zunfthandwerk. Sie kann aber wegen fehlender Unterlagen nur vage eingeschatzt
werden. DaB es aber in der Hauptstadt einige Tausend solcher H a n d w e r k e r gab,
steht auBer Zweifel.
3.3
Zusarnmenfassung
U m die Frage zu beantworten, w a r u m sich die Zunfte bis zu den 1770er Jahren
nicht entfalten konnten und die Meisterzahlen sich u m diese Zeit auf dem Niveau
der 1720er Jahren bewegten bzw. seit der Regierungszeit Petes I. stark
herabgesunken waren, mtissen zwei Aspekte herangezogen werden:
Erstens war es die erdriickende Last des Staates, der die Meister mit schlecht
bezahlten Staatsauftragen ausnutzte u n d sie so ihrer Entwicklungschancen
beraubte. Zweitens gewahrte die Regierung den Meistern nur schwachen
275
PSZ RI 1, Bd. 14, Nr. 10486 (1.12.1755): Tamozennyj ustav, S. 462-484, hier S. 467,
474f.
276
Zur Legalisierung der handeltreitenden Bauern und der Entwicklung ihrer Hausindustrie:
Hildermeier, Burgertum, S. 89, 1371T.
rechtlichen Schutz und miBachtete ihre wirtschaftlichen Interessen. N u r in den
1770er und 1780er Jahren konnten die H a n d w e r k e r aufatmen, als Katharina II. das
detaillierte Handwerksstatut v o n 1785 verabschiedete und den H a n d w e r k e r n eine
Selbstverwaltung verlieh, die die Interessen aller Zunfte in Person des
H a n d w e r k s o b e r h a u p t e s vertrat, w a s nicht nur ihre rechtliche, sondern auch ihre
wirtschaftliche Lage verbesserte. Jetzt stieg die Anzahl der standigen und
zeitweiligen Zunftmeister rasch an, u n d die Anzahl der Zunfte vermehrte sich
ebenfalls.
Diese Antwort kann u n s aber nicht vollig zufrieden stellen und laBt weitere Fragen
offen, z. B . w a r u m die Handwerksverwaltung und das Handwerksoberhaupt das
materielle N i v e a u der Zunfthandwerker anheben konnten u n d w a r u m die
Staatsauftrage in den 1770er bis 1780er Jahren auf einmal nicht m e h r so
„erdruckend" w a r e n ? N a c h d e m der Winterpalast in den 1760er Jahren fertiggestellt
worden war, gab es immer wieder groBe Bauvorhaben in der Hauptstadt wie z. B .
den Katharinen-Palast in Carskoe Selo und eine Vielzahl v o n Kirchen u n d
offentlichen Gebauden, wie uberhaupt die groBte Bauaktivitat in St. Petersburg mit
der Regierungszeit Katharinas II. zusammenfiel.
Georgi faBt die Verhaltnisse in der Hauptstadt wie folgt zusammen:
„Wie uberall so auch hier [in St. Petersburg, A.K.] sind einige
H a n d w e r k e gewinntrachtiger als andere und m a n c h e bieten gar ein
karges A u s k o m m e n . Im allgemeinen laBt sich aber sagen, daB die
H a n d w e r k e r in St. Petersburg wegen der GroBe der Hauptstadt, der
Pracht des Zarenhofes, des bluhenden Handels, des R e i c h t u m s , des
herrschenden L u x u s und daruber hinaus durch den Absatz nicht nur in
St. Petersburg, sondern auch in anderen Gouvernements und ihres
besseren G e s c h m a c k s wohlhabender als in vielen anderen Hauptstadten
sind" .
277
Die Ausfuhrungen Georgis haben eine groBe Aussagekraft, weil sie keine groben
Verallgemeinerungen enthalten, wie sie z. B . immer wieder in westeuropaischen
Reiseberichten zu sehen sind. W e n n sich also die Wirtschaft und d a s uns
interessierende H a n d w e r k spurbar entwickeln konnten, so ist nach den Ursachen
zu suchen.
Es waren die innenpolitischen Reformen, die den entscheidenden Strukturwandel
der Stadtbevolkerung und der Handwerkerschaft bewirkten. Die Geldwirtschaft
wurde besser organisiert. Die G n a d e n u r k u n d e fur den Adel, die ihn v o m
obligatorischen Staatsdienst befreite, der durch Peter I. eingefuhrt worden war,
lockte diesen mehr und mehr von M o s k a u und von den Landgutern nach St.
Petersburg, w o d u r c h die Nachfrage nach handwerklichen Produkten stark anstieg.
Georgi, Opisanie, S. 239.
W a s war St. Petersburg vor und w a s nach der Regierungszeit Katharinas II.? Sehr
verallgemeinernd gesagt, handelte es sich um zwei verschiedene Hauptstadte. D a s
eine St. Petersburg war j e n e s mit seinen Staatsamtern, Armeekasernen, Arbeiterund Auslandersloboden, einigen wenigen Palasten der hofischen Wtirdentrager,
wie z. B . der Men§ikov- und Kikinpalast, den Hafenanlagen, mit wenigen und
schwachen Spuren von gesellschaftlichem und kulturellem Leben.
W a h r e n d und nach Katharinas II. Zeit hatte sich vieles geandert. Zwar blieb St.
Petersburg weiterhin ein stark burokratischer und militarischer Charakter erhalten,
aber langsam entwickelten sich neue Zuge der Stadt: das „gesellschaftliche" bzw.
„offentliche" L e b e n selbst, der Lebensstil der oberen und mittleren Schichten
wandelte sich: die MuBe des Adels verhalf zur Entwicklung des Theaterlebens, des
Verlagswesens und des Buchhandels. Kulturelles und gesellschaftliches Leben
b e k a m e n starke Impulse: es; entstanden standische Organisationen wie die
Adelsversammlung und die kaufmannische Versammlung, der deutsche Burgerbzw. Schusterklub, das Deutsche Theater, das auf Kosten v o n deutschen
Kaufleuten und H a n d w e r k e r n finanziert wurde und solche Erfolge verzeichnete,
daB die deutsche Truppe von der kaiserlichen Theaterdirektion in den 1780er
Jahren und dann endgtiltig 1806 aufgenommen wurde. Wobei hier angemerkt
werden muB, daB die Ansatze :mr Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens, das
zur Zeit Katharinas II. seine vollstandige Entfaltung als „ G o l d e n e s Zeitalter des
A d e l s " fand, schon wahrend der Regierungszeit Elisabeths I. (1741 -1761/62) ihren
Anfang nahmen.
GewiB kann der Verbrauch v o n immensen S u m m e n fur Luxusguter seitens des
Zarenhofes und des Adels als V e r s c h w e n d u n g von volkswirtschaftlichen
Ressourcen (Boden, Arbeit und Kapital) gewertet werden, w a s auch negative
Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Lage RuBlands hatte. Fur die
Handwerker in St. Petersburg aber war es eine Zeit der hohen Konjunktur und
stetig steigender Nachfrage, w a s sich positiv auf ihre wirtschaftliche Lage
auswirkte.
Fur das wirtschaftliche Wachstum der Zunfthandwerker und der ganzen
Handwerkerschaft von St. Petersburg sorgte unter anderem ein kontinuierliches
und mit wenigen A u s n a h m e n fur die ganze Geschichte von St. Petersburg
typisches h o h e s Bevolkerungswachstum, das wahrend der Industrialisierung in der
zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts besonders stark war (siehe Tab. 6). Die
Nachfrage nach K o n s u m - unc: Luxusgutern war deshalb groB und uberstieg im
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts manchmal das Angebot. Die B e v o l k e r u n g
n a h m in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts zwischen 1765-1775 und 17851795 besonders stark zu, als Katharina II. die okonomischen und innenpolitischen
Reformen - unter anderem die Einfuhrung der stadtischen Selbstverwaltung durchfuhrte.
Anfangs waren die Zunfthandwerker in der hauptstadtischen Gesellschaft eine
nicht unbedeutende GroBe und konnten nach der Einfuhrung der hauptstadtischen
Selbstverwaltung u n d der Stadtduma im Jahre 1785 unter 92 Beisitzern (glasnye)
Tabelle 6: B e v 5 l k e r u n g v o n St. Petersburg v o n 1725 bis 1805
Jahr
Bev61kerung
v. H. zum
Vorjahrzehnt
1725
ca. 40000
100
1735
ca. 58000
145
1745
ca. 76000
131
1755
ca. 95000
125
1765
ca. 113445
119
1775
150335
133
1785
166100
110
1795
219100
132
1805
252800
115
Quelle: Enciklopedideskij slovar', hrsg. v. Brokgauz, Efron, Bd. 28 (Halbband 56), St. Petersburg
1900, S. 312, 314.
278
der St. Petersburger D u m a 61 Platze i n n e h a b e n . Sie bildeten am E n d e des 18.
Jahrhundert einen betrachtlichen Teil der hauptstadtischen Gesellschaft. E s laBt
sich vermuten, daB sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein Wandel vollzog,
der sich nicht nur auf quantitative Relationen und Veranderungen im Laufe des
W a c h s t u m s b e z o g , sondern auch komplexe Veranderungen in den Institutionen
und in der Mentalitat beinhaltete. Mit der Einfuhrung der Selbstverwaltung der
H a n d w e r k e r ereignete sich keine „Organisationsrevolution" (Marktentfaltung,
Integration, rationale Standortwahl und anderes), es entstand aber eine gunstige
Voraussetzung fur ein anhaltendes Wirtschaftswachstum, das die Organisation der
Handwerker begunstigte .
279
Bei den deutschen und russischen Zunften wurde die steigende T e n d e n z in der
Zunfteanzahl im Laufe des 18. und in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts
deutlich: Im Jahre 1766 existierten 53 deutsche Zunfte, im Jahre 1825 schon 66.
Die russischen Zunfte wuchsen ebenfalls v o n 56 im Jahre 1789 auf 67 im Jahre
1825 an, w a s sich auf Katharinas Reformen u n d wirtschaftliche Liberalisierung
zuruckfuhren laBt.
278
279
Kizevetter, Posadskaja obScma, S. 88, 158.
Reinhard Spree, Das Wachstum von Volkswirtschaften. Theorie und historische
Erfahrung, in: JWG 1994/1, S. 109-130, hier S. 109.
Zusammenfassend laBt sich sagen, daB das St. Petersburger H a n d w e r k mit dem
Zunfthandwerk an der Spitze u m die Jahrhundertwende 1800 seine Prioritat in der
gewerblichen Entwicklung behielt. Das Manufakturwesen stagnierte bzw. w a r ab
dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sogar riicklaufig, und konnte mit einer sich
allmahlich entwickelnden industriellen Produktion nicht k o n k u r r i e r e n . So wurde
die gewerbliche Produktion in St. Petersburg zwischen 1800 und 1875 durch das
H a n d w e r k u b e r n o m m e n . Erst mit dem Beginn der Industrialisierung w u r d e es v o n
der GroBindustrie auf den zweiten Platz in der Wirtschaftshierarchie verdrangt. Im
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ereignete sich ein Durchbruch in der
Einstellung der russischen Handwerker zum Zunftsystem, da die russischen Zunfte
viel schneller a n w u c h s e n und viele neue Zunfte entstanden.
280
4.
Die H a n d w e r k e r und ihr G e w e r b e im Stadtbild St. Petersburgs des 19.
Jahrhunderts
Die Palaste und die groBen K a s e m e n , die prachtigen Kathedralen, Peter I.,
Katharina II., die Dekabristen und Puskin - das sind Begriffe, die gewohnlich mit
der Innenstadt v o n St. Petersburg, die im 19. Jahrhundert aus drei
Admiralitatsvierteln und dem ostlichen Teil der Vasilij-Insel bestand, assoziiert
werden. D a s ist aber nur ein Teil des Bildes v o m Zentrum der Stadt.
Der andere Teil zeichnete sich durch die gewerbliche Struktur aus, da die
Handwerker v o n St. Petersburg sowohl quantitativ als auch im Hinblick auf ihre
wirtschaftliche Bedeutung sen o n immer ein wichtiger stadtbildender Faktor waren,
insbesondere im Innenstadtbereich. Ein St. Petersburger Autor beschrieb den
Wandel des Stadtbildes mit f Dlgenden Worten:
„ ... N e b e n alten H a u s e m , hubschen eingeschossigen Villen, erheben
sich die Riesenkasten der Mietshauser. Alte Gebaude werden in dieser
U m g e b u n g v o n ihren fruheren Besitzern aufgegeben und durch
Kneipen, Werkstatten und Handwerksbetriebe zu Orten, an denen sich
Armut und Schmutz s a m m e l n " .
281
Das Erscheinungsbild des H a n d w e r k s manifestierte sich im Stadtbild wie folgt:
Die Hauser wurden mit Werbeschildern bestiickt, auf denen die Symbole des
jeweiligen H a n d w e r k s meist mit auffalligen Farben gemalt wurden. Schaufenster
kamen erst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts auf, als in den Stadten erste
groBe Warenhauser e n t s a t n d e n . Im KellergeschoB und in den oberen
Stockwerken waren die weniger wohlhabenden H a n d w e r k e r angesiedelt:
Schuhmacher und Schneider sowie hunderte kleiner Handelsstuben (torgovye
lavki), in denen sich meist Backereien befanden. Diese H a n d w e r k e r durften sofern sie zur Zunft gehorten •• ebenfalls den mittleren und den oberen Bereich der
Hauser mit Werbeschildern bestticken, so daB sich den Passanten oft ein ganzes
H a u s als riesiges farbiges, mit entsprechenden Figuren und B l u m e n geschmucktes
Werbeschild darstellte. Eine Vielzahl derartiger Hauser befand sich an der
282
281
G. Lukomskij, Sovremennyj Petrograd, ocerk istorii vozniknovenija i razvitija
klassiceskogo stroitePstva, 1900-1915 gg., Petrograd 1916, zitiert nach Schlogel, Jenseits, S.
29.
282
Vgl. P. N. Stolpjanskij, Peterburg. Как voznik, osnovalsja i ros Sankt-Piterburch, St.
Petersburg 1995, S. 238ff.; D. A. Zasosov, V. I. Pyzin, Iz zizni Peterburga 1890-1910-ch
godov. Zapiski ocevidcev, Leningiml 1991, S. 96-100; Erhard Mielenhausen, Einzelhandel
und Stadtentwicklung: Wechselseitige Beziehungen innerhalb stadtischer
Verchchtungsruume. In: Perspektiven der Stadtentwicklung: Okonomie-Okologie. Osnabruck
1988, S. 51-70, hier S. 52f.
283
zentralen Einkaufsmeile der Hauptstadt dem Nevskij P r o s p e k t . E s gab allerdings
Zeiten (von 1752 bis 1770), in denen es den H a n d w e r k e r n und Kunstlern verboten
war, in der N a h e des Palastplatzes und des G e b a u d e k o m p l e x e s des Kaiserlichen
Palastes auf den StraBen Millionnaja und Bol'saja Lugovaja Aushangeschilder an
den Hausern aufzuhangen oder W o h n u n g e n auf der StraBenseite zu m i e t e n .
Weniger auffallend, j e d o c h in jeder Hinsicht interessanter w a r der innere Bereich
der Hauser, in denen sich die Werkstatten befanden. Eine Werkstatt bestand in der
Regel aus drei Teilen: die Werkstatt selbst, unter anderem mit Maschinen,
W e r k z e u g e n und Schmiedeherden ausgestattet; das Geschaft, in d e m die Waren
angeboten und verkauft wurden, sowie der Wohnbereich, in d e m die Familie des
H a n d w e r k e r s und die Gesellen nebeneinander wohnten, meist nur durch einen
V o r h a n g voneinander getrennt.
284
D a sich in der Innenstadt Tausende von Handwerksbetrieben uberwiegend in
Mietshausern befanden, w o der Platz k n a p p war, wurde jeder Quadratmeter in den
Treppenhausern u n d in den Innenhofen ausgenutzt. G e w o h n l i c h standen im
Innenhof z w e i - bis dreistockige G e b a u d e aus H o l z oder Backstein, in denen kleine
metallverarbeitende Betriebe, GieBereien, Hutfabriken und anderes untergebracht
waren. A u s den Fenstern des Mietshauses ragten die Ofenrohre der Betriebe
heraus, die alle z u s a m m e n so viel R a u c h ausstieBen, daB M i t b e w o h n e r nicht selten
bei der Polizei Beschwerde einlegten. Ein derartiges Bild bot sich in j e d e m
Stadtteil: Ein Paradebeispiel dafur ist die KunstbronzegieBerei des auslandischen
Meisters Petr G e d e in der Malaja Sadovaja StraBe, die nicht weniger als sieben
Schmelzofen in den zehn Z i m m e r n eines H a u s e s im Innenhof hatte. Dieser
Innenhof befand sich in unmittelbarer N a h e des M i c h a e l i s p a l a s t e s .
Auch die Backer, v o n denen es in der Innenstadt einige hundert gab, machten sich
die Treppenhauser und Innenhofe zunutze, in denen sie Bretter mit Teig z u m
Abkuhlen aufstellten, w e s w e g e n sich die Stadtarzte mehrmals beschwerten. In den
Treppenhausern wurden von den Backern entlang der W a n d e bis zur D e c k e
reichende Stande aufgestellt, die ebenfalls der Ablage von Teig dienten. Hauser
von H a n d w e r k e r n waren besonders in den Stadtvierteln Karetnaer, Litejner,
Petersburger, V a s i l ' e v s k e r und M o s k a u e r z a h l r e i c h , wodurch diese Viertel
spezifisch kleinindustrielle Ziige erhielten.
285
286
283
Vgl. Margarete Busch, Deutsche in St. Petersburg 1865-1914: Identitat und Integration
(Veroffentlichungen des Institute fiir Kultur und Geschichte der Deutschen im ostlichen
Europa; Bd. 6). Essen 1995, S. 49f.
284
PSZ RI 1, Bd. 19, Nr. 13421 (7. Mfirz 1770): О dozvolenii masterovym ljudjam i
chudoznikam pribivat' vyveski na domach i imet' kvartiry v domach po glavnym ulicam, S.
18f.; s. dazu: Stolpjanskij, Peterburg, S. 238fT.
285
RGIA, f. 18, op. 2, d. 655: Po proseniju bronzovych del mastera Gede о vkljucenii ego
zavedenija v Cislo fabrik (1830-1834), 1. 3.
286
K. S. Veselovskij, Statistideskie issledovanija о nedvizimych imuScestvach v Peterburge,
in: Otecestevennye zapiski, torn 57, Nr. 3-4, Cast' 2 (1848), S. 6.
5.
Die Selbstverwaltung der Zunfthandwerker
U m die Entstehung einer Selbstverwaltung der Zunfthandwerker erlautern zu
konnen, muB zunachst der Frage nachgegangen werden, inwieweit die M a s s e der
gewerbetreibenden Bevolkerung ein Bedurfhis an der Vertretung ihrer Interessen
hatte bzw. o b sie dazu uberhaupt in der Lage w a r . Hildermeier beschreibt die
Situation wie folgt:
287
„Die uberaus verschiedenartigen sozialen Gruppen [...] kleine
Dorfkramer, Kustarnik, Fabrikant und adliger Unternehmer, die m a n
unter diesem Begriff zusammenfaBte, verbanden sich nicht zu einer
einheitlichen Klasse. Sie bewahrten den Charakter ihrer j e w e i l i g e n
standischen Herkunft und artikulierten ihre j e besonderen Interessen.
Sie blieben okonomisch wie sozial ein Konglomerat, dem deshalb auch
jegliche Voraussetzungen fehlten, ,burgerliche' politisch-soziale
Forderungen nach westeuropaischen Muster vorzubringen oder gar
gegen die Autokratie d u r c h z u s e t z e n " .
288
287
Allgemein zur Selbstverwaltung s.: Helmut Gross, Selbstverwaltung und Staatskrise in
RuBland 1914-1917. Macht und Ohnmacht von Adel und Bourgeoisie am Vorabend der
Februarrevolution. Wiesbaden 1981; Guido Hausmann, Universitat und stadtische
Gesellschaft in Odessa, 1865-1917. Soziale und nationale Selbstorganisation an der
Peripherie, Stuttgart 1998, S. 462-466; Lutz Hufher, Stadtdumawahlen und soziale Eliten in
Kazan 1870 bis 1913: zur rechtlichen Lage und politischen Praxis der lokalen
Selbstverwaltung, in: JGO NF Bd. 44/1996, S. 217-252; Hildermeier, Burgertum,
insbesondere S. 246-307; Peter Liessem, Verwaltungsgerichtsbarkeit im sp&ten Zarenreich.
Der Dirigierende Senat und seine Entscheidungen zur russischen Selbstverwaltung (18641917) (Studien zur Europaischen Rechtsgeschichte 79), Frankfurt/Main 1996, hier
insbesondere S. 175-326; I.I. Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie v Rossii. Bd. 1: Ustrojstvo
i upravlenie gorodov Rossii v XVIII stoletii. SPb. 1875. Bd. 2: Gorodskoe samoupravlenie do
1870 goda. Jaroslavl' 1877; A. A. Kizevetter, Gorodovoe polozenie Ekateriny II 1785 g. Opyt
istoriceskogo kommentarija. M. 1909; Ders., Posadskaja obSCina v Rossii XVIII st. M. 1903;
A. Michajlovskij, Reforma gorodskogo samoupravlenija v Rossii. M. 1908; Valerija A.
Nardova, Gorodskoe samoupravlenie v Rossii v 60-ch - nac\ 90-ch godov XIX v. L. 1984;
Dies., Samoderiavie i gorodskie dumy v Rossii v konce XIX - nacale XX veka. SPb. 1994;
Ljubov* F. Pisar'kova, Moskovskoe gorodskoe obScestvennoe upravlenie s serediny 1880-ch
gg. do pervoj russkoj revoljucii. M. 1982; Dies., NizSie gorodskie soslovija v samoupravlenii
Moskvy. XVIII-XX w . , Autorinmanuskript; Dies., Social'nyj sostav gorodskich glasnych
nakanune kontrreformy 1892 goda, in: ISSSR 1989 Nr. 6, S. 152-160.
4
289
Die Masse der gewerbetreibenden Bevolkerung hatte anfangs kein I n t e r e s s e ,
eine eigene Selbstverwaltung aufzubauen, da diese Bevolkerungsgruppe im 18.
Jahrhundert keinen Stand bildete, sondern sich aus den verschiedensten
gesellschaftlichen Schichten zusammensetzte und von daher kein Bedurfhis nach
der Vertretung eigener standespezifischer Interessen hatte. AuBerdem hatten die
H a n d w e r k e r und kleinen Kaufleute ein so geringes E i n k o m m e n , dafl sie k a u m
imstande waren, auch finanziell etwas zu der Entwicklung einer eigenen
Selbstverwaltung beizutragen. Die materielle Unabhangigkeit w a r wiederum eine
der Grundvoraussetzungen fur die Entstehung der standischen reprasentativen
Selbstverwaltungsorgane. Als die Handwerksverwaltung 1785 per Dekret zu einer
Zeit geschaffen wurde, in der die Auswtichse der feudalen Gesellschaft fur die
Leibeigenen einen H o h e p u n k t erreichten, erschien den ehemaligen Bauern und
jetzigen Handwerkern, die uberwiegend Leibeigene g e w e s e n waren, j e d e
Reglementierung als Verletzung ihrer „Selbstandigkeit" bzw. ihrer relativen
stadtischen Freiheit und ihrer Rechte als „Stadtburger". V o n daher ist die
entschiedene A b l e h n u n g der unteren und mittleren Schichten der Bevolkerung
gegen Reglementierung und Kontrolle zu e r k l a r e n .
290
Die Griindung der Zunfte war eine Initiative der Regierung, die spater auch von
reichen H a n d w e r k e r n begriiBt und unterstutzt wurde. Allerdings ist ihre Billigung
der
Regierungspolitik
nicht
als
Wunsch
nach
Autonomic
sondern
als
wirtschaftsspezifisches Interesse zu interpritieren, die Konkurrenz durch das
bauerliche
und
zunftfreie
Handwerk
zu
binden
und
einen
gunstigeren
H a n d l u n g s r a h m e n fur sich zu schaffen. V o n den Zunften gingen ohnedies keine
Initiativen zu N e u e r u n g e n aus. Sie paBten sich d e m festgesetzten R a h m e n an,
bewahrten ihre Privilegien und lieBen unwillig die in die Stadt stromenden Bauern
in ihren Stand einschreiben, bis der SenatserlaB v o n 1796 strengstens untersagte,
den bauerlichen Handwerkern Hindernisse in den W e g zu legen. Im ubrigen gab
es fur N e u e r u n g e n in der Zunftstruktur keine zwingenden Grtinde, denn die
bauerlichen H a n d w e r k e r traten zeitweilig in die Zunfte ein, wodurch sie dem
Zunfthandwerk die benotigten Arbeitskrafte sicherten, sonst aber in ihrem Stand
291
v e r b l i e b e n . Es w a r fur einen Bauer, selbst w e n n er das wollte, sehr schwierig,
sich von der Dorfgemeinde zu losen.
289
Vgl. den Begriff „Interesse" in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3 hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze und
Reinhart Kosseleck, Stuttgart 1982, S. 305-365; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft.
GrundriB der verstehenden Soziologie, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 1. Halbband.
Tubingen 1956/Neuausgabe, Kdln, Berlin 1964.
290
Vgl. Mieck, Europaische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4, S. 773; Weber,
Wirtschaft, Halbband 1, S. 214-227.
291
Ebd.
Mit der Stadtreform Katharinas II. im Jahre 1785 wurde die Zunftverwaltung auf
einem qualitativ anderen N i v e a u weiterentwickelt:
„Es war ein Wesensmerkmal der groBen Reformen Katharinas II., daB
sie den Versuch unternahmen, Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung
dem gleichen Ordnungsprinzip zu unterwerfen. Sie suchten eine
Hierarchie v o n den Standen und Korporationen, die j e d e Gliederung
bestimmte [,..]" ,
292
aufzubauen. Mit Recht haben die spateren Generationen der St. Petersburger
Zunfthandwerker 1785 als das Grundungsjahr der Selbstverwaltung der
Handwerker in St. Petersburg angesehen. Die Reform des Handwerkerstandes trug
ihre Friichte viele Jahrzehnte spater, als die selbstbewuBte Haltung der
Selbstverwaltung bzw. das StandesbewuBtsein der Zunfthandwerker so gestarkt
worden war, daB sie zu einem wichtigen innenpolitischen Faktor wurden. E s ist
ihrem starken Widerstand zuzuschreiben, daB die Zunfte in RuBland nicht ganzlich
abgeschafft wurden, wobei das Bollwerk des Zunfthandwerks in diesem K a m p f
urns Dasein die zahlreichen Zunfte in den beiden russischen Hauptstadten, St.
Petersburg und M o s k a u , bildeten.
Alle Zunfte, die vorher getrennt existierten, wurden als ein Stand unter der Leitung
einer allgemeinen Handwerksverwaltung (obsdaja remeslennaja
uprava) und
einem Handwerksoberhaupt (renteslennyjgolova)
zusammengefaBt. Dieser vertrat
in seiner Person alle Zunfthandwerker der Stadt und n a h m an den Sitzungen der
St. Petersburger Sechsstimmigen D u m a teil. AuBerdem hatten die Posad- und die
kleinburgerlichen H a n d w e r k e r dort ihre Vertreter. Es gab in der Allgemeinen
D u m a insgesamt 121 Deputierte, deren Anzahl 1797 auf 70 reduziert w u r d e .
Unter den Deputierten waren u m diese Zeit zumeist Zunftmeister, Posadleute und
Kleinbtirger vertreten. Uber ihre Aktivitat ist w e n i g bekannt. Z u dieser Zeit war
die
Duma
eine
Institution,
die
nur
die
Verordnungen
der
Gouvernementsverwaltung ausfuhrte und keine Eigenstandigkeit in finanziellen
Fragen hatte. A m 12. September 1798 wurde sie abgeschafft, j e d o c h mit dem
Manifest v o m 2. April 1801 z u s a m m e n mit dem Stadtstatut von 1785
wiederhergestellt .
293
294
Weil im weiteren wiederholt von der hauptstadtischen D u m a die Rede sein wird,
soli hier kurz ihre Geschichte seit der Einfuhrung 1785 bis zu ihrer letzten Reform
im Jahre 1892 erwahnt werden. V o n 1785 bis 1846 existierten in der Hauptstadt
die Allgemeine Stadtduma (Obsdaja Gorodskaja duma) und die Sechsstimmige
292
Hildermeier, Burgertum, S. 307; s. auch S. 57-91: das Kapitel uber die Stadtreform
Katharinas II.
PSZ RI 1, Nr. 17841, in: Ditjatin, Gorodskoe, S. 117.
PSZ RI 1, Nr. 18662 (12.09.1798), Nr. 19811 (2.4.1801), in: Ditjatin, Gorodskoe, S. 132.
D u m a (Sestiglasnaja duma), wobei die erste nur zusammentrat, u m die Mitglieder
der Sechsmigen D u m a zu warden. Die zweite unterstand formal der ersten. In die
Sechsmige D u m a w u r d e n sechs Mitglieder aus den sechs Standen der stadtischen
Bevolkerung gewahlt: 1. Immobilienbesitzer, 2. Kaufleute aller drei Gilden, 3.
Zunftmeister, 4. AuBerstadtische und auslandische Groflkaufleute, 5. Ehrenbtirger
und 6. Posadleute. Ihre Tatigkeit unterlag der Aufsicht des Gouverneurs.
Mit dem Stadtstatut v o n 1846 w u r d e in St. Petersburg eine neue Selbstverwaltung
eingefuhrt, die auf andere Stadte z. B . M o s k a u (1862), O d e s s a (1863) und
reichsweit in leicht abgeanderter Form erst 1870 ubertragen w u r d e . Die
Sechsmige D u m a w u r d e durch die Allgemeine D u m a (Obsdaja duma) ersetzt, in
die jetzt Vertreter aus funf Standen der hauptstadtischen Gesellschaft gewahlt
wurden: 1. Erblicher Adel, 2. Dienstadel, Ehrenbtirger u n d R a z n o c m c y , 3.
Kaufleute, 4. Kleinbtirger und 5. Zunftmeister .
So fanden im Wahlerkorpus einige Umschichtungen statt. Die hauptstadtischen
Kaufleute aller drei Gilden, die zugereisten und auslandischen GroBkaufleute
w u r d e n in einem Stand der Kaufleute vereinigt. Dafur gab es Vertreter aus zwei
Adelsgruppen, die vorher z u m Teil in der Wahlergruppe „Immobilienbesitzer"
vertreten gewesen waren. Im allgemeinen war der Adel wenig an einer Vertretung
in der Sechsmigen D u m a interessiert, da er ebenfalls 1785 mit d e m
Gnadenmanifest das Recht erhielt, die Gouvernementsadelsversammlungen
(gubernskoe
dvorjanskoe
sobranie)
zu w a h l e n . Die Exekutive lag in der
K o m p e t e n z der Verwaltenden D u m a (RasporjaditeVnaja
duma), die aus d e m
Stadtoberhaupt, den zwolf Mitgliedern und Amtsangestellten bestand. Dabei
wurde wahrend der Wahl der Dumamitglieder streng nach d e m Standesprinzip
verfahren. D a s heiBt, daB die Zunftmeister ihre Kandidaten getrennt v o n den
Kaufleuten, Kleinburgern und dem Adel in einer gesonderten V e r s a m m l u n g
wahlten.
295
296
297
Mit der Stadtreform v o n 1870 w u r d e das standische Organisationsprinzip der
Selbstverwaltung v o n St. Petersburg durch das gesamtstandische
(vsesoslovnyj)
ersetzt und das Kurienwahlrecht eingefuhrt, wodurch sich die Rolle der
Zunftmeister in der hauptstadtischen Selbstverwaltung auf ein M i n i m u m
295
Hausmann, Universitut, S. 462.
296
Otecestvennaja istorija. Istorija Rossii s drevnejSich vremen do 1917 goda, torn 1. Moskau
1994, S. 597ff.; t. 2. Moskau 1996, S. 165.
297
Otecestevennaja istorija, torn 2, S. 165f. S. dazu:f. Diestelmeier, Der russische Adel im 19.
Jahrhundert, in: JGO 26 (1978), S. 376-400; P. Dukes, Catherine the Great and the russian
nobility, Cambridge 1967; Peter Hoffmann, Dvorjanstvo i krepostnoj stroj Rossii XVI-XVIII
w . , in: sbornik statej posvjaSdennyj pamjati Alekseja AndreevicaNovosel'skogo. Moskau
1975; R. E. Jones, The Emancipation of the russian nobility. 1762-1785, Princeton 1973; S.
A. Korf, Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie za stoletie 1762-1855 godov, St. Petersburg
1906; Ju. B. Solov'ev, Samoderzavie i dvorjanstvo, Leningrad 1973; S. M. Troickij, Russkij
absoljutizm i dvorjanstvo v 18 veke. Formirovanie burokratii, Moskau 1974.
verringerte. Desto m e h r konnten sie sich auf eigene Aufgaben in der standischen
Handwerksverwaltung konzentrieren. Die Reformen
der
stadtischen
Selbstverwaltung betrafen also die Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r nur bedingt,
da sie immer eine Moglichkeit hatten, ihre Aktivitaten in die standische
Verwaltung zu verlagern, w a s sie auch nach der Einfuhrung des neuen
Stadtstatutes 1870 taten.
A b diesem Zeitpunkt spaltete sich die Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r v o n der
stadtischen Selbstverwaltung ab und existierte unabhangig davon. Diese
Absonderung der Handwerksverwaltung von der Stadtduma bzw. das Ausscheiden
der Zunftmeister aus der stadtischen Selbstverwaltung vollzog sich mit der
Einfuhrung
d e s a l l s t a n d i s c h e n P r i n z i p s u n d der Abschaffung
der
Handwerksabteilung bei der Smdtduma. Als Folge dieser Entwicklung wurden die
Handwerksverwaltungen in den Stadten in den letzten zwei D e k a d e n des 19.
Jahrhunderts nach und r a c h aufgelost. Dieser A b s o n d e r u n g s bzw.
AuflosungsprozeB der Handwerksverwaltungen wurde durch zwei Prozesse
herbeigefuhrt: einerseits wie gesagt durch die Aufhebung des Standesprinzips in
der Organisation der stadtischen Selbstverwaltungsstrukturen, wodurch sie
liberalisiert wurden, andererseits durch die allgemeine wirtschaftliche und soziale
Entwicklung unter der stadtischen Bevolkerung, die besonders in St. Petersburg
durch die Industrialisierung gepragt und beschleunigt wurde. Durch die
A u s h o h l u n g des standischen Grundsatzes im Handwerk, nach d e m mit A u s n a h m e
der Kaufleute nur Zunfthandwerker das H a n d w e r k in vollem Umfang ausuben
durften, und nach der zum Teil nichtkodifizierten allmahlichen Einfuhrung der
Gewerbefreiheit, verlor nach M e i n u n g der meisten Regierungsmitglieder die
Handwerksverwaltung ihre Existenzberechtigung. In dieser Hinsicht war das neue
Stadtstatut von 1892 fur die Handwerker St. Petersburgs eine logische Folge der
frtiheren Regierungspolitik.
Es soli im Z u s a m m e n h a n g mit der Diskussion tiber die Folgen der Reformen der
stadtischen Selbstverwaltung in den Jahren 1870 und 1892 eine Ambivalenz
erwahnt werden, die mehrere Forscher dazu verleitete, die letzte Reform als
eindeutig „reaktionar" zu w e r t e n . Folgende Argumente w u r d e n vertreten.
N a c h d e m die Wahlerschaft in den Stadten mit der Reform v o n 1870 wesentlich
vergroBert worden war, fiel ihre Verringerung nach der Reform von 1892 ins
A u g e : die Basis der Stadtdumen in der Bevolkerung reduzierte sich auf Kosten der
298
298
Boris Borisovid Veselovskij, Istorija Zemstva za sorok let, torn 1, 2. St. Petersburg 1909,
torn 3, 4. St. Petersburg 1911; L. G. Zacharova, Zemskaja kontrreforma 1890 g, Moskau
1968; N. M. Pirumova, Zemskoe liberaTnoe dviienie: SociaPnye korni i evoljucija do naala
XX veka, Moskau 1977; dies, Zemskaja intelligencija i её rol' v obScestvennoj bor'be do
naiala XX veka, Moskau 1986; G A. Gerasimenko, Zemskoe samoupravlenie v Rossii,
Moskau 1990, S. 25f.
299
Zunftmeister, der me§6ane und Bauern betrachtlich . AuBerdem w u r d e die
Tatsache angeprangert, daB die Selbstverwaltung in ihren Rechten durch die
Einfuhrung der Gouverneursvollmacht wesentlich beschrankt w o r d e n s e i . Peter
Liessem zeigt allerdings, daB die Folgen der Reform v o n 1892 nicht einseitig
negativ beurteilt w e r d e n sollten, weil sie in B e z u g auf die Funktionalitat der
Selbstverwaltung „mehr Aktionsfreiheit,
e n o r m e n Fortschritt fur die
Systematisierung u n d Stabilisierung der gesamten zarischen L o k a l v e r w a l t u n g "
bedeutete. Die doppelte Zustandigkeit der stadtischen Selbstverwaltung und der
Gouvernementsverwaltung loste viele Konflikte zwischen beiden aus. D i e
z u n e h m e n d e Intensitat aber, mit der die Konflikte verliefen, laBt die gestiegene
Selbstandigkeit oder wenigstens N e i g u n g der Selbstverwaltung zu dieser
erkennen. Ungeachtet der Tatsache, daB die Gouverneure, auch in St. Petersburg,
die stadtischen Selbst- und Zemstvoverwaltungen ihrer Kontrolle unterwerfen
w o l l t e n , w a s ihnen auch besonders in der Personalpolitik d a n k ihrer Vollmacht
gelang, w u r d e das Prinzip der Doppelzustandigkeit v o n der stadtischen
Selbstverwaltung immer mehr revidiert, w o d u r c h sie immer selbstandiger in
„ihrem" Handlungsraum agierte. Welche A u s w i r k u n g e n die verstarkte Prasenz des
Gouverneurs fur St. Petersburg hatte, laBt sich am Beispiel der St. Petersburger
Handwerksverwaltung uberprufen. Deren Widerstandsgrad den Verordnungen des
Staates gegentiber zeigt wiederum ihr gewachsenes SelbstbewuBtsein in ihrer
Tatigkeit.
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L. F. Pisar'kova, Social'nyj sostav gorodskich glasnych nakanune kontrreformy 1892
goda, in: ISSSR 1989 Nr. 6, S. 152-160; dies., NizSie, S. 9; dies., Moskovskoe obScestvennoe
upravlenie s serediny 1880-ch gg. do pervoj russkoj revoljucii, Moskau 1982.
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Vgl. Hufher, Stadtdumawahlen, S. 226.
Liessem, Verwaltungsgerichtsbarkeit, besonders die Unterkapitel liber die „Bewertung der
sogenannten Reform von 1890", S. 179-182, und iiber „Das Grundprinzip der beschrankten
Gouverneursvollmacht", S. 183-188, hier S. 18If.
5.1
Die Selbstverwaltung der russischen Zunfte bis 1846
Die Handwerksverwaltung bestand von 1785 bis 1846 ohne groBe Anderungen.
D a die Fragen der Selbstverwaltung immer eine zweitrangige B e d e u t u n g in der
russischen Innenpolitik hatten, wurde die Handwerksverwaltung als ein Organ der
stadtischen Selbstverwaltung i n St. Petersburg sich selbst uberlassen. Erst ab 1820
schenkte ihr die Regierung aufgrund fiskalischer Interessen eine groBere
Aufmerksamkeit. In den 1830er und 1840er Jahren wurden dann mehrere
Regierungskommisionen zusammengerufen, die die Handwerksverwaltung auch
in Hinsicht ihrer allgemeinen Effizienz prtiften.
Mit der weiteren Entwicklung des H a n d w e r k s und der Wirtschaft insgesamt k a m
es immer haufiger zu Widerspruchen und Unstimmigkeiten sowohl zwischen
Regierung und Selbstverwaltung der Handwerker als auch zwischen dieser und
den Handwerkern in der Stadt. In diesem Z u s a m m e n h a n g bewilligte die
Zunftverwaltung einige Regel ungen, die vom Stadtmagistrat nicht in Frage gestellt
wurden, j e d o c h d e m Sinn des Handwerksstatutes widersprachen. Dies veranlaBte
die Regierung im Oktober 1835, einen ErlaB uber die Wiederherstellung „der
O r d n u n g " in der Handwerksverwaltung h e r a u s z u g e b e n . Es war notig, die
Regelungen fur die Handwerksverwaltung, die seitens des Stadtmagistrates zusammengefaBt wurden, in Einklang mit der Gesetzgebung zu bringen. D a aber das
Innenministerium schon seit den 1820er Jahren mit dem Projekt uber die
hauptstadtischen Stadtdumen beschaftigt war, in dem auch die Frage der
Handwerksverwaltung entschieden werden sollte, mied die Regierung eine
A n d e r u n g des Status quo und verbot lediglich alle unerlaubten Geldsammlungen
unter den Handwerkern. Diesbeziiglich ftihrte der Stadtmagistrat eine Ш в ф г й г ш ^
der Buchhaltung und der Zahl der Handwerker in den Zunften durch.
V o n 1835 bis zur Einfuhrung cler neuen offentlichen O r d n u n g in den Hauptstadten
1846 ging die Regierung der Алагуве des Handwerksstatutes und der Erforschung
der wirklichen Lage des H a n d w e r k s nach. Sie erarbeitete einige Grundprinzipien,
nach denen sie sich bei der Einfuhrung der neuen offentlichen O r d n u n g in St.
Petersburg 1846 richtete. Z u dieser Zeit erfreute sich die Handwerksverwaltung
einer groBen A u t o n o m i c in inneren Angelegenheiten. Bei einer naheren
Betrachtung der L a g e in der Verwaltung stellten die Inspekteure der Regierung
fest, daB die Beschlusse der Handwerksversammlung weder der Stadtduma noch
dem Stadtmagistrat zur Bestatigung vorgelegt wurden. Sie legte z. B . laut den
Worten der Staatskontrolleure die H o h e des Gehaltes der Verwaltungsmitglieder
„vollig eigenstandig" fest. Das Handwerksoberhaupt bekam demzufolge einen
303
303
Ukaz e.i.v. ot 12.10.1835, in: RGIA, f. 1286, op. 5, d. 200: Po ukazu praviterstvennogo
Senata о ustrojstve zdesnich remeslennych uprav, hier 1. 26.
L o h n von bis zu 4 0 0 Rubeln, die Altesten zwischen 100 und 4 5 0 Rubel, acht
Verordnete j e 500 Rubel. Einer v o n ihnen erhielt sogar 1.500 R u b e l .
Die kritische Analyse des Handwerksstatutes durch Staatsrat N . Smirnov im Jahre
1843 stellt eine B e s t a n d s a u m a h m e des Zunfthandwerks im Z u s a m m e n h a n g mit
der Aktualitat des Handwerksstatutes dar. Seine B e m e r k u n g e n erlauben es, einige
Schlusse zu ziehen, w a r u m in der Verwaltung AmtsmiBbrauch u n d unregelmaBige
Beitragssammlungen uberhaupt moglich waren. Als erstes bemerkte er in seinem
Bericht, daB die „Satzung seit Katharina II. nicht geandert worden war, w a h r e n d
die Entwicklung des Handwerksstandes und der Techniken bei der Herstellung der
Produkte weit fortgeschritten w a r " . Er empfahl, d e m Stadtmagistrat das Recht
einzuraumen, bestimmte Zunftstatuten (obrjady) zuzulassen, diese sollten j e d o c h
nicht d e m Handwerksstatut u n d der allgemeinen Gesetzgebung widersprechen,
w a s ab 1850 sukzessive in die Tat umgesetzt w u r d e .
Smirnov unterstrich, daB das Handwerksoberhaupt eine passive Rolle s p i e l t e .
Es diente nur als Mittler zwischen der Deputiertenversammlung und der
Stadtverwaltung. Seiner M e i n u n g n a c h war er nicht an Standesangelegenheiten
interessiert, die ihm fremd waren. U m die Arbeit des Handwerksoberhaupts
umfassender zu gestalten, sollten nach Smirnovs Vorschlag erstens die
K o m p e t e n z e n des Handwerksoberhaupts und damit der Verwaltung erweitert
werden. Zweitens sollte eine kollegiale Verwaltung eingefuhrt werden. U m das
kollegiale Prinzip einzufuhren, schlug Smirnov vor, einen Beirat aus vier
Mitgliedern unter d e m V o r s i t z des H a n d w e r k s o b e r h a u p t e s
in der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g zu bilden. AuBerdem sollten start einem drei Kandidaten
auf den Posten des Handwerksoberhauptes gewahlt werden, w o d u r c h Willktir bei
der Wahl verhindert werden sollte. Start der alljahrlichen Wiederwahl des
Handwerksoberhaupts und der Zunftaltesten, die Smirnov fur zu umstandlich hielt,
schlug er eine dreijahrige Legislaturperiode v o r .
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Teilweise hatte Smirnov mit seinen B e m e r k u n g e n iiber die Lage der
Handwerksverwaltung recht. Jedoch war die Rolle des Handwerksoberhaupts nicht
so unbedeutend, wie es bei Smirnov klingt. Dieser Zeitabschnitt in der Geschichte
der Handwerksselbstverwaltung stellt eine Monopolisierung der M a c h t in der
Kanzlei der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g sowie eine verminderte EinfluBnahme der
Zunfthandwerker in der Zunft- und allgemeinen Handwerksverwaltung auf
304
Raport ministra vnutrennich del Bludova, in: Ebd., 1. 7f.
305
О predostavlenii zamedanij na svod remeslennych postanovlenij ot 12 dekabrja 1843 g., in:
RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172: Po zapiske statskogo sovetnika N. Smirnova, hier 1. 1.
306
Ebd., 1. 9f.
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Ebd., 1. llf.
standische Angelegenheiten dar. Die Zunftaltesten und das Handwerksoberhaupt
fuhlten sich einem „demokratischen O r g a n " wie der Meisterversammlung zu
w e n i g verpflichtet, obwohl sie durch diese Versammlung gewahlt wurden. Z w a r
waren sie von ihren Standesgenossen angesehen u n d akzeptiert, verhielten sich
ihrem Status gemafi aber oft v/ie Staatsangestellte und distanzierten sich so von
den Handwerkern. In dieser Hinsicht achteten sie mehr auf die Verfugungen, die
von Stadtmagistrat und Stadtduma ergingen, als auf die H a n d w e r k s v e r s a m m l u n g ,
die keine Kontrollfunktion austiben konnte. Die Kontrolle uber das
H a n d w e r k s o b e r h a u p t fehlte j e d o c h nicht nur seitens der Handwerker, sondern
auch seitens der Stadtverwaltung bzw. des Stadtmagistrats, die w e n i g auf die
MiBstande in der Handwerksverwaltung achteten und es lieber vorzogen, mit dem
H a n d w e r k s o b e r h a u p t ein ungestortes Arbeitsverhaltnis zu pflegen. Dies sollte sich
aber ab 1846 andern.
Bis dahin spielte die legislative Macht in Gestalt der allgemeinen
Handwerksversammlung und der Zunftversarnmlung eine eher zweitrangige Rolle:
Erstere versammelte sich einmal pro Jahr, um das Handwerksoberhaupt zu wahlen
und den jahrlich v o n ihm vorge legten Finanzbericht zu verabschieden. Die Meister
einer Zunft versammelten sich alle vier M o n a t e im Zunfthaus (gerberg), gingen
internen Fragen wie der Aufhahme von Meistern, Gesellen und Lehrlingen in die
Zunft, der L o s u n g v o n Streitfragen zwischen den Handwerkern einer Zunft nach
und legten die Beitragssatze der Zunftkasse fest. D a aber nur sieben Zunfte, derer
es in der Stadt zu diesem Zeitpunkt 65 gab, ein Zunfthaus hatten, sollten die
Meister anderer Zunfte eine Moglichkeit haben, sich auBerhalb des Zunfthauses
und des Hauses der Handwerksverwaltung zu v e r s a m m e l n .
Die Recherchen S m i m o v s flnden ihre Bestatigung durch den deutschen Kurschner
Michail Petrovskij, der drei Jahre spater, am 29. April 1843, d e m Innenminister
ein Schreiben uber die MiBstande in den russischen Zunften z u k o m m e n lieB. Er
auBerte seine Besorgnis uber die unvollstandige Ц Ь е ф г и г ш ^ der Verwaltung
durch Smirnov, der als AuBenstehender nicht imstande sei, alle Fakten zu
durchschauen. Petrovskij sah seine Aufgabe in der Aufklarung der MiBstande. Als
erstes nannte er eine vollige Unkontrollierbarkeit des Handwerksoberhaupts,
w o d u r c h spurbare Lucken in den Finanzen entstanden: 1843 fehlten 20.000
Silberrubel, die als Steuer an die Stadtduma zu zahlen w a r e n . D a s
Handwerksoberhaupt fuhrte die Buchhaltung nur gelegentlich und trug die einund ausgegangenen S u m m e n willkurlich ein. Die Situation w u r d e durch die
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Po zapiske Smimova, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172, Par. 401.
Predlozenie mastera skornjaznogo nemeckogo cecha Michaila Petrovskogo ministru
vnutrennich del, vom 29. April 1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii S.
Peterburgskoj rossijskoj remeslennoj upravy i podvedomstvennych ej cechov (13.11.184219.1.1945), hierl. 16ff.
doppelte Buchfuhrung der Zunftaltesten wahrend der Z a h l u n g und der Verteilung
der Steuerbeitrage unter den Handwerkern noch undurchsichtiger. Der Teil der
Handwerker, der meistens v o m Land k a m und nicht in eine Zunft eintreten konnte
oder wollte, w u r d e trotzdem v o n den Zunftaltesten inoffiziell mit zehn bis zwanzig
Papierrubel
im Jahr besteuert. Dies geschah unter dem Vorbehalt
einer
„freiwilligen" Abgabe fur die Zunftkasse oder einer Steuersammlung fur den Staat.
Der E i n g a n g dieser Beitrage wurde extra in den dafur vorgesehenen
Btichern
protokolliert. D a s Geld selbst wurde angeblich unter den Altesten, ihren Vertretern
und
den
Zunftmeistern
wahrend
der
Zunftversammlungen
verteilt.
Die
vollstandigen Handwerkerverzeichnisse erhielt weder das Handwerksoberhaupt
noch die Stadtduma.
U m seine Beschuldigungen zu belegen, fugte Petrovskij die Quittungen der
Kurschner russischer Zunfte fur die Jahre 1837 bis 1842 hinzu. Laut den
Quittungen waren v o n den Meistern dieser Zunft
1842 1.000
Papierrubel
eingesammelt worden, von denen die Halfte als Steuer an die D u m a gegangen sein
sollten. A m 3. September befanden sich aber start 500 nur noch 27,5 Papierrubel
in der K a s s e
311
. Fast alle Einnahmen, die in die Zunftkassen und in die
Handwerkskasse eingingen, wurden als L o h n an die Verwaltungsmitglieder
ausgegeben, so daB fur wohltatige Z w e c k e k a u m etwas iibrig blieb. Hingegen
unterhielt die Zunftverwaltung in M o s k a u ein Pflegeheim, in d e m 2 0 0 alte
Handwerker und 4 0 Kinder versorgt wurden.
A m 6. September 1843 berichtete Smirnov iiber neue Untersuchungsergebnisse
der russischen Verwaltung. Die Zunfte der Backer, Bottcher, Kattundrucker,
Giirtler, Lederer, der deutschen Backer, Miitzenmacher, Kunstmaler, Topfer und
Karrenbauer wiesen folgende Mangel auf:
1.
Es gab keine Verzeichnisse iiber die in den Zunften vorhandenen Meister,
Gesellen u n d Lehrlinge.
2.
Die gesammelten 2.000 Silberrubel der Kopfsteuer w u r d e n nicht in die
Biicher
eingetragen.
Es
blieb
offen,
mit
welchem
Geld
das
Handwerksoberhaupt die Dumabeitrage fur die erste Jahreshalfte bezahlt
hatte.
3.
Bei einer Revision stellte sich heraus, daB die eingegangenen S u m m e n nicht
in die Biicher eingetragen worden waren und keine Gelder in der Kasse
waren.
4.
Der Zunftalteste der Bottcher k o n n t e keinen Benefit iiber die
1842
gesammelten Summen erstatten. D a s H a n d w e r k s o b e r h a u p t schenkte den
B e s c h w e r d e n der Zunftmeister angesichts der Reputation des Zunftaltesten
311
Predlozenie, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii, hier 1. 22f.
keine B e a c h t u n g . Wahrscheinlich war er auf seine Stimme bei der nachsten
312
Wahl a n g e w i e s e n .
Die Handwerksverwaltung hatte zu diesem Zeitpunkt eine informelle Ordnung, auf
die die Regierung nur von Zeit zu Zeit mittels einer Kommission einen Blick warf.
Diese Nachsicht seitens der Regierung und der Stadtverwaltung nutzte die
Verwaltung aus und n a h m indirekt EinfluB auf den Stadtmagistrat.
Der Stadtmagistrat brachte namlich am 31.8.1843 eine V e r o r d n u n g heraus, die
verbot, die leibeigenen bauerlichen Handwerker ohne schriftliche Erlaubnis ihrer
Gutsherren in die Zunfte einzuschreiben. Die neue V e r o r d n u n g schrankte die
Aufhahme bauerlicher Handwerker in die Zunfte betrachtlich ein. Die Erlaubnis
war nicht so leicht zu b e k o m m e n , da die meisten Gutsherren abwesend waren und
ihre Verwalter die benotigten Formulare nicht bei der H a n d hatten. AuBerdem
muBten die Erlaubnisscheine durch den Adelsmarschall von St. Petersburg
bestatigt werden, w a s bei einer Anzahl v o n mehreren Zehntausend pro Jahr aus
praktischen Griinden nicht moglich war. Der Stadtmagistrat uberschritt seine
Befugnisse als gerichtliche Institution und ubernahm legislative Aufgaben, w a s
313
der Gesetzgebung w i d e r s p r a c h . E s ist ungewiB, ob die oben
erwahnte
Beschrankung des bauerlichen Handwerks seitens des Magistrats nach Absprache
mit der Handwerksverwaltung offentlich bekannt wurde oder nicht. A u f j e d e n Fall
geschah es im Interesse der Handwerksverwaltung, da sie mit einer Begrenzung
der Zahl von neuen Zunftmeistern die Existenz der vorhandenen Zunftmeister
gesichert sah.
In der Fachliteratur wurde immer wieder die Frage zur Diskussion gestellt, o b die
Zunfte rein pragmatisch aus Griinden der verbesserten Steuersammlung oder als
Katalysator fur die Entwicklung der Wirtschaft ins Leben gerufen
worden
314
w a r e n . Beides scheint richtig zu sein. Es hangt von Zeitpunkt und Situation ab,
w a s konkret v o n der Regierung oder den Stadtbiirgern selbst bezweckt wurde. V o n
Zeit zu Zeit anderten sich die Akzente in der Politik der Regierung: Fur Peter I.
waren sowohl wirtschaftliche als auch steuerliche Aspekte bei der G r u n d u n g der
312
Doklad ministru vnutrennich del о besporjadkach v rossijskoj remeslennoj uprave, vom 6.
September 1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii, hier 1. 43f.
3 . 3
Zapiska Smirnova ot 23.06.1844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii, hier
1. 46f.
3 . 4
Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie; ders., Ustrojstvo; Kizevetter, Posadskaja obSeina;
LeSkov, Ocerk; ders., Russkij narod; Pazitnov, Problema, S. 52; Stepanov, Sravnitel'noistoriCeskij opyt.
Zunfte v o n Gewicht. Dagegen bezweckte die Kankrinsche Gildenreform v o m 14.
November 1824 lediglich eine verbessertes S t e u e r a u f k o m m e n .
315
5.2
Die V e r w a l t u n g der deutschen Zunfte
N o c h vor der offiziellen Griindung der Zunfte 1722 gab es in St. Petersburg
deutsche Zunfte. Der Z u z u g der auslandischen H a n d w e r k e r nach RuBland,
hauptsachlich n a c h St. Petersburg oder M o s k a u , stieg durch den ErlaB v o m 16.
April 1702 betrachtlich a n . Die meisten v o n ihnen lieBen sich in St. Petersburg
nieder. Die weiteren Erlasse v o m 4. Dezember 1762 und v o m 2 2 . Juli 1763
sicherten einen stetigen Z u w a c h s an auslandischen H a n d w e r k e r n in der
H a u p t s t a d t . Diejenigen Handwerker, die im Kontor fur Auslander (Kontora
opekunstva
inostrannych)
den W u n s c h auBerten, in die Zunfte einzutreten,
sollten auch ohne Schwierigkeiten in diese aufgenommen werden:
316
317
318
„Die Auslander sollen in die St. Petersburger Zunfte ihrem W u n s c h
nach ohne Hindernisse aufgenommen w e r d e n " .
319
Angesichts der vielen Kommissionen, die v o n der Regierung zur Uberprtifung der
russischen und der deutschen Handwerksverwaltungen zusammengerufen wurden,
gibt es eine betrachtliche Anzahl v o n Akten, die aufschluBreiche Informationen
iiber die deutschen Zunfte liefern. Eine Uberprtifung der deutschen
Zunftverwaltung fand im Jahre 1842 start. Die Kommission, die auf Verfugung des
Innenministers zusammengerufen worden war, stand unter der Leitung des
3 . 5
Vgl. Otnosenie ministra finansov Kankrina к s. peterburgskomu voennomu generalgubernatoru ot 30 ijulja 1825, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471,1. 18.
3 . 6
PSZ RI 1, Bd. 4, Nr. 1910 (16. April 1702): О vyzove inostrancev v Rossiju, s obe&aniem
im svobody veroispovedanija, S. 192.
3 . 7
PSZ RI 1, Bd. 16, Nr. 11880 (22.07.1763): О dozvolenii vsem inostrancam, v Rossiju vezzaju§£im, poseljatsja v kotorych gubernijach oni pozelajut i о darovannych im pravach, S.
313f. Diesem ErlaB ging der weniger ausfuhrliche ErlaB vom 4. Dezember 1762 unter der
Nummer 11720: Manifest „О pozvolenii inostrancam, krome zidov, vychodit' i selit'sja v
Rossii i о svobodnom vozvraScenii v svoe otecestvo russkich ljudej, bezavSich za granicu"
voraus, S. 126f.
318
PSZ RI 1, Bd. 16, Nr. 11879: Ob ucrezdenii Kanceljarii Opekunstva inostrannych
kolonistov, S. 312f.
319
PSZ RI 1, Bd. 15, Nr. 12290 (9. Dezember 1764): О zapiske vychodjaSdich v Rossiju na
poselenie inostrannych remeslennikov v magistratskoj kontore i о vydace im deneg na
obzavedenie, S. 999: „Inostrancev dlja zapiski po ich zelanijam v S. Peterburgskie cechi
prinimat bez vsjakogo otricanija".
4
Staatsrats Baron Julij Fedorovic Korf. Als AnstoB fur die Einberufung der
Kommission diente die Klage des deutschen Meisters der Kurschnerzunft, Joseph
Grunberg, der die deutsche Verwaltung und vor allem das Handwerksoberhaupt
August Dittmar der fehlerhaften Buchfuhrung beschuldigte. Er verlangte von
Dittmar einen Rechenschaftsbericht uber die Finanzen der Handwerksverwaltung,
den dieser niemals vorlegte.
Die Meister betrachteten Grunberg als einen Storenfried, der die traditionelle
O r d n u n g in den Zunften, zu verandern suchte. Ihre MiBstimmung druckten sie
nachhaltig in der Wiederwahl Dittmars 1840 aus. In der V e r s a m m l u n g erhob
Grunberg als Stellvertreter des Zunftaltesten der Kurschner seine Stimme fur eine
Uberprufung der Buchfuhrung und verlangte einen Bericht v o n Dittmar. Die
Zunftaltesten, ihre Stellvertrete г und die Mitglieder des Stadtmagistrats waren uber
den Vorschlag Grtinbergs emport. Die Altesten verlangten „schimpfend und
schreiend" von ihm, zu schweigen und die V e r s a m m l u n g sofort zu v e r l a s s e n .
Dittmar genoB unter den Meistern groBes Vertrauen. Seit 24 Jahren war er
Oberaltester der evangelisch-lutherischen St. Peter-Kirche, einer zentralen Kirche
fur die evangelisch-lutherische Glaubensgemeinschaft in RuBland. A u f die
Fursprache des General-Ingenieurs Graf O p p e r m a n n hin b e k a m er die silberne
Medaille am A n n e n b a n d und di e goldene Medaille als 14jahriges Ratsmitglied der
Augenheilanstalt St. P e t e r s b u r g s . Dies bestatigt sein groBes offentliches
E n g a g e m e n t und seine Autoritiit als angesehener Burger der Stadt. D e s w e g e n war
die im Grunde g e n o m m e n richtige Forderung Grunbergs fur die Zunftaltesten und
die Offentlichkeit fast schon Ketzerei, zumal die Zunftkasse voll war: 1840
enthielt sie rund 100.000 P a p i e r r u b e l .
320
321
322
Im Jahre 1820 beschlossen die Zunftmeister, daB j e d e r Zunfthandwerker jahrlich
10 Rubel an das Handwerksoberhaupt als eine Art Aufwandsentschadigung
entrichten
sollte. Diese
Steuer w u r d e
auBerdem
fur
den
Unterhalt
des
323
Verwaltungsgebaudes und fur die Kanzlei b e s t i m m t . D a s war aber nur ein Teil
der Beitrage, die Dittmar verwaltete. K o r f konnte aus den luckenhaften Unterlagen
der Verwaltungskanzlei, die v o m Handwerksoberhaupt gefuhrt w u r d e n , keinen
SchluB uber die wirkliche Lage der Finanzen der deutschen Zunfte ziehen. Dies
ruhrte daher, daB das Handwerkisstatut keine A n w e i s u n g e n zur Kanzleiordnung in
der
Handwerksverwaltung
und
zu
den
konkreten
Aufgaben
des
320
Pojasniternaja zapiska na zalobu ot skornjaznogo mastera I. Grjunberga ministru
vnutrennich del ot 23 ijunja 1842 goda, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii Korfom
inostrannoj remeslennoj upravy v Peterburge, hier 1. 46f.
321
Ebd., 1. 22.
322
Ebd., 1. 24.
Raport barona Korfa ministru vnutrennich del, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О
revizii, hier 1. 17.
Handwerksoberhaupts gab. Der Alltag diktierte ihm seine A u f g a b e n : Er war fur
die Ziinfte Kurator, Fiirsprecher u n d Ordnungshiiter in einer Person. Seine M a c h t
w a r autoritar u n d hatte einen
groBen Wirkungskreis. Mit der Zeit w u r d e der
R a h m e n seiner K o m p e t e n z immer groBer, sie umfaBte das Eintreiben u n d die
V e r w a l t u n g der Steuern und offentlichen Gelder, die Registrierung der Meister,
Gesellen und Lehrlinge, die Diplomvergabe, die Erlaubnis zur Griindung einer
neuen
Werkstatt,
die
er
mit
Verwaltungsmitteln
fordern
konnte.
Das
Handwerksoberhaupt fuhrte z u d e m die Korrespondenz mit hoheren A m t e m
324
.
Korf schlug vor, die Zahl der Meister in den Zunften genau zu iiberpriifen, u m zu
wissen, welche S u m m e iiberhaupt gesammelt werden sollte. Die Verzeichnisse
sollten aktualisiert werden, u m sie in Ubereinstimmung mit d e m tatsachlichen
Bestand der Meister zu bringen. Hier sind als Beispiel nur einige Meisterzahlen
fur das Jahr 1840 angefuhrt (siehe T a b . 7) . N u r fur diese ausgewahlten Ziinfte
betrug die Differenz
176 Meister, von denen
formell
1.760
Silberrubel
Steuergelder eingehen sollten.
E s ist unwahrscheinlich, daB die beiden Handwerksoberhaupter zu ungeschickt
oder unfahig waren, die vollstandigen Verzeichnisse der
Zunfthandwerker
zusammenzustellen und alle Beitrage korrekt in der Buchfuhrung zu registrieren.
Wahrscheinlich taten sie dies bewuBt, u m einen Teil der E i n n a h m e n fur den
Eigenbedarf und Kanzleiausgaben verwenden zu konnen. Die Versaumnisse in der
Aktualisierung
zuriickgefuhrt
der
Verzeichnisse
konnten
auch
auf
die
Zunftaltesten
werden. D a s Fehlen eines G r e m i u m s aus Meistern in der
Verwaltung und innerhalb der Zunfte, das eine u n a b h a n g i g e Kontrolle der
Buchfuhrung u n d eine Uberpriifung der H a n d l u n g e n der Altesten u n d des
Handwerksoberhaupts hatte ausiiben konnen, ermoglichte den AmtsmiBbrauch in
noch hoherem MaBe.
K o r f entdeckte, daB Dittmar gleich seinem russischen Kollegen eine doppelte
Buchfuhrung
hatte. In St. Petersburg gab es eine ziemlich groBe
Zahl
auslandischer Meister, die v o n keiner Zunft aufgenommen wurden. Die Griinde
dafur waren unterschiedlich: Die einen hatten kein Diplom, die anderen arbeiteten
allein. Solche Handwerker, die in einem Sonderbuch aufgezahlt
wurden,
besteuerte das Handwerksoberhaupt personlich. Die Besteuerung der zunftfreien
Handwerker stellte eine betrachtliche Einnahmequelle dar. Als Gegenleistung fur
die bezahlten Beitrage erhielten die Meister von Dittmar die Erlaubnis, in der Stadt
eine Werkstatt zu ftihren. U m sicher zu gehen, traf Dittmar eine Absprache mit
dem Adresskontor, daB die auslandischen Meister ihre Passe nur dann verlangert
bekamen, w e n n sie im Adresskontor eine vom Handwerksoberhaupt ausgestellte
Pojasnitel'naja zapiska, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, 1. 17.
Tabelle 7:
Anzahl der Meister in ausgewahlten Zunften nach den A n g a b e n von
Dittmar und K o r f 1840
Im Verzeichnis
TatsSchlich
Schmiede
17
26
Schneider
161
190
Posamentierer
6
15
Schreiner
35
66
Dreher
14
22
Meister
28
118
261
437
Gold- und Silberschmiede
Gesamt
Quelle: Pojasnitel'naj zapiska na zalobu ot skornjaznogo mastera I. Grjunberga ministru
vnutrennich del ot 23 ijunja 1842 goda, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii Korfom
inostrannoj remeslennoj upravy v Peterburge, hier 1. 50.
325
Quittung uber die bei ihm entrichtete Steuer v o r w i e s e n . Als bedenklich
bezeichnete Korf die Tatsache, daB das Handwerksoberhaupt die Lage der
326
Gesellen und Lehrlinge in den Werkstatten nicht uberprufte .
Die Ergebnisse v o n Korfs Untersuchung brachten ans Tageslicht, wie die Zunfte
die E n t w i c k l u n g
des H a n d w e r k s
behinderten.
Die Zunfte
bestritten
die
Zugehorigkeit des einen oder anderen Meisters zu ihrem H a n d w e r k und verwiesen
inn an andere Zunfte, w e s w e g e n viele Meister eine Werkstatt gar nicht in vollen
Umfang eroffhen konnten. Zum
einen strebten die Zunftmeister nach dem
alleinigen M o n o p o l in der Stadt. D a s beweisen die schikanose Meisterprufung, die
Schwierigkeiten bei der Aufhahme eines Meisters in die Zunft und die Vielzahl
der Meister, die trotz ihrer Fahigkeiten nicht in die Zunft eingeschrieben wurden.
Es wurde vollkommen auBer acht gelassen, daB einige von ihnen uber Zeugnisse
verfiigten, die sie als Lieferanten beruhmter westeuropaischer Konigs- und
Ftirstenhofe auswiesen. Z u m anderen gab es zwischen einzelnen Zunften standige
Fehden.
Die
Meister
beschuldigten
sich
gegenseitig,
fremde
Techniken
a n z u w e n d e n . M a n c h m a l waren die Kosten der Gerichtsverfahren sehr hoch. So
Ebd., 1. 18f.; Vgl. Ditjatin, Gorodskoe, S. 250f.
Pojasniternaja zapiska, 1. 17.
sollte beispielweise die Zunft der Musikinstrumentenbauer fur einen ProzeB gegen
einen Meister 3.442 Rubel bezahlen. In einigen auslandischen Zunften kostete
bereits das Einreichen einer Bittschrift bis zu 100 R u b e l
327
.
In einer Verfugung des Innenministers an den St. Petersburger Generalgouverneur
v o m 5. N o v e m b e r 1842 wurden weitere M a n g e l aufgedeckt. Beim Eintritt in die
Zunft zahlten die Meister start 10 zwischen 100 und 400 Papierrubel. Die 164
Meister der Backerzunft, die nicht gerade die armsten waren, wurden v o n der
Besteuerung ganzlich befreit. 1841 wurden v o m Handwerksoberhaupt 2.700
Silberrubel fur die Unterstutzung armer Meister bewilligt, wobei die Halfte davon
fur das 25jahrige Jubilaum des Handwerksoberhaupts ausgegeben wurden. Bei
j e d e r Meisterversammlung gab es bis zu 75 Rubel Sonderausgaben, die fur die
328
Bewirtung der Meister ausgegeben w u r d e n .
Ein Ergebnis der Revision war die drastische Kiirzung der E i n n a h m e n der
Verwaltung, w o d u r c h einige Engpasse entstanden, die aber mit der Zeit
ausgeglichen wurden. Die A u s g a b e n im Jahre 1849 iiberstiegen die E i n n a h m e n
von 5.500 Silberrubel u m 1.000 Silberrubel (siehe Tab. 8).
1850 waren die Ausgaben von 6.619 Silberrubeln dagegen durch die Einnahmen
gedeckt (siehe T a b . 9). Im darauffolgenden Jahr waren die A u s g a b e n in H o h e von
6.660 mit E i n n a h m e n in H o h e v o n 6.850 Silberrubeln gedeckt. Es bleibt hier zu
bemerken, daB die Kosten kontinuierlich anwuchsen, da der Verwaltungsapparat
vergroBert wurde. U m die Kosten fur den Unterhalt der Handwerksverwaltung zu
mindern,
erbaten
Petersburgs
am
die auslandischen
31.
Mai
1862,
Meister
kunftig
vom
start
Generalgouverneur
drei
nur
noch
St.
zwei
329
Verwaltungsmitglieder wahlen zu dtirfen .
Die Bemiihungen der auslandischen Handwerker, die Verwaltungskosten in
Grenzen zu halten, hatten Erfolg, im Jahre 1868 blieb die Bilanz positiv. In diesem
Jahr betrugen die A u s g a b e n der Verwaltung 6.710 Rubel u n d die E i n n a h m e n
6.760 Rubel.
327
Raport barona Korfa, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 92: О revizii,
hier 1. 24.
328
Predpisanie ministra vnutrennich del Perovskogo S. Peterburgskomu general-gubernatoru,
vom 5.11.1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hier 1. 61ff.
329
Doklad S. Peterburgskogo general-gubernatora ministru vnutrennich del, vom 11. Oktober
1862, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 215: Ob ogranicenii sostava ctenov S. Peterburgskoj
remeslennoj upravy v vidach sokraSdenija raschodov na soderzanie sego ucrezdenija (Oktober
1862 - Dezember 1867), hier 1. 1.
Tabelle 8:
A u s g a b e n der Handwerksverwaltung im Jahre 1849
Ausgabeposten
in Silberrubel
Handwerksoberhaupt
1200
drei Stellvertreter
1050
Sekretar
800
Buchhalter
600
drei Schreiberje 180 Silberrubel
540
zwei Wachter
192
Kurier
120
Kanzleiausgaben
600
Miete
1000
Heizung und Beleuchtung
200
M6belbeschafrung
200
Gesamt
6502
Quelle: Otnosenie voennogo general-gubernatora к ministru vnutrennich del, in: RGIA, f. 1287,
op. 37, d. 667: Ob ustrojstve Remeslennoj upravy (...), hier 1. 64f., 72f.
Es wurden auch E i n n a h m e n aus festverzinstem Kapital in H o h e v o n 975 Rubeln
aufgefuhrt, w a s auf eine Kapitalisierung des Verwaltungsvermogens hinweist.
M e h r als die Halfte w u r d e fur die Instandhaltung des Verwaltungsgebaudes und
Verwaltungskosten (jeweils 1.693 und 3.580 Rubel) ausgegeben. Weitere 655
Rubel wurden fur Kanzleiausgal^en, Wachter, Boten, A b o n n e m e n t s v o n Zeitungen,
Inserate und anderes verwendet. D e n Rest von 781 R u b e l n b e k a m e n finanziell
schwache H a n d w e r k e r in Form v o n Unterstutzungsgeldern . Analog zur
russischen Handwerksverwaltung legte die Verwaltung der deutschen Zunfte den
Jahreskostenvoranschlag bei der Stadtduma vor.
E s gab aber einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden
Handwerksgesellschaften. Walirend die russische Handwerksgesellschaft eine
330
330
Doklad S. Peterburgskogo gubernatora ministru vnutrennich del, vom 28. Februar 1868,
in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 887: Po povodu utverzdenija smety dochodov i raschodov S.
Peterburgskoj inostrarmoj remeslennoj upravy na 1868 god (vom 4. MSrz bis zum 25. April
1868), hierl. If.
Tabelle 9:
Einnahmen und Ausgaben der auslandischen Handwerksverwaltung
185Q
Ausgabeposten
Einnahmeposten
funf Rubel pro Meister
5000
Handwerksoberhaupt
1200
ein Rubel pro Gesellen
1200
drei Stellvertreter
1050
Sekretar
800
-
Buchhalter
600
-
Registrator
300
-
zwei Schreiber
360
-
ein Wachter und zwei Kuriere
360
-
Miete
-
Kanzleiausgaben
600
-
Heizung und Beleuchtung
200
-
M6belreparatur und anderes
50
-
andere Ausgaben
19
30 Kopeken pro Lehrling
450
6650
1080
6619
Quelle: Otnosenie voennogo general-gubernatora к ministru vnutrennich del, in: RGIA, f. 1287,
op. 37, d. 667: Ob ustrojstve Remeslennoj upravy (...), hier 1. 64f., 72f.
legislative M a c h t in F o r m der Deputiertenversammlung hatte, die die
Kostenvoranschlage der Verwaltung bestatigte, w o n a c h sie bei der Stadtduma zur
Bestatigung vorgelegt wurden, tat dies die Verwaltung der deutschen Zunfte nur
iiber die Bestatigung der Zunftaltesten, die genau wie die Verwaltung selbst eine
exekutive M a c h t v e r t r a t e n .
Die Revision der deutschen Zunfte brachte wesentliche Erfolge mit sich: Die
Buchfuhrung w u r d e in O r d n u n g gebracht; ein Teil der E i n n a h m e n der Verwaltung
w u r d e legalisiert, ein anderer Teil als iiberfliissige G e l d s a m m l u n g e n abgeschafft.
Daraufhin erhielt der Generalgouverneur v o m Innenminister eine A n o r d n u n g ,
Dittmar von seinem Posten abzusetzen, der Stadtduma einen V e r w e i s zu erteilen,
alle gesetzwidrigen Geldsammlungen zu verbieten, einen Bericht iiber die
Steuersammlung aufzustellen und das gesetzwidrige M o n o p o l der Backerzunft
aufzuheben.
331
331
Otnosenie S. Peterburgskogo gubernatora ministru vnutrennich del, vom 15. April 1868,
in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 887: Po povodu utveridenija smety, hier 1. 5.
Seit Anfang der 1850er Jahre gab es keine groBen Schwierigkeiten mit den
deutschen Zunften mehr, die viele Produktionsnischen fur sich nutzen konnten.
D i e auslandischen H a n d w e r k e r waren gut in die Infrastruktur der Hauptstadt
intergriert. Der gute Ruf, den sie hatten, sicherte eine stetige Nachfrage ihrer
Waren durch die St. Petersburger Kundschaft: Sie uberstanden die Zeit bis 1914
o h n e groBe Turbulenzen. Ungeachtet dessen bedeutete der Erste Weltkrieg ihr
E n d e . Die deutschen Zunfte wurden 1915 abgeschafft . Die verbliebenen Meister
konnten zeitweilig in die russischen Zunfte eintreten oder aus d e m L a n d ausreisen,
w a s viele von ihnen auch t a t e n .
332
333
5.3
Die Zeit v o n der Reform der offentlichen Selbstverwaltung
Petersburgs im J a h r e 1846 bis z u m E n d e der 1850er J a h r e
St.
Die A b n e i g u n g der Bevolkerung gegen j e d e staatliche Verordnung und
Beteiligung an den offentlichen Korperschaften der Stadt war eine Tatsache, gegen
die die Regierung machtlos war, gleichgiiltig, ob es sich u m die Wahl in die
„Burmisterskie palaty" Ende des 17. Jahrhunderts oder um die Tatigkeit in den
Stadtdumen E n d e des 18. Jahrhunderts bis Ende des 19. Jahrhunderts oder um die
Wahlbeteiligung bis Ende des 19. Jahrhunderts handelte. Die Regierung erkannte
dies schon friih und brachte einige Erlasse heraus, die „wurdige Burger der Stadt"
v o m Dienst befreiten. Der ErlaB v o m 2 8 . Juni 1731 befreite die Burger von der
Wahl in verschiedene staatliche und offentliche Dienste. Dieses Privileg gait nur
fur „Fabrikanten", die v o m Manufakturkollegium als wtirdig erachtet wurden. Die
anderen, die diese Wahl als eine schwere Verpflichtung empfanden, muBten sich
fugen .
In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts anderte sich die Einstellung der
Stadtbiirger zur T e i l n a h m e an der offentlichen Verwaltung wenig, sie blieb
negativ. Es fehlte das gesellschaftliche Interesse, da eine Stadtgesellschaft kaum
existierte und erst in der Entstehung begriffen war. Die Standesversammlungen
w u r d e n nur unregelmaBig von den Standesmitgliedern b e s u c h t . Deswegen
334
335
332
Ob uprazdnenii Petrogradskoj upravy inostrannych remeslennych cechov (1915), in:
RGIA, f. 1288, op. 11, d. 25, hier 1. 3f.
333
Predstavlenie iz kazennoj palaty v departament okladnych sborov, vom 14.10.1915, in:
RGIA, f. 1288, op. 11, d. 60: Po otnoseniju departamenta ob§£ich del ot 13. Mai 1916 po
voprosu о prave inostrannych poddgjinych vstupat vremenno v dislo Petrogradskich
cechovych remeslennikov (23. Mai 1916-13. September 1917), hier 1. 2f.
4
334
L. O. PloSinskij, Gorodskoe ili srsdnee sostojanie russkogo naroda v ego istoriceskom
razvitii ot nadala Rusi do novejSich vremen. St. Petersburg 1852, S. 202. Vgl. Ditjatin,
Gorodskoe samoupravlenie, Bd. 2, S. 246.
befreite die Regierung 1824 die Kaufleute der ersten und der zweiten Gilde v o n
der Pflicht, in offentlichen Amtern zu dienen, da sie einsah, daB die w o h l h a b e n d e n
und angesehenen Burger diesen Dienst als Verletzung ihrer Ehre ansahen. Sie
konnten ohne j e d e n Grund, falls sie gewahlt wurden, den Dienst in einem
offentlichen A m t abschlagen. A u s diesem Grund waren in der Sechsstimmigen
D u m a fast ausschlieBlich Kaufleute der dritten Gilde, Kleinburger und
Zunfthandwerker, die kein Risiko eingingen, ihre W u r d e zu verlieren. D a s A m t
befreite den Amtstrager bzw. Deputierten nicht einmal v o n der korperlichen
Zuchtigung, die erst 1857 abgeschafft w u r d e .
Die Zunfthandwerker bildeten gegenuber den Kaufleuten und den Kleinburgern
eher eine A u s n a h m e . Ihre Selbst- bzw. Handwerksverwaltung - die
Zunftverwaltungen eingeschlossen - war ein gut entwickelter Verwaltungsapparat,
der nicht nur den fiskalischen Z w e c k e n des Staates diente, sondern seine
Aktivitaten mehr u n d m e h r auch in Richtung sozialer Sicherheit und Bildung
ausbreitete.
Ungeachtet aller bescheidenen Errungenschaften in der Handwerksorganisation
der Hauptstadt laBt sich trotzdem sagen, daB die Zunfthandwerker eine
Selbstverwaltung, wie sie im heutigen Sinne verstanden wird, nicht hatten. Erst
seit der Reform der offentlichen Verwaltung v o n St. Petersburg im Jahre 1846
g e w a n n die Selbstverwaltung der Handwerker an Gestalt u n d B e d e u t u n g . Die
Aktivitat der Zunfthandwerker in Wahlfragen stieg an, es entstanden verschiedene
Institutionen wie die Sonntagsschule, die Malschule, die Unterstutzungskasse und
das Altersheim. D a s Ansehen der Amtsinhaber der V e r w a l t u n g war ebenfalls
groBer. Die Amtsstelle in der Handwerksverwaltung, die ein Teil der stadtischen
Selbstverwaltung war, entwickelte sich zu einem Prestigeposten, der v o n einer
immer groBeren Zahl wohlhabender Meister angestrebt wurde. Dieses Streben ist
durch das Verlangen der Meister nach sozialem Ansehen bzw. nach der E r h o h u n g
ihres sozialen Status zu erklaren. Nicht unbedeutend war auch die materielle
Kompensation fur die offentliche Tatigkeit. Im Unterschied zu M o s k a u , w o die
Zunftaltesten nicht mehr als 250 Papierrubel bekamen, envies sich der Dienst in
der Handwerksverwaltung v o n St. Petersburg nicht nur aus sozialer, sondern auch
aus materieller Sicht als durchaus lohnend. Hier erhielten
die
Verwaltungsmitglieder viel hohere Entgelte als in Moskau: Der Handwerksalteste
bekam 6.000 Papier- bzw. 1.714 Silberrubel, die Zunftaltesten bis zu 1.500 Papier336
337
336
Ebd., S. 158f.; PSZ RI 2,1857, Nr. 15206: Uber die Abscrmffung der Zuchtigung der
Dumadeputierten.
337
Uber die Einfuhrung der neuen Stadtordnung im Jahre 1846 s. Hildermeier, Burgertum, S.
272-278.
bzw. 428,6 Silberrubel und ihre Stellvertreter bis zu 1.000 Papier- bzw. 285,7
Silberrubel im J a h r .
Uberhaupt trat an die Stelle des Handwerksoberhauptes die Handwerksverwaltung,
die aus dem Standesaltesten, seinen Stellvertretern und den Vertretern der
zeitweiligen Handwerker bestand. Der Handwerkerstand unterstand nicht d e m
Magistrat, sondern der Verwaltenden Stadtduma. In der Allgemeinen Stadtduma
wurde eine Handwerksabteilung eingerichtet, die die G e s a m t v e r s a m m l u n g aller
Zunftmeister ersetzte und unter dem Vorsitz des Handwerksaltesten ihre
Versammlungen abhielt .
Fur die ordnungsgemaBe Durchfuhrung der Reform w u r d e eine Kommission fur
die Einfuhrung der neuen offentlichen Verwaltung ( K E N O V ) (kommissija
po
vvedeniju
novogo
obsdestvennogo
upravlenija)
einberufen.
Das
Kommissionsmitglied , Kollegienassessor Graf Sievers, sollte auf die korrekte
Durchfuhrung der Wahl bei den zunftigen H a n d w e r k e r n achten. Gleichzeitig
uberpriifte ein anderes Mitglied der Kommission, Grot, die Buchfuhrung der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g der deutschen Zunfte. Er fand etwa die gleiche Lage vor
wie sein Vorganger Baron Korf: „Es sind keine Biicher, keine R e c h n u n g e n u n d
keine Verzeichnisse zu finder", lautete sein Urteil. Fur die Aufbewahrung der
D o k u m e n t e gab es kein Archiv. Die Altesten k a m e n selten in die Verwaltung,
sondern verrichteten ihre dienstlichen Aufgaben zu Hause. Die Meister deutscher
Zunfte beklagten des ofteren eine ungerechte Steuerverteilung. D e s w e g e n schlug
Grot vor, das A m t des Kassierers und des Buchhalters einzufuhren .
Die neue offentliche O r d n u n g vergroBerte vor allem den Verwaltungsapparat fur
die daraus erwachsenen Aufgaben und fuhrte eine Deputiertenversammlung von
100 Deputierten ein, wodurch die schwierige Prozedur entfiel, die Meister eines
ganzes Standes, u m j e n e Zeit etwa 1.000 an der Zahl, zu versammeln. AuBerdem
bekamen die Handwerkerinnen das Recht, ihre Stimme mittels einer
Vertrauensperson bei der Wahl abzugeben. Fur die Deputierten wurde in der
Allgemeinen Stadtduma (Obsdaja
gorodskaja
Duma)
eine besondere
Handwerksabteilung eingerichtet, w o sie sich unter d e m Vorsitz des
Standesaltesten trafen. Die Handwerksverwaltung unterstand in Gerichtsfragen
d e m Stadtmagistrat und in administrativen Fragen der verwaltenden Stadtduma
(Rasporjaditel 'naja Duma), in die drei Vertreter der H a n d w e r k e r gewahlt wurden.
D a s Handwerksoberhaupt, das von nun an den N a m e n des H a n d w e r k s - bzw.
338
339
340
338
Predlozenie mastera skornjaznogo nemeckogo cecha M. Petrovskogo ministru vnutrennich
del ot 29 aprelja 1843 goda, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100: Ob obrevizovanii (...), hier 1.
16ff.
339
340
Ryckov, О cechach, S. 819.
Kopija s zurnala komissii, vom 21. Februar 1849, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667: Ob
ustrojstve remeslennoj upravy inostrannych cechov v S. Peterburge (12. April 1849 - 11.
Dezember 1851), hier 1. 17f.
Standesaltesten trug, wurde von zwei Stellvertretern
und
zwei
Stellvertreterkandidaten
k o n t r o l l i e r t u n d h i e l t m i t i h n e n in
der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g Rat. Die zwei Beisitzer der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g der
zeitweiligen H a n d w e r k e r bildeten eine Art Aufsichtsrat, der allerdings keinen
EinfluB auf den Handwerksaltesten nehmen konnte. Die Beisitzer konnten in
Ausnahmefallen
als
einfache
Beobachter
mit
Erlaubnis
der
D e p u t i e r t e n v e r s a m m l u n g in die V e r s a m m l u n g geladen w e r d e n . D e r
Handwerksverwaltung
bzw. dem Standesaltesten unterstanden
alle
Zunftverwaltungen, v o n denen es um diese Zeit rund 30 gab. Die jeweilige
Zunftverwaltung (Cechovaja uprava) wurde von einem Zunftaltesten u n d den
Sondermitgliedern (osobye deny) gefuhrt. Die Buchhaltung und Beglaubigung der
Vertrage w u r d e einem Makler auferlegt. Hinzu kamen die Einsammler v o n
Steuergeldern u n d ihre Gehilfen. Die V e r s a m m l u n g der vereidigten Meister fuhrte
die Meisterprtifungen durch. Die letzteren untersuchten auBerdem die
Streitigkeiten unter den Meistern, iiberpriiften die Handwerksbetriebe und die
Warenqualitat.
Die Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte bestand aus d e m Vorsitzenden
u n d den Vertretem der Zunfte. Zu den Aufgaben der Standesverwaltungen
gehorten die inneren Angelegenheiten des Standes, die ordnungsgemaBe
S a m m l u n g der Jahressteuern fur den Staat und fur die Stadt sowie fur die
Standesgesellschaft selbst. Die Verwaltung fuhrte miindliche Untersuchungen in
Streitfragen und bei Beschwerden der Zunftmitglieder durch, die zu ihrer
Gerichtsbarkeit gehorten. Die Handwerksverwaltung unterstand der verwaltenden
D u m a und dem Kassenamt, das die Steuersammlungen k o n t r o l l i e r t e .
Trotz aller Reformen blieb die stadtische Selbstverwaltung in einem hohen Grad
an die Staatsverwaltung gebunden. So stand in der Instruktion iiber die Einfuhrung
einer neuen Stadtordnung fur St. Petersburg 1846 unter § 1 1 , daB die
S t a n d e s v e r w a l t u n g e n , die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eingeschlossen,
einen
bestimmten Platz im Staatsapparat innehatten: Die Angestellten der Verwaltung
wurden denen im Staatsdienst gleichgestellt. A u c h spater, im Jahre 1858 bestatigte
die Regierung in einer Sondererklarung, daB die stadtische Selbstverwaltung vor
allem d e m St. Petersburger Generalgouverneur u n t e r s t a n d .
Der Anteil der Handwerker, die ein passives und aktives Wahlrecht erhielten, war
nicht groB: V o n 8.227 Wahlberechtigten in der Stadt waren nur 644 oder 7 , 8 %
standige Zunfthandwerker. Das aktive Wahlrecht erhielten Meister, die mindestens
25 Jahre alt waren u n d iiber ein Kapital von mindestens 300 Silberrubel verfugten.
D a s passive Wahlrecht erhielten Meister, die ebenfalls mindestens 25 Jahre alt
waren und ein Kapital von mindestens 600 Silberrubel besaBen. U m das A m t des
341
342
341
Russkij Vestnik", 1863, Bd. 47, Nr. 11 (Oktober), S. 789-822, N.D. Rydkov, О cechach v
Rossii i Zapadnoj Evrope, S. 819.
Handwerksaltesten innehaben zu konnen, sollte ein Meister ein Kapital v o n
mindestens 6.000 Silberrubel besitzen. In den Standesversammlungen wurden die
Abgeordneten der D u m a und die Mitglieder der Handwerksverwaltung gewahlt.
Die Wahl fand erstmals v o m 2 1 . bis zum 2 3 . Oktober 1846 im G l a z u n o v - H a u s
statt. An der Wahl n a h m e n 387 standige Meister teil. Insgesamt sollten, w i e
gesagt, 100 Standesvertreter gewahlt werden, w a s 1 7 , 1 % der Gesamtzahl der
Dumamitglieder entsprach, die 586 betrug. Die Zunfte der Schreiner u n d der
Schneider zahlten j e 14 Mitglieder, ihnen folgten Juweliere u n d Silberschmiede
(je 8), dann die Malerzunft (5), die der BronzegieBer u n d Tapezierer (je 4), die der
Schmiede, Dreher, Wagenbauer, Friseure und Arzthelfer (je 3), die der Hutmacher,
Schuhmacher,
Damenhe.lbstiefelmacher,
Schlosser,
Uhrmacher,
Speisewirtschaftler, Fensterrahmenmacher, Metallstecher (je 2) und die der
Kunstmaler, Ofensetzer, Damenschuhmacher, Buchbinder, Backer, Kurschner,
Posamentierer, Kupferkessler, Bottcher, Klavierbauer u n d H a n d s c h u h m a c h e r (je
ein Mitglied). Ihre Vertreter in der Standesversammlung u n d in der D u m a
reprasentierten insgesamt 3 0 Z u n f t e . Z u m Zunftaltesten wurde P. M . Matveev,
zu Stellvertretern F. M . Liman u n d I. V. Baulin g e w a h l t .
Bei der N e u w a h l im Jahre 1850 standen 61 neue Deputierte zur Wahl.
Ungewohnlich an dieser Wahl war, daB die Stelle d e s Standesaltesten, die fruher
jahrelang ein u n d dieselbe Person innehatte, neu besetzt wurde. Z u m neuen
Standesaltesten w u r d e der Meister der Tapeziererzunft D . I. Rosenberg, zu
Stellvertretern der Schreinermeister S. I. Malkov u n d der Schneidermeister S. F.
Siskin, als Kandidaten fur die Stellvertreter der Schuhmacher G. V . V a s i l ' e v u n d
der Schneider К . I. Orlov g e w a h l t .
343
344
345
346
Ungeachtet dieser N e u e r u n g e n waren die zeitweiligen Zunfthandwerker nicht
vollstandig in die Gesellschaf t der Zunfthandwerker integriert. Z w a r durften sie
in den Zunftversammlungen anwesend sein, aber an den V e r s a m m l u n g e n der
Deputierten n a h m e n sie nicht teil. Sie hatten w e d e r passives noch aktives Recht,
w e n n es u m d i e Wahl d e s Handwerksaltesten oder der 100 Deputierten der
H a n d w e r k s v e r s a m m l u n g ging, die in der Handwerksabteilung der Stadtduma ihre
V e r s a m m l u n g e n hielten. Dementsprechend konnten die zeitweiligen Meister, die
den groBten Teil der Steuern u n d Beitrage zur Zunftkasse beitrugen, nicht uber die
Mittel verfugen, die z. B . zur sozialen Vorsorge verwendet wurden. In der ersten
343
Es handelt sich wahrscheinlich um das Haus des erblichen Ehrenbtirgers der Hauptstadt K.
I. Glazunov, das sich auf der Kazaner StraBe 8-10 befand.
344
Ob§6ie gorodskie vybory v S. Peterburge po novomu ustrojstvu, in: 2MVD, Cast' 16
(Oktober-November 1846), S. 311-354.
345
Izvlecenie iz otdeta po S. Peterburgskoj gorodskoj obScej dume za pervoe trechletie (18471849), in: 2MVD, Nr. 4-6 (April-Juni 1852), S. 162.
346
Gorodskie vybory v Peterburge, in: 2MVD, Nr. 4-6 (April-Juni 1850), S. 267f.
Zeit nach Einfuhrung der neuen Handwerksverwaltung waren die zeitweiligen
Zunftmeister w e n i g daran interessiert, sich in die Standesangelegenheiten der
standigen Zunftmeister einzumischen oder an irgendwelchen V e r s a m m l u n g e n
teilzunehmen. Als sie im Winter 1846 in die K E N O V zur Verktindigung ihrer
Rechte eingeladen wurden, erschien kein einziger zeitweiliger Meister. D e s w e g e n
wurde d e m Standesaltesten noch einmal angetragen, sie zu versammeln, u m die
Beisitzer in die Handwerksverwaltung und die Mitglieder der Zunftverwaltungen
z u s a m m e n mit den standigen Meistern wahlen zu k o n n e n .
Diese passive Einstellung der zeitweiligen H a n d w e r k e r zu den offentlichen
Angelegenheiten dauerte aber nicht lange an. Wahrend ihre Zahl in der Stadt
standig w u c h s , stieg seit Beginn der „groBen Reformen" in den 1860er Jahren auch
ihr Anspruch auf EinfluBnahme in Fragen der Verteilung v o n Mitteln fur den
Aufbau eines Systems sozialer Einrichtungen, wie z. B . Sonntagsschule und
Altersheim, stetig an.
Trotz aller Anstrengungen der Regierung blieben immer noch ungeloste Probleme
bei der Steuersammlung bestehen. Im August 1848 zeigte ein zeitweiliger
H a n d w e r k e r die Handwerksverwaltung an. Er beschuldigte sie, im Laufe v o n
Jahrzehnten die Sonderabgaben seitens der zeitweiligen Zunfthandwerker
eingetrieben zu haben. Dabei wurden die nichtnumerierten Quittungen fur die
eingezahlten Beitrage fehlerhaft ausgestellt. Der Zunftalteste trug in die Biicher
start der vollen S u m m e nur die Halfte ein. Die Zunftaltesten sammelten daruber
hinaus jahrlich zwischen 10 und 15 Rubel ein, die angeblich fur die Stadt und die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bestimmt waren. In diesem Fall wurden nur 5.71 Rubel
quittiert. Fur die Beitrage, die die Meister fur Lehrlinge und Gesellen einzahlten,
wurden ihnen uberhaupt keine Quittungen ausgestellt. Z u den Sonderposten
gehorten sogenannte 'freiwilligen A b g a b e n ' der zeitweiligen Handwerker. Als die
K o m m i s s i o n von Grot allerdings eine Uberprtifung der H a n d w e r k s - und
Zunftkassen v o r n a h m , fand sie keine Unstimmigkeiten. In der Handwerkskasse
gab es Kreditscheine fur 18.498,7 Rubel und 544 Rubel in bar, so daB 9,98 Rubel
m e h r als die in der Buchfuhrung verzeichnete S u m m e vorhanden waren. Die
Kassen der Schlosserzunft (585,32 Rubel), der Schuhmacher (2.856,91), der
Schneider (1983,26), der Schornsteinfeger (573,45) und der Kleinhandler in den
Handelsstuben (1441,99 Rubel) wiesen keinen Fehlbetrag auf .
D o c h nicht immer endeten die Revisionen so erfolgreich. Im Mai 1849 berichtete
Grot, daB der Alteste der Schornsteinfegerzunft die Zunftkasse zu Hause
aufbewahrte. N a c h Ш е ф ш г ш ^ der Kasse stellte sich heraus, daB 6.000 Rubel
347
348
347
Delo Gosudarstvennogo soveta i Departamenta ekonomii po voprosu о porjadke vybora
cechovych maklerov v S. Peterburge (...) (1856), in: RGIA, f. 1152, op. 4, d. 65,1. 5.
348
Donos na imja ministra vnutrennich del Perovskogo ot 8 nojabrja 1848, in: RGIA, f. 1287,
op. 37, d. 610: О besporjadkach v Peterburgskoj rossijskoj remeslennoj uprave i о
rassledovanii ich kollezskim sovetnikom Grotom, 1. 14, 17.
349
fehlten . In nur zweieinhalb Jahren war die Kommission mit den Musterbuchern
fertig und am 24. Februar 1849 erstattete Grot, der Leiter der K E N O V , Bericht u n d
schlug zehn Musterbucher fur die korrekte Buchfuhrung in den russischen Zunften
vor. Die B u c h h a l t u n g der Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte w u r d e zu
dieser Zeit in O r d n u n g gebraclit und in vorgeschriebener Form weitergefuhrt .
Die finanziellen Angelegenheiten der Handwerksverwaltung waren nicht ihre
einzige Aufgabe. Die Handwerksverwaltung war die erste Gerichtsinstanz fur die
Handwerker, an die sie sich in Streitfragen w e n d e n konnten. D o c h die Verwaltung
kam anscheinend mit der Vieb;ahl der Klagen nicht zurecht: Mitte der 50er Jahre
stauten sich hier bis zu 15.000 ungeloste Falle a n . Diesbeztiglich wurden in St.
Petersburg (1858) und M o s k a u (1860) versuchsweise die provisorischen
Sonderkommissionen zur mundlichen Untersuchung dieser Streitfalle zwischen
Arbeitnehmern und A r b e i t g e b e m zusammengerufen, die das Problem j e d o c h nur
teilweise losen k o n n t e n .
Die Einfuhrung der neuen offentlichen O r d n u n g im Jahre 1846 w a r das Ergebnis
fruherer E n t w i c k l u n g e n , die ihren Anfang in den 1820er Jahren hatten, als sich
die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Selbstverwaltungsorgane der
Hauptstadte zuerst aus fiskalischen Griinden richtete. Allerdings stellte sich
wahrend der Untersuchungen heraus, daB die Aufgabe einer ordentlichen
Steuereintreibung mit der komplexen Aufgabe der Effizienzerhohung der
Selbstverwaltung der Stadt im allgemeinen und der Handwerksverwaltung im
besonderen zusammenhing. Wie Hildermeier zu Recht bemerkt, bedeutete die neue
Stadtordnung v o n 1846 und die Einfuhrung der Gehalter fur die
Selbstverwaltungsangestellten „die Abschaffung der Zwangsverpflichtung, des
Dienstes in seiner alten F o r m " . Allerdings ist bezuglich der Handwerker von St.
Petersburg zu bemerken, daB es, w e n n von den Zunften gesprochen wird, nicht nur
u m die Zwangsverpflichtung z u m offentlichen Dienst gehen kann, sondern auch
u m eine interessierte Teilnahme an den standischen Angelegenheiten. Beleg dafur
ist die Tatsache, daB die Mehrheit in der St. Petersburger Stadtduma am Ende des
18. Jahrhunderts von den Zunfthandwerkern gestellt wurde.
350
351
352
353
3 )4
349
2urnal komissii ot 4 maja 1849, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667: Ob ustrojstve
remeslennoj upravy inostrannych ceshov v S. Peterburge (12.4.1849-11.12.1851), hier 1. 46.
350
Zumal komissii ot 20 avgusta 1849, in: ebd., 1. 55.
351
Trudy komissii, ucrezdennoj dlja peresmotra ustavov fabridnogo i remeslennogo, Teil 1.
St. Petersburg 1863, S. 374.
352
Ebd., S. 382f.
5.4
Die Selbstverwaltung der russischen Zunfte w a h r e n d der „groBen
R e f o r m e n " 1860er J a h r e bis 1914
Die Liberalisierung der Stadtverwaltung, die seit 1846 in St. Petersburg ihren
G a n g nahm, setzte sich besonders intensiv in der Zeit w a h r e n d und nach den
„gro6en Reformen"
fort. D i e A k t i v i t a t d e r Z u n f t h a n d w e r k e r
in
Standesangelegenheiten stieg rasch an.
N a c h Ansicht des russischen Historikers I. Ditjatin wurde noch in den 1820er
Jahren der Dienst in den offentlichen Anstalten, wie der D u m a oder den
Standesverwaltungen, von den Biirgern der Stadt als ein schwerer Frondienst
angesehen. D e m n a c h leisteten sie den offentlichen Dienst nicht fur die
Gesellschaft, sondern fur den Staat. Die wohlhabenden Kaufleute der 1. und 2.
Gilde verweigerten den Dienst in der Stadtduma oft ohne Grund, weil der
Gewahlte in vollige Abhangigkeit von Sekretaren und Maklern, also den
Fachbeamten der Handwerksverwaltung, g e n e t . W e n n aber irgendwelche
Versaumnisse v o n den oberen Instanzen festgestellt wurden, z. B . in der
Buchhaltung, w u r d e zuerst der Handwerksalteste danach gefragt. Der zweite
Faktor, der sich negativ auf den Arbeitsablauf in der Verwaltung auswirkte, war
die beinahe vollige Unkontrollierbarkeit des Handwerksaltesten durch die
D e p u t i e r t e n v e r s a m m l u n g . D o c h dies sollte sich allmahlich andern.
In den 1860er Jahren agierten die Deputierten der Handwerksabteilung der
Stadtduma selbstbewuBt in ihrem Rechtsterrain und w e n n es notig war, setzten sie
den Standesaltesten bzw. den Vorsitzenden der Verwaltung ab, falls letzterer
seinen Pflichten nicht n a c h k a m . Es zeichnete sich ein klarer Trend zur
„ V e r s e l b s t a n d i g u n g " der H a n d w e r k e r v e r w a l t u n g u n d b e s o n d e r s
der
Deputiertenversammlung ab. Die Initiative ging nach und nach v o m Staat in die
H a n d e der Selbstverwaltung uber, z. B . was eine Verbesserung der
R a h m e n b e d i n g u n g e n fur das H a n d w e r k oder die Uberprtifung der Buchfuhrung
betraf. W a s frtiher die Regierungskommissionen bezweckten, erfullten jetzt die
Standeskommissionen, die von der Deputiertenversammlung oder v o n der
Handwerksverwaltung einberufen wurden. Die Selbstverwaltung
tibernahm
Kontrollftmktionen in einem immer groBeren Umfang.
355
5.4.1
Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die standigen Z u n f t h a n d w e r k e r
Wie in diesem Kapitel noch zu sehen sein wird, benutzten die standigen
H a n d w e r k e r die Selbstverwaltung fur ihre Z w e c k e , u m dem Druck seitens der
zeitweiligen H a n d w e r k e r widerstehen zu konnen. Die standigen Handwerker
miBbrauchten ihre Macht, indem die Mehrheit der Deputierten auch den
Zunftaltesten, falls er Bereitschaft zeigte, mit den zeitweiligen H a n d w e r k e r n zu
kooperieren, absetzte. So wurde 1864 der Standesalteste S. I. M a l k o v nach einer
V e r o r d n u n g des Innenministers Petr Aleksandrovi£ Valuev seines A m t e s
vortibergehend enthoben, weil er sich weigerte, einem BeschluB der Mehrheit der
Verordneten, zu gehorchen. Gegen den Standesaltesten w u r d e ein StrafprozeB
angeordnet, der nach dem SenatserlaB vom 19. Dezember 1866 eingestellt und mit
einer Ordnungsstrafe beendet w u r d e . Malkov hatte darauf bestanden, auf einer
Gedenktafel, die an einem G e b a u d e angebracht war und an dem Hausbau erinnern
sollte, unter anderem auch die zeitweiligen Handwerker zu vermerken, womit die
Mehrheit der Deputierten nicht einverstanden war. Allem Anschein nach befand
es der Innenminister fur w e n i g sinnvoll, dem Grund des Zwistes zwischen einem
Teil der Deputierten und d e m Altesten nachzugehen, und verfugte kurzerhand,
M a l k o v von seinem A m t abzusetzen, bis das Gerichtsverfahren gegen ihn
abgeschlossen ware. A u s diesem formalen Vorfall ergaben sich schwerwiegende
K o n s e q u e n z e n fur M a l k o v . Seine Sympathien, die den zeitweiligen Handwerkern
galten, kosteten ihn sein Amt.
356
Die Personlichkeit des Standesaltesten Grigorij Grigor'evic Petrovskij, der
wahrend der Legislaturperioc e von 1868 bis 1871 tatig war, pragte diese Zeit
nachdrucklich. Seit Jahren als Deputierter tatig, wies er standig auf die Probleme
der zeitweiligen H a n d w e r k e r und auf die mangelhafte allgemeine Entwicklung des
H a n d w e r k s hin. Seine Offenheit gegenuber den Problemen im H a n d w e r k und
seine Bereitschaft sie zu losen, bereiteten ihm als dem Handwerksaltesten groBe
Schwierigkeiten: Die standigen Handwerker lieBen ihn seine Projekte nicht
durchfuhren und blockierten mit ihren Protesten die Standesversammlungen uber
Jahre hinweg. Ihre Reaktion war auch nicht unerwartet, weil Petrovskij durch die
Gleichberechtigung der zeitweiligen Handwerker den standischen R a h m e n
sprengen wollte. Die Handlungen des Handwerksaltesten standen im Einklang mit
den Ergebnissen der Arbeit der Stackelbergschen Kommission, da Petrovskij den
Handwerkerstand zu reformieren versuchte, w a s ihm nicht gelang. Der Widerstand
der konservativen bzw. konformistischen Seite der standigen Handwerker
einerseits und der russischen Regierung andererseits verhinderte die
Organisationsreform der St. Petersburger Handwerkerschaft nach dem Prinzip der
Gleichheit aller H a n d w e r k e r der Hauptstadt oder wenigstens der standigen und
zeitweiligen Mitglieder der Zunfte.
Schon am Anfang seiner Tatigkeit gab es einige Komplikationen mit den
standigen Meistern. Im M a r z 1868 wurden wie gewohnlich zwei Kandidaten ins
A m t des Handwerksaltesten gewahlt. Petrovskij bekam zwei Stimmen weniger als
sein Mitbewerber, wurde aber v o m Leiter des St. Petersburger G o u v e r n e m e n t s ,
356
Prosenie ot 1 dekabrja 1864 goda ot glasnych remeslennogo otdelenija ObScej Dumy
ministru vnutrennich del P. A. Valuevu, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 413: Delo po donosu
glasnych Remeslennogo otdelenija S. Petersburgskoj gorodskoj ob§6ej dumy о rastrate summ
zdesnego Remeslennogo upravlenija i о raznogo roda nepravil'nych dejstvijach remeslennogo
starSiny Malkova (April 1864 - Sept. 1867), hier: 1. 10, 61.
d e m Generaladjutant Graf Levasev, in seinem A m t bestatigt. Der G r u n d dafur war,
daB gegen den zweiten Bewerber Fedor S e m e n o v ein Gerichtsverfahren lief.
Petrovskij w a r seit 1848 offentlich tatig. N e u n Jahre zuvor w a r er z u m standigen
Mitglied der Verwaltung und 1864 z u m Schatzmeister gewahlt worden. Der
Vorganger von Petrovskij im Amt, Bljum, protestierte z u s a m m e n mit einigen
anderen standigen Meistern gegen die Bestatigung des Gouverneurs und rief die
V e r s a m m l u n g auf, sie nicht anzuerkennen. Die Deputierten wollten sich denn auch
mit der Bestatigung Petrovskij s im A m t nicht abfinden. Zunachst driickte sich dies
nur in Form von U n g e h o r s a m einzelner Zunftaltester aus, die j e d o c h nach und
nach eine Front gegen den Standesaltesten bildeten.
Die Radelsfuhrer der Opposition waren der fruhere Standesalteste Bljum und die
Verwaltungsangestellten, die aufgrund ihrer Kompetenz in der Buchhaltung und
ihrer in der Regel hoheren Ausbildung in der Verwaltung die O b e r h a n d b e B a s e n .
In diesem Falle w a r e n es die Gebriider Pavel und Fedor Aleksandrov. D e r erste
war Schriftfuhrer der Deputiertenversammlung und Kunstmaler v o n Beruf, der
zweite als Makler in der Verwaltung tatig. G e g e n die Gebriider lief ein
Gerichtsverfahren w e g e n Aufhetzung der Deputierten und des ganzen Standes.
D e s weiteren waren die gewahlten Mitglieder der Handwerksverwaltung Pompej
M o s k v i n , Karp M a k a r o v , der Backer Daniil Polozov, der fruhere Beisitzer und
Kaufmann Nikolaj Gibner, der Schreiber der Rekrutenabteilung Gavriil Brjunin
und selbst der fruhere Anwarter auf das A m t des Standesaltesten und das
Verwaltungsmitglied Fedor Semenov in der Opposition a k t i v .
Die Eskalation des Konfliktes zwischen dem Standesaltesten und der
Deputiertenversammlung fuhrte dazu, daB die Deputierten die A n w e i s u n g e n v o n
Petrovskij ignorierten. Standesversammlungen unter seinem Vorsitz konnten nicht
stattfinden. D e s w e g e n war Levasev gezwungen, das Stadtoberhaupt (Gorodskoj
golovd) zu bitten, die V e r s a m m l u n g e n unter seinem Vorsitz zu fuhren. Im Herbst
1869 lehnte er es aus Zeitmangel allerdings ab, den Vorsitz zu tibernehmen.
W a h r e n d der V e r s a m m l u n g e n ergriff der M a k l e r Aleksandrov standig das Wort
und widersprach d e m Standesaltesten „frech und u n a n s t a n d i g " . A m 12. M a r z
wies ihn der Vorsitzende darauf hin, seinen unmittelbaren Pflichten als
Protokollfuhrer nachzugehen und sich nicht in die Debatten einzumischen. Die
V e r s a m m l u n g w u r d e in einer Weise aufgeheizt, daB der Vorsitzende sich
g e z w u n g e n sah, sie zu schlieBen. Als Anfang April 1869 Pavel Aleksandrov nach
der Verfugung des Leiters des St. Petersburger Gouvernements, Generaladjutant
Levasev,
seines
Amtes
enthoben
wurde,
konnte
fast
keine
Deputiertenversammlung bis zu E n d e gefuhrt werden. Die Deputierten versuchten
zu beweisen, daB die Bestatigung Petrovskijs seitens des Generalgouverneurs im
357
358
359
Vgl., Ditjatin, Gorodskoe, S. 245ff., 363.
Doklad ot 13.09.1869, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1058: О vozbuidenii, hier 1. 1.
Ebd. 1. If.
A m t des Standesaltesten nicht richtig gewesen war und deswegen, ihren Worten
nach, keine Rechtskraft hatte
Der suspendierte Pavel Aleksandrov und sein Bruder, der Makler der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g Fedor, gaben sich hiermit nicht zufrieden. Sie
unterminierten die Arbeit der Handwerksverwaltung, indem sie in verschiedenen
Gaststatten V e r s a m m l u n g e n der Handwerker organisierten, u m unter den
Mitgliedern der Handwerksverwaltung und unter den Handwerksmeistern
MiBtrauen gegenuber dem Standesaltesten zu schiiren. Die W i r k u n g der Gebriider
auf die Teilnehmer der Depuliertenversammlung w a r so groB, daB sich von den
145 Deputierten nur 17 ihrem EinfluB entziehen konnten. Die ubrigen hatten sich
in einer Korporation unter der Fuhrung der Gebriider Aleksandrov
zusammengeschlossen, die weiterhin an den Deputiertenversammlungen aktiv
teilnahm .
360
Die nachsten Deputiertenversammlungen v o m 12. August und v o m 15. September
1869 scheiterten. D a s letzte Mai, als Petrovskij von der Gegenpartei g e z w u n g e n
wurde, die V e r s a m m l u n g zu schlieBen, bat m a n ihn, den R a u m zu verlassen,
w o n a c h die Deputierten die Sitzung fortsetzten und ein Schreiben an den
Stadthauptmann (gradonadal'nik)
verfaBten . Das neue Jahr brachte keine
A n d e r u n g e n in der Lage. Als Petrovskij die V e r s a m m l u n g am 12. M a r z 1870
eroffhen wollte, traten die Deputierten Bljum, der fruhere Standesalteste, Polozov,
der Nachfolger v o n Petrovskij, M o s k v i n und Pavel Aleksandrov vor und
verkundeten in ultimativer Form, daB sie unter keinen Umstanden unter seinem
Vorsitz tagen w u r d e n . Diese Protestaktionen trugen dazu bei, daB Petrovskij
friiher oder spater abgesetzt werden konnte.
361
362
Alle Versuche der Obrigkeit, diesen Streit zu schlichten, brachten keinen Erfolg.
D e m W u n s c h des Innenministers gemaB wurden vor der V e r s a m m l u n g v o m 16.
Juli von j e d e r Zunft die Altes:en und Deputierten zur B e s p r e c h u n g eingeladen.
Der wirkliche Staatsrat Lutkovskij versuchte sie zu iiberreden, dem
Standesaltesten zu gehorchen. Trotzdem faBten die Deputierten wahrend der
nachsten Versammlung den BeschluB, sich in Zukunft nur unter d e m Vorsitz des
Stadtoberhaupts oder der 2'unftaltesten zu versammeln. D a s anwesende
stellvertretende Stadtoberhaupt, Staatsrat Preis, der diesmal den Vorsitz hielt,
argumentierte, daB dieser BeschluB keine Rechtskraft haben konne, w a s die
360
Ebd.
361
Doklad S. Peterburgskogo gubernatora ministru vnutrennich del ot 28.09.1869, in: RGIA,
f. 1287, op. 38, d. 1058: О vozbuzdenii, hier 1. 15f.
362
Doklad S. Peterburgskogo gubernatora upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del ot
06.05.1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1072: О naznacenii dlja prisutstvovanija v sobranii
vybornych meS£anskogo i remeslennogo soslovij S. Peterburga za uprazdneniem dolznosti
uezdnogo strjapcego osobogo lica (Oktober 1869-Juli 1870), hier 1. 9.
Deputierten aber nicht zurtickhielt, weiter gegen den Vorsitz des
Handwerksaltesten zu protestieren.
Zur Aufklarung der Ursachen des U n g e h o r s a m s der Deputierten w u r d e im
September 1869 der Prokuror des Kreisgerichtes eingeschaltet, der eine
Untersuchung anordnete. Der stellvertretende Innenminister Furst L o b a n o v Rostovskij machte einige Zugestandnisse an die Deputierten u n d lieB
V e r s a m m l u n g e n unter dem Vorsitz des Stadtoberhaupts zu, bis die Ermittlungen
gegen die Schuldigen Bljum, Aleksandrov und andere abgeschlossen wurden.
Allerdings stellte das Kreisgericht das Gerichtsverfahren mit d e m BeschluB v o m
2 1 . Juli 1870 ein, so daB die administrative M a c h t in Person des G o u v e m e u r s kein
Mittel fand, den Streit zu s c h l i c h t e n . D a s fuhrte zu einem vollstandigen
Stillstand der standischen A n g e l e g e n h e i t e n . D i e Anfuhrer der Opposition
fuhlten sich jetzt n o c h sicherer. Eine weitere Anfrage des Innenministeriums an
die gesetzgebende Abteilung (zakonodatel 'noe otdelenie) des Justizministeriums
brachte keinen Erfolg. In der Antwort an den geschaftsfuhrenden Stellvertreter des
Innenministers hieB es: ,JDas Justizministerium hat keine Mittel, die Unruhen zu
b e s e i t i g e n " . D o c h das Schreiben des Justizministeriums war nicht das letzte
Wort. Im Januar 1871 baten 21 sta'ndige Zunftmeister, die Petrovskij Beistand
leisten wollten, den Innenminister, MaBnahmen zu ergreifen:
363
364
365
„Die U n r u h e n in unserem Stand lassen nicht nach. Im Z u s a m m e n h a n g
mit der Einfuhrung der neuen Stadtordnung und sich nahernden Wahlen
in unserem Handwerkerstand werden sie immer groBer. Dies geschieht
w e g e n der unangemessenen Anspriiche einiger Deputierter auf den
ehrenvollen Platz des Standesaltesten. [...] Die Beschuldigungen gegen
den ehrlichen und fahigen Standesaltesten Petrovskij haben keine
Grundlage. Durch seine vernunftige und ehrliche Arbeit wurden einige
nutzliche Wohltaten vollbracht. Unter anderem initiierte u n d verfaBte
er das Projekt der ,Neuen St. Petersburger Gesellschaft der
Handwerksindustrie'. W e n n Petrovskij w e g e n der Unruhestifter seines
A m t e s enthoben wird, wird die Handwerksgesellschaft einen groBen
Verlust e r l e i d e n " .
366
363
Dokladnaja zapiska, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1058: О vozbuzdenii, hier 1. 60f.
364
Doklad S. Peterburgskogo gubernatora ot 6 maja 1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1072:
О naznacenii, hier 1. 8.
365
Otnosenie ministra justicii к upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del ot 9 ijulja
1870, in: Ebd., 1.2If.
3 6 6
Prosenie vecno-cechovych masterov ministru vnutrennich del v janvare 1871, in: RGIA, f.
1287, op. 38, d. 1058: О vozbuzdenii, hier 1. 78.
Anscheinend w u r d e Petrovskij fur die nachste Legislaturperiode nicht mehr v o m
Innenminister im A m t bestatigt oder, w a s in Anbetracht der feindlich gesinnten
Mehrheit in der Deputiertenversammlung am wahrscheinlichsten ist, nicht
wiedergewahlt. Mit ihrer Vei-weigerungshaltung hatten die Deputierten ihr Ziel
erreicht: Petrovskij war der letzte Handwerksalteste, der versuchte, die Interessen
der zeitweiligen Handwerker zu vertreten.
Nach der neuen Stadtordnung von 1870 wurden alle standischen Verwaltungen,
unter ihnen auch die der Handwerker, unmittelbar der Gouvernementsverwaltung
unterstellt. V o n nun an gingen alle Klagen gegen die Angestellten der
Handwerksverwaltung nicht ал die Allgemeine D u m a , sondern unmittelbar an die
Gouvernementsverwaltung. Dies verursachte einige MiBverstandnisse bezuglich
der Zustandigkeit beider Insti tutionen. Zur Verwirrung trug das Handwerksstatut
von 1876 bei, das die W a h l o r d n u n g von 1846 als abgeschafft bestatigte. Das
bedeutete z. В., daB an der Wahl der Beisitzer neben ihren Stellvertretern auch die
zeitweiligen H a n d w e r k e r selbst, rund 6.000 an der Zahl, teilnehmen durften. Das
fuhrte zu verschiedenen D e u t u n g e n des Gesetzes seitens der Deputierten, des
Standesaltesten und der Gouvernementskammer fur Stadtangelegenheiten
(prisutstvie po gorodskim delam), die sich an der neuen Stadtordnung von 1870
orientierte. A u s diesem Grund erkannte die G o u v e r n e m e n t s k a m m e r fur
Stadtangelegenheiten die Wahl des Standesaltesten v o m 2 1 . Dezember 1878 nicht
an, die nach der alten Stadtordnung von 1846 durchgefuhrt wurde. Dies fuhrte zu
standigen N a c h w a h l e n , so daB ab 1878 die Mitglieder der Selbstverwaltung, die
Deputierten und der Standesalteste mehrere Jahre nicht gewahlt wurden.
Die Amtszeit des Standesaltesten Daniil I. Polozov (1874-1877) zeichnete sich
durch eine weitere Verschuldung der Selbstverwaltung aus, die am Ende seiner
Amtszeit die riesige Summe von 288.156 Rubeln betrug. Teilweise wurde die hohe
Verschuldung durch die Kreditaufhahme fur den Bau neuer Schulen und eines
Armenhauses, noch mehr aber durch die unordentliche Buchfuhrung verursacht.
Als die Deputiertenversammlung den Finanzbericht fur 1877 nicht entlastete,
geriet die Buchfuhrung ins S t o c k e n .
367
368
Inzwischen verordnete der Stadthauptmann dem Standesaltesten, die Altestenwahl
nach der neuen W a h l o r d n u n g durchzufuhren, d.h., alle Standesmitglieder sollten
zur Wahl eingeladen werden. D a aber die Wahl nach der alten O r d n u n g in der
J b /
Cirkuljar ministerstva vnutrennich del vsem gubernatoram ot 14.12.1877, in: RGIA, f.
1287, op. 38, d. 1402: Po voprosu с torn kakie ucrezdenija dolzny rassmatrivat zaloby na
dolznostnych lie remeslennogo upravlenija i podvergat ich predaniju sudu v gorodach, v
koich wedeno v dejstvie Gorodskoe poloienie 16 ijunja 1870 goda (1872-1881), hier 1. 32.
4
4
368
Novoe vremja, Nr. 1233 (1879) und Peterburgskij listok Nr. 132 (1879), in: RGIA, f.
1287, op. 38, d. 1954: Po dokladnoj zapiske vremenno-cechovych masterov S.
Peterburgskogo remeslennogo obS6;stva §ubbe, Michel sona, Svensona i drugich ob
ucrezdenii, v vidach prizrenija v stolice neimuS£ich 6lenov iz vremenno-cechovych
remeslennikov, osobych dlja ozna£ennych cechovych kass (7.3.1879-21.9.1887), hier 1. 12.
4
Deputiertenversammlung durchgefuhrt worden war, ordnete der Stadthauptmann
N a c h w a h l e n an. Interessant ist, dafi die Deputiertenversammlung sich weigerte,
die V e r o r d n u n g der Obrigkeit auszufuhren. D e r Konflikt zwischen der
Deputiertenversammlung und d e m Standesaltesten bzw. d e m Stadthauptmann
weitete sich aus und griff auf die Stadtverwaltung uber, in der ebenfalls keine
Einigkeit beztiglich der N e u w a h l bestand: die Minderheit der K a m m e r mit d e m
Stadthauptmann Trepov an der Spitze war fur die N e u w a h l , die Mehrheit dagegen
erkannte die Wahl an. Ungeachtet dessen befahl Trepov m e h r m a l s , die Wahl zu
wiederholen.
Die
Spaltung
in d e r G o u v e r n e m e n t s k a m m e r
fur
Stadtangelegenheiten zeugt einerseits von relativer Unabhangigkeit der
K a m m e r m i t g l i e d e r , andererseits v o n m o g l i c h e r W i l l k u r seitens des
Stadthauptmanns, der seine Macht manchmal miBbrauchte und durch U m g e h u n g
der Kammerbeschlusse auf administrativem W e g e die N e u w a h l e n anordnete. Die
Mehrheit der Kammermitglieder leisteten der Aufforderung Trepovs keine Folge,
w o d u r c h ein langwieriger Streit zwischen dem Stadthauptmann u n d der Mehrheit
der Kammermitglieder entstand. Demzufolge sind die Aussagen der
Z e m s t v o v e r w a l t u n g e n uber die vollige Abhangigkeit der gemischten K a m m e r n
v o m Stadthauptmann zu relativieren. Die Lage war von Fall zu Fall
unterschiedlich .
369
370
Der EinfluB des Stadthauptmanns wurde nicht nur durch den S e n a t , sondern
auch durch die legislative M a c h t der Deputiertenversammlung
der
Zunfthandwerker begrenzt, die die Handwerksverwaltung daran hinderte, die
Verfugungen des Stadthauptmanns auszufuhren. Polozov konnte also die
A n w e i s u n g e n tiber die N a c h w a h l e n v o n Trepov nicht ausfuhren, weil die
Deputiertenversammlung darauf beharrte, die 14 neu gewahlten Deputierten im
A m t zu belassen. Mit anderen Worten n a h m die legislative Macht - die
Deputiertenversammlung - ihre Rechte wahr und weigerte sich, die Verordnungen
des Stadthauptmanns - der exekutiven Macht - auszufuhren, obwohl letzterer per
Dekret die Entscheidungen dieser Versammlung, wenigstens fur einige Zeit, auBer
Kraft setzen konnte. Es bestand fur die Deputiertenversammlung eine weitere
Moglichkeit, Einspruch gegen die Verordnungen v o n Trepov beim Senat zu
erheben, w a s sie auch tat. Es dauerte aber manchmal Jahre, bis die Falle endlich
gelost waren, w o d u r c h der Stadthauptmann seine Ziele doch erreichen konnte.
Dieser Zeitfaktor trat in diesem konkreten Fall der Selbstverwaltung der
Zunfthandwerker besonders deutlich zu Tage.
Wie schon erwahnt, k a m die Verwirrung durch die veranderte Wahlordnung fur
die stadtische Selbstverwaltung zustande, die in der Gesetzsammlung von 1876
im Artikel 586 des elften B a n d e s beschrieben wird. N a c h diesem Artikel sollte an
der Wahl die ganze stadtische Gesellschaft bzw. der ganze Stand teilnehmen.
Liessem, Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 216ff.
Ebd., S.219.
D e s w e g e n erkannte das A m t fiir die stadtischen Angelegenheiten die Wahl, die
nach den alten Regeln durchgefuhrt wurde, nicht an, w a s Polozov w a h r e n d der
Versammlung
bekanntgab.
Die Deputierten
Lebedev,
Cistjakov,
Filipov,
Gorodskoj und Vorozbickij schlugen vor, eine Anfrage an den Stadthauptmann zu
richten, ob die 14 n e u gewahllen Deputierten im A m t bleiben durften oder nicht.
N a c h einer negativen Antwort des Standesaltesten u n d seinem Hinweis auf die
V e r o r d n u n g der Obrigkeit bezuglich der N e u w a h l brach unter den Deputierten ein
Tumult aus. D i e Unstimmigkeiten, die uber die Verordnungen d e s Amtes fur die
stadtischen Angelegenheiten herrschten, fuhrten dazu, daB die V e r s a m m l u n g eine
Kommission
zusammenstellte,
welche
die
Verzeichnisse
der
Deputiertenkandidaten zusammenfassen und uberpriifen sollte, wobei diese
Entscheidung v o m Stadthauptmann als gesetzwidrig eingestuft wurde.
Die V e r m i s c h u n g der Kompetenzen v o n Stadtverwaltung u n d v o n Regierung
einerseits u n d der Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r andererseits, sorgten fur
einen langen Rechtsstreit. Polozov lieB fur die nachste Legislatuфeгiode von 1877
bis 1880 aus oben angefuhrter) Griinden keinen neuen Standesaltesten u n d keine
Deputierten wahlen. D e r Nachfolger v o n Trepov, der Stadthauptmann GeneralMajor Aleksandr Elpidiforovie Zurov, lieB mehrere an ihn gerichtete Bittschriften
der Deputierten, die sich zwischen Herbst 1878 und Winter 1879 sechsmal bei ihm
beschwerten, unbeantwortet. Er leitete sie an die L e i t u n g der stadtischen
Angelegenheiten
weiter,
und hier verschwanden
sie im Rachewerk des
Verwal tungsapparates.
D e r nachste Schritt der Deputierten w a r eine Bittschrift v o m 2 8 . Februar an d e n
geschaftsfuhrenden Innenminister (upravljajuscy
ministerstvom
vnutrennich
del),
Lev Savi6 M a k o v , der weitere Gesuche am 7. Marz, 14. M a i u n d 2 2 . September
371
f o l g t e n . In den Gesuchen wurden die ublichen Versaumnisse der Verwaltung
und des Standesaltesten aufgezahlt, die auch seine Nachfolger, w i e z. B . Nikanor
Afanas'evic Lebedev, betrafen. D a Polozov schon anderthalb Jahre nicht
wiedergewahlt worden war, k a m es immer ofter zu Konflikten zwischen d e m
Standesaltesten u n d d e n Deputierten. A m 5. Juli 1878 erschien Lebedev „in
angetrunkenem Z u s t a n d " in der Versammlung, w a n d t e sich
mit „unflatigen
371
„Pro§enie masterov S. Peterburgskich cechov", ot 28 fevralja, und „Dokladnye zapiski
masterov S. Peterburgskich cechov" ot 7 i 14 maja i 22 sentjabrja 1879 upravljajuScemu
ministerstvom vnutrennich del L. S. Makovu, in: Delo po proseniju S. Peterburgskich
masterov raznych remeslennych cechov tistjakova, Polikarpova i drugich ob ustranenii ot
dolznosti starSiny remeslennoj upravy Polozova i о naznaeenii na etu dolznost novych
vyborov. Tut ze о besporjadkach po remeslennomu upravleniju i о revizii onogo, RGIA, f.
1287, op. 38, d. 1952,1. 1-25.
4
Schimpfreden" an die Deputierten und behauptete, einer der Deputierten sei ein
Dieb .
372
K a u m eine einzige Vereammlung verging ohne Ausschreitungen, die durchaus mit
denen in den Jahren 1869/70 vergleichbar waren. W a s z. B . wahrend der
Deputiertenversammlung am 29. September 1879 in der S t a d t d u m a am Nevskij
Prospekt geschah, schilderte die Zeitung „ N o v o e Vremja" folgendermaBen:
„Die V e r s a m m l u n g stellte einen chaotischen, larmenden Auflauf dar, in
dem Larm und Geschrei v o n Zeit zu Zeit in einen heftigen Wortwechsel
tibergingen,
der wiederum j e d e Minute drohte, in eine Schlagerei
auszuarten. Im Gegensatz zu den fruheren V e r s a m m l u n g e n erschienen
186 Deputierte, die hauptsachlich die RechtmaBigkeit der Wahl in die
Handwerksverwaltung v o m 2 1 . Dezember 1878 interessierte" .
373
Auffallig an diesem Textabschnitt ist, daB fast alle Deputierten in der
V e r s a m m l u n g erschienen, weil sie „die RechtmaBigkeit der W a h l " interessierte.
E s muB daran erinnert werden, daB die H a n d w e r k e r die Vertreter „der unteren
Schicht" des Wirtschaftsburgertums waren, die noch im 18. und im ersten Drittel
des 19. Jahrhunderts kein besonderes Interesse an der Selbstverwaltung hatten.
Jetzt konnte der Standesalteste nicht, wie es noch in den 1840er Jahren der Fall
war, seinen Amtsgeschaften fast unkontrolliert nachgehen.
Es gab seitens der Handwerksverwaltung keine Berichterstattungen an die
Deputiertenversammlung und es fand keine Ц Ь е ф г и й н ^ der Buchfuhrung seitens
der Deputiertenversammlung mehr start. Fur das Jahr 1879 w u r d e kein
Kostenvoranschlag aufgestellt. D a n k der Nachsicht des Standesaltesten konnte der
korrupte stellvertretende Buchhalter Chaneckij weiter im A m t bleiben. Die drei
Deputiertenversammlungen, die Polozov bis z u m Februar 1879 einberufen lieB,
brachten kein Ergebnis, so daB insgesamt etwa 1.000 Rubel oder rund 300 Rubel
pro V e r s a m m l u n g ohne j e d e n Erfolg ausgegeben w u r d e n .
Erst am 2 3 . Oktober 1879 erfolgte ein Benefit des Stadthauptmanns an das
Wirtschaftsdepartement des Innenministeriums, in dem die eigentlichen G r u n d e
fur die Verzogerung der Amtsgeschafte festgestellt wurden. Im September und
Oktober 1879 w u r d e Polozov mehrmals angewiesen, die V e r s a m m l u n g der
Deputierten zusammenzurufen, w a s er auch einmal tat. Die oben erwahnte
374
372
ProSenie masterov S. Peterburgskich cechov к upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich
del L. S. Makovu ot 28 fevralja 1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju
Cistjakova, Polikarpova, hier 1.1.
373
Der Zeitungsausschnitt aus „Novoe Vremja" Nr. 1291 (1879), in: RGIA, f. 1287, op. 38, d.
1952,1. 34.
374
ProSenie masterov (...) ot 28 fevralja 1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju
Cistjakova, Polikarpova, hier 1. 1.
Versarnmlung a m 2 9 . September war seine letzte. Polozov gestand schlieBlich
selbst ein, daB die letzten anderthalb Jahre seiner Amtszeit der Gesellschaft wenig
Nutzen gebracht h a t t e n .
Symptomatisch ist, daB sowohl Polozov als auch alle nachfolgenden
Standesaltesten seit den 1870er Jahren, als die Handwerksselbstverwaltung
unmittelbar der Gouvernementsverwaltung unterstellt wurde, sich uber die
Deputiertenversammlung erhoben und die Beschlusse der Deputierten
miBachteten, v o n der sie gewahlt wurden. Sie folgten den Befehlen des
Gouverneurs, der sie im A m t bestatigte.
N o c h groBeres AusmaB erreichte die Willkur der Handwerksverwaltung gegenuber
der Deputiertenversammlung wahrend der Amtszeit des Nachfolgers von Polozov.
Der Schneider N i k a n o r Afanas'evic' Lebedev ubernahm nach der B e s t i m m u n g der
Deputiertenversammlung am 20. Oktober 1879 zeitweilig den Vorsitz in der
Handwerksverwaltung noch vor der Veroffentlichung des Senatserlasses.
Allerdings durfte er als stellvertretender Vorsitzender der Verwaltung nicht den
Vorsitz wahrend der Deputiertenversammlung ubernehmen. Lebedev, der sich
schon frtiher in der Opposition gegen Petrovskij auBerst aggressiv verhalten hatte,
handelte so eigenmachtig und eigensinnig, daB diese wahre „Plage" mit den
Altesten in der Handwerksverwaltung kein E n d e zu nehmen schien.
Der Stadthauptmann А. Ё. Zurov charakterisierte die Handlungen von Lebedev
folgendermaBen:
375
„ Wahrend der V e r s a m m l u n g am 1. Dezember 1879 lieB Lebedev aus
eigennutzigen Griinden nicht zu, die Verfugung der Leitung der
stadtischen A n g e l e g e n h e i t e n in der
Deputiertenversammlung
vorzulesen, wofur er entlassen werden muB. Er lieB grobe Storungen der
W a h l o r d n u n g wahrend der Wahl des Handwerksaltesten am 11.
D e z e m b e r zu, indem er beide Kasten mit den Stimmballen herausnahm
und sie vermischte. Als die Stimmen gezahlt wurden, vermiBte m a n
einen Ball, w o n a c h Lebedev die fehlende Stimme eigenmachtig fur sich
zahlte. Die Forderung der Deputierten, die Wahl fur nichtig zu erklaren,
wurde von Lebedev nicht b e a c h t e t " .
376
Ungeachtet dieses Pladoyers des Stadthauptmanns fur eine Entlassung Lebedevs,
blieb er dank seiner Wiederwahl am 9. Januar 1880 weiter im A m t und ktindigte
zwolf der ihm nicht g e n e h m e n Verwaltungsmitglieder, von denen einige seit mehr
als zwolf, j a sogar bis zu zwanzig Jahren im Dienst gewesen waren. A u s
unerklarlichen Griinden anderte der Stadthauptmann spater seine negative
375
376
Ebd.
zturnal S. Peterburgskogo po gorodskim delam prisutstvija ot 8 janvarja 1880, in: RGIA, f.
1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju £istjakova, Polikarpova, hier 1. 58.
M e i n u n g uber L e b e d e v und befurwortete beim Innenminister im September dieses
Jahres seine U n t e r s t u t z u n g .
Im S o m m e r 1880 g e n e t die Verwaltung in eine noch tiefere Krise. Die U n o r d n u n g
in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g vergroBerte sich standig. Einige Handwerker
auBerten ihre M e i n u n g g e g e n u b e r dem Innenminister, daB die Selbstverwaltung
nicht imstande sei, uber alle Angelegenheiten der Handwerksgesellschaft
weiterhin kollegial zu entscheiden. N . Lebedev, der von den Meistern nicht als
Handwerksaltester, sondern als ein Meister der Schneiderzunft genannt und
anerkannt wurde, behielt illegal den Vorsitz in der Handwerksverwaltung. Infolge
seiner willkurlichen Handlungen w u r d e die Standeskasse im Laufe der
vorangegangenen M o n a t e nicht uberpruft. Lebedev trug in die Akten der
Buchhaltung unzulassige Anderungen und B e m e r k u n g e n ein, w a s eine
Uberprufiing der ein- und ausgegangenen S u m m e n nicht m e h r moglich machte.
Sitzungen in der Handwerksverwaltung fanden nicht statt, und Kollegialitat g e n e t
in Vergessenheit, weil die Entscheidungen allein v o n Lebedev getroffen wurden.
Er wies die Angestellten der Verwaltung an, alle eingehenden Papiere den beiden
Stellvertretern der standigen sowie den beiden Beisitzern der zeitweiligen
Handwerker
vernzuhalten. Infolgedessen
ignorierten
die
niederen
Verwaltungsmitglieder vollkommen die A n o r d n u n g e n ihrer Vorgesetzten, der
Stellvertreter des Handwerksaltesten und der Beisitzer. Es schien, daB die
Streitereien kein E n d e n e h m e n sollten. Der Konflikt zwischen der Legislative, also
der Deputiertenversammlung, und der Exekutive, dem Handwerksaltesten, gewann
immer mehr an Scharfe.
377
Infolge dieser Ereignisse verlor Lebedev in den A u g e n der Deputierten j e d e
Legitimation und durfte den Vorsitz in der Deputiertenversammlung nicht mehr
behalten, sondern muBte ihn widerwillig seinen Stellvertretern uberlassen. Dies
war j e d o c h nicht der Fall in der Verwaltung, w o er sich behaupten konnte. Die
eingereichten Einspriiche seitens der Deputierten wurden v o n ihr nicht
a n g e n o m m e n und w e n n sie dagegen protestierten, ignorierte die Verwaltung sie.
Der Verwaltungsbetrieb k a m z u m Stehen. Die AnmaBung Lebedevs w a r so
grenzenlos, daB er wahrend der V e r s a m m l u n g am 22. Mai die Deputierten selbst
des AmtsmiBbrauchs b e s c h u l d i g t e .
Der SenatserlaB v o m 6. April 1881 klarte die Streitigkeiten zwischen legislativer
und exekutiver M a c h t in der Handwerkerselbstverwaltung endgiiltig und setzte die
V e r o r d n u n g von Trepov bzw. den BeschluB der Minderheit von Amtsmitgliedern
der Gouvernementskammer fur Stadtangelegenheiten mit Trepov an der Spitze von
1878 auBer Kraft. Das hieB, daB die Deputiertenversammlung
der
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Doklad S. Peterburgskogo gradonaeal'nika ministru vnutrennich del ot 15 sentjabrja 1880,
in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, hier 1. 101.
378
Dokladnaja zapiska cechovych masterov ministru vnutrennich del ot 8 ijulja 1880, in:
RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, 1. 74f.
Zunfthandwerker Recht behieit und die gesonderte W a h l o r d n u n g von 1846 fur St.
Petersburg und M o s k a u nicht abgeschafft wurde, sondern in Kraft blieb, w a s auch
im Handwerksstatut v o n 1879 bestatigt worden war. Dementsprechend sollte die
Wahl in die Verwaltung genauso wie fruher, d. h. nicht bei einer Vol 1 v e r s a m m l u n g
der
wahlberechtigten
Handwerker,
sondern
wahrend
einer
Deputiertenversammlung durchgefuhrt w e r d e n . Der Standesalteste sollte in einer
geschlossenen V e r s a m m l u n g gewahlt werden, an der die Zunftaltesten und j e zwei
standige Meister v o n j e d e r Zunft teilnehmen durften .
Im Hinblick auf die in diesem Unterkapitel angesprochene Problematik des
Handlungsraumes zwischen der Regierung und Handwerksselbstverwaltung sowie
der aktiven Beteiligung der Zunfthandwerker in den Standesangelegenheiten ist
es notig, etwas ausfuhrlicher iiber den allgemeinen Hintergrund zu sprechen.
A u c h in westeuropaischen Stadten erreichten die Zunfte nicht immer eine
unabhangige Stellung gegenuber der Obrigkeit. Die Zunfte verfaBten zwar ihre
O r d n u n g e n und Statuten selbst, der Rat muBte sie aber bestatigen. Ahnlich wie in
St. Petersburg konnten die Behordenvertreter in Lubeck in der ersten Halfte des
19. Jahrhunderts eine EinfluBnahme in den Zunftversammlungen vornehmen. Die
Zunftvorsteher w u r d e n ebenfalls von der Obrigkeit im A m t b e s t a t i g t . Die St.
Petersburger Zunfte verfaBten einige Regelungen und bestatigten sie beim
Stadtmagistrat. Die Statuten und die Zunftbrauche wurden im Innenministerium
verfafit und den Zunften gegeben. Die Zunfte durften zwar auf den
Zunftversammlungen die Paragraphen des Handwerksstatutes andern, ihre
rechtliche Bestatigung aber blieb den oberen stadtischen bzw. staatlichen
Behorden, dem Stadtmagistrat oder der Stadtduma bzw. dem Innenministerium,
vorbehalten.
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381
Weitere Einschrankungen brachte die Stadtordnung von 1892 mit sich. Artikel 89
des neuen Stadtstatutes erlaubte der Handwerksverwaltung, die legislative M a c h t
zu u m g e h e n und ein Aktenstuck an die Gouvernementsverwaltung weiterzuleiten,
w e n n die Deputiertenversammlung wegen mangelnder Besetzung zweimal
nacheinander die Entscheidung iiber eine Frage nicht treffen k o n n t e . Infolge der
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Ukaz Senata ot 6 aprelja 1881 о porjadke proizvodstva vyborov v soslovnych
ucrezdenijach, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova, Polikarpova, 1.
185f.
380
Po raportu S. Peterburgskogo gradonafiaTnika о nesoglasii ego s postanovleniem
gubernskogo po gorodskim delam prisutstvija i otnositerno porjadka proizvodstva vyborov v
S. Peterburgskoe remeslennoe obScestvo ot 16 ijulja 1880, in: RGIA, f. 1341, op. 145, d. 480,
1.3,8.
381
Reinald Ennen, Zunfte und Wettbewerb. Mftglichkeiten und Grenzen ziinftlicher
Wettbewerbsbeschrankungen im stadtischen Handel und Gewerbe des Sputmittelalters (Neue
Wirtschaftgeschichte, Bd. 3). K6ln-Wien 1971, S. 9.
Reformen wurde die Verordnetenzahl in der Stadtduma standig gekurzt: im Jahre
1873 betrug ihre Anzahl statt wie frtiher 750 (Stadtordnung von 1870) nur noch
2 5 0 Verordnete u n d 1893 blieben laut Stadtordnung von 1892 nur noch 160
Verordnete tibrig. Dies hatte flir die Deputiertenversammlung der Zunftmeister
erkennbar w e n i g B e d e u t u n g . A u c h w e n n die Zahl der Verordneten der
Stadtduma im Jahre 1894 weiter auf 88 absank, blieb die Zahl der Deputierten in
der Selbstverwaltung der Handwerker unverandert bei etwa 160. Das heiBt, daB
mit der Verringerung der Teilnahme der Zunfthandwerker an der Stadtduma von
6 6 % am E n d e des 18. Jahrhunderts auf weniger als 1% am Ende des 19.
Jahrhunderts ihre Aktivitaten fast ausschlieBlich auf Standesangelegenheiten
begrenzt wurden.
Die unterschiedliche Einstellung zur Wahl unter den drei Gruppen der
Wahlberechtigten - Kaufleute, Kleinburger und Zunfthandwerker - laBt sich an
einem Vergleich verdeutlichen: Die Wahlbeteiligung bei der Stadtdumawahl wies
im Laufe der 1890er Jahren eine steigende T e n d e n z auf, war aber geringer als bei
den Zunfthandwerkern; 1893 nahmen an der Wahl 2 8 % der Wahlberechtigten,
1897 3 4 , 6 % und 1898 4 6 , 4 % teil. A b e r auch 1898 waren die H a n d w e r k e r mit nur
zwei D u m a m i t g l i e d e r n oder mit weniger als 1% deutlich unterprasentiert. Dies
hing mit zwei Faktoren zusammen: Erstens verhinderte der hohe Wahlzensus v o n
3.000 Rubeln an Immobilienwert, der im Jahre 1870 noch 300 Rubel b e t r u g , die
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383
Semenov, Gorodskoe samoupravlenie, S. 246; APbom glasnych S. Peterburgskoj
gorodskoj dumy. St. Petersburg 1903, S. 5.
384
Die Namen der beiden Meister, die in die Stadtduma gewahlt wurden, sind bekannt. Es
waren Ermil Vasil'evii Vasil'ev und Vasilij Anisimovid Rachmanov. E. V. VasiPev war
Meister der Wagenbauer- und Tapeziererzunft. Seine Offentliche Tatigkeit auflerhalb der
Betatigung als Abgeordneter fand ihren Ausdruck in der Beteiligung an verschiedenen
stadtischen Kommissionen wie der fur die Uberprtifung der Handels- und Industriebetriebe
(komissija po kontrolju za promySlennymi i torgovymi predprijatijami) sowie der
Kommission Шг die Zusammenstellung der Verzeichnisse der Geschworenen Beisitzer in das
Kreisgericht (komissija po sostavleniju spiskov prisjainych zasedatelej okru&iogo suda). Er
war auch Kandidat der Revisions- und Sanitatskommissionen (revizionnaja i sanitarnaja
komissii), sowie Handelsdeputierter (torgovyj deputat). Seine Beteiligung an den wohltatigen
Anstalten St. Petersburgs wie an „der Gesellschaft fur die Unterstutzung der Armen"
(ObSdestvo vspomoSdestvovanija bednym) bei der „Christus-Auferstehungs-Kirche" (cerkov'
Voskresenija Christova) und als Ratsmitglied in der Gesellschaft Шг Wohltatigkeit
(blagotvoritel 'noe bSdestvo) in der „Kleine Kolomna" (Malaja Kolomna) verlieh seinem
Engagement in der stadtischen Gesellschaft Ausdruck. Der zweite Abgeordnete der
Stadtduma, V. A. Rachmanov, beteiligte sich an der stadtischen Kommission bei der
Anlagestelle fur die Getreide (gorodskaja komissija pri chlebnoj pristani) am Nevakai. Er
nahm an der Kommission fur die Zusammenstellung von Verzeichnissen der vereidigten
Beisitzer Шг das Kreisgericht teil. Soziales Engagement fand Ausdruck in seiner Beteiligung
an den wohltatigen Anstalten des heiligen FUrsten Vladimir, in: AT bom glasnych, S. 37, 53.
385
Nardova, Samoderiavie, S. 15 und 24.
Teilnahme von mehreren Kandidaten der Handwerker an der D u m a w a h l , zweitens
war die Aufmerksamkeit der Handwerker mehr auf ihre eigene Selbstverwaltung
gerichtet, die ihren Interessen naher stand.
Allgemein betrachtet war die schon erwahnte geringe Wahlbeteiligung bei der
Wahl in die Selbstverwaltungsorgane fur die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts
typisch. W e n n aber die drei Gruppen der Wahler verglichen werden, stellen sich
bedeutende Unterschiede heraus. Wahrend die Wahlbeteiligung bei den
Kleinburgern und Kaufleuten gering w a r , nahmen die Handwerker aktiv an der
Wahl in ihre Selbstverwaltung teil. Es wurden z. B . mehrere N a c h w a h l e n in
M o s k a u w e g e n ungentigender Anzahl von Wahlern in den Standversammlungen
der Kleinburger und Kaufleute angeordnet. Die Handwerker wiesen dagegen in
den beiden Hauptstadten eine hohere Wahlbeteiligung auf. E s sollte mindestens
ein Drittel der Wahlberechtigten bei der Wahl e r s c h e i n e n . Beispielweise waren
in St. Petersburg in den Jahren 1888 bis 1890 von 9 3 0 , 979 und 1205
stimmberechtigten Handwerkern j e 339, 476 und 709 oder im prozentualen
Verhaltnis 3 6 % , 4 8 % und 5 8 % an der Deputiertenwahl beteiligt. Die Zahl der
Beteiligten stieg also stetig an und erreichte 1890 einen beachtlichen Prozentsatz
von 5 8 % . Dieser Prozentsatz spiegelt sich auch in den W a h l e n fur die
Zunftamter wider. So fand am 24. Oktober 1889 unter Vorsitz des Zunftaltesten
der Schneiderzunft, I.D. Chrustalev, die Wahl von vier Stellvertretern des
Zunftaltesten, vier Steuereinnehmern und zehn vereidigten Meistern, entsprechend
den zehn Schneiderkunstarten, start. Von den 785 stimmberechtigten standigen
und zeitweiligen Meistern erschienen am Stichtag 341 bzw. 4 3 , 4 % .
In diesem prozentualen Unterschied der Wahlbeteiligung zwischen den
Handwerkern einerseits und den ubrigen Burgern der Stadt andererseits spiegelt
sich die lOOjahrige Entwicklungsgeschichte der Handwerksverwaltung in St.
Petersburg wider, die mit der Reform der Stadtverwaltung 1846 neue Impulse
bekam. Die unteren Schichten der Bevolkerung der beiden russischen Hauptstadte
wiesen im Vergleich zu den Kaufleuten, dem Beamtentum und d e m Adel eine
hohere Wahlaktivitat und einen starkeren Organisationsgrad auf. So bezeugt
Pisar'kova, daB die Moskauer Kleinburger bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine
seriose Konkurrenz fur die iuhrende Macht der Kaufleute in der M o s k a u e r
386
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386
Vgl., Nardova, Samoderzavie, S. 92.
387
Raport S. Peterburgskogo gradonacal'nika ministru vnutrennich del vom 12. Marz 1891,
in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2375: Ob ustranenii zatrudnenij, voznikajuS£ich pri izbranii
vybornych po soslovijam kupeceskomu, meSdanskomu i remeslennomu v gorodach Moskve i
S. Peterburge, hierl. 18.
388
Raport S. Peterburgskogo gradonacal'nika, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2375: Ob
ustranenii, hier 1. 26.
389
Protokol cechovogo schoda masterov portnogo cecha vom 24. Oktober 1889, in: RGIA, f.
1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju (...) Cistjakova, hier 1. 179.
390
Stadtduma darstellten . Die Frage, o b "die neue Munizipalverfassung der
Hauptstadt die Erwartungen rechtfertigte, die m a n in sie s e t z t e " , laBt sich nicht
eindeutig negativ beantworten, wie es Ditjatin und WeiB t u n . Hildermeier
schlieflt sich ihrer M e i n u n g uber die fehlgeschlagene Reform an: „ S o miBlang der
Versuch, die Allgemeine D u m a zu b e l e b e n " . Dieser Schlufl kann fur die
Allgemeine Stadtduma durchaus gelten, nicht aber fur die Handwerksverwaltung,
die sich unmittelbar u m die Standesangelegenheiten der Meister kummerte. Diese
Unterschiede in der Entwicklung der stadtischen Selbstverwaltung fuhrt zu der
Notwendigkeit, ihre Entwicklung differenziert zu betrachten. D i e Vielfalt der
standischen Angelegenheiten wurde nicht in der Allgemeinen Stadtduma, sondern
w a h r e n d der Zunft- u n d Deputiertenversammlungen deutlich, die im Vergleich zu
den Dumasitzungen auch wesentlich ofter stattfanden. In Anbetracht des starken
Interesses der Meister an den Standesfragen laBt sich sagen, daB die B e m u h u n g e n
des Gesetzgebers in der Herausbildung des Handwerkerstandes nicht ohne Folgen
blieben. Die Beteiligung an den Deputiertenversammlungen war fur die Meister
keine Zwangsverpflichtung mehr, sondern eine Ehrenaufgabe, die ihnen eine
soziale Artikulation ermoglichte. D o c h sollte die Regierung in der zweiten Halfte
des 19. Jahrhunderts weitere Reformen durchfuhren, u m mit der gesellschaftlichen
Entwicklung Schritt halten zu konnen. Mit der Bauernbefreiung 1861, den
folgenden groBen Reformen und mit der Einfuhrung der Stadtordnungen v o n
1870 und 1892 anderte sich die Gestalt der stadtischen Gesellschaft wesentlich.
Die standische Institution der Zunfthandwerker blieb aber ungeachtet dessen
bestehen und bewies ihre Fahigkeit, sich zu entwickeln, indem sie versuchte, sich
sogar als eine politische Vertreterin aller H a n d w e r k e r der Hauptstadt zu etablieren
und bis 1917 bestand.
391
392
393
Es laBt sich aber auch nicht bestreiten, daB die Handwerksverwaltung wesentliche
Ztige einer Auftragsverwaltung trug, da sie die Eintreibung der staatlichen S t e u e m
durchfuhrte. Allerdings verliert die These uber die starke Abhangigkeit der
Verwaltung v o m Staat wesentlich, wenn wir beriicksichtigen, daB diese
Steuereintreibung parallel mit der S a m m l u n g der A b g a b e n fur die Unterhaltung
der Selbstverwaltung durchgefuhrt wurde, w a s fur j e d e Selbstverwaltung eine
unter anderen Primaraufgaben war.
Die Tatigkeit der Verwaltung zwischen 1890 und 1905 ist eng mit dem N a m e n
von Timofej Afanas'evid Zagrebin verbunden, der 1893 als Mitglied der
390
Pisar'kova, NizSie, S. 6f.
391
Hildermeier, Burgertum, S. 278.
392
Ditjatin, Ustrojstvo, dast' 2, S. 492; G. Weifi, Die russische Stadt zwischen
Auftragsverwaltung und Selbstverwaltung. Zur Geschichte der russischen Stadtreform von
1870. Phil. Diss. Bonn 1977, S. 104.
Revisionskornmission, 1897 als ihr Vorsitzender und Stellvertreter des
Standesaltesten und v o n August 1897 bis 1905 als Standesaltester tatig war. In
seine Amtszeit fielen die H a n d werksausstel lung von 1899 und der allrussische
HandwerkerkongreB von 1900, die in ganz RuBland auf eine breite Z u s t i m m u n g
der H a n d w e r k e r stieBen. Die Handwerker aus den verschiedensten russischen
Stadten, nutzten diese GroBereignisse zu einem regen Informationsaustausch. Es
war eine Zeit des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwunges, der nicht nur die
GroB-, sondern in einem noch hoheren AusmaB die klein- und mittelstandische
Industrie, das H a n d w e r k eingeschlossen, erfaBte.
Dies alles entlastete das St. Petersburger Zunfthandwerk nicht v o n den inneren
Problemen in der Selbstverwaltung, eher verstarkte es die Intensitat und die Dauer
der Konflikte. Die Vielzahl der Gerichtsverfahren, gegenseitigen Beschuldigungen
und ZusammenstoBe kann aber auch positiv als Entstehung einer Streitkultur
gewertet werden, die fur eine „demokratische" Fortentwicklung des
Handwerkerstandes und seiner Institutionen unabdingbar war. In diese Richtung
weist eine B e m e r k u n g des Stadthauptmannes im Jahre 1880:
„Es m a g sein, daB die Erfahrungen, die in den letzten Jahren gemacht
wurden, nicht folgenlos 1ш die Vertreter des Standes bleiben werden,
die gewahlt werden und denen die Gesellschaft ihr Vertrauen schenken
wird" .
394
A u c h in spateren Zeiten fander. ZusammenstoBe zwischen der Verwaltungskanzlei
und der Deputiertenversammlung start, was ein Ausdruck der Verselbstandigung
beider Gremien war. Das neue Stadtstatut v o m 11. Juni 1892, das alle Angestellten
der Verwaltung zu Staatsbeamten erhob und dem Gouverneur das Recht gab, unter
bestimmten U m s t a n d e n die Amter in der Standesverwaltung mit seinen
Kandidaten zu besetzen, sorgte fur Aufruhr im Stand der Handwerker.
Als von der Deputiertenversammlung Mitte der 90er Jahre gravierende
Versaumnisse in der Buchfuhrung festgestellt wurden, ordnete sie eine
Revisionskornmission an, die aus einigen Mitgliedern des Standes bestand und
unter dem Vorsitz von T. A. Zagrebin arbeitete. 1897 schlug er konkrete
MaBnahmen fur die ordentliche Zusammenstellung der Buchhaltung vor und
wurde zum Vorsitzenden der Revisionskornmission gewahlt. Ihre Mitglieder
waren unter anderem der Oberbuchhalter der Bauernbank
(Krest'janskij
pozemel 'nyj bank) Piskunov, der Dozent fur das Buchhaltungswesen Epifanov und
der Angestellte der Gerichtsabteilung in der Direktion der Kazaner Eisenbahnlinie
Afanas'ev.
Die Aktivitat Zagrebins schien nur ein taktischer Schritt vor und wahrend der
W a h l k a m p a g n e des Vorsitzenden der Verwaltung und des Standesaltesten
394
Doklad S. Peterburgskogo gradonacal'nika ministru vnutrennich del ot 15 sentjabrja 1880,
in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju (...) Cistjakova, hier 1. 103.
gewesen zu sein. Als er im August 1897 gewahlt wurde u n d sein A m t antrat,
beendete er prompt das U b e ф r u ш n g s v e r f a h r e n . Er lieB den Buchhalter I.
Tatarinov trotz mehrerer Beschlusse der Deputiertenversammlung uber seine
Absetzung einen Finanzbericht fur das Jahr 1895 mit dem Z w e c k anfertigen, die
widerrechtlichen H a n d l u n g e n der Verwaltungsmitglieder zu vertuschen.
Ungeachtet dessen setzte die Revisionskommission ihre Tatigkeit fort. In den 36
Sitzungen, v o n denen zwolf mit auswartigen Experten stattfanden, w u r d e die
ganze Buchhaltung der Verwaltung nochmals gepruft. Die K o m m i s s i o n stellte die
Mustervorlagen zusammen, die die korrekte Erfassung aller Steuerschulden seitens
der Zunftaltesten und ein ordentliches R e c h n u n g s w e s e n in den wohltatigen
Anstalten des Standes ermoglichen sollten. Die Zunftmakler sollten zu ihren
Jahresberichten Belege einfuhren, die eine Kontrolle des Eingangs der
S c h u l d s u m m e n gewahrleisten sollten. Alle neuen Regeln der K o m m i s s i o n
bestatigte die Deputiertenversammlung im N o v e m b e r 1897, wodurch der
Standesalteste die Moglichkeit bekam, die neue v o n ihm selbst vorgeschlagene
Buchfuhrung ab d e m 1. Januar 1898 einzufuhren und sie in O r d n u n g zu bringen,
was er aber nicht tat. AuBerdem muBten die Beschlusse der V e r s a m m l u n g v o n der
administrativen Macht, also d e m Stadthauptmann, bestatigt werden, w a s ein
zusatzliches H i n d e m i s fur eine effiziente Politik der Deputiertenversammlung war.
Zagrebin bezog sich darauf, daB der Stadthauptmann die Beschlusse der
Deputiertenversammlung nicht bestatigte, wodurch sie fur ihn keine obligatorische
M a c h t hatten. Der Standesalteste benutzte diesen rechtlichen Umstand, u m sich
der legislativen M a c h t der Deputiertenversammlung, deren Beschlusse fur ihn als
obligatorisch galten, zu e n t z i e h e n .
395
Der Vorsitzende der Revisionskommission, P. A. Alekseev, und ihre Mitglieder
N . A. Andrijanov, A. Ja. Ioganson, A. M . K o m a r o v und S. V. N a z a r o v entlasteten
Tatarinovs Finanzbericht fur 1895 nicht. Es wurden unabhangige Sachverstandige
eingeladen, die den Bericht noch einmal unter die L u p e nahmen. D a z u gehorten
der Oberinspekteur der wohltatigen Anstalten der Kaiserin Maria, der Staatsrat A.
Ja. Romanovskij und der Inspekteur der Russischen Handels- und Industriebank
(Russkij torgovo-promyslennyj
bank) I. P. Djukov. Sie stuften Tatarinovs
Finanzbericht fur das Jahr 1896 als nicht korrekt e i n .
Dieser Streit konnte bis 1903 nicht beigelegt werden. Die Revisionskommission,
die jetzt unter der Leitung eines Silberschmiedes n a m e n s A.F. Makarov-Junev
stand, der v o n 1909 bis 1912 der Standesalteste war, legte a m 7. Juli 1903 dem
BeratungsausschuB (sovesdatel'noe
prisutstvie)
beim Stadthauptmann einen
Bericht vor, in d e m alien Verwaltungsmitgliedern die Verantwortung an den
396
395
Doklad komissii dlja predvaritel'nogo rassmotrenija ob'jasnitePnoj zapiski, in: RGIA, f.
23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, kasajuSeimsja S. Peterburgskoj remeslennoj upravy
(8. September 1906-3. September 1913), hier S. 46, 49.
MiBstanden in der Buchfuhrung zugesprochen wurde. Der BeratungsausschuB k a m
zu d e m SchluB, daB nur die Kassierer die vorgeschriebenen F o r m e n miBachteten
und schlug vor, der V e r w a l t u n g gegenuber eine Erklarung bezuglich des Berichtes
abzugeben. Daraufhin sollte die Deputiertenversammlung bestimmen, in welchem
Grad sich j e d e s einzelne Milglied der Verwaltung strafbar gemacht hatte. Die
Verwaltung legte eine Erklarung vor, in der sie alle Beschuldigungen mit d e m
Hinweis zuruckwies, daB auch das fruhere Personal der V e r w a l t u n g die Geschafte
auf diese Weise gefuhrt habe. Der Kommissionsvorsitzende Makarov-Junev
erkannte eine Erklarung solcher Art nicht an und beschuldigte die Verwaltung, den
Sachverstandigen des Beratenden Ausschusses bestochen zu haben. Die
Verwaltung hatte namlich dem Sachverstandigen einen Scheinauftrag fur 1000
Rubel angeboten, der schon fruher von den oben erwahnten Sachverstandigen fur
3 0 0 Rubel ausgefuhrt worden war. Trotz aller Bemtihungen der Verwaltung
bewertete der Sachverstandige den Sachbericht der Verwaltung v o m 10.
September 1903 fur die Jahre von 1893 bis 1900 als nicht k o r r e k t .
U m Zeit zu gewinnen, bat die Verwaltung die Deputiertenversammlung, eine
andere K o m m i s s i o n aus den Deputierten zusammenzusetzen, die die Erklarungen
der Verwaltung noch einmal auswerten sollte. A m 3 1 . Oktober 1903 wurde diese
Kommission gegrundet, bestehend aus folgenden Mitgliedern: A. A. Aleksandrov,
P. A. Andreev, О. V. B o g d a n o v , I. T. Bojcov, V. I. Dysko, K. A. Zil'berg, F. I.
Kozakevic, A. M . K o m a r o v , M . A. Leonov, К . I. Prostakov, A. F. Rumjancev, F.
V. Semenov, F. I. Timofeev, M. V. Tru und A. K. J u r ' e v . A m 20. N o v e m b e r
wurden die Mitglieder dieser Kommission vom Standesaltesten fur die Wahl des
Vorsitzenden der K o m m i s s i o n eingeladen und wahlten einstimmig V. I. D y s k o
und sein Stellvertreter M. V. Tru.
Die Hoffhung der Verwaltung, den Streit zu schlichten, ging nicht in Erfullung.
Im Gegenteil, die neue Kommission bestatigte die Beschuldigungen von MakarovJunev an den neuen Standesaltesten und die Verwaltungsmitglieder. Wahrend des
Verfahrens weigerte sich die Verwaltung, den Kommissionsmitgliedern die
angeordneten D o k u m e n t e zur Einsicht vorzulegen oder schob Formalitaten vor,
die einer A b s a g e gleichkamen. Es gab keine Moglichkeit, u m an die benotigten
Unterlagen h e r a n z u k o m m e n . Ungeachtet dieser Schwierigkeiten stellte die
K o m m i s s i o n fest, daB die Verwaltung bis zum 3 1 . Mai 1901 nichts unternommen
hatte, u m die Buchhaltung in O r d n u n g zu bringen. V o n 1893 bis 1899 wurden der
Handwerkskasse Verluste von m e h r als 5.000 Rubel zugefugt. Dieses Geld sollten
nun die Schuldigen doppelt zuriickzahlen, also 10.000 Rubel aufbringen .
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398
397
Doklad komissii dlja predvaritel'nogo rassmotrenija ob'jasnitePnoj zapiski, in: RGIA, f.
23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, kasaju§6imsja S. Peterburgskoj remeslennoj upravy
(8. September 1906 - 3. September 1913), hier S. 46.
Die Frage w a r nun, w e r dieses Geld bezahlen sollte. A n s c h e i n e n d w u r d e dieser
Konflikt mit der letzten Erklarung der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g v o m 3 . M a r z 1904
beigelegt. Der Standesalteste Timofej Zagrebin blieb bis 1906 im Amt. U n d
obwohl das E n d e der Amtszeit Zagrebins nicht allein mit d e m Ausbruch der
Revolution von 1905 zu erklaren ist, ist es doch berechtigt, sie als wichtige
Ursache zu nennen, die fur die rasante A n d e r u n g der Einstellungen und Werte
unter den H a n d w e r k e r n u n d den Deputierten verantwortlich w a r u n d fur einen
frischen Wind in den Standesangelegenheiten sorgte. Dadurch w u r d e mehr
B e w e g u n g in den Stand der Handwerker gebracht, die dann letztlich ihren
Ausdruck in der G r u n d u n g einer R e i h e von Berufsgenossenschaften und einer
Handwerkerpartei f a n d .
399
5.4.2 Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die zeitweiligen Z u n f t h a n d w e r k e r
U m die angespannte Situation der zeitweiligen Zunfthandwerker anzusprechen,
erinnerte der Verordnete der Handwerksabteilung der Stadtduma und zukunftige
Standesalteste, G.G. Petrovskij, die A n w e s e n d e n in der V e r s a m m l u n g v o m 6.
N o v e m b e r 1864 daran, daB es 6.000 zeitweilige Zunftmeister bzw. etwa funfmal
so viel wie standige Meister gebe. Seiner M e i n u n g nach ware es verfehlt, sie und
ihre Bedtirfhisse zu ignorieren. Sie brachten den groBten Teil des Geldes in die
gesellschaftliche Kasse ein und zahlten demzufolge fur das 200.000 Rubel teuere
Mietshaus, das Mitte 1861 fertiggestellt worden sei, am m e i s t e n . Petrovskij
betonte, daB es nicht im Interesse des Standes sei, w e n n die Mehrheit der
zeitweiligen Zunfthandwerker w e g e n der Verachtung, die sie v o n den standigen
Meistern erfuhren, abwanderten:
400
399
S. Peterburgskaja remeslennaja uprava. Vozzvanie, [SPb. 1906]; Remeslennaja partija,
[SPb. 1906]; Max Weber zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 19051912, hrsg. v. Wolfgang Mommsen in Zusammenarbeit mit Dittmar Dahlmann, MWG I/Bd.
10, Tubingen 1989, S. 65, 556f.
400
Entsprechend dem Vorschlag des ehemaligen Standesaltesten N. M. Komarov im Jahre
1858 wurde von der Deputiertenversammlung beschlossen, ein steinernes vierstuckiges Haus
zu bauen. FUr den Bau des Hauses und des Fliigels, die 1861 fertiggestellt worden waren,
wurden rund 200.000 Rubel verbraucht. Im Haus gab es 25 Wohnungen und 6 Ladenraume,
aus: Prigovor S. Peterburgskoj gorodskoj obScej dumy ot 23 marta 1862, in: RGIA, f. 1287,
op. 38, d. 413: Po donosu glasnych remeslennogo otdelenija S. Peterburgskoj gorodskoj
ob§£ej dumy о rastrate summ v zdesnej remeslennoj uprave i о raznogo roda nepravil'nych
dejstvijach remeslennogo starSiny Malkova (April 1864-September 1867), hier 1. 23. S. uber
die Rolle der zeitweiligen Handwerker in: Dokladnaja zapiska kollezskogo sovetnika M.
Machova, RGIA, f. 1287, op. 8, d. 1554: О vspomogatel'noj kasse peterburgskich
remeslennikov, 1. 2.
„Wie werden wir dann unsere Handwerksverwaltung erhalten k o n n e n
und w a s werden unsere N a c h k o m m e n uber uns sagen, w e n n wir
zulassen, daB unsere Gesellschaft gespalten wird?",
401
war seine pathetische, aber berechtigte Frage am Ende seines P l a d o y e r s .
Symptomatisch war, daB er sich spater, als er Vorsitzender der Verwaltung war,
fur die Abschaffung der Zunfte aussprach. Er initiierte ein Projekt iiber die
Griindung einer neuen „Gesellschaft der Handwerksindustrie", in der alle
Handwerker der Stadt den richtigen Ansprechpartner finden sollten. In seiner
Person fanden die zeitweiligen Handwerker ihren Fursprecher. D o c h fur Petrovskij
entstanden daraus verhangnisvolle Folgen. N a c h der Erlauterung der Rechte und
der Lage der zeitweiligen Handwerker soil iiber die Tatigkeit Petrovskijs
ausfuhrlicher berichtet werden.
Seit der Einfuhrung der Stadtordnung von 1846 in St. Petersburg durften auch
zeitweilige H a n d w e r k e r Amter in der Zunftverwaltung innehaben. Sie konnten
ihre Kandidaten fur die folgenden Amter in der Zunftverwaltung vorschlagen:
Zwei Beisitzer in der Handwerksverwaltung, die Zunftaltesten und ihre
Stellvertreter, Steuereinehmer und vereidigte Meister (prisjaznye
mastera).
Sowohl standige als auch zeitweilige Zunftmeister konnten in die H a n d e l s - und
Wirtschaftspolizei (torgovaja i chozjajstvennajapolicija),
in die Auktionskammer
und andere Stadtamter (gorodskie prisjaznye sluzby) gewahlt werden. In der Tat
monopolisierten die standigen Handwerker diese Amter.
Im Jahre 1870 g a b es in der Zunftverwaltung 302 zeitweilige und 57 standige
Handwerker. Die wichtigsten A m t e r hatten allerdings immer die standigen
H a n d w e r k e r inne. So blieben die zeitweiligen Handwerker v o n den beiden
wichtigsten Institutionen des Handwerkerstandes, der Verwaltung und der
Deputiertenversammlung, ausgeschlossen. In der Handwerksverwaltung gab es
nur zwei Vertreter der zeitweiligen Handwerker ohne Stimmrecht, die zwei
Beisitzer. Die Forderungen der zeitweiligen Handwerker nach Zulassung in die
Standesversammlungen fanden Z u s t i m m u n g beim Stadtoberhaupt, das dem
Innenminister im Jahre 1870 schrieb, es sei sinnvoll und berechtigt, den
Forderungen der zeitweiligen Handwerker entgegenzukommen, d. h. ihnen das
aktive und passive Wahlrecht zu gewahren. Das Innenministerium lehnte diese
Gesuche regelmaBig mit der Begriindung ab, daB die G e s e t z g e b u n g es nicht
zulasse. Laut Gesetz gehorten die zeitweiligen H a n d w e r k e r nicht zur stadtischen
Gesellschaft und z u m Stand der stadtischen bzw. standigen Handwerker.
401
Mnenie glasnogo Petrovskogo, eitannoe 6 nojabrja 1864 goda v sobranii remeslennogo
otdelenija obScej dumy, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 413: Po donosu, hier 1. 16.
D e s w e g e n wurden sie nicht in das stadtische Burgerbuch
(Gorodskaja
obyvatel 'skaja kniga) e i n g e t r a g e n .
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen in St. Petersburg sowohl die Konflikte
innerhalb der Handwerkerschaft, zwischen den standigen und den zeitweiligen
Handwerkern, als auch zwischen der staatlichen Burokratie und den H a n d w e r k e r n
und ihrer Selbstverwaltung. Einige der Konfliktpunkte sollen n u n genannt werden.
Unter den standigen H a n d w e r k e r n der Stadt gab es nur wenige, die wirklich als
H a n d w e r k e r tatig waren, 1870 w a r e n es von 17.528 nur 2.727. Die Mehrheit, in
diesem Fall also 8 4 , 4 % , gehorte dem Stand nur formal an. Dafur g a b es mehrere
Grtinde. D e r soziale Aufstieg oder der Wechsel in einen anderen nicht
handwerklichen B e r u f ermoglichte es den Kindern der standigen Handwerker,
ihren Lebensunterhalt aus anderen Quellen zu beziehen. D a aber die
Standeszugehorigkeit vererbt wurde, blieben sie weiter im Stand aufgelistet .
Eine weitere Ursache fur die groBe Zahl der eingetragenen, aber nicht tatigen
H a n d w e r k e r war ein massiver Zustrom an nichthandwerklichen Zuwanderern, die
durch den E r w e r b der Standeszugehorigkeit ein dauerndes Wohnrecht in der Stadt
erhielten. Obwohl diese Standesangehorigen keine H a n d w e r k e r waren, n a h m e n sie
im Unterschied zu den zeitweiligen Zunftmeistern soziale Leistungen in Anspruch,
w a s zu Unstimmigkeiten in den Zunften fuhrte: Im Gesamtverhaltnis v o n
Meistern, Gesellen und Lehrlingen gab es 1870 2.727 standige und 25.092
zeitweilige Handwerker, wobei letztere z u s a m m e n bis zu 60.000 Rubel Steuer
jahrlich z a h l t e n .
402
403
404
D e s w e g e n konnten die standigen Meister mit Hilfe der zeitweiligen Meister zwar
ein A r m e n h a u s , eine Schule und ein Asyl fur a r m e Kinder unterhalten, die
zeitweiligen Meister konnten diese Leistungen aber nicht in Anspruch nehmen. Sie
bekamen keinerlei Unterstutzung, obgleich sie zwischen 1854 und 1870 1.068.125
Rubel ( 8 3 , 4 % der Gesamtbeitrage, der Rest fiel auf die standigen Meister) in die
H a n d w e r k s k a s s e einzahlten. Z u m 1. Januar 1871 wurden v o n 1.002 standigen
Zunfthandwerkern, davon 845 Meister und 157 Meisterinnen, 4.008 Rubel und
v o n den 5.525 zeitweiligen Zunfthandwerkern, davon 4.864 Meister und 661
Meisterinnen, 21.568 Rubel in die Handwerkskasse e i n g e z a h l t .
405
402
Po chodatajstvu vremenno-cechovych masterov S. Peterburgskogo remeslennogo soslovija
о predostavlenii im prava udastija v delach sobranija vybornych remeslennogo soslovija
naravne s vecno-cechovymi masterami; Po zalobe S. Peterburgskich masterov-kupcov
Bogdanova, Osokina i drugich na nedopuScenie zdesnej remeslennoj upravoj proizvodstva
vyborov v zasedateli etoj upravy inogorodnych kupcov, me§6an i remeslennikov naravne s
vecno-cechovymi, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281,1. 9, 50.
403
Ebd., 1. 1-3.
404
Ebd.
N a c h der Stadtreform von 1870 entwickelte sich eine neue Art der allstandischen
Selbstverwaltung in den Stadten. Die Befehlsfunktionen u n d die Exekutive
wurden g e t e i l t . Das Wahlrecht bekamen alle Burger, die die russische
Staatsangehorigkeit sowie Immobilien in der Stadt besafien. A u c h solche
Personen, die Handels- oder Industriebetriebe besaBen, und
in der Stadt
mindestens seit zwei Jahren wohnten und an die Stadt bestimmte Beitrage
entrichteten, g e n o s s e n das Wahlrecht. In der St. Petersburger D u m a g ab es von
n u n an 2 5 0 gewahlte Mitglieder, die besonders aktiv im Bereich der
Stadtwirtschaft tatig waren. Die Dumamitglieder wahlten ihrerseits die Exekutive
bzw. die Stadtverwaltung und das S t a d t o b e r h a u p t . Allerdings fuhrte die
Regierung E n d e der 1880er bis zum Anfang der 1890er Jahre einige
Gegenreformen in den Stadt- und Landesverwaltungen durch, um diese Organe
enger an die Regierungsamter zu b i n d e n .
Als 1873 die neue Stadtordnung in St. Petersburg eingefuhrt wurde, wurden die
Deputierten in die stadtische Selbstverwaltung nach V e r m o g e n und nicht nach
Standesprinzip gewahlt. Die 2:eitweiligen Zunfthandwerker wollten dieses Recht
in Anspruch n e h m e n , da sie auch zahlenmaBig im Ubergewicht waren: Z u j e n e r
Zeit ga b es in der Standesversammlung 145 Deputierte der 9 9 4 standigen
Zunftmeister, die uber die
Schicksale der rund 26.000 zeitweiligen
Zunfthandwerker e n t s c h i e d e n .
Die zeitweiligen H a n d w e r k e r erhoben sich gegen die Standesordnung, u m die
Gleichberechtigung aller Mitglieder der Handwerkerschaft anzustreben und
verlangten eine Zulassung zu den Ver sam m lu n g en der Deputierten und zur
Teilnahme
an
den
Wahlen
in d i e H a n d w e r k s v e r w a l t u n g
und
Deputiertenversammlung. Sie argumentierten damit, daB es in ganz RuBland keine
anerkannte Gesellschaftsgruppen gabe, die nicht das Recht hatten, ihre eigenen
Angelegenheiten zu besprechen und zu bestimmen:
406
407
408
409
„Die zeitweiligen Zunfthandwerker j e d o c h haben kein Recht auf eine
eigene V e r s a m m l u n g , w a s dem Stadtstatut (gorodskoe
polozenie)
eigentlich nicht entspricht. Die V e r s a m m l u n g der Deputierten ist eine
rein standische Institution, die nur ihre Standesinteressen und nicht die
Interessen aller stadtischen Handwerker vertritt" .
410
406
Nardova, Samoderzavie, S. 8.
407
Ebd., S. 9.
408
Ebd.
409
ProSenie vremenno-cechovych masterov S. Peterburgskogo remeslennogo soslovija, in:
RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, 1. 4; Dmitrij Dmitrievid Semenov,
Gorodskoe samoupravlenie: ocerki i opyty. St. Petersburg 1901, S. 2.
D e r Widerspruch bestand darin, dafi auf einer niederen E b e n e in den
Zunftverwaltungen die Zunftaltesten meist aus den zeitweiligen Zunfthandwerkern
gewahlt wurden, weil in den Zunften alle H a n d w e r k e r an der Wahl fur die
Zunftamter einschlieBlich des Zunftaltesten teilnehmen durften. A u f einer oberen
E b e n e in der allgemeinen Handwerksverwaltung, der die gesamte Leitung der
Zunfte oblag, konnten die zeitweiligen H a n d w e r k e r dagegen nur zwei Stellen
besetzen, der Amtsinhaber keine Stimme in der Deputiertenversammlung hatten.
In der V e r s a m m l u n g durften sie nicht als gleichberechtigte Mitglieder, schon gar
nicht als Deputierte teilnehmen:
„Mehrmals erschienen die Deputierten in der V e r s a m m l u n g nicht und
sabotierten die Erorterung der Vorschlage der zeitweiligen
Zunfthandwerker wegen ihrer personlichen, egoistischen I n t e r e s s e n " .
411
Die standigen Meister versuchten, den damaligen Handwerksaltesten und den
Vorsitzenden der V e r s a m m l u n g der Deputierten, G. G. Petrovskij, der sich schon
seit Jahren fur die Gleichberechtigung der zeitweiligen H a n d w e r k e r einsetzte,
abzusetzen und eine andere Person zu wahlen, die ihren W u n s c h e n besser
entsprach. Sie schurten so den Streit unter den Handwerkern.
Die oben aufgefuhrten Zitate wurden einer Bittschrift entnommen, die 53
Zunfthandwerker unterschrieben, unter ihnen prominente standige H a n d w e r k e r
und Kaufleute zweiter Gilde. Es unterzeichneten unter anderem n e u n Wagenbauer,
18 Meister, die tiberwiegend in die zweite kaufmannische Gilde eingeschrieben
waren und sechs standige Zunfthandwerker, unter denen es ein Mitglied der
Deputiertenversammlung und zwei Ehrenbtirger der Hauptstadt g a b . Die
Z u s a m m e n s e t z u n g der Bittsteller zeugt von einer breiten Unterstutzung der
zeitweiligen Handwerker, deren schlechte Position innerhalb der Zunfte
mittlerweile zu einem allgemein beachteten Problem der Stadtpolitik geworden
war.
412
Die Unruhe, aber auch die Aktivitat der zeitweiligen Zunfthandwerker wurde noch
starker, als a m 2 8 . Juni 1870 ein BeschluB des Reichsrates durch den Zaren
bestatigt wurde, der besagte, daB die Zunfte in naherer Zukunft abgeschafft
wurden. Innen- und Finanzminister wurden eine Absprache treffen, wie sich dies
optimal durchfuhren lieBe. Charakteristisch ist, daB dieser BeschluB des Reichrates
im Rahmen der neuen Stadtordnung getroffen und noch am gleichen T a g bestatigt
wurde. Dies entsprach den allgemeinen Optionen der Regierung in den Fragen der
Reorganisation des Stadtewesens. DaB dieser BeschluB fur die zeitweiligen
Handwerker von ausschlaggebender B e d e u t u n g w a r und noch Jahre danach zu
ihren zentralen Anliegen gehorte, bestatigt ein Schreiben des Leiters des
411
Ebd., 1. 4.
4 , 2
Ebd., 1. 4f.
Innenministeriums (Upravljajusdij Ministerstva vnutrennich del) Furst L o b a n o v Rostovskij an den Oberverwalter (Glavnoupravljajusdij)
der 2. A b t e i l u n g der
Kaiserlichen Kanzlei im August 1874:
„Die standigen Zunfthandwerker beziehen sich darauf, daB die
zeitweiligen Handwerker an den Versammlungen teilnehmen konnen.
Ihrer M e i n u n g nach wurden die gesellschaftlichen Turbulenzen durch
den BeschluB des Reichsrates v o m 16. Juni 1870 verursacht, in dem
uber die Abschaffung der Zunfte gesprochen w u r d e " .
413
A u s dem Schreiben geht auch hervor, dass die Aussage der standigen Handwerker
rein taktischen Charakter trug, weil sie schon bereits vor drei Jahren, am 27. April
1871, alle Forderungen der zeitweiligen Handwerker strikt abgelehnt hatten.
Der BeschluB des Reichsrates von 1870 wurde zu einem h e m m e n d e n Faktor bei
der L o s u n g des Problems der Gleichberechtigung der zeitweiligen Handwerker.
Alle darauf folgenden Versuche der zeitweiligen Handwerker, das Zunftsystem in
St. Peterburg zu reformieren, wurden von den hoheren Instanzen mit der
Begriindung abgelehnt, daB die Regierung Bescheid wisse und daran arbeite. Die
beteiligten Seiten, ein Teil der Regierung, die Kanzlei des MilitarGeneralgouverneurs, der Stadthauptmann und der Vorsitzende der Stadtduma,
waren sich darin einig, daB es sinnvoll und berechtigt sei, den Forderungen der
zeitweiligen H a n d w e r k e r e n t g e g e n z u k o m m e n und ihnen das passive und aktive
Wahlrecht zu erteilen, wodurch die standigen Streitigkeiten zwischen beiden
Gruppen und der umfangreiche Briefwechsel aufhoren miiBten. Der BeschluB des
Reichsrates blockierte eine Reform des Standes. In Anbetracht der „baldigen"
Abschaffung der Zunfte war es nach Ansicht der Regierung nicht sinnvoll, das
Handwerksstatut, das die R a h m e n b e d i n g u n g e n des H a n d w e r k s und die
Zunftordnung bestimmte, zu a n d e r n .
414
Es ware aber falsch, die Unzufriedenheit der zeitweiligen Handwerker nur auf die
Erlasse und Intentionen der Regierung zviruckzufuhren. N o c h vor dem BeschluB
des Reichsrates im Jahre 1870 unternahmen die zeitweiligen H a n d w e r k e r mit dem
Standesaltesten Petrovskij an der Spitze mehrere Versuche, ihre L a g e zu
verbessem. D a n k ihrer Initiative erlaubte ihnen der Stadthauptmann, im Dezember
1869 eine K o m m i s s i o n zusammenzurufen, die iiber die Moglichkeiten der
Bekampfung der A r m u t unter den zeitweiligen Handwerkern beraten sollte. A m
12. Januar 1870 n a h m die Kommission aus zwolf zeitweiligen Meistern ihre
Arbeit auf und kam nach Analyse der tatsachlichen Lage und der Gesetzgebung
413
Ob-jasnitel'naja zapiska upravljajuscego ministerstvom vnutrennich del stats-sekretarja
knjazja Lobanova-Rostovskogo glavnoupravljajuscemu 2-m otdeleniem e.i.v. kanceljarii ot
28 avgusta 1874, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 72.
zu dem Ergebnis, daB es unter den vorhandenen R a h m e n b e d i n g u n g e n unmoglich
sei, etwas fur die Verbesserung der L a g e der zeitweiligen H a n d w e r k e r zu tun. Die
K o m m i s s i o n sah keinen anderen A u s w e g , als allein diese R a h m e n b e d i n g u n g e n zu
andern und arbeitete ein Projekt uber die „St. Petersburger Gesellschaft der
Handwerksindustrie" (St. Peter burgs кое obsdestvo remeslennoj
promyslennosti)
aus, das den Ersatz der Zunfte durch eine genossenschaftsartige Vereinigung der
Handwerker, die auf dem Berufsprinzip beruhen sollte, vorsah. Die anscheinend
w e n i g zueinander passenden Worte wie „ H a n d w e r k " und „Industrie" wurden
bewuBt zusammengesetzt und sollten den Wandel im H a n d w e r k z u m A u s d r u c k
bringen .
Es sind hier einige wichtige Punkte des Projektes zu nennen. Es sah vor, aus alien
vorhandenen Handwerkern der Stadt eine Korporation zu bilden. Z u j e n e r Zeit gab
es in der Stadt die nicht zunftig organisierten Einzelhandwerker und Gesellen,
deren Anzahl die der zunftig organisierten H a n d w e r k e r weit ubertraf. N a c h
Paragraph vier des Projektes wurden wahrend der ersten zehn Jahre des Bestehens
dieser Gesellschaft alle Handwerker der Stadt verpflichtet, in sie einzutreten. N a c h
Ablauf dieser Zeit stand es j e d e m frei, in der Gesellschaft zu bleiben oder nicht.
N a c h M e i n u n g der Verfasser des Projektes konnte die Gesellschaft o h n e die
Festsetzung dieser Frist nicht zustande k o m m e n , weil
415
„allgemein bekannt ist, daB das russische Volk eine solche Verfassung
hat, daB ihm j e d e Vergesellschaftung fremd ist. E s empfindet MiBtrauen
gegenuber alien genossenschaftlichen Bildungen und ist es gewohnt, in
einer patriarchalischen Form zu l e b e n " .
416
Bezogen auf die damaligen Verhaltnisse in der Stadt scheint diese B e h a u p t u n g
richtig zu sein. Sie stammt v o n einem Meister bzw. einem Verfasser des Statutes,
dem die Sitten des „russischen V o l k e s " wohlbekannt waren. Diese Aussage steht
aber in krassem Widerspruch zu den Einsichten der liberal-demokratischen
Schichten der russischen Gesellschaft, die den Gemeinschaftsgeist des Volkes
idealisierten. So schrieb der Autor eines Artikels im „Golos", daB „dem russischen
Volk die Worter ,tovaris£' oder ,аЛеГпое n a c a l o ' nicht fremd und unter ihm sehr
v e r b r e i t e t " seien, w a s an die Leitsatze der Volkstiimler (narodniki) erinnert.
417
415
Prosenie vremenno-cechovych remeslennikov ot 22.12.1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d.
1301 (28. Dezember 1870 - 17. April 1871): Po proektu ustava „Ob§cestva remeslennoj
promySlennosti v S. Peterburge", sostavlennogo nekotorymi vremenno-cechovymi
remeslennikami, hier 1. 4.
416
Golos, gazeta politi6eskaja i literaturnaja, Nr. 223 vom 14. (26.) August 1871, S. 1, aus:
Ob-jasniternaja zapiska ot 13 fevralja 1871, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1301: Po proektu
ustava, hier 1. 7.
Z w a r wird hier nicht die betrachtliche Verbreitung der Begriffe ,tovaris£' und
,artel'noe nacalo verneint. Sie galten aber vielmehr fur die Kaufleute und die
bauerliche Schicht. W a s die gewerbliche Bevolkerung v o n St. Petersburg, in
diesem Fall die Handwerker bzw. die kleinen Produzenten betrifft, so gilt es, eher
den Autoren des Projektes Recht zu geben.
Die Mitglieder der Handwerksgesellschaft wurden von den Autoren des Projektes
in die drei Kategorien Meister, Gesellen und Lehrlinge eingeteilt, w o m i t die
standigen Meister uberhaupt nicht einverstanden waren. Damit ware die aktuelle
Einteilung der Gesellen in zwei Gruppen aufgehoben worden. Zu j e n e r Zeit gab
es unter den Gesellen diejenigen, die einen Lehrgang bei einem Meister
abgeschlossen hatten und v o n der Handwerksverwaltung ein D i p l o m erhalten
hatten und die eigentlichen Arbeiter, die weniger qualifizierte Arbeit verrichteten.
Bei einer A n d e r u n g dieser Einteilung hatte die Handwerksindustrie der Stadt
erhebliche Einschrankungen erlitten. AuBerdem sollte die Handwerksverwaltung
nicht d e m Finanzministerium unterstellt werden, da dadurch die
fiskalischen
Aufgaben der Handwerksverwaltung in den Vordergrund gertickt wurden. D a s
wichtigste Anliegen der neuen Gesellschaft war also, das stadtische H a n d w e r k
unter neuen Prinzipien zu reorganisieren und die freie handwerkliche Arbeit
einzufuhren, die von dieser Gesellschaft unterstutzt werden sollte. U m diesen
Z w e c k zu erreichen, wollte sie sich eine breite und stabile Basis unter den
Handwerkern verschaffen. Die Handwerker sollten eine Untersttitzung bekommen,
u m mit den groBeren Industriebetrieben konkurrieren zu konnen.
Dieses Projekt einer „St. Petersburger Gesellschaft der Handwerksindustrie"
wurde nun w a h r e n d der allgemeinen V e r s a m m l u n g der zeitweiligen
Zunfthandwerker am 15. Dezember 1870 bewilligt und an das Innenministerium
weitergeleitet . D a s Vorhaben der zeitweiligen Handwerker blieb v o m Stand der
standigen Zunfthandwerker nicht unbemerkt. Sie leisteten heftigen Widerstand
und versuchten auf verschiedenen Wegen, das Projekt zu verhindern. U m ihr Ziel
zu erreichen, baten sie den Innenminister, das Projekt aus dem Innenministerium
an die Deputiertenversammlung weiterzuleiten, die es priifen sollte. Sie brachten
dabei ein schwerwiegendes A r g u m e n t vor, gegen welches die R e g i e r u n g k a u m
etwas einwenden konnte. Es ging um das Eigentum, sprich die Immobilien und das
Kapital des Standes der standigen Handwerker der Hauptstadt, die auf keinen Fall
ihr Eigentum mit den ubrigen Handwerkern der Stadt teilen w o l l t e n . Die
Handwerkergesellschaft w u r d e gespalten und die Auseinandersetzung artete in
offene Feindschaft aus. Die Situation verscharfte sich durch die Parteinahme der
Verwaltung und eines Teiles der Deputiertenversammlung zugunsten der
zeitweiligen Handwerker. Der Handwerksalteste und Vorsitzende der Kommission
G. G. Petrovskij, sein Stellvertreter A. Osokin, fiinf Deputierte und ein standiger
4
418
419
418
Prosenie ot 22.12.1870, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1301: Po proektu ustava, hier 1. 4f.
4 , 9
Ob-jasnitePnaja zapiska ot 12 fevralja 1871, in: Ebd., 1. 7.
Meister (I. Sobolev) reichten zusarnmen mit elf Mitgliedern der K o m m i s s i o n ein
Gesuch an den Innenminister ein, mit der Bitte, das Projekt zu unterstutzen, das
allerdings in Anbetracht der oben ausgefuhrten Grtinde nicht v o r w a r t s k o m m e n
wollte .
Als Petrovskij nicht wiedergewahlt wurde und sein A m t niederlegen muBte,
verloren die zeitweiligen H a n d w e r k e r ihren Fursprecher. Die Situation w u r d e
dadurch kompliziert, daB sowohl der Stand der standigen H a n d w e r k e r gespalten
w u r d e , als auch auBerhalb des Standes die ubrigen zeitweiligen H a n d w e r k e r nach
gleichen Rechten verlangten, wobei Petrovskij ihnen Beistand leistete. Ein
Schreiben der zeitweiligen Handwerker an den Innenminister v o m 2 9 . N o v e m b e r
1870 bestatigte, daB es ihr Hauptanliegen war, EinlaB in die V e r s a m m l u n g der
Deputierten sowie Teilnahme an den Wahlen zu erlangen. D a s Innenministerium
w a r nicht daran interessiert, das Statut zu andern oder gar den Stand der standigen
H a n d w e r k e r aufzulosen. D e s w e g e n wurden alle Gesuche der zeitweiligen
H a n d w e r k e r an die Handwerksverwaltung zuriickgeschickt, die sie der
Deputiertenversammlung zur Debatte vorlegte. Die Deputiertenversammlung
lehnte ihrerseits am 27. April 1871 alle Forderungen der zeitweiligen H a n d w e r k e r
ab .
420
4 2 1
D e r Stadthauptmann (gradonadal'nik)
Trepov und der stellvertretende St.
Petersburger Gouverneur, Geheimrat Luzkovskij 1874, sowie sein Vorganger,
Graf Levasev 1 8 7 1 , hielten den BeschluB der Deputiertenversammlung uber die
Nichtzulassung der zeitweiligen Handwerker in die Standesversammlungen mit
d e m Zustimmungsrecht in den Standesangelegenheiten fur nicht korrekt, doch
anderte dies die Einstellung der Deputierten n i c h t .
Symptomatisch ist, daB das Problem der Gleichberechtigung der zeitweiligen
H a n d w e r k e r mit den standigen nicht nur in St. Petersburg, sondern auch im
sudlichen ZentralruBland in Voronez auf der Tagesordnung stand. Der dortige
Standesalteste M o r o z o v lud am 12.10.1873 alle Handwerker der Stadt ohne
A u s n a h m e zur Wahl ein. Allerdings HeBen die standigen Meister die Wahl nicht
zu u n d v e r l a n g t e n eine V e r s c h i e b u n g d e r s e l b e n . B e i m
nachsten
Versammlungstermin, am 2 3 . November, waren nur die standigen Meister
versammelt. M o r o z o v appellierte erneut an sie, die zeitweiligen Meister zur Wahl
zuzulassen. Seine Argumente fanden im Unterschied zu St. Petersburg eine
positive Resonanz. Die letzte Wahl wurde v o n der V e r s a m m l u n g fur nichtig
erklart, weil die zeitweiligen H a n d w e r k e r an der Wahl v o m 9. D e z e m b e r j e n e s
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420
Prosenie ot 22.12.1870, in: Ebd., 1. 5.
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Doklad postojannoj revizionnoj о роГгасЬ i nuzdach remeslennogo obScestva komissii, in:
RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu vremenno-cechovych masterov [...] о
predostavlenii im prava udastija v delach sobranija vybornych remeslennogo soslovija
naravne s vecno-cechovymi masterami, hier 1. 49-52.
RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 8f.
Jahres nicht teilgenommen hatten. Eine Anfrage an den Innenminister blieb j e d o c h
u n b e a n t w o r t e t . Alle Bittschriften dieser Art wurden v o n der Kaiserlichen
Kanzlei und v o m Innenministerium mit dem Hinweis auf den BeschluB des
Reichsrates v o m 16. Juni 1870 iiber die Abschaffung des Zunftsystems
abgelehnt .
So wurden 1879 in St. Petersburg zur Wahl der zwei Beisitzer v o n den
zeitweiligen H a n d w e r k e r n in die Handwerksverwaltung nur 50 finnische und aus
den Ostseeprovinzen stammende Meister eingeladen, die vorher in ihren Stadten
als standige Meister in die Ziinfte eingeschrieben waren. Die russischen
zeitweiligen Meister waren daruber emport, nicht an der Wahl teilnehmen zu
konnen. Sie waren nicht damil einverstanden, daB ihnen die letzte Moglichkeit, in
der V e r w a l t u n g vertreten zu sein, g e n o m m e n w u r d e . Z u d e m manipulierte die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g die Wahl, indem sie H a n d w e r k e r zur Wahl stellte, die,
bevor sie nach St. Petersburg g e k o m m e n waren, in ihren Stadten standige Meister
gewesen waren und dadurch potentielle Verbundete fur die standigen Handwerker
in der Deputiertenversammlung darstellten.
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Trotz aller Versuche, die zeitweiligen H a n d w e r k e r von Verwaltungsamtern
fernzuhalten, gelang ihnen zumindest ansatzweise eine Teilnahme an den
Privilegien der standigen Handwerker. So erhielten sie 1879 einige Platze in der
Handwerksschule (32 von insgesamt 263), und im A r m e n h a u s (12 von 170),
eingeraumt. Im Vergleich mit der Anzahl der zeitweiligen H a n d w e r k e r in der Stadt
war die ihnen eingeraumte Anzahl an Platzen in diesen gemeinnutzigen Anstalten
verschwindend g e r i n g .
Mit der Wahl der beiden Beisitzer in die Verwaltung am 24. Juli 1880
wiederholten sich die Aktionen Lebedevs gegen die zeitweiligen Handwerker. Er
lieB folgende MiBstande zu:
1. Start 6000 Einladungen wurden nur 2000 gedruckt, von denen nur 500
verschickt wurden.
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2urnal Voronezskogo gubernskogo po gorodskim delam prisutstvija ot 4 marta 1874, in:
RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 55f.
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Zakljudenie chozjajstvennogo departamenta ministerstva vnutrennich del v sentjabre 1881,
in: Ebd., 1. 96ff.
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Dokladnaja zapiska masterov S. Peterburgskich cechov ministru vnutrennich del L. S.
Makovu ot 7 marta 1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju Cistjakova,
Polikarpova, hier 1. 5.
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Doklad S. Peterburgskogo gradonacal'nika ministru vnutrennich del ot 17.8.1879, in:
RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1954 (7. Marz 1879-21. September 1887): Po dokladnoj zapiske
vremenno-cechovych masterov S. Peterburgskogo remeslennogo obscestva Subbe,
Michel'sona, Svensona i drugich ob ucrezdenii, v vidach prizrenija v stolice neimuscrch
61enov iz vrmenno-cechovych remeslennikov, osobych dlja oznacennych cechovych kass,
hier 1. 9.
2. Lebedev versaumte es, die Handwerkerinnen einzuladen.
3. Die Wahlzettel wurden nicht direkt, sondern in einem anderen R a u m gezahlt.
4. E s wurden keine Verzeichnisse der Wahlberechtigten und derjenigen, die
kandidieren wollten, zusammengestellt. Infolgedessen war es fur die 300
anwesenden Wahler unmoglich, die N a m e n der Kandidaten zu erfahren. Es ist
durchaus wahrscheinlich, daB Lebedev w a h r e n d der Zusammenstellung der
Verzeichnisse sogar fremde Personen eintrug, die uberhaupt kein Recht hatten,
an der Wahl teilzunehmen bzw. nur in seinem Interesse handelten.
Die V e r m u t u n g e n der zeitweiligen H a n d w e r k e r bestatigten sich. Unter den
Kandidaten befand sich der Kaufmann Trifachin, der 1880 aus d e m Stand der
standigen Zunfthandwerker ausgeschieden war. Jetzt kandidierte er als zeitweiliger
Zunfthandwerker. Trifachin w a r v o n Lebedev unmittelbar abhangig, weil er einen
zweijahrigen Vertrag mit der Verwaltung abgeschlossen hatte, nach dem er seit
Mai j e n e s Jahres das A r m e n h a u s der Handwerker mit Schuhen belieferte. E s hieB,
daB er in einer Person Lieferant und gleichzeitig Empfanger der Schuhe sein sollte.
Dementsprechend konnte keiner die Qualitat der v o n ihm gelieferten Schuhe nachprtifen . Ein Beisitzer solcher Art war eine w i l l k o m m e n e Kandidatur fur den
Standesaltesten, der nach den Worten der Korrespondenten der St. Petersburger
Zeitungen den zeitweiligen H a n d w e r k e r n „die Stiefel mit d e m B a s t s c h u h "
(pereobuvat'
remeslennoe obsdestvo iz sapog v lapti) - eine Anspielung auf ihre
bauerliche Herkunft - tauschen w o l l t e . Dies war ein besonders klarer A u s d r u c k
der Teilung der Petersburger Handwerker in die beiden groBen Gruppen der
„Stadter" einerseits und der „Landbevolkerung" andererseits.
W a h r e n d der V e r s a m m l u n g lieB es Lebedev nicht zu, daB die V e r o r d n u n g des
Stadthauptmanns v o m 16. August 1879 uber die Einberufung einer Kommission,
die aus den jeweils standigen und aus den zeitweiligen Zunfthandwerker bestehen
sollte, verlesen w u r d e . Der Stadthauptmann w a r der M e i n u n g , daB die armen
zeitweiligen Handwerker genauso wie die standigen berechtigt seien, die sozialen
Einrichtungen des Standes in Anspruch zu nehmen. Lebedev erklarte allgemein,
w o r u m es sich im D o k u m e n t handelte. Er interpretierte die Worte des
Stadthauptmanns in d e m Sinn, daB eine K o m m i s s i o n a u s standigen und
zeitweiligen Meistern zusammengerufen werden sollte, u m uber die Mittel fur die
Versorgung der armen zeitweiligen Handwerker zu beraten. L e b e d e v meinte, daB
die soziale V e r s o r g u n g einzig durch die Erhohung der Steuern moglich s e i . V o n
einer berechtigten Verteilung der schon vorhandenen offentlichen Mittel, die
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Prosenie upravljajuScemu ministerstvom vnutrennich del ot vremenno-cechovych
masterov v S. Peterburge ot 27 avgusta 1880, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju
Cistjakova, Polikarpova, 1. 87f.
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Ebd., 1. 88.
groBtenteils von den zeitweiligen Handwerkern stammten, konnte hier keine Rede
sein. Die Wahl w u r d e abgebrochen und bis z u m nachsten Termin verschoben.
W a h r e n d der nachsten Versammlung, am 2 1 . August 1880, auf der die zwei
Beisitzer in die Verwaltung gewahlt werden sollten, wurden wieder einige
Versaumnisse konstatiert. Die zeitweiligen Handwerker beschwerten sich, daB
„nur" 1.500 v o n 6.000 zeitweiligen Handwerkern eingeladen worden waren, wobei
die Halfte der Wahlberechtigten, die an der V e r s a m m l u n g am 24. Juli
teilgenommen hatten, nicht hineingelassen wurde. Lebedev stellte a m Eingang zur
D u m a Wachter auf, die dafur sorgen muBten, daB kein ungeladener Handwerker
in die V e r s a m m l u n g gelangte, so daB, w e n n es notig war, auch mit Gewalt der
Eingang versperrt w u r d e . Hier ereigneten sich emporende Szenen: Die Wachter
faBten die Wahler am Kragen und versperrten ihnen den Weg. In der
Versammlung warnte der Schreiber Cerepovic die A n w e s e n d e n : „Meine Herren,
falls sich irgend j e m a n d erkuhnt, den Vorsitzenden hinauszujagen, wird derjenige
gleich zur Polizei geschickt. Die Polizeibeamten sind auf ihren P l a t z e n " .
U m seine Z w e c k e zu erreichen, lud Lebedev alle 1500 Wahler zur gleichen Zeit
ein: das Gedrange sollte es ihm erleichtern, eigene Kandidaten ins A m t der
Beisitzer wahlen zu lassen. D e m Gesetz nach sollten so viele V e r s a m m l u n g e n mit
j e 600 Wahlern stattfinden, bis alle Stimmberechtigten teilgenommen hatten. Die
V e r s a m m l u n g lieB sich j e d o c h nicht einschuchtern und verlangte von Lebedev
einstimmig, von seinem A m t abzutreten. Die Meister beschuldigten ihn, daB er im
Jahre 1876 als Stiefellieferant fur die armen und hochbetagten Handwerker im
Altersheim bei einer Betriigerei ertappt worden sei. D e n Worten der zeitweiligen
H a n d w e r k e r nach waren die standigen Meister schuld daran, daB sie nicht zur
Wahl der Kandidaten in die Verwaltung zugelassen wurden. Sie bezogen sich
dabei auf die Stadtordnung von 1870, die bestimmte, daB alle Einwohner der
Stadt, die in das Burgerbuch eingetragen waren, an der Wahl der
Standesverwaltung teilnehmen durften. Diese B e s t i m m u n g gait nicht fur die
z e i t w e i l i g e n H a n d w e r k e r , mit d e n e n gema'B den R e g e l u n g e n
des
Handwerksstatutes verfahren wurde. In diesem Fall handelte Lebedev im Interesse
der standigen Handwerker, die die zeitweiligen Handwerker auf keinen Fall in die
standischen Gremien hineinlassen wollten. Die zeitweiligen Handwerker
interpretierten die Grtinde fur die Handlungsweise Lebedevs richtig. Formell
hatten sie aber keine Handhabe, denn fur sie gait die W a h l o r d n u n g von 1846, die
ihnen die Teilnahme an der Wahl u n t e r s a g t e . Im M a r z 1875 und a m 2 5 . August
1881 gab es ahnliche Bittschriften der zeitweiligen Handwerker, mit erneuten
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Ebd.
Vorschlagen das Zunftsystem zu reformieren, denen wiederum keine B e a c h t u n g
geschenkt w u r d e .
E s ist unbekannt, mit welchen Ergebnissen diese Wahl endete. Eines steht fest: Die
restriktive Politik der Handwerksverwaltung gegen die zeitweiligen H a n d w e r k e r
in den 70er u n d 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte zur Folge, daB sie mitsamt
ihren Forderungen vollig zuruckgedrangt wurden. Der Handwerksalteste Polozov
versuchte, die A m t e r in den Zunftverwaltungen vollig in den H a n d e n der
standigen Meister zu usurpieren. Er ordnete an, die Zunftamter nur an standige
Meister zu vergeben, wodurch er die Gesellschaft noch mehr spaltete. Sein
Nachfolger L e b e d e v anderte seine V o r g e h e n s w e i s e in F r a g e n der
Verwaltungspolitik nur u n e r h e b l i c h .
Die Taktik, die schon 1879 angewandt worden war, bewahrte sich wahrend der
Wahl 1884 noch einmal. Die Handwerksverwaltung setzte die Wahl v o n zwei
Beisitzern auf den 15. und 22. Juni 1884 an. Es wurden w i e d e r u m nicht alle,
sondern 518 zeitweilige Handwerker v o n insgesamt 7.070 eingeladen. Diese 518
H a n d w e r k e r waren schon fniher als Zunfthandwerker in anderen Stadten, in
Finnland und in den Ostseeprovinzen, eingeschrieben worden. Unter ihnen gab es
nur vier Meister und drei Meisterinnen russischer Nationalitat. Alle neun
Kandidaten waren Kaufleute der dritten Gilde, unterhielten Werkstatten und waren
im G r u n d e g e n o m m e n ihrer Ausbildung nach keine H a n d w e r k e r . Sie stellten
Meister ein, die den Betrieb leiteten. V o n diesen Kandidaten wurden zwei
Kaufleute der dritten Gilde, namlich Daniil Andreev u n d Fedor Verchovcev
gewahlt und v o m Generalgouverneur im A m t bestatigt. Eine Vielzahl v o n
B e s c h w e r d e n der zeitweiligen H a n d w e r k e r an die Leitung der stadtischen
Angelegenheiten iiber die inkorrekt durchgefiihrte Wahl bewirkte das Gegenteil,
so daB die Leitung mit BeschluB v o m 3. September 1884 die Rechtskraft der Wahl
bestatigte. Daraufhin legte der Silberschmied und zeitweilige Meister Vasilij
Ivanov Protest b e i m Senat ein. Bemerkenswert ist, daB im Unterschied zu friiheren
Bittschriften, die juristisch beurteilt unbeholfene Gesuche waren, d a s Schreiben
von Ivanov ein D o k u m e n t war, in d e m alle wichtige Gesetze sachlich aufgezahlt
w u r d e n . Er argumentierte
und bewies sein Recht, w a s eine betrachtliche
W a n d l u n g des RechtsbewuBtseins unter den Handwerkern widerspiegelt. Ivanov
zog das Stadtstatut v o n 1785, den SenatserlaB v o n 1796, die Vorschrift der
K E N O V v o m 2 1 . Juni 1847 und das Handwerksstatut v o n 1879 als
Beweismaterial heran. Er stellte fest, daB 1847 zur Wahl der zwei Beisitzer nur die
zeitweiligen Meister zugelassen worden waren, die in St. Petersburg wohnhaft
waren. D a g e g e n erweiterte das Handwerksstatut von 1879 den Kreis der
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RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 72f., 88ff., 96f.
ProSenie masterov S. Peterburgskich cechov к upravljajuscemu ministerstvom vnutrennich
del L. S. Makovu ot 28 fevralja 1879, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju [...]
Cistjakova, Polikarpova, hier 1.1.
Wahlberechtigten, da es besagte, daft alle Meister, die eine Werkstatt in der Stadt
hatten, an der Wahl teilnehmen durften, ohne Rucksicht darauf, o b ein Meister in
der Hauptstadt wohnhaft war oder n i c h t .
Wahrend der Zusammenstellung des Wahlerverzeichnisses wurden die Worte des
Gesetzes uber die standische Selbstverwaltung von 1879: „die Beisitzer der
Handwerksverwaltung werden von den zugewanderten zeitweiligen Handwerkern
gewahlt" (zasedateli remeslennoj upravy opredeljajutsja
po vyboru ot vremenno
pricislennych
inogorodnich
remeslennikov),
so interpretiert, daB unter einem
„inogorodnij" ein H a n d w e r k e r aus einer anderen Stadt und nicht generell ein
auswartiger H a n d w e r k e r zu verstehen war. D e r Gesetzgeber meinte dagegen, daB
in diese Kategorie alle H a n d w e r k e r ohne Unterschied - ob aus einer anderen Stadt
oder aus d e m Inneren des Landes - gehorten. Der Innenminister hielt die Klage
von Ivanov fiir berechtigt und leitete sie weiter, worauf der Senat mit ErlaB v o m
8. Mai 1886 die Bestatigung der Wahl durch die Leitung der stadtischen
Angelegenheiten v o m 3. September 1884 a n n u l i e r t e .
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435
Diese Vorfalle belegen einerseits den starken W u n s c h der zeitweiligen
Handwerker, in der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g reprasentiert zu sein, u m ihre
wirtschaftlichen und sozialen Interessen, auch mit Hilfe ihrer Beisitzer,
durchsetzen zu konnen. Andererseits war die Perspektivlosigkeit des Kampfes fur
die Gleichberechtigung mit den standigen Handwerkern offenkundig. Diese hatten
alle Mittel in der Hand, u m die leitende Rolle in der Handwerksverwaltung und
in den Standesangelegenheiten zu behalten. Die Deputierten und die
Handwerksverwaltung wuBten sehr gut, wie sie die Beisitzer der zeitweiligen
H a n d w e r k e r beeinflussen und sie fur eigene Z w e c k e benutzen konnten.
In den 1890er Jahren wurden die Beisitzer vollig in die Interessensphare der
Verwaltung einbezogen. D e n Grad der Verwicklung der Beisitzer in die
Angelegenheiten der Handwerksverwaltung zeigt die Laufbahn von A. V. N o v i k o v
und K.G. Skvorcov, die 1893-1899 bei den Zunftverwaltungen angestellt waren
und seit 1900 als Beisitzer in der Handwerksverwaltung tatig waren. A m 12. M a r z
1904 faBte die Deputiertenversammlung einen BeschluB, nach d e m N o v i k o v und
Skvorcov beschuldigt wurden, in den Jahresberichten von 1893 bis 1899
Falschungen v o r g e n o m m e n глд haben, wofur sie vor Gericht gebracht werden
sollten. Der Stadthauptmann setzte diesen BeschluB der Deputierten auBer Kraft.
D e r Verwaltung w a r es gelungen, diese Beisitzer uber funf Jahre ohne Wiederwahl
im A m t zu lassen. Als im Juli und August 1906 die Wiederwahl stattfand und
andere Beisitzer gewahlt wurden, lieB die Verwaltung die N a m e n der neu
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Delo po ukazu Senata po zalobe S. Peteburgskogo vremenno-cechovogo remeslennika
Ivanova na ostavlenie S. Peterburgskim gorodskim prisutstviem v sile nepravirnych vyborov
zasedatelej v mestnoe remeslennoe upravlenie ot pricislennych к vremennym cecham
remeslennikov (1885-1886), in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2254,1. 10.
436
gewahlten Beisitzer nicht veroffentlichen . SchlieBlich w u r d e n N o v i k o v u n d
Skvorcov aus ihrem A m t entlassen.
Allerdings ware es verfehlt, mit dieser Entlassung v o n N o v i k o v u n d Skvorcov alle
MiBstande in der allgemeinen Handwerksverwaltung erklaren zu wollen. GewiB
trug die Handwerksverwaltung als eine obere Instanz einen Teil der
Verantwortung. Sie wies aber darauf hin, daB die Zunftverwaltungen den groBeren
Anteil an der Verbreitung des AmtsmiBbrauchs hatten. Tatsachlich verfugte die
Handwerksverwaltung an die Zunftverwaltungen mehrmals, namlich am 14. Marz,
3 1 . M a i , 15. Juni, 2 6 . Oktober und 26. November, am 20. und 2 8 . D e z e m b e r 1901,
am 16. und 2 3 . Januar, 5. Februar und 7. Juni 1902 und am 2. und 16. Januar 1903,
die Verzeichnisse der Lehrlinge und Gesellen korrekt zusammenzustellen. Diese
Verzeichnisse w u r d e n schlieBlich von den Zunftversammlungen genehmigt, so
daB nach der Vorstellung der Handwerksverwaltung keiner daran schuld war, daB
die Steuern nicht vollstandig eingetrieben worden waren. D a s klingt w e n i g
tiberzeugend,
da die Handwerksverwaltung selbst die obere Kontroll- und
Verwaltungsstelle und somit mitverantwortlich w a r .
Die Frage, wie es den Beisitzern gelungen war, funf Jahre lang o h n e Bestatigung
im A m t zu bleiben, kann nur dadurch erklart werden, daB sie starke
R u c k e n d e c k u n g durch Handwerksverwaltung und Stadthauptmann hatten. Deren
Beistand garantierte den Beisitzern Straflosigkeit: V o n 1901 bis 1906 fand
uberhaupt keine Wahl der Beisitzer start. A n dieser Stelle ware es im
Z u s a m m e n h a n g mit der Problematik der zwei Beisitzer v o n seiten der zeitweiligen
H a n d w e r k e r a n g e b r a c h t zu b e m e r k e n , daB die
zustandegekommene
Gleichberechtigung der zeitweiligen H a n d w e r k e r in den Standesangelegenheiten
nicht dazu fuhrte, die AmtsmiBbrauche in der Handwerksverwaltung zu beseitigen.
Dies war ein gesamt soziales P r o b l e m , das sich nur im Z u g e der Reform des
Standes der Zunfthandwerker bzw. seiner Beseitigung teilweise losen lieB und
wofur viel Zeit gebraucht wurde. Uberhaupt war es ein Btindel von Problemen, das
durch patriarchale Mentalitat, vetternwirtschaftliche Gewohnheiten und nationale
Z u - bzw. A b n e i g u n g e n spezifiziert und kompliziert wurde.
A m 2 5 . Januar und am 15. Mai 1901 ging der Handwerksalteste Timofej A.
Zagrebin mit d e m Vorschlag z u m Stadthauptmann, alle Handwerker mosaischen
Glaubensbekenntnisses nicht mehr zur Wahl in die H a n d w e r k s - und
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ztaloba S. Peterburgskogo vremenno-cechovogo mastera perepletnogo remesla Aleksandra
Aleksandrovica Villeval'da к ministru torgovli i promySlennosti ot 20 avgusta 1906, in:
RGIA, f. 23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, kasaju&imsja S. Peterburgskoj remeslennoj
upravy (8. September 1906-3. September 1913), hier 1. 2f.
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Ob'jasnenie v sobranie vybornych S. Peterburgskogo remeslennogo ob§6estva ot
predsedatelja, 61enov i zasedatelej S. Peterburgskoj remeslennoj upravy ot 3 marta 1904, in:
Ebd., 1. 60.
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Zunftverwaltungen z u z u l a s s e n . Als die G e n e h m i g u n g v o m Stadthauptmann
gegeben wurde, n a h m die Verwaltung sie z u m AnlaB, alien zeitweiligen
Handwerkern dieses Wahlrecht zu entziehen. Erst a m 7. D e z e m b e r 1904 fiel die
Entscheidung des Senats uber die Zulassung der zeitweiligen H a n d w e r k e r zur
Wahl in die Amter der Zunftverwaltungen. Dagegen w u r d e ihnen das
Teilnahmerecht an der Wahl in die Amter der Handwerksverwaltung und der
Deputierten - wie auch fruher - v e r w e h r t . Das heiBt, daB die zeitweiligen
Handwerker, n a c h d e m sie ihre Rechte zuruckerhalten hatten, w i e d e r z u m Stand
des Jahres 1846 zurtickgekehrt waren, als sie das Recht b e k o m m e n hatten, die
zwei Stellen der Beisitzer in der allgemeinen Handwerksverwaltung zu besetzen.
439
5.5
Die Gerichtsbarkeit der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g
Seit Einfuhrung der Zunfte 1722 oblag die Bestrafung der H a n d w e r k e r allein dem
Stadtmagistrat, wobei die Zunftaltesten, w e n n sie z u m dritten Mai die
Zunftregelungen verletzten, zur Galeerenstrafe verurteilt w u r d e n . N a c h dem
Handwerksstatut von 1785 konnte die Meisterversammlung neben dem Verhangen
von Geldstrafen bei VerstoBen gegen den Qualitatsstandard und gegen die
V e r w a l t u n g Gesellen und Lehrlinge fur ein halbes Jahr in eine Verwahranstalt
schicken. Diese Strafe sollte die Meisterfrauen und Tochter vor d e m „verbotenen
U m g a n g " (zapresdennoe
obchozdenie)
mit Gesellen und Lehrlingen s c h u t z e n .
Die Befugnisse der Meisterversammlung lagen also sowohl im Straf- als auch im
Zivilrecht. In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts wurden die Befugnisse des
Standesgerichtes im Strafrecht erweitert. Leider laBt sich das nicht mit einem
entsprechenden Gesetz belegen, ist aber aus den Beschltissen des Standesgerichtes
zu ersehen, das Meister oder Gesellen zu Gefangnisstrafen und auch zur
V e r b a n n u n g verurteilen konnte.
440
441
Die hohen Befugnisse des Standesgerichtes der Zunfthandwerker trugen dazu bei,
daB die Handwerksverwaltung unter den Handwerkern der Stadt hoch angesehen
war, wodurch auch die Wirksamkeit der Verwaltungsentscheidungen hoher war.
438
Raport ministra vnutrennich del v pravitel'stvennyj Senat ot 6 ijunja 1902, in: RGIA, f.
1287, op. 44, d. 860: Po zalobe vremenno-cechovych masterov Andreja Karpenko,
Konstantina Burkevica, Nikolaja Basova, Alekseja Ivanova, Georgija Kruglova i drugich na
nedopuScenie udastija v vyborach na dolznosti po S. Peterburgskomu remeslennomu
upravleniju (15. Marz 1902 - 15. Juni 1905), hier 1. 2.
439
Vypiska iz proekta praviterstve:inogo Senata ot 7 dekabrja 1904, in: RGIA, f. 1287, op.
44, d. 860: Po zalobe Andreja Karpenko, hier 1. 7.
440
PSZ RI 1, Bd. 6, Nr. 3980, S. 664f.
441
PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 16187, paragraf 123, punkt 99, 107, 111, S. 378f.
Bis
1850 konnte das Schwurgericht (sud
prisjaznych)
Handwerksversammlung gewahlten 24 Geschworenen
mit den v o n
der
(dobrosovestnyjprisjaznyj)
aus dem Handwerkerstand den schuldigen H a n d w e r k e r zur Bestrafung in die
A r m e e schicken, nach Sibirien verbannen, zu einer dreimonatigen Gefangnishaft
verurteilen oder eine administrative Strafe verfugen. Damit die Entscheidung des
Standesgerichtes Gultigkeit b e k a m , sollte eine absolute Mehrheit bzw. 2/3 der
G e s c h w o r e n e n der Strafe zustimmen. Im Jahre
1850 begrenzte das n e u e
Handwerksstatut ihre Gerichtsbarkeit und lieB nur administrative Verfahren zu, die
442
als auBerste Bestrafung den AusschluB des Schuldigen aus der Zunft v o r s a h e n .
Der Trend in der Standespolitik seit der Einfuhrung der neuen stadtischen
Selbstverwaltung 1785 war es, die staatliche Verwaltung mit der Verlagerung
eines Teils ihrer K o m p e t e n z e n auf die Standesverwaltungen zu entlasten, w o d u r c h
443
sie Teil des Staatsapparates w u r d e n . Mit den Selbstverwaltungsreformen vollzog
sich
aber
seit
1785
ReformationsprozeB
nicht
nur
ihre Verstaatlichung,
auch
ein
die Verbesserung
des
des „Fur-alles-zustandig-sein"
der
des Verwaltungssystems
Verwaltungsmanagements.
Das
Prinzip
bzw.
sondern
zarischen Autokratie fuhrte sich selbst ad absurdum: so sollten z. B . in den 1820er
Jahren Beurlaubungsgenehmigungen
fur die Schauspieler der
kaiserlichen
Truppen per Zarenresolution ratifiziert werden, w a s den Zaren von ungleich
wichtigeren Staatsgeschaften abhielt. Ahnliches trifft auch fur die Minister zu,
v o n den niederen Organen gar nicht zu sprechen. E s begann eine Zeit, in der das
rechtliche System und die Staats- und Selbstverwaltungsamter aus innerer
Notwendigkeit heraus umstrukturiert wurden. Mit der Gerichtsreform,
der
Einfuhrung
des
des Zivilgerichtes
im Jahre
1861 und der Abschaffung
Stadtmagistrates im Jahre 1866 wurden endgultig die Befugnisse des Standes- und
Zivilgerichtes deutlich abgegrenzt. E s wurden klare Grenzen zwischen Zivil-,
Straf-
und
A d m i n i strati v r e c h t
gezogen,
Handwerksverwaltung
und
Rechtsprechung laut dem Prinzip der funktionalen Gewaltenteilung auseinander
dividiert, das Standesgericht verlor seine B e d e u t u n g und w u r d e in seinen
Kompetenzen deutlich beschnitten.
Das Bestreben der Regierung, die Staatsverwaltung groBtmoglich zu entlasten, laBt
sich mit einer A n t w o r t des Justizministers belegen, als er bezuglich der Frage, ob
die Meister der Malerzunft den BeschluB der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bei der
Stadtduma revidieren durften, erklarte, daB es sinnvoll ware, den Streit ohne
groBen Zeitverlust bei der Handwerksverwaltung direkt zu losen. Der BeschluB
2MVD, dast' 2, 1853, S. 105.
der Handwerksverwaltung gait also fur die Handwerker der Malerzunft als
444
bindend .
Seit dem Anfang der burgerlichen Reformen in den 60er und 70er Jahren des 19.
Jahrhunderts verloren etliche Paragraphen der Handwerkssatzung an Aktualitat.
Unter anderem w u r d e , wie gesagt, die Gerichtsbarkeit der Handwerksverwaltung
begrenzt, wodurch das Standesgericht der Handwerker z u n e h m e n d an Bedeutung
verlor. Als der Stadtmagistrat mit der Reorganisation der Stadtduma 1866
abgeschafft w u r d e , u b e r n a h m e n zivile Institutionen wie das Kreisgericht seine
Gerichtsfunktionen, w o der GerichtsprozeB im Beisein von Staatsanwalt, Richter
und Beisitzer stattfand . Die Handwerksverwaltung durfte z. B . nicht m e h r uber
die Fragen der V e r b a n n u n g und der Gefangnisstrafe fur H a n d w e r k e r entscheiden.
Die hochste Prioritat der Handwerksverwaltung blieb es, die Meister in den Stand
der Zunfthandwerker aufzunehmen, bzw. sie wegen „standeswidrigen B e n e h m e n s "
aus d e m Stand auszuschlieBen.
Als die K o m p e t e n z der stadtischen Selbstverwaltung mit der neuen Stadtordnung
von 1870 begrenzt und unter starkere Kontrolle des Staates gestellt wurde, wurde
die standische Selbstverwaltung der H a n d w e r k e r aus der K o m p e t e n z der
Stadtduma h e r a u s g e n o m m e n und unmittelbar der Gouvernementsverwaltung
unterstellt .
Letztere entschied
daruber, ob ein Mitglied
der
Handwerksverwaltung sich strafbar gemacht hatte und vor Gericht gestellt werden
muBte.
Als diese Reformen durchgefuhrt wurden, reagierte der Handwerkerstand
empfindlich auf die Kompetenzbegrenzung des Standesgerichtes, was seinen
Niederschlag im BeschluB der Deputiertenversammlung im Frtihling 1871 uber die
Wiederaufhahme derannullierten Artikel 235 bis 247 ins Handwerksstatut f a n d .
A u c h diesmal antwortete der Justizminister, daB es
445
4 4 6
447
„der
allgemeinen
Richmng
der
Rechtsreform
entspreche,
die
Gerichtskompetenz der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g nach Moglichkeit zu
444
Peterburgskij generalgubernator ministru vnutrennich del ot 30.9.1862, in: RGIA, f. 1287,
op. 38, d. 208: О porjadke obzalovanija postanovlenij ob§£ich remeslennych uprav po sporam
remeslennikov odnogo cecha, 1. 1-4, hier 1. 2.
445
PSZ RI-2, Nr. 16282, aus: I. Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie, Bd. 2, S. 172.
446
Cirkuljar ministra vnutrennich del TimaSeva vsem gubernatoram ot 14.12.1877, in: RGIA,
f. 1287, op. 38, d. 1402: Po voprosu о torn, kakie ucrezdenija dolzny rassmatrivat' ialoby,
hierl. 1,32.
447
Eine ahnliche, hochst negative Einstellung zu den neu eingefiihrten Zivilgerichten hatten
die Moskauer Zunftmeister, die ihre kategorisch abweisende Haltung wahrend des
Kongresses der Funktionare der technischen Ausbildung in St. Petersburg im Jahre 1889
auBerten, in: Iordan, Udeniki, S. 14.
begrenzen, im weiteren die Standesgerichte uberhaupt abzuschaffen und
ihr die L o s u n g aller wichtigen Fragen wie z. B . gegenseitige Anklagen
der Meister, der Gesellen und der Lehrlinge zu e n t z i e h e n " .
448
Symptomatisch ist, daB in dieser Frage die zeitweiligen H a n d w e r k e r die gleiche
Einstellung wie die standigen hatten und ebenfalls vorschlugen, ein H a n d w e r k s bzw. Standesgericht bei der prqjektierten „St. Petersburger Gesellschaft der
449
Handwerksindustrie" einzufuhren .
D e m Standesgericht blieb nur die Kontrolle iiber die korrekte Ausfuhrung des
H a n d w e r k s und das Recht, die Handwerker im Fall von Gesetzeswidrigkeiten
gegen die Handwerksverwaltung z u m Wohl der Handwerkskasse zu bestrafen. Die
Untersuchung aller anderen Angelegenheiten unterlag der K o m p e t e n z allgemeiner
Gerichte.
A l s Folge dieser Reformen wurden die Beziehungen zwischen dem Meister
einerseits und den Gesellen und Lehrlingen andererseits wesentlich gelockert. Die
fruhere Benachteiligung der Gesellen und Lehrlinge zugunsten der Meister schlug
in eine andere Richtung aus. Die Zivilgerichte stellten sich jetzt fast immer auf die
450
Seite der „unterdriickten" Lehrlinge und G e s e l l e n . Die B e s c h n e i d u n g der
Gerichtskompetenzen
der
Handwerksverwaltung
und
die
Ubergabe
der
wichtigsten Entscheidungen in Streitfragen des H a n d w e r k s an die Kreisgerichte,
die z u d e m w e n i g K o m p e t e n z in dessen spezifischen Fragen besaBen, fuhrte zu
einer Verschlechterung der Betriebsdisziplin. Nach den Worten eines Zeitgenossen
im Jahre 1900 waren die Meister den Launen der Gesellen und Lehrlinge schutzlos
ausgeliefert. Die letzteren gehorchten den A n w e i s u n g e n der Meister nicht und
hielten sich k a u m noch an die Vertragsbedingungen. Die fehlende
klare
A b g r e n z u n g der R e c h t e der Meister einerseits und der Lehrlinge und Gesellen
andererseits schuf den N a h r b o d e n fur standige MiBverstandnisse zwischen ihnen.
Die Meister bemangelten eine angebliche Einseitigkeit, da ihren Angestellten „viel
zu viel Freiheit und R e c h t e " gegeben wurden. Allerdings hatten sie zumindest
teilweise Recht, da der eigenwillige und plotzliche Abbruch des Vertrages und ein
448
Po chodatajstvu sobranija vybornych remeslennogo soslovija о razresenii remeslennomu
upravleniju prinimat' к svoemu razbiratel'srvu dela po prostupkam, oznacennym v stat'jach
235-247 remeslennogo ustava, in PSZ RI-2, Bd. 11, in:f. 1287, op. 38, d. 1283 (1870-1871), 1.
2.
449
450
Golos 13.8.1871, S. 1.
Vgl. A. I. Jadrov, Golos remeslennika. Ob upadke remeslennoj promySlennosti. St.
Petersburg 1900.
vorzeitiger A b g a n g der Lehrlinge und Gesellen zu anderen Meistern an der
T a g e s o r d n u n g war.
5.5.1
Das RechtsbewuBtsein der H a n d w e r k e r
Ein Indikator dafur, inwieweit sich die Lage des H a n d w e r k s in bezug auf die
Verrechtlichung der Verhaltnisse zwischen Meister und Gesellen bzw. Lehrlingen
anderte, ist die Arbeit der provisorischen K o m m i s s i o n in St. Petersburg in den
Jahren 1858/1859 zur Untersuchung der Streitfalle zwischen A r b e i t g e b e m und
Arbeitnehmern. E s ist unbestri tten, daB die Handwerker eine bestimmte Form v o n
RechtsbewuBtsein hatten. Hier geht es darum, welcher Art dieses BewuBtsein war.
Im Allgemeinen laBt sich sagen, daB ihr RechtsbewuBtsein noch stark an
patriarchalischen Werten orientiert war und sie schriftliche V e ф f l i c h t u n g e n bzw.
schriftliche F o r m e n v o n rechtlichen V e ф f l i c h t u n g e n g e g e n u b e r Gesellen und
Lehrlingen vermieden.
Die Einberufung v o n Sonderkommissionen war eine tibliche Form, die staatlichen
Gerichtsinstitutionen, die mit ihrer Aufgabe vollig uberfordert waren, zu entlasten.
D e s w e g e n w a r die oben genannte nicht die einzige Kommission, sondern eine von
vielen, die sich in mtindlichen Schlichtungsverfahren (slovesnyj
annahm
451
sud) der Streitfalle
.
In unserem Fall w u r d e n 936 Klagen mit einem Streitwert von 497.362 Rubeln
untersucht. 4 6 0 Verfahren fuhrten zu einer gultigen Einigung, der Streitwert dieser
Falle lag bei 399.362 Rubel. Insgesamt wurden rund 4.000 Klager und 1.000
Beklagte gezahlt. Unter den Klagern waren meistens die Artelmitglieder, die
saisonal
im
Baugewerbe
tatig
waren,
aber
auch
die Handwerker
bzw.
Handwerksgesellen aus den Werkstatten der Zunftmeister, weil das Standesgericht
es vermied, sich in die „inneren Betriebsangelegenheiten" der Zunftmeister
452
e i n z u m i s c h e n . Interessant ist, wie sich die Klager und Beklagten verhielten,
welche Mentalitat sie hatten und welche Faktoren das Schlichtungsverfahren
erschwerten bzw. erleichterten. Generell bleibt festzustellen, daB der M a n g e l „an
451
Eine Shnliche Kommission untersuchte 1881 nur in St. Petersburg uber 3000 Klagen der
Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen gegen ihre Arbeitgeber: RGIA, f. 1405, op. 70 (1872
g.), d. 7290,1. 184;f. 20, op. 2, d. 1802,1. 41, in: Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 192.
j e d e r elementaren rechtlichen K e n n t n i s "
erschwerte.
453
die Arbeit der K o m m i s s i o n enorm
Die Klager fugten in der Regel selbstgefertigte fehlerhafte Berechnungen als
unwiderlegbaren Beweis bei, die nicht v o m Arbeitgeber bestatigt w u r d e n , und
„bekraftigten" sie mit eigenen Aussagen. M a n c h m a l kannten sie nicht einmal den
N a m e n oder die Adresse des Beklagten. Wahrend des Schlichtungsverfahrens
sahen die Klager nicht ein, daB zwischen der gerichtlichen und polizeilichen
Obrigkeit ein prinzipieller Unterschied bestand, so daB der Klager nach d e m
Schlichtungsverfahren vollig verstort und sehr unzufrieden war, w e n n er keine
Ruckerstattung seitens des Beklagten erhielt. Es war unmoglich, ihm zu erklaren,
daB die anderen Klager ihr Geld sofort erhielten, weil ihre Falle gutlich
geschlichtet wurden. D a g e g e n sollte in ihrem Fall entweder die Polizei eingreifen
oder das Gericht das Geld eintreiben.
M i t den Beklagten w a r es nicht viel besser bestellt. Bevor sie ihre Erklarungen
zum Streitfall auBerten, schalten u n d beschimpften sie den Klager leidenschaftlich.
Der K o m m i s s i o n gegenuber auBerten sie ihre MiBstimmung und das
Unverstandnis dafur, daB sie als allseits geachtete und solide M e n s c h e n gestort
und unnotig vor die Kommission geladen wurden, wobei ihre Erwiderungen
manchmal uber die zulassigen Grenzen hinausgingen und sie sich unanstandig
b e n a h m e n . Uberhaupt war unter den mittleren und niederen Schichten der
Bevolkerung eine negative Einstellung zu den Gerichten ublich. Im Jahre 1894
schrieb V. Iordan:
454
„Im allgemeinen verabscheut das einfache Volk die Gerichte und alles,
w a s mit ihnen zu tun hat. [...] Der gerichtliche Btirokratismus schreckt
es ab. AuBerdem ist zu bemerken, daB ein einfacher M e n s c h , der kein
Geld hat, den GerichtsprozeB vermeidet, weil er mit G e l d a u s g a b e n
verbunden i s t " .
455
Infolge des oben Genannten wird verstandlich, mit welchen Schwierigkeiten die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g es zu tun b e k o m m e n hatte, w e n n sie alien Streitfallen unter
den Zunfthandwerkern nachgegangen ware, deren es in der zweiten Halfte des 19.
Jahrhunderts u m die 50.000 gab. AuBerdem w u r d e die Ausfuhrung der
Bestimmungen des Standesgerichtes durch die patriarchale D e n k w e i s e der
Handwerker erheblich erschwert. Diese fand ihren A u s d r u c k z. B . in der
mundlichen Form des Vertragsabschlusses zwischen Gesellen, Lehrlingen und
453
О dejstvijach vremennoj komissii [...] dlja razbora del mezdu nanimateljami i rabodimi, so
vremeni её otkrytija do 1 maja 1859 goda, in: 2MVD, 1859,6. 38, otd. 2, S. 1-12, hier S. 11.
454
Ebd.
Meistern, die bis ins spate 19. Jahrhundert weit verbreitet war. Die traditionelle
Regelung von rechtlichen Angelegenheiten in mundlicher F o r m fuhrte dazu, daB
den schriftlichen
Vertragsregelungen
bzw. den Vorschriften
der
Handwerksverwaltung wenig Beachtung geschenkt wurde. D e s w e g e n ist es kein
Zufall, w e n n der Leiter der Sonderkommission, Stackelberg, betonte, daB die
neuen Regeln fur den Handwerksbetrieb genug Freiraum geben sollten, u m das
Volksleben nicht zu beengen, d e m der Formalismus in den rechtlichen Fragen
fremd s e i .
DaB eine A b n e i g u n g gegen schriftliche Regelungen und Vertrage nicht nur fur den
Handwerkerstand typisch war, erlautert an dieser Stelle ein Beispiel aus den
Geschaftspraktiken der St. Petersburger Kaufleute. Im Jahre 1843 gingen an den
Innenminister gleichzeitig zwei Vorschlage uber die Einrichtung eines
Maklerkontors fur den AbschluB schriftlicher Vertrage am Viehmarkt auf der
Petersburger Seite, da durch die uberwiegend mundliche Absprachen zwischen
Handlern und K u n d e n Betriigereien Ttir und Tor geoffhet waren. Der Verkaufer
lieB sich nach der Ablieferung der Ware im besten Fall eine Quittung bzw. einen
Wechsel v o m Kaufer geben oder g a b sich mit einer mtindlichen Absprache
zufrieden. N a c h d e m Ablauf der Zahlungsfrist zogerte der Kaufer die Z a h l u n g so
weit wie moglich hinaus und zahlte letztlich nur 1/3 des abgesprochenen Preises,
womit sich der Verkaufer abfinden sollte, weil er keine schriftlichen Beweise in
der Hand hatte. Diese Geschaftspraktiken riefen Verunsicherung auf dem Markt
hervor und trieben manche Kaufleute in den Ruin, w a s der Fall der
Kaufmannsfamilie Panov verdeutlicht .
456
457
In der sozialen und wirtschaftlichen Schicht der Handwerker, j a selbst in der
Selbstverwaltung der Handwerker, wurden rechtliche Regelungen der oberen
Regierungsstellen oft durch „Nichtstun" blockiert. Die patriarchalen Denkmuster
der Meister fuhrte zu einer Stagnation des Handwerksbetriebes, die v o n der
Offentlichkeit nicht mehr geduldet wurde. Die unzureichende rechtliche Lage
begunstigte das Handwerksstatut selbst, in dem einige Artikel veraltet waren. So
bemerkte Staatsrat Smirnov 1843, daB es eine Z u m u t u n g sei, den Paragraphen 619
im H a n d w e r k s s t a t u t weiter bestehen zu lassen. Er gestattete
dem
Handwerksoberhaupt, Meister, die gegen das Handwerksstatut verstoBen hatten,
auf besonders perfide Weise zu bestrafen. So konnten sie mit einem an ihrem
456
457
Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 317.
Vgl. die Vorschlage des Kollegienregistrators Michajlov und des B6rsenmaklers und
Kaufmanns Ivan Samojlov uber die Einrichtung des Maklerkontors auf dem Mytnyj dvor
(Vieh- und Lebensmittelmarkt auf Petersburger Seite) in 1840er Jahren, aus: RGIA, f. 1287,
op. 37, d. 122: Po predlozeniju kolezskogo registratora Michajlova, ob ustrojstve na Mytnom
dvore v S. Peterburge maklerskoj kontory dlja zajavlenija sdelok meidu pokupS£ikami i
prodavcami raznych tovarov optom (1843-1850), 1. 6; Ebd., d. 128: Ob opredelenii na
skotoprigonnyj dvor v S. Peterburge osobogo maklera dlja zajavlenija sdelok meidu
pokupateljami i prodavcami prigonjaemogo v stolicu skota (1843), 1. 5.
Кбгрег angebrachten Schild, auf dem ihr Vergehen angegeben war, vor dem
Verwaltungshaus offentlich zur Schau gestellt w e r d e n .
458
5.6
Die finanzielle Lage der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und die Entwicklung
des V e r w a l t u n g s a p p a r a t e s
Die VergroBerung der Anzahl der Zunfte vollzog sich von 1722 bis zu den 20er
Jahren des 19. Jahrhunderts kontinuierlich. 1722 gab es 19 Zunfte mit 1566
Handwerkern, 1766 - 53 Zunfte mit 1159 Handwerkern, 1789 - 57 Zunfte mit 7102
Handwerkern, 1815 55 Zunfte mit 10168 H a n d w e r k e r n und 1825 67 Zunfte mit
12126 Handwerkern. In der Zeit danach vollzog sich dann eine Verringerung der
Anzahl der Zunfte, obwohl in der Stadt m e h r als 100 Gewerbearten vorhanden
waren. 1840 gab es 65 Zunfte, 1850 - 3 5 , 1861 - 34, 1866 - 23 (117
Gewerbearten), 1880 - acht (112 Gewerbearten) und 1916 neun Ziinfte . In einer
Zunft wurden mehrere H a n d w e r k e vereinigt. Mit dieser MaBnahme beabsichtigte
die Regierung, den nach ihrer Vorstellung zu groBen Verwaltungsapparat der
H a n d w e r k e r zu verkleinern, u m die Kosten fur dessen Unterhalt zu senken.
Etwa 3 5 0 Angestellten waren in der H a n d w e r k s - und Zunftverwaltung im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts beschaftigt. 1870 waren in der Verwaltung 302 durch
die zeitweiligen Meister u n d 57 durch die standigen Meister oder insgesamt 359
Amtsstellen besetzt. 1877 gab es 350 Angestellte, unter ihnen acht Alteste (funf
standige und drei zeitweilige), acht Steuereinehmer (5:3), acht Stellvertreter der
Zunftaltesten (4:4), 242 vereidigte Meister (27:215), 81 Zehnerfuhrer (desjatskij)
(7:74) und drei M a k l e r (2:1) oder im Gesamtverhaltnis 50 standige Meister zu den
3 0 0 zeitweiligen Meistern.
Ein Verwaltungsapparat mit 359 Angestellten fur rund 30.000 Zunfthandwerker
im Jahre 1870 und mit 350 Angestellten fur etwa 45.000 Zunfthandwerker im
Jahre 1877 scheint nicht so groB zu sein, wie es seitens der Regierung immer
betont wurde. A u f einen Angestellten gab es 1870 dementsprechend 84
Handwerker und 1877 sogar 129 Handwerker. Es wurden trotzdem drastische
Ktirzungen im Verwaltungsapparat vorgenommen. Im Jahre 1880 bestand das A m t
der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g aus einem Vorsitzenden b z w . einem Standesaltesten,
zwei Mitgliedern der standigen Handwerker und zwei Beisitzern der zeitweiligen
Handwerker. Die Kanzlei der Verwaltung w u r d e mit den zwei Abteilungsleitern
und ihren beiden Stellvertretern, einem Buchhalter und seinem Stellvertreter,
einem Zehnerfuhrer des offentlichen Hauses, einem Archivar u n d Journalisten in
einer Person, einem Registrator, acht Schreibern, einem Pfortner und funf
459
Po zapiske (..) Smirnova, 1. 91.
RGIA, f. 1286, op. 5,d. 200;
Wachtern besetzt. D i e Zunftverwaltungen bestanden aus acht Zunftaltesten, acht
Steuereinehmern, acht Stellvertretern des Zunftaltesten, acht Zehnerfuhrern und
drei Maklern. Insgesamt gab es 53 Amter, die v o n 50 standigen u n d v o n nur drei
zeitweiligen Handwerkern (zwei Beisitzer und ein Makler) besetzt wurden. Die
zeitweiligen H a n d w e r k e r wurden aus der Verwaltungssphare, die sich jetzt
ganzlich in den H a n d e n der standigen Handwerker befand, fast vollig verdrangt.
Bei einer Gesamtzahl der Zunfthandwerker von rund 47.000 k a m e n jetzt auf einen
Angestellten 887 Handwerker.
Die Zahl der Zunfthandwerker stieg kontinuierlich an, womit die E i n n a h m e n der
Verwaltung wesentlich anwuchsen, wobei die A n g a b e n v o n Jahr zu Jahr
erhebliche Unterschiede aufweisen, was auf eine uneinheitliche Buchfuhrung der
Verwaltung гшйскгигйпгеп ist. In den Jahren 1874 und 1886 betrugen z. B . die
Gesamteinnahmen 761.787 bzw. 364.134 Rubel. Mit groBer Wahrscheinlichkeit
wurden in diesen Jahren die Immobilienwerte und die E i n n a h m e n addiert. W e n n
die Immobilienwerte 1874 und 1886 abgezogen werden, ist es moglich, die
Einnahmen der Handwerksverwaltung zu ermitteln. Sie betrugen fur das Jahr 1874
164.134 Rubel und fur das Jahr 1886 142.056 R u b e l
460
.
Seit 1880 vermehrte sich das V e r m o g e n der Verwaltung rasant. Dies geschah vor
allem deswegen, weil die Finanzen der Handwerksverwaltung verstarkt kapitalisiert waren, w a s einer allgemeinen Entwicklung des Geldmarktes und des
privaten B a n k w e s e n s entsprach. Die Verwaltung fing an, Wertpapiere zu erstehen
und das Geld in der B a n k zu verzinsen. In der Tabelle im Tabellenanhang wird
461
diese Entwicklung fur die Jahre 1886 bis 1890 v e r a n s c h a u l i c h t .
Folglich w u c h s das Kapital der Handwerksverwaltung in Wertpapieren in nur
sechs Jahren v o n 7.797 auf betrachtliche 85.056 Rubel an und sank dann in den
folgenden zwei Jahren auf74.561 Rubel. D a s heiBt, daB die Handwerksverwaltung
die Vorteile und die daraus resultierenden Moglichkeiten der Zusammenarbeit mit
der Bank.wahrnahm. Es ermoglichte ihr z. В., Kredite fur den Bau von Hausern
aufzunehmen,
wodurch
die
Handwerksverwaltung
in den
Besitz
einiger
Immobilien gelangte.
Fur die Jahre 1886 bis 1891 gibt es dann eine detaillierte Darstellung des
462
V e r w a l t u n g s v e r m o g e n s . In nur funf Jahren stieg das V e r m o g e n der Verwaltung
um
179,5% von
104.171 auf
186.976 Rubel im Jahre
1886 an. Dieses
W a c h s t u m s t e m p o kann j e d o c h nicht auf die ganze Zeitperiode v o n der Mitte des
460
Vgl. Tabelle 50 im Tabellenanhang.
461
Siehe Tabelle 51 im Tabellenanhang.
19. Jahrhunderts bis 1914 bezogen werden, weil es j e nach Jahr wesentliche
Unterschiede gab. Eine A u s n a h m e stellt z. B . das Jahr 1890 dar, da die
Vorjahressumme nach einem kontinuierlichen A n w a c h s e n bis auf 167.062 Rubel
plotzlich auf 115.712 zuriickfiel.
In der Darstellung der finanziellen Lage der Handwerksverwaltung lassen sich in
der Entwicklung ihrer Finanzen drei Perioden erkennen. W a h r e n d der ersten
Periode zwischen 1785 und 1846 waren die Finanzen der Handwerksverwaltung
vollig in den Handen der Handwerksoberhaupter, die unkontrolliert iiber die Mittel
verfugten und halbwegs fur eine ordentliche Buchfuhrung sorgten. M i t der
Einfuhrung der n e u e n offentlichen Verwaltung nach 1846 bekam die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eine ordentliche Buchfuhrung oder sie konnte sich
wenigstens nach den Musterbiichern richten. Der Handwerksalteste wurde dabei
der Kontrolle der Deputiertenversammlung unterworfen. Seit den 1860/70er
Jahren bzw. w a h r e n d der dritten Periode erfuhren die Finanzen der
Handwerksverwaltung, wie gesagt, eine erhohte Kapitalisierung, da sich der
prozentuale Bargeldanteil in der Handwerkskasse generell verminderte und der
Anteil an festverzinslichen Wertpapieren und fliissigen Geldmitteln in der B a n k
vergroBerte .
463
In den 1860er Jahren fing die Verwaltung an, einige Hauser zu bauen, w o d u r c h sie
in den Besitz einiger wertvoller Immobilien im Zentrum der Stadt kam. In den
80er Jahren war die Verwaltung ein groBer Immobilienbesitzer. Der Wert zweier
Hauser am Vladimirplatz, in denen das A r m e n h a u s und die Alexandrinische
Schule untergebracht waren, betrug im Jahre 1881 365.552 Rubel, im Jahre 1886
498.360 Rubel u n d 1888 499.310 Rubel. Insgesamt betrug 1886 das V e r m o g e n der
Verwaltung mit Immobilien, beweglichem Eigentum und Bargeld 761.787 Rubel.
Der Wert von vier Hausern betrug 1888 619.731 Rubel und funf Jahre spater
schon 664.371 R u b e l . Insgesamt belief sich das V e r m o g e n der
Handwerksverwaltung im Jahre 1893 auf 858.435 Rubel. V o n 1905 bis 1908
vollzog sich eine deutliche Verbesserung der finanziellen Lage der russischen
Handwerksverwaltung, die dem neuen Standesaltesten A . A . Ivanov, der 1905
Zagrebin in seinem A m t abloste, zu verdanken war. In drei Jahren wurde das
Kapital der Handwerkskasse auf 113.781 Rubel vergroBert. D a n k eines geordneten
Wirtschaftens u n d einer strengen Kontrolle wurden rund 50.000 Rubel
eingespart .
In den darauffolgenden Jahren, als die Buchhaltung in Ordnung gebracht wurde,
w i e s e n d i e E i n n a h m e - u n d A u s g a b e b i i c h e r d e r St.
Petersburger
464
465
463
Siehe Tabelle 53 im Tabellenanhang.
464
Doklad Konstantina DmitrieviCa Kudrjavceva, in: Trudy vserossijskogo s-ezda po
remeslennoj promyslennosti 1900 goda, torn 2, St. Petersburg 1900, S. 225.
465
Otdet remeslennoj upravy za 1907 god. St. Petersburg 1908, S. VI-VIII.
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eine durchaus positive Bilanz auf. D a s Guthaben der
Verwaltung bewegte sich in einem R a h m e n zwischen 64.577 Rubel im Jahre 1908
und 78.555 Rubel im Jahre 191 1 .
Eine Vorstellung davon, wie bedeutend die Einnahmen der St. Petersburger
Verwaltung waren, kann durch deren Vergleich mit den E i n n a h m e n der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g in M o s k a u vermittelt werden. Im Jahre 1910 betrug das
V e r m o g e n der St. Petersburger Handwerksverwaltung bereits 2.158.600 Rubel und
im Jahre 1886 761.787 Rubel, w a s 2 8 3 , 6 % Z u w a c h s bedeutete. Diese S u m m e
setzte sich im Jahre 1910 aus folgenden Anteilen z u s a m m e n : 1. Immobilien 2.000.000 Rubel, 2. Kapital - 109.600 Rubel, 3. anderes V e r m o g e n - 50.000 Rubel.
Z u m Vergleich betrug das V e r m o g e n der M o s k a u e r Handwerksverwaltung im
Jahre 1910 487.550 Rubel und bestand aus folgenden Teilen: Immobilien 399.464 Rubel u n d Kapital - 88.086 Rubel. Die Einnahmen betrugen 1908 80.047
Rubel, 1909 - 79.783 Rubel, 1910 - 90.497 Rubel, 1911 - 94.266 Rubel und 1912 113.565 R u b e l , wobei die St Petersburger Handwerksverwaltung im Jahre 1910
250.166 Rubel E i n n a h m e n hatte, w a s im Vergleich mit M o s k a u weitaus mehr war.
4 6 6
467
Seit 1910 wurden die Jahresberichte der St. Petersburger Handwerksverwaltung
nicht regelmaffig verlegt. So erschien der Jahresbericht fur dieses Jahr erst 1913.
Seit dem Anfang des Ersten Weltkrieges und in den Jahren der darauffolgenden
Revolution sind fast keine Materialien uber die Handwerksverwaltungen zu finden.
Es fehlen vor allem die Jahresberichte der Handwerksverwaltung, die reiches
statistisches Material bieten. Dies ist damit zu erklaren, daB es zu j e n e r Zeit
wichtigere Probleme fur das Zunfthandwerk gab, wie z. B . die Ausfuhrung der
Staatsauftrage zur Herstellung von Munition, Kleidung und sonstiger
Armeeausrustung. Die Regierung selbst richtete ihre Aufmerksamkeit fast ganzlich
auf die Kriegsaufgaben. Es ist zu vermuten, daB sich die Anzahl der Handwerker,
besonders der zunftigen, mit der M o b i l m a c h u n g von 1914 stark reduzierte, hatten
eine bessere A u s b i l d u n g im Vergleich zur ersten Halfte des 19. Jahrhunderts,
wodurch ihre K o m p e t e n z weit hoher war.
5.7
Zusarnmenfassung
Die geschilderte Entwicklung der Selbstverwaltung der Zunfthandwerker zeigt,
daB der Regierung nicht vollkommen gelungen war, die offentlichen Anstalten
ihrer umfassenden Kontrolle zu unterwerfen, indem sie die Selbstandigkeit der
Siehe Tabelle 54 im Tabellenanhang.
Remeslenniki i remeslennoe upravlenie v Rossii. Pg. 1916, S. 38ff.
468
stadtischen Selbstverwaltung bestandig verringerte . Die starke Burokratisierung
der offentlichen Anstalten laBt sich j e d o c h nicht bestreiten: die verbeamteten
Verwaltungsmitglieder und der Standesalteste selbst, der einen Grad der zivilen
Rangtabelle innehatte, verselbstandigten sich dermaBen, daB sie die Beschlusse der
D e p u t i e r t e n v e r s a m m l u n g m e h r m a l s i g n o r i e r t e n . D i e s e n ProzeB
der
Verselbstandigung der Verwaltung begunstigte die neue Stadtordnung v o n 1870,
da sie festlegte, daB die Handwerksverwaltung aus der administrativen Kontrolle
der Stadtduma h e r a u s g e n o m m e n und unmittelbar der Gouvernementsverwaltung
mit d e m Stadthauptmann an der Spitze unterstellt werden s o l l t e . Eine starke
Abhangigkeit der Deputiertenversammlung von den oberen Regierungsstellen
selbst laBt sich aber bezweifeln. Die Deputierten bewiesen mehrmals, w i e z. B .
zwischen 1869 und 1871, daB sie auBerst entschlossen ihre Privilegien und Rechte
verteidigen konnten, so daB sogar die Regierung manchmal machtlos war, etwas
gegen sie zu unternehmen.
469
W a s das Problem der Gleichberechtigung der zeitweiligen H a n d w e r k e r anbetrifft,
so gelang es diesen nicht, den Widerstand der standigen H a n d w e r k e r zu brechen
und den Unwillen der Regierung bei der L o s u n g dieser Frage zu uberwinden. Die
Erfolge der zeitweiligen Handwerker, so hatten z. B . zwischen 1846 und 1876
mehrere v o n ihnen das A m t des Zunftaltesten i n n e , konnten die allgemeine
Situation der sozialen Benachteiligung nicht verandern. M e h r noch, die
zeitweiligen H a n d w e r k e r wurden aus der Selbstverwaltung im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts fast vollig verdrangt. Dieser VerdrangungsprozeB vollzog sich
bei gleichzeitiger Kurzung des Verwaltungsapparates. W e n n die Jahre 1 8 5 9 und
1880 miteinander verglichen werden, ist festzustellen, daB in der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g einige Umschichtungen bzw. Kurzungen v o r g e n o m m e n
wurden. Start der 37 Altesten und ihren Stellvertretern blieben 16, die acht
Altesten und ihre Stellvertreter, ubrig. V o n 36 Steuereinnehmern u n d ihren
Stellvertretern verblieben noch acht; von 61 Zehnerfuhrern ebenfalls nur noch
acht. Die K u r z u n g des Verwaltungsapparates wurde wahrscheinlich aufgrund v o n
SparmaBnahmen durchgefuhrt, die die standigen Handwerker zur M i n d e r u n g der
EinfluBnahme der zeitweiligen Handwerker in den Zunften nutzen. Die
KompromiBlosigkeit der standigen Meister spaltete den h a n d w e r k l i c h e n
470
471
468
Vgl. Nardova, Samoderzavie, S. 6.
469
Cirkuljar ministra vnutrennich del vsem gubernatoram ot 14 dekabrja 1877 g., in: RGIA, f.
1287, op. 38, d. 1402: Po voprosu о torn, kakie utrezdenija dolzny rassmatrivat' ialoby na
dolznostnych lie remeslennogo upravlenija i podvergat' ich predaniju sudu v gorodach, v
koich wedeno v dejstvie Gorodovoe polozenie ot 16 ijunja 1870, hier 1. 32.
470
Jadrov, V zaSditu, S. VI.
472
Tragerkreis in zwei feindliche L a g e r " , w a s auch in Deutschland nach der
EinfUhrung der neuen G e w e r b e o r d n u n g von 1849 der Fall war. Dieser sozialer
Konflikt, der sich im K a m p f zwischen den standigen und zeitweiligen
Handwerkern auBerte, war ahnlicher Natur.
Die angespannte innenpolitische Situation RuBlands seit den 1870er Jahren und
die sehr vorsichtige und zuriickhaltende Position der Regierung, in der
konservative Krafte die Oberhand behielten, schafften auBerst ungunstige
R a h m e n b e d i n g u n g e n fur eine soziale Reform des Handwerkerstandes von St.
Petersburg. Die Zunfthandwerker hatten seit 1846 demokratische Erfahrungen
gesammelt, v o n denen auch die Regierung hatte profitieren konnen, w e n n sie daran
interessiert gewesen ware. Diese demokratischen bzw. liberalen Erfahrungen
hatten namlich in das Organisationsprinzip der gewerbetreibenden Bevolkerung
umgemiinzt werden konnen, wodurch die Abschaffung des Handwerkerstandes
zumindest in den groBen Stadten nicht unbedingt notig gewesen ware. Eine
B e d i n g u n g fur einen Neuaufbau der Handwerksselbstverwaltung ware die
Gleichstellung von zeitweiligen und standigen Meistern gewesen. D a z u war die
Regierung aber nicht bereit. 1901 kommentierte der russische Historiker D.D.
Semenov die H a l t u n g der Regierung wie folgt:
„Die stadtische Gesellschaft verlor den Glauben an bessere Zeiten.
Schon seit vier Jahrzehnten [seit 1861, A.K.] wartet die Gesellschaft auf
eine W a h l o r d n u n g in die D u m a und andere offentliche Anstalten, die
nach d e m Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes begriindet w i r d " .
473
Dieses von der liberalen Intel ligenz lang ersehnte Prinzip der Allgemeinheit, das
der Standegesellschaft widersprach, wurde nicht verwirklicht.
W a r u m die Regierung die Zunfte ungeachtet heftiger Kritik an ihren
„MiBbrauchen", besonders seit der Stackelbergschen Kommission, nicht
abschaffte, m a g daran liegen. daB die Zunfte als ein Pfeiler der St. Petersburger
Sozialordnung angesehen wurden, die auch als ein Mittel zur Bekampfung der
Pauperisierung der Bevolkerung St. Petersburgs betrachtet w u r d e . Die Zunfte
stellten einen wichtigen Teil der Standeordnung dar und wurden in konservativen
472
Vgl. Bergmann, Berliner, S. 130: „Ihr [die meisten Formen der ztinftigen
Lebensgestaltung] Absterben verstarkte Шг viele Bereiche des Handwerks zwar zunachst die
allgemeine Verzweiflung und Venvirrung sowie die durch Egoismus und Unverstandnis
verscharfte Spaltung des handwerklichen Tragerkreises in zwei feindliche Lager, machte
jedoch auch den Weg frei fur die Neuorientierung des Handwerks unter den veranderten
Bedingungen des modernen Wirtschaftslebens und fur die Errichtung einer neuen
berufsstandischen Ordnung".
473
Semenov, Gorodskoe samoupravlenie, S. 34.
474
Regierungskreisen als ein systemstabilisierendes Element w a h r g e n o m m e n .
Es
ist nicht zu vergessen, daB die russischen Regierungskreise sehr aufmerksam die
Entwicklungen in Westeuropa verfolgten und letzten Endes doch selbst iiber die
Zukunft der Ziinfte in RuBland entscheiden wollten.
Die Entwicklung des Zunftwesens in Westeuropa verlief z. B . im
deutschsprachigen R a u m sehr unterschiedlich. N a c h der Abschaffung der Ziinfte
1810/1811 wurden sie z u m Teil wiedererrichtet, u m 1859 endgtiltig abgeschafft
zu werden. Nicht v o n ungefahr wurde in diesem Jahr in St. Petersburg die
K o m m i s s i o n v o n Stackelberg einberufen, die ihre M e i n u n g iiber die Zukunft des
Zunfthandwerks ausarbeiten sollte. Wobei nicht zu vergessen ist, daB z. B . in
H a m b u r g die Ziinfte mit einiger Verzogerung erst im Jahre 1865 aufgehoben
wurden. Die Abschaffung der Ziinfte in Deutschland w u r d e v o n der russischen
Regierung aufmerksam verfolgt und mit den russischen Verhaltnissen verglichen.
Die russische Regierung befand sich in einer gespaltenen Situation. Sie sah
durchaus ein, daB die Gewerbefreiheit nicht nur eindeutige Vorteile, sondern auch
Nachteile, wie z. B . eine z u n e h m e n d e Proletarisierung und Polarisierung unter den
Handwerksmeistern im deutschsprachigen R a u m , mit sich brachte. So kamen z. B .
im Jahre 1846 auf 100 Meister in der preuBischen Provinz Sachsen 95 Hilfskrafte,
im Konigreich Sachsen entsprechend 141, in PreuBen 8 3 , in Bayern 105 und in
N a s s a u gar 3 5 . Im Jahre 1839 k a m e n in Wiirttemberg auf 115.000 ziinftige und
nichtziinftige H a n d w e r k e r nur noch 33.000 Gesellen oder ein Geselle auf 3,5
M e i s t e r . In Anbetracht dieser Entwicklungstendenzen in Westeuropa und der
Tatsache, daB das H a n d w e r k in RuBland weiterer Unterstiitzung des Staates
bedurfte, zogerte die Regierung, das H a n d w e r k durch eine allumfassende
Gewerbefreiheit d e m freien Spiel des Marktes zu iiberlassen, auf d e m es in der
Konkurrenz mit der GroBindustrie nicht bestehen konnte.
Die neue Stadtordnung von 1870 gestand zwar alien Stadtbiirgern, die in das
Biirgerbuch eingetragen worden waren, eine Immobilie besaBen oder eine
Handwerksstatte unterhielten, formell das Wahlrecht zu. In der Praxis aber war
dieses Recht mit den vier Standen des Adels, der Kaufleute, der Kleinburger und
der Zunfthandwerker eng verbunden. Die zeitweiligen H a n d w e r k e r konnten nicht
in die Stadtduma gewahlt werden, bevor sie an einer Standewahl teilgenommen
hatten. Der hohe Wahlzensus von 3.000 Rubel schaffte eine zusatzliche
untiberwindliche Barriere.
Dies fuhrte dazu, daB die gewerbetreibende Bevolkerung die standische
Geschlossenheit der standigen Handwerker nicht akzeptierte. Dies fand ihren
Ausdruck unter anderem in dem W u n s c h der zeitweiligen Handwerker, eine eigene
Organisation der H a n d w e r k e r zu griinden. Angesichts des MiBerfolges waren die
zeitweiligen Zunfthandwerker in ihrem K a m p f u m Gleichberechtigung miBtrauisch
475
Vgl. Herzig, Kontinuitat, S. 298f.
Remeslennik, izdannyj drugom remeslennika, St. Petersburg 1863, S. 12, 21.
geworden und betrachteten ihre mogliche Standeszugehorigkeit mit Skepsis. Dies
manifestierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Gesuchen der
Handwerker, in denen sie den W u n s c h auBerten, v o m Eintritt in die Zunfte befreit
zu werden. Im September 1908 reichten die Bauern des N o v g o r o d e r und T v e r ' e r
Gouvernements beim Handels - und Wirtschaftsminister ebenfalls eine Anfrage ein,
o b sie v o m Zunfteintritt befreit werden konnten. D a s Ministerium erkundigte sich
zuerst bei der Handwerksverwaltung, und nach abschlagiger Antwort,
benachrichtigte es auch die Bauern, daB dies unmoglich s e i .
Im Unterschied z u m 19. Jahrhundert anderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts
die Einstellung der H a n d w e r k e r zur Zunftmitgliedschaft. W a h r e n d sich die
H a n d w e r k e r fruher dartiber beschwert hatten, daB ihnen der Zunfteintritt v o n der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g verboten wurde, bat nun der Zunfthandwerker N o v i k o v im
N o v e m b e r 1908 den Handels- und Wirtschaftsminister u m die Erlaubnis, aus der
Zunft austreten zu dtirfen. A u c h diesmal schickte das Ministerium zuerst eine
Anfrage an die Handwerksverwaltung, ob die Handwerker berechtigt seien, uber
einen Zunftaustritt frei zu entscheiden. Die Handwerksverwaltung teilte mit, daB
N o v i k o v mehrere Gesellen beschaftigte und deswegen nicht von der
Einschreibung in eine Zunft befreit werden konne. Dabei bezog sie sich auf das
Industriestatut von 1 8 9 3 . Die russische Handwerksverwaltung hielt an der Regel
fest, nach der alle, die ein H a n d w e r k betreiben wollten, in die Zunft eingeschrieben
sein muBten u n d entsprechende Gebiihren entrichten s o l l t e n . Damit bezog sie
sich immer noch auf Richtlinien, die im Handwerksstatut v o n 1785 festgelegt
worden waren.
476
477
478
Die industriellen und gesellschaftlichen Entwicklungen in St. Petersburg zu
Beginn des 20. Jahrhunderts beeinfluBten die Handwerksverwaltung in ihrer
Selbstakzeptanz in betrachtlichem MaBe. Dies fuhrte dazu, daB die
Handwerksverwaltung der russischen Zunfte die Eigeninitiative ergriff und im
Februar 1906 die G r u n d u n g einer Handwerkerpartei a n r e g t e . Sie w a r w e g e n des
fehlenden Interesses unter den zunftigen Meistern, Gesellen und den auBerhalb der
Zunfte stehenden Handwerkern nur kurzlebig. Dennoch w a r es ganzlich
ungewohnlich, daB die Standesorganisation der standigen Zunftmeister, die
479
476
Zapros ministerstva torgovli i promySlennosti v S. Peterburgskuju remeslennuju upravu
vom 29. September 1908, in: RGIA, f. 23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, hier 1. 80.
477
Otvet ministerstva torgovli i promySlennosti masteru V. A. Novikovu v nojabre 1908, in:
Ebd., 1. 79.
478
Mnenie S.-Peterburgskoj remeslennoj upravy po proektu polozenija ob ustrojstve i
soderzanii promy§lennych zavedenij i о nadzore za proizvodstvom v nich rabot, St.
Petersburg 1897, S. 2.
479
S. Peterburgskaja remeslennaja uprava. Vozzvanie organizacionnogo komiteta
„Remeslennoj partii", [SPb. 1906]; Remeslennaja partija, [SPb. 1906]; Max Weber, Zur
Russischen Revolution, S. 65, 556f.
jahrzehntelang ihre Privilegien zu verteidigen suchte, ohne jeglichen standischen
R a h m e n alle H a n d w e r k e r ohne A u s n a h m e zu politischer Aktivitat b z w . z u
politischer Arbeit aufrief. Nicht neu waren die P r o g r a m m p u n k t e der
Handwerkerpartei, die schon wahrend des ersten Handwerkerkongresses im Jahre
1900 diskutiert w o r d e n waren. Ihre politische Forderungen waren mit denen der
Partei der Oktobristen identisch. E s sollte eine „politische M i t t e " gebildet werden,
die alle „Feinde der Reaktion u n d der Revolution" vereinigen sollte. N u r konnte
sich diese „politische M i t t e " nicht organisieren, weil keine sozialen Schichten
vorhanden waren, aus denen die neue Partei ihre A n h a n g e r b z w . Mitglieder
rekrutieren konnte. AuBerdem erschienen am politischen Horizont die
einfluBreichen
sozialen Gruppen der Kaufleute,
GroBindustriellen,
GroBgrundbesitzer, Bankiers und der Intelligenz. Sie waren in den KonstitutionellDemokratischen u n d Oktobristen-Parteien organisiert. AuBerdem existierte zu
diesem Zeitpunkt schon die Sozialrevolutionare Partei, die unter d e m Bauerntum
groBe Sympathien g e n o B .
Der Versuch der St. Petersburger Handwerksverwaltung, die Handwerker auf einer
neuen Basis zu vereinigen, schlug fehl. Die meisten H a n d w e r k e r sahen keinen
Sinn in einer politischen Betatigung. Viel mehr waren die Handwerker an d e n
Berufsgenossenschaften oder Gewerkschaften interessiert, die v o r allem
o k o n o m i s c h e Ziele verfolgten. N a c h der ersten russischen Revolution 1905/06
wurden in RuBland z u m ersten Mai professionelle V e r b a n d e gegrundet, die einige
wichtige soziale Funktionen der Handwerksverwaltung tibernahmen. Unter ihnen
gab es die Berufsverbande der Gold- und Silberschmiede, der Schreiner, der
Wagenbauer, der Textilarbeiter, der Backer, der Schuster, der Konfektmacher, der
Pharmazeuten u n d andere. Spater w u r d e n weitere Berufsgenossenschaften wie die
,3erufsgenossenschaft der Arbeiter fur die Lederverarbeitung" im Jahre 1909, die
„Berufsgenossenschaft der Arbeiter fur die Metallverarbeitung" im Jahre 1908 u n d
die ,3erufsgenossenschaft der Arbeiter der Schmiedewerkstatten" gegrundet. 1910
gab es in St. Petersburg 16 Berufsgenossenschaften, die z u r Halfte aus
Handwerkern bestanden und ein gemeinsames Organ - die Z e i t u n g , JRabocee e c h o "
- hatten.
480
480
S. dazu: Dittmar Dahlmann, Die Provinz waUt: RuBlands Konstitutionell-Demokratische
Partei und die Dumawahlen 1906-1912 (Beitrage zur Geschichte Osteuropas 19),
Koln/Weimar/Wien 1996; Lutz Hufher, Die Partei der Linken Sozial-Revolutionare in der
Russischen Revolution von 1917/18 (Beitruge zur Geschichte Osteuropas 18),
Koln/Weimar/Wien 1994.
6.
P e r Fiskus und d a s H a n d w e r k
D i e Besteuerung der Handwerker, die H o h e der Steuern, die RegelmaBigkeit ihrer
Entrichtung, ihre E r h o h u n g oder Senkung k o n n e n zur Aufklarung verschiedener
Aspekte des L e b e n s der Handwerker, vor allem ihres Lebensstandards, beitragen.
E s gilt hier vor allem, mit Hilfe
Entwicklungsdynamik
und
des
-tendenzen
Steuersatzes uber
in
der
die Jahre
wirtschaftlichen
Lage
die
der
H a n d w e r k e r zu klaren.
6.1
Die B e s t e u e r u n g d e r auslandischen H a n d w e r k e r
W i e aus d e m Kapitel uber die Selbstverwaltung der Zunfthandwerker hervorgeht,
existierten
die
deutschen
Zunfte
getrennt
von
der
russischen
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und waren kraft der Petrinischen G e s e t z g e b u n g von der
Besteuerung befreit. Ungeachtet dessen versuchten die russische H a n d w e r k s - und
die St. Petersburger Stadtverwaltung die deutschen Zunfte ihrem Hoheitsgebiet
zuzurechnen und die auslandischen Meister zur Steuerzahlung zu verpflichten. Die
deutschen Zunfte widersetzten sich mit Erfolg den Bestrebungen der russischen
Handwerksverwaltung.
Mit Beginn des 19. Jahrhunderts richtete die Regierung ihre Aufmerksamkeit mehr
u n d mehr auf m o g l i c h e Quellen zur Auffullung der Staatskasse, w o d u r c h die
auslandischen H a n d w e r k e r wiederholt ins Blickfeld der R e g i e r u n g gerieten. Die
erhohten Kriegsausgaben verursachten eine immer hohere Staatsverschuldung.
1810 betrug das Haushaltsdefizit bereits 65 Millionen Rubel, die Folge w a r eine
steigende Emission des Papiergeldes (assignacii),
w o d u r c h seine Kaufkraft nur
7 0 % des nominellen Wertes betrug. N a c h dem Krieg mit N a p o l e o n schnellten die
Staatsschulden und mit ihnen die Inflation hoch. 1815 betrug die Schuld RuBlands
481
gegenuber den Niederlanden bereits 836 Mill. Rubel in A s s i g n a t e n . Als
481
Klaus Heller, Die Geld- und Kreditpolitik des Russischen Reiches in der Zeit der
Assignaten (1768-1839/43), Wiesbaden 1983, S. 110; s. Literatur zur Finanzpolitik russischer
Regierungen: S. Ja. Borovoj, Kredit i banki Rossii (seredina XII V.-1861), Moskau 1958; J.
N. Bozerjanov, Graf Egor Francevid Kankrin, ego zizn\ literatumye trudy i dvadcatiletnjaja
dejatel'nost' upravlenija Ministerstvom finansov, St. Petersburg 1897; N.D. Ceculin, Oderki
po istorii russkich finansov v carstvovanie Ekateriny П., St. Petersburg 1906; I. F. Gindin,
Gosudarstvennyj bank i ekonomideskaja politika carskogo pravitel'stva (1861-1892 gody),
Moskau 1960; W. M. Pintner, Russian Economic Policy unter Nicolas I., Ithaca/USA 1967;
A. P. Pogrebenskij, Ocerki istorii finansov dorevoljucionnoj Rossii (XIX-XX w.), Moskau
1954; S. M. Troickij, Finansovaja politika russkogo absoljutizma vo vtoroj polovine XVII i
XVIII v., in: Absoljutizm v Rossii (XVII-XVIII w.), Moskau 1964, S. 281-319.
Warenproduzenten litten die Handwerker unter der erhohten Inflation, die sie ihres
Wohlstandes b e r a u b t e .
482
Einsicht in die Besteuerungsmechanismen der auslandischen H a n d w e r k e r
gewahren einige Archivdokumente, aus denen hervorgeht, daB die okonomische
Abteilung (ekonomiceskaja
ekspedicija)
des Senats 1808 nach einer fast
hundertjahrigen Existenz der deutschen Zunfte in St. Petersburg mit Erstaunen
bemerkte,
„daB es in der Hauptstadt abgesonderte deutsche Zunfte gibt, [...] die
ohne j e d e Erlaubnis der russischen Handwerksverwaltung gegrundet
worden sind. [...] Es ist unbekannt, welche Statuten, V e r s a m m l u n g e n
und rechtlichen Grundlagen sie haben, die ihre Existenz in der Stadt
zulassen" .
483
W a r u m die auslandischen Handwerker rund hundert Jahre lang steuerfrei arbeiten
konnten, muB hier erlautert werden.
D i e auslandischen Handwerker, die ihre Rechte und Privilegien mit Gesetzen zu
begriinden wuBten, verwiesen die Obrigkeit auf zwei Erlasse, die sie v o n der
Besteuerung befreiten. Der ErlaB v o m 3. D e z e m b e r 1723 fuhrte ein neues
R e g l e m e n t fur das Manufakturkollegium ein und bekraftigte das Recht von
Auslandern, frei nach RuBland einzureisen und ihrem H a n d w e r k ohne
Steuerabgaben nachzugehen. Es waren allerdings nur die nichtzunftigen
auslandischen Handwerker, die dem Manufakturkollegium u n t e r s t a n d e n . Der
zweite ErlaB v o m 16. Dezember 1743 iiber die Volkszahlung befahl freilich, die
H a n d w e r k e r in den deutschen Zunften zu zahlen, untersagte aber der stadtischen
Verwaltung, sie zu besteuern und mit den russischen Zunften zu v e r e i n i g e n . Im
ErlaB w u r d e das Verbot damit begriindet, daB die auslandischen H a n d w e r k e r es
als eine Beleidigung empfinden wurden, mit leibeigenen Bauern in einer Zunft
organisiert zu sein. Ferner w u r d e darauf aufmerksam gemacht, daB Auslander eine
andere Sprache, Religion, andere Sitten und vor allem eine freie Natur hatten, w a s
484
485
482
Manifest о merach к umen'Seniju gosudarstvennych dolgov; о prekraScenii vypuska v
oborot novych summ assignacijami i о vozvysenii nekotorych podatej i po§lin, in: PSZ RI 1,
Bd. 31, Nr. 24116 (2. Februar 1810), 1. 53-60.
483
Doklad kazennoj palaty senatoru i gosudarstvennomu kaznaceju Fedoru Aleksandrovicu
Golubcovu ot 30.11.1808, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati s inostrannych
remeslennikov v Peterburge i Moskve (1808-1827), hier 1. 1.
484
485
PSZ RI 1, Bd. 7, Nr. 4378 (3. Dezember 1723), S. 173.
PSZ RI 1, Bd. 11, Nr. 8835 (16. Dezember 1743): О general'noj revizii i Instrukcija
poslannym dlja udinenija vnov' revizii; punkt 18 - v podusnyj oklad veleno ne pisat'
inozemcev, prinjavSich pravoslavie, punkt 19 - nepravoslavnych inozemcev perepisat' osobo,
S. 962-977.
die Vereinigung in einer Zunft mit russischen Handwerkern unmoglich m a c h e .
Damit wurde indirekt darauf hingewiesen, daB die auslandischen H a n d w e r k e r
weiterhin steuerfrei bleiben s o l l t e n .
Die spateren Erlasse v o m 22. Februar 1784 und 26. Oktober 1797 k o n n e n zwar als
Versuch gewertet werden, die Besteuerung der auslandischen H a n d w e r k e r
einzufuhren, erfaBten sie aber nicht in ihrer G e s a m t h e i t . Im ErlaB v o m 2 2 .
Februar 1784 w u r d e n nur die Auslander erwahnt, die die russische
Staatsangehorigkeit erworben hatten und entweder in die handwerkliche Zunft
oder kaufinannische Gilde eingetreten waren. Sie sollten entsprechend ihrem Stand
Steuern entrichten. Diejenigen, die ihre friihere Staatsangehorigkeit behielten und
ihrem Stande nach Auslander blieben, waren weiterhin befreit. D e r ErlaB v o m 26.
Oktober 1797 war regional begrenzt. Er bezog sich nur auf die Bevolkerung in den
z u m Russischen Reich neu- oder zurtickgewonnenen Gebieten in SudruBland und
Polen.
D a s Kameraldepartement (Kameral 'nyj departament)
versuchte seit Ende 1798
entschieden, den Status quo, nach dem die auslandischen Handwerker steuerbefreit
waren, zu andern und hielt dies im BeschluB v o m 10. Januar 1799 fest. Das
Kameraldepartement ging in seinem Vorhaben so weit, daB es die Legitimitat einer
getrennten Existenz der deutschen Zunfte von den russischen verneinte. Unter
anderem bekraftigte das Kameraldepartement seine M e i n u n g uber die
Unzulassigkeit der getrennten Existenz der deutschen Zunfte damit, daB es pro
Handwerksart eine statt zwei Zunfte geben sollte. D e s weiteren wurde
argumentiert, daB die auslandischen Meister mit russischen Fachkraften in ihren
Werkstatten zusammenarbeiteten und daraus auch Vorteile ziehen wurden. So
sprache auch nichts dagegen, sie mit den Russen in einer Zunft zu organisieren.
W e n n die Vereinigung der russischen und deutschen Zunften gelingen wiirde,
waren die auslandischen Meister dem Vorhaben des Kameraldepartements nach
automatisch mit der gleichen Steuer belegt worden.
Die auslandischen Meister konnten diesmal der Besteuerung noch entgehen,
obwohl sie gezwungenermaBen dem St. Petersburger Militargeneralgouverneur
v o n der Pahlen im Jahre 1800 vorschlugen, ktinftig eine ihren finanziellen
Moglichkeiten angemessene Steuer zugunsten der Stadt zu entrichten. A u s
unbekannten Griinden blieb ihr Vorschlag unbeantwortet. Die weiteren Versuche
v o n verschiedenen Seiten, der L o s u n g dieses Problems naher zu k o m m e n , blieben
o h n e Erfolg. Die auslandischen Meister hatten einige machtige Fursprecher in den
486
487
486
Zurnal S. Peterburgskoj gorodskoj dumy ot 9 janvarja 1803, in: RGIA, f. 571, op. 3, d.
337: О podati, 1. 7.
487
PSZ RI 1, Bd. 22, Nr. 15935 (22. Februar 1784): О svobodnoj torgovle v gorodach
Chersone, Sevastopole i Feodosii, S. 50f.; Bd. 24, Nr. 18223 (26. Oktober 1797): О
rasprostxanenii na vse vozvraSfcennye i priobretennye vnov* oblasti uzakonenija, 64oby vsjakij
prebyvaju§6ij v Rossii izbral nepremenno rod zizni i daby sovokupno s tern kazdyj neizemlemo po zvaniju svoemu nes povinnosti, zakonom opredelennye, S. 7791T.
hoheren Regierungskreisen und entkamen dadurch der Besteuerung. So blieb auch
eine weitere Anfrage der auslandischen H a n d w e r k e r an den Generalgouverneur
v o n St. Petersburg unbeantwortet, so weit dies aus dem vorliegenden Material
ersichtlich i s t .
D a s Kameraldepartement versuchte die B e h a u p t u n g der auslandischen Meister in
ihrem Antrag an Graf v o n der Pahlen von 1800, daB es fur ihre v o n den russischen
Zunften getrennte Existenz eine gesetzliche Grundlage gabe, zu widerlegen, w a s
ihm nicht gelang. E s erklarte namlich, daB diese getrennte Existenz beider
Zunftverwaltungen nicht qua Gesetz, sondern aufgrund „einer Untatigkeit" der
Regierung zustande g e k o m m e n s e i . Diese „Untatigkeit" der Regierung sei
wiederum d e m Widerstand der auslandischen H a n d w e r k e r zuzuschreiben, der sich
stets als bewahrte M e t h o d e erwiesen hatte, Steuerabgaben zu vermeiden. Er
auBerte sich z. B . in der Form der V e r w e i g e r u n g der Zahlenangaben uber die
auslandischen Zunfthandwerker in der Hauptstadt und in der strikt abweisenden
Einstellung zu den Versuchen, sie zu besteuern. Diese Taktik habe bewirkt, daB
bis in die j u n g s t e Zeit die Steuerabgaben hatten vermieden werden konnen. N a c h
den B e r e c h n u n g e n des Kassenamtes gingen der Staatskasse jahrlich 7.650 Rubel
(3.000 Zunfthandwerker multipliziert mit 2,55 Rubel jahrlich hatten 7.650 Rubel
pro Jahr ergeben) oder 38.050 Rubel in funf Jahren verloren. Im Gegensatz zu den
auslandischen Meistern in den deutschen Zunften zahlten diejenigen, die die
russische Staatsangehorigkeit erworben hatten, laut ErlaB v o m 14. Januar 1798
2,50 Rubel Steuer jahrlich.
Im Jahre 1803 k a m die Initiative fur die Besteuerung der auslandischen Meister
von anderer Seite. A m 9. Januar 1803 schlug das Stadtoberhaupt
(gorodskoj
golova) Nikolaj Dmitrievic' Men'Sikov in der Deputiertenversammlung der
stadtischen D u m a e m e u t vor, die auslandischen Meister in den deutschen Zunften
zu besteuern. Infolge dieses Vorschlages verfugte die D u m a , die auslandischen
H a n d w e r k e r zu zahlen, u m ihre Besteuerung durchfuhren zu konnen. Die
Stadtduma wies in ihrem Sitzungsprotokoll von 1803 darauf hin, daB
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489
„die auslandischen Meister zwar einige A u s g a b e n zugunsten der Stadt
unregelmaBig entrichtet hatten, dies j e d o c h mit groBer Mtihe von der
Stadtverwaltung erreicht wurde, die die deutschen Meister dazu
zwingen muBte. Bis heute bestehen [die auslandischen Meister] auf dem
Recht, keine Steuern zahlen zu mussen. Daruber hinaus weigerten sie
sich, sich w a h r e n d der vierten und funften Volkszahlung in die Listen
einzutragen" .
490
488
Doklad Kazennoj palaty ot 30 nojabrja 1808,1. 2.
489
Zurnal, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 5ff.; s. dazu FuBnote 1.
490
2urnal S. Peterburgskoj gorodskoj dumy ot 9 janvarja 1803 g., in: RGIA, f. 571, op. 3, d.
337: О podati, hier 1. 5.
Die Berichte der Stadtduma kamen zu dem SchluB, daB die Nichtbesteuerung
auslandischer H a n d w e r k e r ein MiBverstandnis und keine v o m Gesetz geregelte
Sache war: Sie w u r d e als eine Selbstverstandlichkeit aufgefaBt .
Einige Jahre spater stand die Etesteuerung der auslandischen Meister aufgrund der
schwierigen finanziellen Lage der russischen Regierung wieder zur Disposition.
D a s St. Petersburger Kassenamt (kazennaja
palata)
uberprufte 1808 die
rechtlichen Grundlagen einer moglichen Besteuerung auslandischer Handwerker
bzw. ging der Frage der rechtlichen Daseinsberechtigung der deutschen Zunfte
nach und legte d e m Schatakammerleiter (gosudarstvennyj
kaznacej)
Fedor
Aleksandrovic Golubcov einen Bericht vor, demzufolge die Verpflichtung der
auslandischen H a n d w e r k e r zur Steuerzahlung auf den ErlaB vom 26. Oktober 1797
zuruckzufuhren sei. G e n a u betrachtet, bezog sich der genannte ErlaB nur auf die
B e v o l k e r u n g in den neu g e w o n n e n e n Gebieten, die zum Russischen Reich nach
den Kriegen mit der Tiirkei hinzukamen. Die Bevolkerung dieser Gebiete sollte
die gleichen Steuerverpflichtungen wie die Bevolkerung in den ubrigen Teilen des
Reiches h a b e n . U b e r die Besteuerung der auslandischen H a n d w e r k e r in den
beiden Hauptstadten, die von der russischen Regierung immer gesondert behandelt
worden waren, fand sich im ErlaB nichts.
491
492
Es bedurfte des Zarenmanifestes v o m 2. Februar 1810, das die Besteuerung der
auslandischen Meister endlich klarte, wobei sich dies automatisch mit anderen
Fragen wie z. B . der einer getrennten Existenz der deutschen und russischen
Zunfte u b e r l a p p t e . Dieses Manifest legte in den beiden Hauptstadten fur einen
auslandischen Meister 100, fur die Gesellen 4 0 und fur die Lehrlinge 20 Rubel
fest, also h o h e Steuern, wobei der kaiserliche ErlaB v o m 2 3 . Februar 1810
erlaubte, daB die Handwerksverwaltung die Steuer entsprechend der
E i n k o m m e n s l a g e des jeweiligen Handwerkers modifizieren k o n n t e . Die
Eintreibung der Steuer sollten v o m Generalgouverneur St. Petersburgs und der
Stadtduma kontrolliert werden.
493
494
Es fallt auf, daB der Steuersatz der auslandischen Handwerker denjenigen ihrer
Kollegen, die die russische Staatsangehorigkeit a n g e n o m m e n hatten, jeweils urns
40fache, 16fache u n d achtfache ubertraf. Die Stadtduma, die schon seit Jahren
491
Ebd., 1. 4f.
492
О rasprostranenii na vse vozvra£6ennye i priobretennye vnov' oblasti uzakonenija, 6toby
vsjakij prebyvajuScij v Rossii izbral nepremenno rod zizni, daby sovokupno s tem kazdyj
neiz-emlemo po zvaniju svoemu nes povinnosti, zakonom opredelennye, in: PSZ RI 1, Bd.
24, Nr. 18223, S. 779-781.
493
Raport general-gubernatora S. Peterburga Komitetu ministrov , vom 2. August 1816, in:
RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 137.
494
Predstavlenie S. Peterburgskoj remeslennoj upravy nemeckich cechov v departament
podatej i sborov i ministru finansov D. A. Gur'evu, vom 20.11.1814, in: RGIA.f. 571, op. 3,
d. 337: О podati, hier 1. 16.
vorgeschlagen hatte, die Auslander zu besteuern, setzte den ErlaB unverzuglich in
die Praxis u m und verlangte anfangs von 3.234 spater v o n 2.753 H a n d w e r k e r n
oder 1.527 Meistern, 727 Gesellen und 469 Lehrlingen, die Steuer zu entrichten,
obwohl auch diese Zahl nicht mit dem wirklichen Bestand der H a n d w e r k e r
ubereinstimmte, da die Stadtduma sich fur ihre Berechnungen veralteter Vorlagen
bediente, weshalb die Zahl der Meister deutlich uberhoht war.
N a c h den Berechnungen des Handwerksoberhaupts der deutschen Zunfte,
Gottfried Simon G u n t e r , waren fur das Jahr 1810 4 8 0 Meister, 2 3 6 Gesellen und
2 3 9 Lehrlinge - also insgesamt 955 - v o n der Gesamtzahl der 2.753 zu
besteuernden H a n d w e r k e r abzuziehen. D a s waren diejenigen Handwerker, die die
russische Staatsangehorigkeit erworben hatten und deswegen zu den russischen
Zunften gewechselt oder in den Staatsdienst aufgenommen w o r d e n waren. D e s
weiteren waren diejenigen, die kein Handwerk mehr ausubten oder keine Auskunft
iiber sich gaben und deswegen unbekannt blieben, v o n der Besteuerung
auszuschlieBen.
Dementsprechend sollten nach d e m Vorschlag Giinters 1810 v o n 1047 Meistern,
521 Gesellen und 2 3 0 Lehrlinge oder 1.798 insgesamt j e 104.700, 20.840 und
4.600 Rubel oder 130.140 Rubel Steuer entrichtet werden. D i e Stadtduma
bewilligte diese Aufzahlung nicht und lieB 4 6 Meister, die russische Untertanen
waren und dementsprechend eine Kopfsteuer zahlten, abziehen. Somit verlangte
sie die Einzahlung v o n 187.760 Rubeln.
Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g w a r mit den Berechnungen der Stadtduma nicht
einverstanden und schlug ihr vor, die Handwerker, die nicht mehr der Verwaltung
unterstanden und deswegen nicht in die Berechnungen einbezogen werden sollten,
in acht Kategorien aufzuteilen:
1.
Handwerker, die Kopfsteuer entrichteten,
2.
Handwerker, die die russische Staatsangehorigkeit b e k o m m e n hatten und
die in die Kaufmannschaft, den Kleinbiirgerstand oder in die russischen
Zunfte aufgenommen worden waren,
3.
Handwerker, die sich im Staatsdienst befanden,
4.
Handwerker, die sich nicht mehr bei der Zunft oder bei der Verwaltung
meldeten oder unbekannt verzogen waren,
5.
Freiwillige der Biirgerwehr oder in anderen Diensten der A r m e e ,
6.
Handwerker, die keinem H a n d w e r k mehr nachgingen,
7.
Handwerker, die im Laufe der letzten drei Jahre verstorben waren und
8.
Verarmte u n d alte Handwerker.
Beziiglich unbekannt verzogener Meister beteuerte die Handwerksverwaltung, daB
sie kein Recht hatte und auch nicht im Stande war, solche Meister als unabhangige
und freie Auslander gegen ihren Willen in die Zunft zu zwingen. A u c h die
Meister, die nicht m e h r ihrem H a n d w e r k nachgingen, unterstanden nicht mehr der
Verwaltung. Viele von ihnen waren als Kiister, Lehrer oder Beamte der
495
Gunter hatte eine Lederfabrik in Karetnaja-Viertel.
Zollbehorde beschaftigt gewesen. AuBerdem traten die ausgeschiedenen
H a n d w e r k e r oft in den Staatsdienst ein. Unter anderem waren sie in der St.
Petersburger Erziehungsanstal t (S. Peterburgskij vospitatel 'nyj dom), die von Ivan
Ivanovic Beckoj gegrundet worden war, im deutschen Theater, in verschiedenen
Instituten, in der Lehranstalt fur Handel (Kommerdeskoe
udilisde), in der A r m e e
und in Staatsamtern angestellt . Es gibt auch genauere Zahlen uber die in der
Periode von 1811 bis 1817 aus den Zunften Ausgeschiedenen: 574 Handwerker
waren verstorben, 28 wechselten in den Militardienst, 192 waren im staatlichen
Zivildienst tatig, uber 176 Handwerker konnten die Zunfte keine Auskunft geben.
Es war unbekannt, o b die letzteren noch in der Hauptstadt a n w e s e n d oder schon
langst des Landes verwiesen worden waren, und 1470 gingen nicht mehr ihrem
H a n d w e r k nach. Insgesamt waren 2440 Handwerker in diesen Jahren aus den
deutschen Zunften ausgeschieden und 1817 belief sich der Gesamtbestand auf 810
Handwerker oder 3 9 9 Meister, 279 Gesellen und 132 L e h r l i n g e .
Trotzdem beschloB die Stadtduma, die Steuer in voller H o h e zu verlangen,
woraufhin sich der St. Petersburger Generalgouverneur Aleksandr Dmitrievic
Balasev einschaltete und dem St. Petersburger Oberpolizeimeister GoleniscevKutuzov befahl, die Altesten der deutschen Zunfte so lange unter B e w a c h u n g zu
halten, bis sie mit der Steuerverteilung fertig seien. Dies war ein nie da gewesener
U m g a n g mit den Auslandern in St. Petersburg, der wahrscheinlich mit dem
aufflammenden Patriotismus und der allgemeinen Feindseligkeit gegenuber alien
Auslandern w a h r e n d der Kriegszeit zu erklaren ist. Wahrend die Steuern verteilt
wurden, war von den durchfuhrenden Beamten die M e i n u n g zu horen, daB die
Steuern fur die auslandischen Meister auf 200 bis 2.000 Rubel zu erhohen s e i .
Es wurden 172.665 Rubel v o m verlangten Gesamtbetrag in H o h e von 187.760
Rubeln bezahlt, wobei Gunter unterstrich, daB die Mehrheit der auslandischen
Handwerker der deutschen Zunfte verarmt und nicht begutert sei oder tiberhaupt
kein H a n d w e r k ausubte. Insgesamt wurden fur das Jahr 1810 227.280 Rubel
Steuer bezahlt, die von den hypothetischen 3.234 auslandischen Handwerkern in
den deutschen und russischen Zunften zu entrichten w a r e n .
Die Vorgehensweise der Stadtduma wiederholte sich j e d e s Jahr und v o m
H a n d w e r k s o b e r h a u p t als zu streng kritisiert. 1811 hatte die D u m a die
Verzeichnisse der zu besteuernden Meister mit dem V e r w e i s auf ihre
Unvollstandigkeit der Handwerksverwaltung mehrmals zuriickgegeben. Es steht
zu vermuten, daB die Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte immer
496
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498
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496
Predstavlenie ot 20.11.1814, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 23ff.
497
Balans gorodskoj dumy о podatjach po manifestu s inostrannych remeslennikov s 1811 po
1817 god, in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 58f.
498
Predstavlenie ot 20.11.1814, in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 18f.
niedrigere Meisterzahlen vorgab, u m weniger Steuern entrichten zu miissen.
Die Gouvernementsverwaltung (Gubernskoepravlenie),
die als exekutives Organ
dem Militar-Generalgouverneur v o n St. Petersburg unterstand,
legte dem
Departement fur verschiedene Steuern u n d A b g a b e n (departament
raznych
podatej i sborov) a m 13. M a r z 1812 einen BeschluB vor, in d e m sie endgultig
verfugte, alle auslandischen Handwerker, seien sie n u n in russischen oder
deutschen Zunften, zu besteuern. A u c h verarmte Meister, die zu dieser Zeit als
Gesellen bei anderen beschaftigt waren, wurden von den Steuern nicht befreit. Das
Departement machte eine A u s n a h m e fur die Handwerker, die vor 1811 eingereist
waren, die russische Staatsangehorigkeit erworben und sich als Kaufleute,
Kleinburger oder standige Zunftmeister eingeschrieben h a t t e n . Die
Gouvernementsverwaltung bemangelte ihrerseits eine fehlerhafte Registrierung
der Handwerker, die unter anderem dadurch zustande kam, daB die auslandischen
H a n d w e r k e r in die russischen und wiederum die russischen in die deutschen
Zunfte eintraten, wodurch oftmals einzeln daruber entschieden werden muBte, o b
der Handwerker steuerpflichtig war oder nicht.
500
Die Stadtduma ging unermudlich der Eintreibung der Steuern nach und verfugte
im Jahre 1813, solange eine W a c h e in der Handwerksverwaltung aufzustellen, bis
die Verzeichnisse der Handwerker fertig waren. AuBerdem kommandierte die
G o u v e r n e m e n t s v e r w a l t u n g im Jahre 1814 den Fiskal Korneev a b , der im Laufe
von vier M o n a t e n die Verzeichnisse tiberprufte. Er verlangte von den
Kaufmannsgilden und der russischen Handwerksverwaltung Auskunfte daruber,
w i e viele Auslander sie von 1811 bis 1813 aufgenommen hatten. Als Ergebnis
dieser Arbeit wurden die Verzeichnisse fur drei Jahre aufgestellt .
Im N o v e m b e r 1814 beschwerte sich Gunter beim Finanzminister Dmitrij
Aleksandrovi£ G u r ' e v , daB die D u m a bei einer uberhohten Zahl v o n Meistern,
namlich 1811 bei 1.311 Meistern, 1812 bei 1.174, 1813 bei 1.124 und 1814 bei
1.086 Meistern Steuern eingetrieben hatte. Die D u m a verlangte nach ihren
B e r e c h n u n g e n 570.585 Rubel Steuer einschlieBlich 101.085 Rubel fur die
S t u n d u n g . T a t s a c h l i c h g a b es 1814 aber n u r 822 Meister.
Die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g der deutschen Zunfte w a r f der D u m a daraufhin Willkur in
den Besteuerungsfragen vor. Gtinter wies darauf hin, daB die auslandischen
H a n d w e r k e r der Regierung auch einige Dienste wahrend der Kriegszeit geleistet
hatten. Sie hatten die R e g i e r u n g wahrend des Krieges mit N a p o l e o n fmanziell
unterstutzt. 1807 hatten sie 40.000 Rubel fur die „ M i l i z " gespendet. 1812 hatten
die Meister der Zunfte der Sattler, Wagenbauer, Schmiede, Tischler, Schlosser und
Schneider einige Regierungsauftrage fur die Armee ausgefiihrt. Die auslandischen
H a n d w e r k e r waren auch in die Burgerwehr eingetreten. AuBerdem hatte die
501
500
Raport S. Peterburgskogo gubernskogo pravlenija v departament ministra finansov ot
13.03.1812, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 1 If.
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g beschlossen, 70 Rekruten zur Verfugung zu stellen, die auf
ihre Kosten (etwa 35.000 Rubel) eingekleidet und munitioniert w o r d e n w a r e n .
D a s Kassenamt n a h m keine Rucksicht auf diese Argumente und errechnete fur die
Jahre von 1811 bis 1817 die gewaltige S u m m e v o n 772.440 Rubel, hinzu kamen
noch die Zinsen fur die Stundung der ausstehenden Steuerbeitrage in H o h e v o n
279.824 Rubel, die die H a n d w e r k e r der deutschen Zunfte zu entrichten hatten.
Insgesamt ergab sich also die stolze S u m m e von 1.052.264 Rubel. Dieser Betrag
war so verteilt, daB auf die Meister 689.900 Rubel, auf die Gesellen 64.040 und
auf die Lehrlinge 18.500 Rubel entfielen. Der mittlere Wert pro Jahr betrug j e
98.557, 9.148 und 2.643 Rubel. Entsprechend diesem Steuersatz sollten im
Durchschnitt 985 Meister, 2287 Gesellen und 925 Lehrlinge die Steuer
entrichten .
502
503
Die Steuerbeitrage von den auslandischen Meistern, die zeitweilig in die
russischen Zunfte eintraten, waren entsprechend ihrer niedrigen Anzahl viel
geringer, obwohl es auch hier um diejenigen Meister ging, die nicht die russische
Staatsangehorigkeit besaBen. Sie sollten ebenfalls 100 Rubel im Jahr pro Meister
e n t r i c h t e n . In der ersten Spalte der Tabelle 32 im Tabellenanhang sind die von
der Stadtduma errechneten Steuerbeitrage fur die auslandischen Meister in den
russischen Zunften aufgefuhrt. In der dritten Spalte sind eingegangene Beitrage
verzeichnet. Zur Veranschaulichung ist dann aus diesen Steuerbeitragen die
Anzahl der Meister errechnet, die in der zweiten und in der vierten Spalte
aufgefuhrt ist. D a d u r c h ist zu ersehen, wie sich die Zahl der steuerpflichtigen
Meister sowohl in der Soli- als auch in der Ist-Spalte standig verringerte.
Weshalb so groBe Differenzen zwischen dem Soil- und dem Ist-Wert vorhanden
waren, ist dadurch zu erklaren, daB die Stadtduma die aus den Zunften
ausgeschiedenen Meister in ihren Berechnungen auBer Acht lieB bzw. die
Meisterverzeichnisse nicht mehr aktualisierte. In der achten Spalte ist schlieBlich
die an die Stadtduma zu zahlende restliche S u m m e aufgefuhrt, wobei hier die
Beitrage von den verstorbenen Meistern, die von der Stadtduma gestrichen
wurden, bereits abgezogen sind. Die fehlenden Steuerbeitrage in der siebten Spalte
beziehen sich auf Meister, die inzwischen aus den Zunften ausgeschieden waren.
Nichtsdestotrotz
forderte
die S t a d t d u m a d i e s e B e i t r a g e v o n
der
Handwerksverwaltung ein.
504
A u s den B e r e c h n u n g e n der Stadtduma ist zu ersehen, daB die Anzahl der
auslandischen H a n d w e r k e r in den russischen Zunften drastisch absank und von
2 2 0 Meistern im Jahre 1811 im Jahre 1816 nur noch 116, also etwa die Halfte,
tibriggeblieben
waren. Ihre Anzahl war mit groBer Wahrscheinlichkeit noch
502
503
Predstavlenie ot 20.11.1814, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 32.
4
Rospis nalogam i nedoimkam, ohne Datum, in: RGIA.f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier
1. 125.
geringer, weil die Berechnungen der Stadtduma in der Regel uber der Zahl der
tatsachlich vorhandenen Handwerker lag. Meister, die die Steuern entrichteten,
g a b es noch weniger. Waren es im Jahre 1811 noch 134 Meister, blieben im Jahre
1816 nur noch elf Meister ubrig.
E b e n s o verhielt es sich mit den Gesellen; von 153 im Jahre 1811 blieben nur noch
29 im Jahre 1816 ubrig. Die Anzahl der Gesellen, die die Steuer v o n 40 Rubel
entrichteten, verringerte sich v o n 34 im Jahre 1811 auf zwei im Jahre 1 8 1 6 . V o n
28 Lehrlingen im Jahre 1811 blieben nach den Berechnungen der Stadtduma im
Jahre 1816 nur sechs ubrig. Die Steuern wurden j e w e i l s v o n funf Lehrlingen im
Jahre 1811 und v o n keinem im Jahre 1816 b e z a h l t .
Die starke Verringerung der Anzahl der auslandischen H a n d w e r k e r - sowohl in
den russischen als auch in den deutschen Zunften - ist unter anderem auf den ErlaB
v o m 22. Mai 1807 zuruckzufuhren, der ihnen den Eintritt in die Zunfte verwehrte.
1816 waren nach den Berechnungen des Kassenamtes von den auslandischen
Handwerkern in den russischen Zunften insgesamt 116.160 Rubel zu zahlen,
hingegen gingen nur 46.520 Rubel ein. N a c h d e m A b z u g der Zahl der
verstorbenen Meister u n d Gesellen, v o n denen 4.495 Rubel einzuzahlen waren,
blieben noch 65.145 Rubel im Soil. D a s Departement fur verschiedene Steuern
und A b g a b e n des F i n a n z m i n i s t e r i u m s
beschloB am 26. A u g u s t 1816, den
geforderten Beitrag auf 60.124 Rubel zu ktirzen, wobei der Rest bis z u m Jahr
1820 eingetrieben war.
U m neuen Meistern den Z u g a n g zu den deutschen Zunften zu ermoglichen, w u r d e
der ErlaB von 1807 im Jahre 1818 wieder aufgehoben, brachte aber nicht sofort
das erhoffte A n w a c h s e n der deutschen Zunfte mit sich. Bis z u m Jahre 1821
verringerte sich die Anzahl der Meister in den deutschen Zunften sogar auf 589,
v o n d e n e n jetzt 4 5 4 oder 7 7 % zahlungsfahig waren. Spater stieg die Anzahl der
H a n d w e r k e r in den deutschen Zunften leicht an, blieb aber das ganze 19.
Jahrhundert bei 1300 H a n d w e r k e r n oder weniger stehen: 1840 g a b es in den 30
deutschen Zunften 1250 Handwerker und im Jahre 1893 751 Meister und 552
Gesellen oder 1303 Handwerker i n s g e s a m t . Weshalb die deutschen Zunfte nicht
505
506
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508
505
S. Tabelle 33 im Tabellenanhang.
506
S. Tabelle 34 im Tabellenanhang.
507
Das Finanzministerium wurde im Zuge der Reform des Staatsapparates von Michail
Michajlovid Speranskij am 8. September 1802 gegrundet. 1817 iibernahm es vom
Innenministerium das Manufaktur- und Innenhandelsdepartement, das am 29. Oktober 1864
in Handels- und Manufakturdepartement umbenannt wurde. Seit 1828 unterstand dem
Finanzministerium der neu gegrundete Manufakturrat. Vgl. Enciklopediceskij slovar',
Brokgauz und Efron, Bd. 35, Halbband 69, St. Petersburg 1902, S. 365ff. S. dazu: Cibirjaev,
Velikij russkij reformator; Eroskin, Istorija; Raeff, Michael Speransky.
508
Raport barona Korfa ministru vnutrennich del, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287,
op. 37, d. 92: О revizii inostrannoj remeslennoj upravy Korfom v Peterburge, hier 1. 23;
v o n einem groBen Zulauf neuer Mitglieder profitierten, lag indirekt daran, daB der
ErlaB v o m 30. September 1825 den auslandischen H a n d w e r k e r n erlaubte, sich in
alien Stadten des Kaiserreiches a n z u s i e d e l n . AuBerdem traten viele v o n ihnen
zu den russischen Zunfte uber, w a s dazu beitrug, daB m a n c h e dieser Zunfte in der
Mehrzahl aus auslandischen Meistern bestanden.
Zur Veranschaulichung dieses P h a n o m e n s kann das AdreBbuch von Samuel Aller
tur das Jahr 1822 hinzugezogen werden. Bei ihm sind 2.230 Meister in den
russischen und 701 in den deutschen Zunften aufgefuhrt. Dabei wiesen einige
russische Zunfte, besonders die mit speziellen H a n d w e r k e n , auffallig viele
auslandische Meister auf. Es soli angemerkt werden, daB diese A n g a b e n nicht
ganz exakt sein konnen, weil die Zugehorigkeit zu den russischen bzw.
auslandischen Handwerkern nach den N a m e n ermittelt wurde, die in zwei Gruppen
geteilt waren: W a h r e n d der Recherchen wurden alle russischen von anderen
N a m e n meist westeuropaischer Herkunft getrennt und jeweils in einer G r u p p e
aufgelistet. AuBerdem sind bei Aller nicht alle Handwerker aufgefuhrt, sondern
nur ausgewahlte. So gab es in der russischen Musikinstrumentenbauerzunft 14
Meister, v o n denen aber nur zwei russische Meister waren. In der Uhrmacherzunft
gab es 26 Meister im Verhaltnis 23 zu drei. Die weiteren ausgewahlten Zunfte
zeigten folgende Verhaltnisse zwischen auslandischen und russischen Meistern:
Gold- und Silberschmiede 76:53, Backerzunft 33:9, Schneiderzunft 61:230,
Schuhmacherzunft 66:182, Tapetenmacherzunft 15:76, Schmiedezunft 9:3,
Konditorenzunft 10:1, Buchbinder- und Etuimacherzunft 32:5, Kupfer-, Bronzeund ZinngieBerzunft 3 2 : 6 1 , Schlosserzunft 1 1 : 1 .
509
510
Die zu hohe Steuer veranlaBte das Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte und
32 Zunftalteste, am 2 5 . Juli 1816 eine Bittschrift an den Finanzminister D.A.
G u r ' e v zu verfassen. Laut der Bittschrift sollten 800 vorhandene Meister fur die
1.457 im Verzeichnis angefuhrten aufkommen und eine Steuer in H o h e von
300.000 R u b e l n zahlen. Gunter berechnete, daB, wenn diese S u m m e bezahlt
w u r d e , ein Drittel der Meister 300 Rubel und die anderen v o n 600 bis 8.000
Rubeln zahlen muBten, w a s unter den herrschenden Umstanden unmoglich ware
und fur sie den finanziellen Ruin bedeuten w u r d e . Die weiteren Gesuche an die
Obrigkeit bewirkten die Ausarbeitung eines Erlasses, der am 12. August 1818
bekannt gegeben w u r d e . Der ErlaB befreite die auslandischen Gesellen und
511
Pazitnov, Problema, S. 188.
509
PSZ RI 2, Nr. 30513 (30. September 1825): О dozvolenii inostrancam zanimat'sja
remeslami vo vsech gorodach Rossijskoj imperii, S. 501.
510
Samuel Aller, Ukazatel' ziliSc i zdanij S.-Peterburga ili adresnaja kniga. St. Petersburg
1822.
511
Prosenie remeslennogo glavy inostrannych cechov i starsm ministru finansov D.A.
Gur'evu, vom 25. Juli 1816, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 83f.
Lehrlinge v o n der Steuer, die ihnen laut Manifest v o n 1810 auferlegt worden war.
In Zukunft sollten nur vorhandene Meister besteuert werden, wobei diese auf drei
Klassen verteilt wurden. Die H a n d w e r k e r erster Klasse sollten 150, die zweiter
Klasse 100 und die dritter Klasse 50 Rubel im Jahr z a h l e n . Dementsprechend
blieb der mittlere Steuersatz v o n 100 Rubeln immer noch sehr hoch. Die H o h e der
zu entrichtenden Steuer hing auch v o m V e r m o g e n eines Meisters ab und wurde
durch die Zunftaltesten und d a s Handwerksoberhaupt festgelegt. Wie aus der
nachsten Tabelle zu ersehen ist, waren 1818 und 1819 6 7 , 3 % , 1820 9 2 , 6 % und
1821 7 7 , 1 % der Meister in den deutschen Zunften fahig, die Steuer zu
entrichten .
Folglich schuldeten die auslandischen Meister der D u m a und dem Staat laut
Berechnung des Kassenamtes insgesamt 74.850 Rubel. Ein Teil davon w u r d e v o m
Kassenamt aufgehoben. So wurden im Jahre 1820 4.200 Rubel Steuerschulden
gestrichen. Eine differenzierte Verteilung der Steuer, j e nach Wohlstand des
Handwerkers, erlaubte es, die Steuerpolitik besser zu gestalten. Trotzdem waren
v o n den 590 Meistern nur 4 3 6 imstande, eine Steuer zu entrichten. Folglich
w u r d e n 154 Meister oder 2 6 % der Gesamtzahl v o n der Besteuerung befreit. D e r
ersten Klasse gehorten 145, der zweiten 146 u n d der dritten 145 Meister an. Sie
zahlten insgesamt 43.600 Rubel. AuBerdem gaben die 3 6 Meister der ersten Klasse
insgesamt 1.800 Rubel oder 50 Rubel pro Meister fur die verarmten H a n d w e r k e r
aus. Letztlich w u r d e n alle Steuerschulden in H o h e v o n 74.850 Rubeln gestrichen,
da sich herausstellte, daB die D u m a , wie so oft, einen uberhohten Steuerbeitrag
errechnet h a t t e .
512
513
514
U m die Steuerschulden besser eintreiben zu konnen, wurden 1820 in den
Hauptstadten besondere Komitees eingefuhrt, die dafiir effizientere M e t h o d e n
ausarbeiten s o l l t e n . D o c h wurde mit dem ErlaB v o m 14. N o v e m b e r 1824 ein Teil
der Steuerschulden der Kleinburger und Handwerker erlassen, u m diese Gruppen
der stadtischen Bevolkerung finanziell zu e n t l a s t e n .
N a c h der Kankrinschen Gildenreform von 1824 gab es Versuche, die Besteuerung
von einer Vielzahl auslandischer Meister, die in keiner Zunft standen und keine
Steuern entrichteten, effizienter zu gestalten. Z u diesem Z w e c k erarbeitete
Finanzminister E g o r FranceviC Kankrin (Georg L u d w i g Cancrin) Plane, mit d e m
515
516
512
PSZ RI 1, Bd. 35, Nr. 27467 (12.08.1818): О podati s inostrannych remeslennikov v
stolicach, S. 432f.; Raport barona Korfa, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hier 1. 18.
513
S. Tabelle 35 im Tabellenanhang.
5 , 4
S. Peterburgskaja Kazennaja palata v Ekspediciju о gosudarstvennych dochodach, vom 28.
Februar und 21. MSrz 1821, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, hier 1. 114, 116.
515
5 , 6
Ditjatin, Gorodskoe samoupravlenie Bd. 2, S. 140.
PSZ RI-1, Bd. 39, Nr. 30114: Ob oblegdenii me&an i remeslennikov v plateie nedoimok,
S. 587f.
Ziel, eine Weberzunft zu griinden. Diese Vorgehensweise des Finanzministeriums
ist verstandlich, da es nicht an der Entwicklung des H a n d w e r k s , sondern an der
Steigerung der Steuereinnahmen interessiert war. Kankrin bestatigte sein
Vorhaben in einem Schreiben an den St. Petersburger Generalgouverneur:
„1825 und 1826 habe ich mich an Sie in B e z u g auf die Auslander
gewendet, die in ihren W o h n u n g e n kleine Werkstatte haben, und bat
Sie, die S t a d t d u m a damit zu beauftragen, die Griindung einer
Weberzunft zu veranlassen. Als AnlaB dazu diente die Tatsache, daB die
W e b e r zu keiner gewerbetatigen Bevolkerungsgruppe hinzugezahlt
wurden und dementsprechend keine Steuer entrichteten" .
517
In d i e s e m Fall war es fur die wenigen W e b e r nicht sinnvoll, eine Zunft zu
griinden, da die Kosten fur ihre Unterhaltung den erhofften N u t z e n zunichte
gemacht hatten. AuBerdem waren die Weber in den meisten Fallen nicht
wohlhabend. Ihre A r g u m e n t e gegen die Griindung der Weberzunft iiberzeugten
den Finanzminister davon, daB die Vereinigung der W e b e r der Stadt in einer Zunft
noch verfriiht w a r e . U n d tatsachlich lieB sich die Regierung Zeit. Zehn Jahre
spater, 1837, w u r d e diese Frage erneut behandelt. Es wurden Verzeichnisse
sowohl ziinftiger als auch nichtziinftiger Weber erstellt und 1840 die Weberzunft
gebildet. A u c h jetzt waren die Weber der Stadt nicht besonders daran interessiert,
eine eigene Zunft zu griinden. Als sie v o m Handwerksoberhaupt der deutschen
Zunfte iiber die Meisterversammlung benachrichtigt wurden, folgten dieser
Aufforderung nur 19 Weber. A u f die Frage des Handwerksoberhaupts: „ W o sind
denn die anderen Fabrikanten?", antwortete Friedrich Rudert, der schon friiher
zum Zunftaltesten gewahlt worden war, daB die iibrigen W e b e r ihre Werkstatten
auBerhalb der Stadt hatten und nicht in die Zunft gehorten. Dies waren meist
groBere Betriebe, die Manufakturen ahnelten. Aber auch in der Stadt gab es viel
mehr Weber, als g e k o m m e n waren. Sie waren nicht besonders an der Griindung
einer eigenen Zunft interessiert, da auch unter den 19 A n w e s e n d e n nur drei
imstande waren, die Steuer zu entrichten. Rudert betonte, daB in der V e r s a m m l u n g
„sogar die Strumpfwirker anwesend waren: Alle armsten S t a n d e s " .
Der Nachfolger v o n Simon Gunter als Standesaltester war der Meister August
518
519
517
Otnosenie ministra finansov Kankrina к voennomu general-gubernatoru ob osvobozdenii
inostrannych tkackich masterov, ot sostavlenija mezdu soboju cecha ot 15 marta 1827, in:
RGIA, f. 18, op. 2, d. 471: Po proseniju zde§nich tkackich masterov i vydace im vidov na
polucenie svidetePstv dlja svobodnogo proizvodstva rabot na ich nebol'Sich zavedenijach i
ob ucrezdenii inostrannogo cecha (1825-1841), hier 1. 42.
5 . 8
Prosenija tkackich masterov ot 3 ijunja 1825 i 22 ijunja 1826; otnosenie Kankrina (...) ot
15 marta 1827, Ebd., 11. 4, 19, 42.
5 . 9
Zapiska tkackogo mastera Ruderta, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471: Po proseniju, 1. 106.
Dittmar. Er wies die Stadtduma und die Staatskasse standig auf die
Zahlungsunfahigkeit der auslandischen H a n d w e r k e r hin und bat das
Finanzministerium, die Steuerschulden zu streichen oder zu senken. D a s fuhrte
dazu, daB der Steuersatz in den 1820er Jahren tatsachlich gesenkt w u r d e , weil
auch das Finanzministerium die schlechte wirtschaftliche Situation der
auslandischen H a n d w e r k e r erkannt hatte. Die erste Steuerklasse wurde mit 43
Rubel, die zweite mit 29 und die dritte mit 14,50 Rubel veranschlagt, denen die
Meister j e nach ihrem Vermogensverhaltnissen zugeordnet waren. Jeder vierte der
gut beguterten Meister leistete eine A b g a b e z u g u n s t e n der armen Handwerker.
AuBerdem zahlten sie eine Gildenabgabe, eine zehnprozentige Akzisesteuer, die
A b g a b e n fur die U n t e r h a l t u n g der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g u n d
der
Zunftverwaltungen, 1,5 bis 10 Rubel in die Sterbekasse, die A b g a b e n fur die
Eintragung in das AdreBbuch und in die russische Handwerksverwaltung fur die
russischen Gesellen u n d Lehrlinge. AuBerdem zahlten die Meister beim Eintritt in
die Zunft start 10 Rubel zwischen 100 und 4 0 0 Rubel ein, w a s enorm hoch war.
M i t diesem Besteuerungssatz arrangierten sich die auslandischen Handwerker
nicht.
Eine Bittschrift der Zunftaltesten der deutschen Zunfte bewirkte, daB mit dem
ErlaB v o m 15. M a r z 1843 fur die auslandischen Meister eine Progressivsteuer
eingefuhrt w u r d e . V o n nun an w u r d e fur sie das Dreiklassenbesteuerungssystem
abgeschafft. Die H o h e des Steuerbeitrages konnte sich in den Grenzen des
festgesetzten Steuersatzes zwischen 14,5 und 43 Silberrubel bewegen. Dermittlere
Steuersatz sollte d e m n a c h 29 Silberrubel betragen.
Die oben genannten Steuerbeitrage waren fur den Staat bestimmt. Insgesamt zahlte
j e d e r auslandische Handwerker viel hohere Summen, die in sich verschiedene
Beitrage einschlossen, so daB im Jahre 1843 die H o h e der Gesamtabgaben 256,48
Rubel betrug. E i n e n so hohen Steuersatz konnte 1/8 der H a n d w e r k e r nicht
z a h l e n . In Anbetracht der Unfahigkeit eines Teils der Meister, die Steuer zu
zahlen, versuchte die Handwerksverwaltung die fehlenden Beitrage mit anderen
Mitteln aufzutreiben. Sie legte z. B . d e m kursachsischen Schneidermeister Ranft
32 Silberrubel auf, der seinem H a n d w e r k w e g e n seines schlechten
Gesundheitszustandes nicht m e h r nachging u n d v o n den Einkunften lebte, die er
durch die Vermietung seines Hauses erwirtschaftete. Die Mieteinnahmen betrugen
jahrlich 350,14 Silberrubel. N a c h M e i n u n g des Generalgouverneurs von St.
Peterburg, der sich in einem Bericht an den Innenminister bezuglich der
Vorgehensweise der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g auBerte, war die Ranft auferlegte
Steuer unberechtigt, w o r a u f hin er von der Besteuerung uberhaupt befreit
520
521
520
PSZ RI 2, Bd. 18, Nr. 16624 (15. Marz 1843): О izmenenii porjadka vnutrennej raskladki
podatej s inostrannych masterov, S. 137f.
522
w u r d e . Durch diesen standigen KlarungsprozeB wurde ein realer Steuersatz
herausgearbeitet, der den jeweiligen finanziellen Moglichkeiten der Meister
entsprach .
In Zukunft aber sollte die Kooperation zwischen der D u m a und der
Handwerksverwaltung verbessert und die Differenzen in den Verzeichnissen der
zu besteuernden Meister beseitigt werden, die zu den uberhohten Steuersatzen
gefiihrt hatten. Dies loste einen standigen Konflikt zwischen der Stadt- u n d
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g besonders in den 1810er Jahren aus. Die Verteilung der
Steuer seit d e m ErlaB v o m 12. August 1818 auf drei Klassen von jeweils 50, 100
und 150 Rubeln half wenig, die Zahlungsunfahigkeit der Meister zu
iiberwinden .
Die K o m m i s s i o n zur Uberprtifung der Buchfuhrung der deutschen Zunfte fing im
Jahre 1842 unter der Leitung des schon erwahnten Staatsrats Baron J.F. Korf mit
ihrer Arbeit an.
Der Kommissionsbericht stellte im Oktober 1843 fest, daB „infolge
unregelmaBiger und unordentlicher G e l d s a m m l u n g der Staatskasse in den letzten
24 Jahren 60.000 Rubel S t e u e r g e l d e r " verloren gegangen waren, w a s im Jahr
durchschnittlich 2.400 P a p i e m i b e l ausmachte. Korf gab zu, daB er aus den
Btichern, die v o m H a n d w e r k s o b e r h a u p t gefiihrt wurden, zu keinem endgultigen
SchluB uber die wirkliche Lage der Finanzen der deutschen Zunfte k o m m e n
konnte, insofern muBte er den Fehlbetrag schatzen. Er stellte aber fest, daB Dittmar
die Steuer und die offentlichen Gelder selbst sammelte und sie auch verwaltete.
Da im Zunftstatut von 1785 nichts bestimmtes uber die H o h e der von den
Handwerkern zu sammelnden Gelder fur die Unterhaltung der Verwaltung und fur
wohltatige Z w e c k e gesagt wurde, bestimmten die Zunftmeister 1820, von j e d e m
Zunfthandwerker jahrlich zehn Rubel zugunsten des Handwerksoberhauptes zu
s a m m e l n . Dieses Geld verwendete Dittmar fur die Unterhaltung des
523
524
525
526
522
Otnosenie St. Peterburgskogo general-gubernatora ministru vnutrennich del, vom 30.
November 1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 171: Po otnoSeniju S. Peterburgskogo
voennogo general-gubernatora ob osvoboidenii saksonskogo poddannogo mastera portnogo
cecha Ranfta ot plateza podatej, hier 1. 1.
523
Raport barona Korfa ministru vnutrennich del, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287,
op. 37, d. 92: О revizii inostrannoj remeslennoj upravy Korfom v Peterburge, hier 1. 24.
524
Mnenie Gosudarstvennogo soveta ot 12.8.1818, in: О podati, hier 1. 102f.
525
Raport barona Korfa, hier 1. 18.
526
PSZ RI 1, Nr. 16187, Bd. 22, S. 78ff., Artikel 123, Punkt 407,408. Unter diesen Punkten
sind nur die Eintrittsgelder von den Meistern und Lehrlingen erwuhnt. AuBerdem wurden
unter Punkt 43 ftinf Rubel fur die Stadtkasse ftir die Kirche bestimmt. Nur mit dem ErlaB
vom 16. April 1852 (PSZ RI 2, Nr. 26171) wurde der allgemeinen Handwerksversammlung
erlaubt, zum Beginn jedes Jahres die H6he der Beitrage in die allgemeine Handwerkskasse zu
bestimmen, die zusetzlich zu den Eintrittsgeldem bezahlt werden sollten.
Verwaltungsgebaudes, fur die Kanzleikosten und einen Teil davon fur sich selbst.
D a s letzte war als Aufwandsentschadigung fur seine B e m u h u n g e n gedacht. A b e r
iiber die H o h e der jeweiligen Ausgaben entschied das Handwerksoberhaupt
alleine. Es fehlte j e d e Kontrolle, w a s spater V e r m u t u n g e n iiber mogliche
Veruntreuungen bei K o r f aufkeimen l i e B .
Sie sahen sich in ihrem Verdacht bestatigt, als sie im v o n Dittmar
zusammengestellten Verzeichnis fur 1840 eine Differenz in der H o h e von 2.291,5
Rubeln zwischen d e m von den Zunftaltesten berechneten und d e m eingegangenen
Geld entdeckten. N a c h den Berechnungen von Korf sollten 92.200 Rubel Steuer
von den auslandischen Handwerkern eingetrieben werden. V o n den Zunftaltesten
wurden dann 35.537 Rubel zur S a m m l u n g vorgeschlagen und von Dittmar
letztlich 32.916 Rubel v o r g e w i e s e n .
U m zu erklaren, w a r u m so viele Verzeichnisse aufgestellt wurden, ist es notig zu
erwahnen, daB sie zuerst v o n den Zunftaltesten zusammengestellt u n d dann an das
Handwerksoberhaupt weitergegeben wurden. Dieser korrigierte sie und legte sie
zur Bestatigung der Stadtduma vor. Die Steuerbetrage, die Dittmar einerseits selbst
berechnete u n d andererseits als eingegangen verzeichnete, stimmen nahezu
iiberein: Die Differenz betrug nur 142 R u b e l . Sie ist aber deutlich groBer, w e n n
die von den Zunftaltesten zusammengerechnete S u m m e mit der S u m m e verglichen
wird, die das Handwerksoberhaupt als eingegangen v e r z e i c h n e t e . Bei der
verzeichneten S u m m e fehlte ein Betrag von 2291,5 Rubeln. Die groBe Differenz
von 66.244 Rubel zwischen den von Korf errechneten 99.300 Rubel der
G e s a m t s u m m e und der v o m Handwerksoberhaupt aufgewiesenen S u m m e von in
die Kasse eingegangenen 33.056 Rubeln laBt sich teilweise dadurch erklaren, daB
Dittmar e t w a 2/3 der Meister als „ a r m " einstufte und sie v o n der Besteuerung
befreite. K o r f hingegen ging davon aus, daB alle H a n d w e r k e r in den deutschen
Zunften auch zahlen konnten.
527
528
529
530
Die Differenz konnte auch von einer unregelmaBigen Buchfuhrung herriihren, da
einige A u s g a b e n vermutlich nicht eingetragen wurden. Allerding ist die fehlende
S u m m e zu groB, u m sie nur mit UnregelmaBigkeiten
zu erklaren.
Eine
unordentliche Buchfuhrung konnte m a n nicht nur dem Handwerksoberhaupt,
sondern auch den Zunftaltesten vorwerfen. Letztere machten nur gelegentlich
531
Eintrage in die ziinftigen Einnahme- und A u s g a b e b i i c h e r . AuBerdem k o n n e n die
527
Raport barona Korfa, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii,
hierl. 17.
528
Vgl. Tabelle 31 im Tabellenanhang.
529
Ebd., Spalten 4, 5 und 6.
530
Ebd., Spalten 3 und 6.
531
Raport barona Korfa, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii, hier 1. 19
fehlenden Steuerbeitrage dadurch erklart werden, daB die Zunftaltesten die Meister
ihrem V e r m o g e n entsprechend mit 10 bis 250 Rubel besteuerten, start sie in drei
proportionale G r u p p e n aufzuteilen, die laut d e m Gesetz v o n 1818 j e 50, 100 und
150 Rubel zu entrichten hatten. D a d u r c h w u r d e der mittlere Steuerbetrag stark
herabgesetzt, so daB im Endeffekt viel niedrigere Summen, als v o n K o r f und v o n
532
der D u m a berechnet, z u s a m m e n k a m e n . Letztlich haben die deutschen Zunfte
diese
Steuerpolitik
durchgesetzt,
so daB
1842
die d e m
Wohlstand
der
auslandischen Handwerkern entsprechende Besteuerungsweise bei allgemeiner
Senkung des Steuersatzes auf zwolf Rubel eingefuhrt
w u r d e . Trotz
der
B e s c h w e r d e n des Handwerksoberhaupts uber die schwierige finanzielle Lage der
Zunfte waren 1842 bei einer Revision der Zunftkassen insgesamt
100.000
533
Papierrubel in bar v o r h a n d e n .
Bei dem geringen Z u s t r o m der auslandischen Meister in die Stadt und einem
dementsprechend kleinen Z u w a c h s der deutschen Zunften war es problematisch,
die
Verwaltung
der
deutschen
Zunfte
aufrecht
zu
erhalten.
Nach
den
B e r e c h n u n g e n des Handwerksoberhaupts waren 1849 von 1300 Meistern 1100 in
der Lage, Steuer zu zahlen. Jeder Meister sollte in die Handwerkskasse funf
Silberrubel einzahlen. A u f diese Weise wurden 5500 Silberrubel eingetrieben. Die
A u s g a b e n fur 1849 betrugen aber 6500 Silberrubel, so daB noch 1000 Silberrubel
fehlten. Die Handwerksverwaltung richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gesellen
und Lehrlinge, die keine A b g a b e n zahlten und legte ihnen eine Steuer auf,
534
w o d u r c h die E i n n a h m e n gesteigert werden k o n n t e n .
N a c h der Verordnung des Vorsitzenden der K E N O V , Kollegienrat Grot, erfolgte
1850 eine erneute Uberprufung der Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte.
Diesmal zog die Bilanz Kollegienassessor О к е Г . Er stellte fest:
1.
Die Altesten sammelten die Beitrage fur die Zunftkasse nicht von alien
Meistern in gleicher H o h e von 2,40 Silberrubeln. Die Schneidermeister
zahlten 1850 z. B . 5,20 Silberrubel, die Blechner und U h r m a c h e r dagegen
nur 1,50 Silberrubel.
2.
O b ein Meister so arm war, daB er v o n der Steuer befreit werden konnte,
entschied nicht die Meisterversammlung, sondern allein der Zunftalteste.
3.
Nicht von alien Lehrlingen und Gesellen wurden
Aufhahmegebuhren
bezahlt.
532
Ebd., 1. 18.
533
Raport barona Korfa, vom 10. Oktober 1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92: О revizii,
hier 1. 24.
534
Ob ustrojstve remeslennoj upravy inostrannych cechov v S. Peterburge (12.04.184911.12.1851), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667,1. 64ff. S. Tabelle 36 im Tabellenanhang.
4.
Die
Ausgaben,
die
die
Zunftaltesten
machten,
wurden
von
den
Zunftversammlungen nicht schriftlich bestatigt.
5.
Fur die Meisterdiplome wurden v o n den Gesellen der Backerzunft start
535
eines Rubels 74 Silberrubel gefordert .
N a c h offiziellen A n g a b e n wurde der Steuerbeitrag eines auslandischen Meisters
etwas r e d u z i e r t . O h n e Beriicksichtigung der einmaligen A b g a b e n fur das
Meisterdiplom und fur den Zunfteintritt betrug die Steuer im Jahre 1849 7 , 1 , im
Jahre 1850 8,7 u n d im Jahre 1851 3,5 Rubel. Auffallend ist, daB die Steuer fur die
allgemeine Handwerksverwaltung v o n 0,6 auf 5 Rubel erhoht und fur die
Zunftkasse v o n 5 auf 2,4 Rubel reduziert wurde. Die V e r m i n d e r u n g der
E i n n a h m e n in den Zunftkassen und die E r h o h u n g derselben in der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g konnen moglicherweise auf die Zentralisierungstendenzen
bzw. B u n d e l u n g der Macht in der Handwerksverwaltung zuruckgefuhrt werden.
536
6.2
Die B e s t e u e r u n g russischer H a n d w e r k e r
Die Steuerbeitrage der russischen H a n d w e r k e r waren anderer N a t u r als die der
auslandischen u n d beinhalteten andere Posten bzw. wurden starker differenziert.
So bestand die S u m m e der bezahlten Steuerbeitrage eines russischen Handwerkers
aus einer Kopfsteuer, einer Post- und Landabgabe, einer A b g a b e an die
Handwerkskasse u n d einer Steuer fur die Gesellen und Lehrlinge.
Betrug die Kopfsteuer im Jahre 1798 noch 2,50 Papierrubel und 1818 2,55
Papierrubel, w u r d e sie 1825/26 fur die standigen Meister auf acht und fur die
zeitweiligen Meister gar auf 20 Papierrubel e r h o h t . Die zeitweiligen
H a n d w e r k e r a u s g e n o m m e n , wich die H o h e der Kopfsteuer der standigen
H a n d w e r k e r nicht besonders v o n derjenigen der ubrigen Stadter a b .
Seit 1824 w u r d e n die russischen Handwerker zusatzlich mit einer Akzisesteuer
(akciznyj nalog) belastet. A m 7. Januar 1826 schickten die zeitweiligen Meister
der Zunfte der Wagenbauer, Schmiede und Karrenbauer eine Bittschrift an das
Departement des Finanzministeriums fur Steuern und A b g a b e n
{Departament
537
5 3 8
535
Zurnal KENOV o.D., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 667: Ob ustrojstve remeslennoj upravy
inostrannych cechov v S. Peterburge (12. April 1849 - 11. Dezember 1851), hier 1. 87.
536
537
S. Tabelle 37 im Tabellenanhang.
Doklad kazennoj palaty, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati, 1. 3. S. Tabelle 38 im
Tabellenanhang.
539
raznychpodatej
i sborov), in der sie baten, sie v o n der Akzise zu befreien . D o c h
ihr Gesuch w u r d e zurtickgewiesen. Die Stadtduma kontrollierte durch die
Kaufmannsdeputation, daB die zeitweiligen Handwerker entsprechend dem Gesetz
uber die Gilden v o n 1824 j e nach Zahl der Beschaftigten besondere
Handelslizenzen in der Kaufmannsverwaltung abholten u n d dementsprechend
Steuer zahlten. Die nichtzunftigen Handwerker sollten laut Gesetz v o m 30. Juni
1826 im AdreBkontor eine zusatzliche Bescheinigung fur zehn Papierrubel fur sich
und fur drei Papierrubel fur Lehrlinge k a u f e n , w a s fur sie eine unerwunschte
zusatzliche Belastung bedeutete.
Die Besitzer der Kaffeehauser fiihlten sich durch eine erhohte Steuer ebenfalls
benachteiligt. Die Handelsstuben fur Konditorwaren hatten namlich den Vorteil,
daB sie mit einer niedrigeren Akzisesteuer zwischen 20 und 100 Papierrubeln im
G e g e n s a t z zu den Kaffeehausern mit 4 5 0 bis 9 0 0 Papierrubel belegt wurden.
AuBerdem beklagten die Kaffeehausinhaber die starke E r h o h u n g dieser
Besteuerungsart. Sie war zwischen den Jahren 1835 und 1838 u m 1 5 0 % erhoht
worden .
Die Meister, b e s o n d e r s unter den zeitweiligen Handwerkern, w u r d e n durch die
sich von Jahr zu Jahr andernden „Freibeitrage" fur die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g
verunsichert, obwohl es laut Handwerksstatut in den H a n d e n der Handelsversamm l u n g lag, u b e r die H o h e dieser Beitrage nach Bedarf zu entscheiden.
Diesbezuglich
beklagten
sich die zeitweiligen Handwerker
beim
Finanzministerium,
weshalb
im J a h r e
1827 das Mitglied
der
Gouvernementsverwaltung Tichij in die russische Handwerksverwaltung zur
LFberprufung geschickt wurde. E r sollte untersuchen, o b der Standesalteste, die
Zunftaltesten und ihre Stellvertreter in den Jahren 1814 bis 1827 gesetzwidrige
G e l d s a m m l u n g e n u n d Geldausgaben durchgefuhrt h a t t e n . In seiner
Untersuchung stellte er eine freizugige und willktirliche Steuerpolitik des
H a n d w e r k s o b e r h a u p t s Trubicyn fest, die er als „AmtsmiBbrauch" bezeichnete.
Dies ruhrte daher, daB in der Gesetzgebung weder die H o h e der Beitrage fur die
Zunftkassen, die Handwerkskasse und die freiwilligen Beitrage fur die soziale
Unterstutzung der „Schwacheren" des Standes noch die Gehalter der
V e r w a l t u n g s m i t g l i e d e r u n d A n g e s t e l l t e n festgelegt w a r e n . D a
das
540
541
542
539
Po pros'be masterovych v S. Peterburge о predpolagaemoj s nich podati pod nazvaniem
akciza, in: RGIA, f. 560, op. 6, d. 441 О prosenii nachodja§£ichsja v Peterburge masterovych
о predpolagaemoj, jakoby, s nich podati pod naimenovaniem akciza v 1826 g., hier 1. If.
540
Postanovlenie Departamenta raznych podatej i sborov ministerstva finansov ot 7 janvarja
1826g., in: Ebd., 1. 2f.
541
542
S. Tabelle 40 im Tabellenanhang.
Doklad ministra inostrannych del senatu, vom 28. Februar 1835, in: RGIA, f. 1286, op. 5,
d. 200: Po ukazu pravitePstvujuScego Senata о ustrojstve zdesnich remeslennach uprav
(1834-1835), hier 1.5.
Handwerksoberhaupt 201 dem nur mangelhaft von der Obrigkeit kontrolliert w u r d e ,
k a m es i m m e r w i e d e r zu „ U n g e n a u i g k e i t e n " in d e r K a s s e
der
Handwerksverwaltung .
A m 16. August 1829 berichteten die mit der Inspektion der Zunftverwaltungen
beauftragten Magistratsmitglieder Zajcev und Sobolev d e m Magistrat, daB sie
nicht im Stande waren, die Bestandsaufhahme rechtzeitig durchzufuhren, da es zur
Zeit in St. Petersburg 4 6 offene russische Zunfte und dementsprechend genauso
viele Zunftverwaltungen gabe. Die Zunftaltesten und ihre Stellvertreter waren nur
zweimal pro W o c h e in den Zunftverwaltungen anwesend, wodurch die
Uberpriifimg nur langsam voranging. Die Ergebnisse der U n t e r s u c h u n g waren
folgende:
543
1.
2.
3.
4.
D a s Handwerksoberhaupt tatigte Z a h l u n g e n nur auf Weisung der
Meisterversammlung.
Die Steuern w u r d e n nur v o n den tatsachlich vorhandenen H a n d w e r k e r n
entrichtet. Die alte Praxis, nach der die Kopfsteuer ausgehend v o n der
letzten Volkszahlung bestimmt worden war und bis zur nachsten Z a h l u n g
nicht aktualisiert wurde, w a r fur die Zunfte nicht mehr akzeptabel. Die
durch einen Betriebsunfall Verungluckten, Verarmte, hochbetagte und
minderjahrige Handwerker w u r d e n durch die Verwaltung von der Steuer
befreit.
In m a n c h e n Zunften wurden bei Eintritt „freiwillige" Beitrage in H o h e v o n
23 bis 50 Rubel von den Meistern bezahlt. Dieses Geld w u r d e fur
wohltatige Z w e c k e verwendet. Verarmte Handwerker, die W i t w e n der
Meister und die Waisen konnten dadurch eine finanzielle Unterstutzung in
Anspruch nehmen. Allerdings wurden fur die meisten der eingezahlten
Beitrage keine Belege ausgestellt, w a s Hinterziehungen ermoglichte.
A u s der Handwerkskasse wurde nach Bewilligung der Meisterversammlung
folgende jahrliche Gehalter bezahlt: dem Handwerksoberhaupt 400, seinen
beiden Stellvertretern 100 bzw. 4 5 0 , sieben verordneten jeweils 500 und
einem Verordneten 1.500 Silberrubel. AuBerdem erhielten die Witwen der
Meister jahrlich eine Unterstutzung in Gesamthohe von 964,6 Silberrubeln.
Die Tatsache, daB die Beschlusse der Versammlung nicht dem Stadtmagistrat und
der Stadtduma zur Bestatigung vorgelegt wurden, bezeugt den h o h e n Grad der
Unabhangigkeit der legislativen M a c h t in Gestalt der M e i s t e r v e r s a m m l u n g . Die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g nutzte den Umstand, daB die niederen Ebenen der
stadtischen V e r w a l t u n g wie der Stadtmagistrat und die Gouvernementsverwaltung
nicht gut g e n u g miteinander kooperierten. Im D e z e m b e r 1833 erstattete der
Generalgouverneur v o n St. Petersburg, Graf Essen, Bericht an den Senat uber die
544
Raport ministra vnutrennich del Senatu ot 28 fevralja 183 5g., in: Ebd., hier 1. 11.
Ebd., 1. 7f.
durchgefuhrte 1 % е ф ш г и п £ der Handwerksverwaltung, in d e m er unter anderem
erklarte, daB die Gouvernementsverwaltung schon a m 29. N o v e m b e r 1829 d e m 1.
D e p a r t e m e n t des Stadtmagistrats die A u f g a b e auferlegt hatte, die
Handwerksverwaltung zu uberprufen. Diese Aufgabe der Prufung der
Handwerkskasse und der Zahl der Handwerker sei nicht ausgefuhrt worden. Der
Stadmagistrat
fing
erst nach
der zweiten
Weisung durch
die
Gouvernementsverwaltung v o m 18. August 1830 mit der Ш е ф ш г л и ^ a n .
Die Einfuhrung der neuen offentlichen O r d n u n g in St. Petersburg im Jahre 1846
bedeutete einen groBen Sennit in der Entwicklung der offentlichen Verwaltung der
Hauptstadt, sie fuhrte auch zu Verbesserungen in der Buchfuhrung und zur
Errichtung einer Kanzlei der Handwerksverwaltung. Die Steuerriickstande, die in
den 20er bis 40er Jahren auf der Tagesordnung standen u n d sich z. B . bei der
Schneiderzunft auf 22.000 Rubel angehauft hatten, konnten durch eine geregelte
Buchfuhrung reduziert w e r d e n .
Seit 1846 gait fur die russischen Zunfthandwerker folgende Besteuerung: N e b e n
der Kopfsteuer entrichteten die zeitweiligen Zunfthandwerker A b g a b e n an die
Zunft- und Handwerksverwaltung. Seit 1846 zahlten sie zusatzlich eine Steuer an
die Stadtduma. Im Jahre 1846 wurden von einem zeitweiligen Meister 5,72 Silberoder 17,16 Papierrubel, einem Gesellen 58 K o p e k e n oder 2,03 Papierrubel und
von einem Lehrling 29 K o p e k e n oder 1,01 Papierrubel bezahlt. V o n den 5,72
Silberrubeln gingen 1,43 an die Stadtduma, 1,43 an die Handwerkskasse und 2,86
Silberrubel an die Zunftkasse. AuBerdem sollten die zeitweiligen Handwerker als
Leibeigene einen Grundzins an ihren Grundherren zahlen.
Fur die standigen Handwerker, die zu den Stadtburgern gehorten, gait wiederum
ein anderer Steuersatz. Jeder standige Meister zahlte eine Kopfsteuer bis z u m
Jahre 1827 in H o h e v o n 15,3 Papierrubeln, ab 1828 10,3 Papierrubel, seit 1834
12,7 Papierrubel, in den 40er Jahren 4,32 Silberrubel oder 15,2 Papierrubel und
im Jahre 1850 2,38 Silberrubel oder 8,26 P a p i e r r u b e l . Der Steuerbetrag blieb
folglich von 1827 bis 1850 mit etwa 15 Papierrubel nahezu konstant. AuBer der
Kopfsteuer zahlten die standigen Meister eine Poststeuer v o n 6,25 Rubeln, eine
StraBensteuer v o n 25 K o p e k e n und eine Wassersteuer von 5 Kopeken. Seit d e m
Jahre 1828 entrichteten sie noch eine Zemstvosteuer (zemskij sbor) von 2
R u b e l n . Der in St. Peterburg bekannte Schneidermeister R e z a n o v berichtete, daB
er als Schneidergeselle 1834 24,3 Papierrubel Steuer gezahlt hatte. D a g e g e n zahlte
545
546
547
548
Raport S. Peterburgskogo General-Gubernatora grafa Essena v Senat ot 30 dekabrja
1833g.; Raport ministra vnutrennich del Senatu ot 28 fevralja 1835 g., in: Ebd., 1. 19.
546
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1. S. 40.
547
Ebd.
er 1842 als Schneidermeister insgesamt fur drei Gesellen und drei Lehrlinge 31,56
Papierrubel Steuer, w a s viel weniger als friiher w a r
549
. Ungeachtet der allgemeinen
S e n k u n g der Steuern bedienten sich trotzdem m a n c h e standigen Meister bei der
Zunftkasse und liefien ihre Steuern teilweise mit dem Geld der zeitweiligen
H a n d w e r k e r zahlen, obwohl sie im Durchschnitt ein hoheres E i n k o m m e n hatten.
DaB dies die ubliche Praxis war, laBt sich aus mehreren zeitgenossischen Berichten
zwischen
1840 u n d
550
1850 e r s e h e n .
Dieser MiBbrauch
ist durch
die
Vormachtstellung der standigen Meister in den Zunften zu erklaren, die bei j e d e r
Gelegenheit versuchten, die zeitweiligen H a n d w e r k e r auszunutzen.
Die Besteuerung der zeitweiligen H a n d w e r k e r fuhrte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g
dagegen rigoros durch. A m 29. D e z e m b e r 1847 und am 12. Januar 1848 machten
die Handwerksverwaltung und die kaufmannische Deputation der Stadtduma
bekannt, daB die zeitweiligen Meister die Gewerbe- und Handelslizenzen bis zum
1. Februar einholen sollten. Dabei bezogen sich beide Institutionen auf ihr Recht,
gegen diejenigen Meister Sanktionen anzuwenden, die keine Erlaubnisse fur 1848
vorweisen konnten, w a s bedeutete, daB alle gefundenen Waren und Instrumente
bei der generellen Inspektion der kaufmannischen Deputation am 1. Februar 1848
konfisziert werden konnten. Daruber hinaus wurden die Meister mit einer G e b u h r
551
v o n 65,72 Silberrubeln bestraft .
A m 22. Januar 1848 uberreichte der Alteste der Kleinhandler- bzw. Backerzunft,
Gavrila D e m i d o v , d e m Innenminister L. A. Perovskij bei einer A u d i e n z eine
Bittschrift, in der er bat, den zeitweiligen H a n d w e r k e r n den Termin fur die
Steuerabgabe bis z u m 15. M a r z aufzuschieben. Diese Verzogerung war durch die
Stadtduma provoziert. Im N o v e m b e r und D e z e m b e r 1847 gaben die zeitweiligen
Meister ihre Passe und die notigen Steuern fur den Staat ab und erhielten so die
Handelslizenz. D a n a c h legten sie ihre Passe der verwaltenden Stadtduma vor und
zahlten die Steuer zugunsten der Stadt. D a aber die Meister bis E n d e Januar ihre
Passe immer noch nicht von der D u m a z u r u c k b e k o m m e n hatten, weigerte sich die
Handwerksverwaltung, die Steuer von den Meistern ohne die Passe in Empfang
549
Proekt vecno-cechovogo mastera portnogo cecha Rezanova ot 15.10.1842, in: RGIA, f.
1287, op. 37, d. 93: Po proektam masterov portnogo cecha Rezanova i Kessnera ob obucenii
mal'dikov portnomu masterstvu (Oktober 1842-Januar 1842), hier 1. 11.
550
Predlozenie Michaila Petrovskogo, in: Ob obrevizovanii (...), RGIA, f. 1287, op. 37, d.
100,1. 22f.
551
Vedomosti S. Peterburgskoj gradskoj policii, Nr. 283 (Dezember 1847) und Nr. 8 (Januar
1848), aus: Dokladnaja zapiska starsmy bulocnogo melocnych lavodnikov cecha G.
Demidova s tovariScami Perovskomu ot 22.01.1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 567: Po
zapiske starsmy melocnych lavodnikov po bulocnomu cechu Demidova ob otlozenii sroka
peremeny svidetePstv do 15 marta 1848 g. (21. Januar - 5. April 1848), hier 1. If.
zu nehmen und Gewerbescheine an sie zu vergeben. Ungeachtet der Unschuld der
Meister, erreichten sie keine offizielle Verlangerung mit alien daraus
resultierenden Folgen. O h n e Gewerbeschein war ihnen fortan untersagt, ihr
Handwerk auszuuben .
552
Im Unterscheid zu d e m standigen Schneidermeister Rezanov meinte der Gutsherr
Nikolaj Evreinov, daB seine Bauern, die in St. Petersburg als H a n d w e r k e r tatig
waren, zu h o h e Steuern entrichteten. Seinem Gesuch entsprechend, das er a m 12.
Februar 1848 wahrend einer A u d i e n z beim Innenminister L. A. Perovskij abgab,
wurden viele seiner Bauern in St. Petersburg als zeitweilige H a n d w e r k e r in
verschiedene Zunfte eingeschrieben, wie z. B . die Pelzmantelschneider in die
Ktirschnerzunft, die BronzegieBer in die Bronzezunft und die Korbflechter in die
Tischlerzunft. Als N . Evreinov die Steuerunterlagen seiner Leibeigenen
uberprufte, stellte er fest, daB sie neben 5,72 Silberrubeln noch 2,68 Silberrubel
als „freiwilligen" Beitrag in die Zunftkasse zahlten. Naturlich durfte die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g die zeitweiligen Handwerker nicht dazu zwingen, diesen
Beitrag von 2,68 Silberrubeln zu zahlen. Evreinov meinte aber, daB grundsatzlich
alle A b g a b e n an die Verwaltung gesetzeswidrig seien. Er schrieb:
„Die zeitweiligen H a n d w e r k e r sind verpflichtet, zugunsten der Stadt
5,72 Rubel zu zahlen. Dartiber hinaus fordert die Handwerksverwaltung
willktirlich
unter dem V o r w a n d eines freiwilligen Beitrags in die
Zunftkasse 2,68 Rubel. AuBerdem werden in einigen Zunften noch die
Beitrage fur den Schreiber b e z a h l t " .
553
Die Beitrage, die zusatzlich fur die Handwerkskasse und fur Verwaltungskosten
v o n der H a n d w e r k s v e r s a m m l u n g festgesetzt wurden, sah er als unrechtmaBig an.
Evreinov ging es insbesondere um die „freiwilligen B e i t r a g e " von 2,68
Silberrubeln, die eine betrachtliche Belastung fur seine Bauern bedeuteten.
Diesbezuglich wandte sich Evreinov am 1. Februar 1848 an die
Handwerksverwaltung, um das „unterdruckte Arbeitervolk zu schtitzen" . Er
fuhrte einige Artelsleiter der Korbflechter mit sich, die bestatigten, einen
554
552
Dokladnaja zapiska, in: RGIA, f 1287, op. 37, d. 567: Po zapiske Demidova, hier 1. 2f.
553
Povinnosti, „kotorye oni objazany kazdyj po svoemu cechu vnosit' v pol'zu goroda po
rasporjazeniju Gradskoj dumy. Okazalos', dto uzakonennaja povinnost* est' 5,72 rublja
serebrom, no takovoju povinnost'ju Remeslennaja uprava ne dovol'stvovalas', a sverch togo
polozila samoproizvorno pod vidom dobrovol'noj skladki 2,68 rublja serebrom, krome togo
berut e§ce na pisarja po nekotorym cecham", aus: Zapiska Nikolaja Evreinova ministru
vnutrennich del ot 12.02.1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 574: О sborach s remeslennikov
v S. Peterburge po zalobe otstavnogo rotmistra Evreinova (14. Februar 1848 - 23. Marz
1849), hier 1. 1.
554
„V za§£itu ugnetennogo rabocego naroda", in: Ebd., 1. If.
555
„freiwilligen" Beitrag entrichtet zu h a b e n . D a s anwesende Verwaltungsmitglied
Komarov befurwortete
die Anspriiche v o n E v r e i n o v . D a s
andere
Verwaltungsmitglied K u z ' m i n entgegnete darauf, daB die G e l d s a m m l u n g e n
legitim seien. Er suchte aber vergeblich nach Gesetzen, die seine B e h a u p t u n g
hatten sttitzen konnen. Das Handwerksoberhaupt K o m a r o v lud die Zunftaltesten
der Tischler- und Kurschnerzunfte ein und verbot ihnen v o n nun an, die
umstrittenen Beitrage zu sammeln. Er verfugte, in diesen Zunften Sonderbucher
einzufuhren, in die alle freiwilligen Geldgeber die S u m m e n eintragen sollten, die
sie gegeben hatten.
D i e oben genannten Zunftaltesten wollten j e d o c h dieser Verfugung der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g nicht Folge leisten. N a c h kurzer Zeit beschwerten sich die
H a n d w e r k e r wieder. Die Zunftaltesten hatten sie gezwungen, 2,68 Silberrubel als
„freiwillige" A b g a b e zu zahlen. Der Zunftalteste der Schreiner stellte fur den
Betrag Quittungen aus, wahrend der Zunftalteste der Kurschner zusatzlich (lisnee)
etwas Geld fur den Schreiber und das Papier forderte. Dieser AmtsmiBbrauch
ereignete sich nach den Worten von Evreinov noch in 50 anderen Zunften.
AuBerdem zahlten die zeitweiligen H a n d w e r k e r z. B . im Jahre 1848 bei
Zunfteintritt bis zu 20 Silber- bzw. 70 Papierrubel Eintrittsgelder in die
Zunftkassen .
556
Die Beschwerde v o n Evreinov loste im Jahre 1848 eine Untersuchung der
russischen Zunfte aus. Der Innenminister befahl dem Generalgouverneur v o n St.
Petersburg, eine Uberpriifung der Verwaltung zu veranlassen. D a s Mitglied der
K E N O V , Kollegienrat Grot, wurde mit der Kontrolle beauftragt. Er stellte fest, daB
die Zunfte neben den 5,72 Silberrubel, wie Evreinov berichtet hatte, noch 2,86
Silberrubel freiwillige Gelder v o n den zeitweiligen H a n d w e r k e r n gesammelt
hatten. Daruber hinaus fuhrten die zeitweiligen Handwerker die Beitrage fur die
Gesellen und Lehrlinge von j e 0,59 und 0,29 Silberrubeln an die Zunftkasse ab.
Ein Jahr zuvor, 1847, war noch eine zusatzliche A b g a b e fur das neu errichtete
A r m e n h a u s fur die H a n d w e r k e r erfolgt. Die Zunftaltesten verlangten v o n den
H a n d w e r k e r n Geld fur Kanzleiausgaben, wie Lampchenol etc., so daB ein
zeitweiliger Meister mit seinen Gesellen und Lehrlingen m a n c h m a l bis zu 15
Silber- bzw. ca. 52 Papierrubel zahlen m u B t e . In den meisten Fallen konnten
sich aber die Zunfte auf die H a n d w e r k s - und Zunftstatuten v o n 1785 und 1799
berufen, in denen stand, daB die Meisterversammlungen der Zunfte die H o h e der
A b g a b e n jahrlich bestimmten, die fur die Gehalter der Zunftaltesten und ihre
557
555
Die Tatsache, daB die Handwerksverwaltung auch einige bauerlichen Handwerker, die in
den Artels organisiert wurden, mit den Steuerbeitragen verpflichtete, legt Zeugnis darilber,
inwieweit die Ziinfte ihre Anspriiche geltend machen konnten bzw. daB ihre Macht sehr weit
reichte.
556
Zapiska Evreinova, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 574: О sborach, hier 1. 2f.
Stellvertreter sowie fur die Kanzleiabgaben und die sozialen Z w e c k e verwendet
w u r d e n . Diese A b g a b e n konnen als zusatzliche Steuer fur den Unterhalt der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eingestuft werden.
Der Einspruch v o n Evreinov war nicht rechtmaflig, weil er grundsatzlich keine
Geldsammlungen
seitens der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g a n e r k a n n t e .
Die
Handwerksverwaltung durfte j e d o c h bestimmte G e l d s a m m l u n g e n anordnen,
dariiber sollte sie aber korrekt B u c h fuhren u n d Bescheinigungen an die Geldgeber
ausstellen. D a die Meister fur ihre Zahlungen keine oder falsche Belege ausgestellt
bekamen und auch keinen Einblick in die Bucher hatten, keimte bei ihnen die
V e r m u t u n g auf, daB die Zunftaltesten diese Gelder fur sich behielten:
558
„Seit Jahren werden durch die Zunftaltesten Steuern fur die Stadt und
fur die Zunftkasse in H o h e von 10 bis 15 Silberrubeln von den
zeitweiligen Handwerkern eingetrieben. Quittungen werden aber nur fur
5,72 Silberrubel ausgestellt" .
559
V o n 5,72 Silberrubeln gingen 2,86 in die Zunftkasse. Die verbleibende S u m m e
w u r d e noch einmal geteilt: 1,43 Silberrubel b e k a m die D u m a und 1,43 die
Handwerksverwaltung. Quittungen wurden den Gesellen und Lehrlingen entweder
nicht ausgestellt oder sie wurden nicht ordentlich numeriert. Die zeitweiligen
Handwerker behaupteten, daB die Altesten, das H a n d w e r k s o b e r h a u p t und der
Sekretar, sich an den „freiwilligen" Beitragen bereicherten und ihre Hauser damit
bauten. Die Altesten hielten es fur nicht notig, fur die Summen, die fur die Zunftund Handwerksverwaltung bestimmt waren und als Kanzleiausgaben galten,
Quittungen a u s z u s t e l l e n .
Die finanziellen Versaumnisse waren aber nicht fur alle russische Zunfte typisch.
Als Grot die Zunftkassen der russischen Schlosser-, Schuhmacher-, Schneider-,
Schornsteinfeger- u n d Kleinhandlerzunfte uberpriifte, wiesen sie keinen
Ruckstandauf .
U m kunftig Undurchsichtigkeiten in der Buchhaltung zu vermeiden, schlug Grot
vor:
1.
grundsatzlich fur alle Geldabgaben Quittungen auszustellen,
560
561
558
Svod zakonov Rossijskoj imperii, cast' 2, SPb. 1913, hier Ustav о promySlennosti
fabricno-zavodskoj i remeslennoj, torn 11, cast 2, S. 56-92, stat'i 315, 407-409.
4
559
Donos na imja Perovskogo ot 8 11.1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 610: О
besporjadkach, hier 1. 17.
560
Kopija s zurnala komissii ot janvarja 1849 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 574: О sborach,
hierl. 1 If.
561
Donos na imja Perovskogo ot 8.11.1848, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 610: О
besporjadkach, hier 1. 17. Die Zunftkassen wiesen jeweils 585, 2.857, 1.983, 573 und 1.442
Silberrubel auf.
2.
fur eine leichtere Erledigung der Formalitaten S o n d e r v o r d r u c k e zur
Verfugung zu stellen,
3.
u m j e d e n H a n d w e r k e r vollstandig zu informieren, w a s u n d wofur er zahlen
sollte, Verzeichnisse in der Verwaltung auszuhangen, in denen alle
Abgaben, die von der G e s a m t v e r s a m m l u n g der H a n d w e r k e r bestimmt
worden waren, festgehalten wurden,
4.
fur die Zunftmakler Gehalter in H o h e v o n 5 0 0 Silberrubeln pro Jahr zu
bestimmen,
5.
fur j e d e n ausgestellten Vertrag dem Makler 50 Silberkopeken Provision
z u k o m m e n zu l a s s e n .
Fur eine E n t s p a n n u n g der Situation sorgte die E n t s c h e i d u n g
der
Handwerksverwaltung, anlaBlich der 25-jahrigen Regierungszeit v o n Nikolaus I.
die Steuerschulden der armen und alteren H a n d w e r k e r fur 1850 in H o h e v o n
52.367 Silberrubeln aus der Handwerkskasse zu b e z a h l e n . Dies wurde auch
weiterhin praktiziert, da 1855 - jetzt anlaBlich der 30-jahrigen Regierungszeit des
Zaren - 5.837 Silberrubel zum Ausgleich der Steuerruckstande derselben G r u p p e
bezahlt w u r d e n . Auffallig ist, daB die Schulden merklich gesunken waren, w a s
dafur spricht, daB in der Verwaltung eine wohlgeordnete Buchfuhrung zustande
g e k o m m e n war. Dies konnte w i e d e r u m durch die Professionalisierung der
Verwaltung erreicht werden, denn hier waren endlich erfahrene, in Buchhaltung
versierte Verwaltungsmitglieder tatig geworden.
562
563
564
Die Erfahrungen der letzten Jahre schlugen sich in einer differenzierteren
Besteuerung nieder. U m die Steuerpolitik flexibler gestalten zu konnen, wurde der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g erlaubt, eine Progressivsteuer einzufuhren. W a s bei den
auslandischen H a n d w e r k e r n seit 1818 praktiziert w u r d e , fuhrte die K E N O V erst
1852 fur die russische Handwerksverwaltung - zunachst probeweise - ein. Fur j e d e
Zunft wurde eine K o m m i s s i o n aus den Altesten und ihren Stellvertretern
zusammengestellt. N a c h d e m alle Verzeichnisse bei der Handwerksverwaltung
eingegangen waren, wurde ein allgemeines Verzeichnis erstellt, das dann an die
verwaltende D u m a weitergeleitet wurde. Die Steuern wurden j e d o c h ungeachtet
des E i n k o m m e n s der Handwerker festgesetzt, w a s nicht den A n w e i s u n g e n der
K E N O V entsprach. Die russische Handwerksverwaltung verfiel in die alte
Gewohnheit, die durchschnittliche Steuer aus der Gesamtzahl der zu b e s t e u e m d e n
Meister zu errechnen. Dabei wurden einige Meister ganz v o n der Steuer befreit,
da ihre Steuerbeitrage, wie gesagt, durch die Zunftkassen beglichen wurden.
562
Kopija s zurnala, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 574: О sborach, hier 1. 1 If.
563
Razresenie ministra vnutrennich del Perovskogo к voennomu general-gubernatoru ot
9.12.1850, in: RGIA, f. 1238, op. 37, d. 932: Po otnoseniju S. Peterburgskogo generalgubernatora о slozenii nedoimki s bednych remeslennikov v S. Peterburge (4. - 9. Dezember
1850), hier 1.3.
564
2MVD, t. 13 (1855) Juli-August, S. 158.
Die Zunftverwaltungen hatten keine leichte Aufgabe. Die russischen Meister
muBten sich erst daran gewohnen, einige Aufgaben selbstandig - ohne A n w e i s u n g
von oben - auszufuhren. „ R o b k o i n e o c h o t n o " (schuchtem und unwillig) traten
sie an die neue Aufgabe h e r a n . Die Kommissionsmitglieder furchteten,
j e m a n d e n mit zu niedriger oder zu hoher Steuer zu belegen. AuBerdem muBten sie
sich an den G e d a n k e n gewohnen, Steuerruckstande nicht mit Geldern aus der
Zunftkasse, d.h. auf Kosten anderer Meister, zu begleichen, sondern mit Hilfe
einer ordentlichen Steuereintreibung. Die Meister muBten lernen, daB die
Zunftkasse „nicht dafur da ist, Steuern zu entrichten, sondern fur andere
Bedurfhisse der Zunfte" bestimmt war. Der Innenminister unterstrich im Schreiben
an den Finanzminister v o m 8. Januar 1855, daB dieser Versuch im groBen und
ganzen von N u t z e n fur die Entwicklung einer korrekten und gerechten
Besteuerung sei. E r betonte, daB die diesmal aus der Zunftkasse e n t n o m m e n e
S u m m e fur die Begleichung der Steuerruckstande in H o h e v o n 1.634 Rubeln viel
niedriger als die in fruheren Jahren gewesen sei, als sie noch eine H o h e von bis zu
565
566
7.000 Rubel e r r e i c h t e .
1853 und 1854 w u r d e die Arbeit der Steuerkommissionen in der V e r w a l t u n g
weiter optimiert; es wurden noch bessere Ergebnisse erzielt. 1853 entnahm die
K o m m i s s i o n der Zunftkasse fur verstorbene und erwerbsunfahige Handwerker
143,4 Rubel. 1854 wurden fur die Steuer in H o h e von 26.661,7 Rubeln nur noch
9.1 Rubel aus der Zunftkasse g e n o m m e n . Im Jahre 1853 zahlten die zeitweiligen
H a n d w e r k e r schlieBlich die Steuern in voller H o h e von 21.272 Rubeln ein,
wodurch kein Ruckstand b l i e b .
In Anbetracht der durchaus gelungenen MaBnahmen beschloB die Regierung, die
Verteilung der Steuer in Zukunft speziellen Steuerkommissionen in den Ztinften
zu uberlassen. Die Kommissionen sollten aus den Zunftaltesten, ihren
Stellvertretern, den Steuereirmehmern und drei erfahrenen standigen Meistern
bestehen.
M i t den Reformen der 1860er Jahre anderte sich die Besteuerungsweise der
Handwerker. 1863 und 1865 wurden neue Bestimmungen fur die Handelssteuer
eingefuhrt: Die Gewerbetreibenden sollten erst die Handelslizenz kaufen, u m ihr
H a n d w e r k ausuben zu konnen. In diesem Z u s a m m e n h a n g wurde 1863 verfugt, daB
alle Handwerksbetriebe, die nicht mehr als 16 Arbeitnehmer beschaftigten, eine
567
568
565
Otnosenie ministra vnutrennich del ministru finasov, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 28 (21.0130.04.1855): Po otnoseniju ministra vnutrennich del, kasatel'no raskladki i vzimanija podatej
i povinnostej s S. Peterburgskich vecno-cechovych remeslennikov, hier 1. If.
566
Ebd., 1. If.
567
Ebd., 1. 2.
568
ObScestvennoe chozjajstvo Peterburga, in: 2MVD, б. 1, Nr. 7-8 (Juli-August 1853), S.
121.
Handelslizenz fur den Kleinhandel in H o h e v o n 20 Silberrubeln im j e d e n Jahr
kaufen sollten. Mit dem ErlaB v o m 9. Februar 1865 wurden die
Handwerksbetriebe auf drei Gruppen verteilt. Z u r ersten G r u p p e gehorten die
Betriebe mit zehn bis 16 Hilfskraften und einem Ladenraum. Sie zahlten 20
Silberrubel fur die Handelslizenz und zehn Silberrubel fur den Handelsschein. Die
Betriebe mit funf bis neun Angestellten sollten 20 Silberrubel fur die
Handelslizenz zahlen. Die Betriebe mit einem bis vier Angestellten zahlten zehn
S i l b e r r u b e l . AuBerdem zahlten die Inhaber der Handwerksbetriebe mit m e h r als
16 Beschaftigten 3 0 K o p e k e n fur j e d e n weiteren Beschaftigten im J a h r . O b alle
H a n d w e r k e r Handelslizenz und Handelsschein jahrlich gekauft hatten, sollte die
Handelsdeputation uberprufen. Bei einer Uberprtifung im Jahre 1870 stellte sich
beispielweise heraus, daB die W i t w e eines Meisters der Wagenbauerzunft nur eine
Handelslizenz fur 20 Rubel vorweisen konnte, obwohl sie noch einen
Handelsschein fur zehn Rubel hatte kaufen mussen. Die Strafe betrug in diesem
Fall nach der B e s t i m m u n g von 1865 zehn R u b e l .
M a n c h m a l hatten auch Initiativen der Handwerker fur eine Steuerreduzierung
Erfolg. Die Deputiertenversammlung der Handwerker beschloB am 2 3 . Juli 1871,
daB die Steuer in H o h e von jahrlich 60 Silberkopeken, die zur Unterstutzung eines
K r a n k e n h a u s e s fur Arbeiter erhoben worden war, nicht entrichtet werden muBte.
Z w e i fruhere G e s u c h e v o m 1. September 1869 und v o m 12. Februar 1870 waren
n o c h abgelehnt worden. 1871 wurde zur L o s u n g dieser Frage von der
Deputiertenversammlung der H a n d w e r k e r eine Kommission eingesetzt, die aus
vier Mitgliedern, A.I. Bljum, M.P. Polikarpov, F.K. Resetnikov u n d P.E. Knjazev
bestand. Die K o m m i s s i o n legte ein Verzeichnis der gezahlten Steuern vor, w o n a c h
der Rat der wohltatigen Anstalten (Popeditel 'nyj sovet zavedenij
obsdestvennogo
prizrenija)
der K o m m i s s i o n Recht gab, eine Befreiung zu bewilligen. Ftir die
Lehrlinge und Gesellen sollten die Meister allerdings weiterhin 60 Silberkopeken
pro Person e i n z a h l e n .
569
570
571
572
N e b e n d e m Erwerb v o n Gewerbescheinen und Handelslizenzen entrichteten die
standigen Meister 1864 insgesamt vier Rubel, ihre Gesellen 60 K o p e k e n und die
569
Donesenie S. Peterburgskoj rasporjaditePnoj dumy S. Peterburgskomu gubernatoru ot
12.04.1867, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 783: Po chodatajstvu vybornych remeslennogo
soslovija v S. Peterburge ob umen'senii plateza ustanovlennych poSlin za soderzanie
remeslennych zavedenij (Mai 1867-November 1868), hier 1. 3f.
570
Istoriceskij ocerk oblozenija torgovli i promyslov v Rossii. St. Petersburg 1893, S. 161.
571
Raport St. Peterburgskogo gubernatora ministru vnutrennich del, vom 17. November 1870,
in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1185: Po zalobe vdovy mastera teleznogo cecha Kudrjavcevoj na
stesnenie её torgovym nadzorom (7. Juli - 12. November 1870), hier 1. 3.
572
Doklad komissii, naznacennoj sobraniem deputatov, vom 6. November 1870, in: RGIA, f.
1287, op. 14, d. 1321: Ob osvobozdenii cechovych masterov i ich semejstv ot 60-kopeecnogo
sbora na soderzanie bol'nic dlja dernorabodich v Peterburge (1871-1872), hier 1. 3ff.
Lehrlinge 30 K o p e k e n Steuer. Die Beitrage der letzteren u b e r n a h m der Meister.
Die zeitweiligen H a n d w e r k e r zahlten sieben Rubel fur sich, 60 K o p e k e n pro
573
Gesellen und 30 K o p e k e n pro L e h r l i n g .
Folglich fuhrten die zeitweiligen Handwerker an die Zunft- und Handwerkskasse
fast soviel ab wie die standigen Meister. In Anbetracht ihrer absoluten Uberzahl
war
die
Differenz
zwischen
dem
Gesamtbetrag
beider
Gruppen
der
Zunfthandwerker betrachtlich. AuBerdem zahlten die Meister beim Eintritt in die
Zunft drei Silberrubel, die Gesellen 1,5 Silberrubel und die Lehrlinge einen
Silberrubel, wobei v o n diesen jeweils 50 K o p e k e n fur die Zunftmakler und 50 in
die Zunftkasse entrichtet wurden. Falls die Meister nicht alle Steuern entrichteten,
bekamen sie von den Zunftaltesten keine schriftliche
(remeslennoe
svidetel'stvo),
Handwerkserlaubnis
die jahrlich zusatzlich zu der G e w e r b e - bzw.
Handelslizenz neu ausgegeben wurde. Diese Erlaubnis gab dem Meister das Recht,
574
in der Stadt eine Werkstatt zu f u h r e n .
Fur das Jahr 1870 betrug das Verhaltnis zwischen standigen und zeitweiligen
)75
Handwerkern 2.727 zu 2 5 . 0 9 2 . Die zeitweiligen Handwerker zahlten zusammen
mit den Gesellen und Lehrlingen jahrlich rund 60.000 Rubel Steuern. A m 1.
Januar
1871
gab
es
845
standige
Zunftmeister
und
157
standige
Zunftmeisterinnen, die 4.008 Rubel in die Handwerkskasse zahlten, sowie 4.864
zeitweilige Zunftmeister und 661 Zunftmeisterinnen, die insgesamt 21.568 Rubel
in die Handwerkskasse einzahlten. Die Frauen wurden im H a n d w e r k vermutlich
seit 1847 aufgelistet, als sie das aktive Wahlrecht in der Selbstverwaltung der
576
H a n d w e r k e r e r h i e l t e n . Sie konnten folglich an der Wahl des Handwerksaltesten,
der Zunftaltesten,
der Verwaltungsmitglieder
und der Deputierten
in die
Deputiertenversammlung der Handwerker teilnehmen. Allerdings gaben sie ihre
W a h l s t i m m e nicht personlich ab, sondern ubertrugen dieses Recht auf einen
Meister. Die Meisterfrauen oder die Ehefrauen eines verstorbenen Meisters, die
seinen Handwerksbetrieb geerbt hatten, durften die Wahlversammlungen nicht
besuchen.
1870 gait fur einen standigen Meister folgende Steuer:
1.
573
Drei Silberrubel zugunsten der Stadt,
Vgl. Tabelle 41 im Tabellenanhang.
574
Doklad komissii, naznacennoj sobraniem deputatov ot 6.11.1870, in: RGIA, f. 1287, op.
14, d. 1321: Ob osvobozdenii cechovych masterov i ich semejstv ot 60-kopeecnogo sbora na
soderzanie bol'nic dlja cernorabodich v Peterburge (1871-1872), hier 1. 3ff.
575
Prosenie, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1281: Po chodatajstvu, hier 1. 1-3.
2.
vier Rubel fur die H a n d w e r k s - und Zunftkasse,
3.
Heizungssteuer zugunsten der Stadt in H o h e v o n 5 bis 1 0 % der Miete,
4.
Gebuhren fur die Gewerbe- und Handelserlaubnis v o n 10,60 bis 31,80
Silberrubel,
5.
fur die Lehrlinge 30 Silberkopeken und
6.
fur die AdreBscheine der Lehrlinge j e 30 Silberkopeken.
Im Durchschnitt sollte es eine Steuer von 35 Silberrubeln sein. D e n Quellen ist zu
entnehmen, daB es n o c h andere Steuern gab, die hier nicht aufgefuhrt sind, so daB
ein standiger H a n d w e r k e r insgesamt bis zu 75 Silberrubeln Steuer im Jahr zahlen
577
m u B t e . Ein so hoher Steuersatz uberstieg deutlich die Grenzwerte
der
durchschnittlichen Steuerlast pro K o p f der Bevolkerung, der in dieser Periode
zwischen 3,1 und 4,69 Rubel l a g
578
.
Mit der neuen B e s t i m m u n g v o m 5. Juni 1884 wurden die Handelslizenzen durch
(
die Gewerbescheine (promyslovye
svidetel stva) ersetzt. Die H o h e des Beitrages
fur die Gewerbescheine hing von der Anzahl der Beschaftigten
in einer
Handwerksstatte ab. Betriebe mit zehn bis 16 Beschaftigten zahlten 30 Silberrubel.
Betriebe
mit
einem
Meister
bzw.
Gesellen,
der
allein
oder
nur
mit
Familienmitgliedern arbeitete, w u r d e n v o m K a u f des Gewerbescheins befreit. Die
Handwerker, die bei der Handwerksstatte eine Handelsstube (torgovaja
lavka)
579
eingerichtet hatten, muBten allerdings eine Handelserlaubnis k a u f e n .
6.3
Die B e s t e u e r u n g nicht zunftig organisierter H a n d w e r k e r
Es ist durchaus verstandlich, daB die Handwerker, die neu in die Hauptstadt
kamen, w e g e n der hohen Besteuerung nicht in eine Zunft eintreten wollten. 1826
zahlten die nichtzunftigen Handwerksmeister nur zehn Papierrubel und ihre
Lehrlinge
drei
Papierrubel
an
das
580
AdreBkontor ,
wodurch
sie
eine
Aufenthaltserlaubnis erhielten. In der Tatsache, daB ein nichtzunftiger Handwerker
einen oder mehrere Lehrlinge beschaftigen konnte und dafur nur bestimmte
Beitrage an das AdreBkontor entrichten sollte, liegt ein Widerspruch, weil das
577
Ebd., 1. 6.
578
Vgl. Tabelle 42 im Tabellenanhang.
579
Istorideskij обегк oblozenija torgovli i promyslov v Rossii. St. Petersburg 1893, S. 256f.
580
AdreBkontor - Adresnaja kontora. Die eingereisten Handwerker bauerlichen Standes
muBten ihre Passe beim AdreBkontor abgeben, wofur sie gegen Gebtihr eine Wohnerlaubnis
in der Hauptstadt bekamen.
Handwerksstatut besagte, daB nur der Handwerker mit einem Meisterdiplom, das
v o n der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g ausgestellt worden war, Lehrlinge ausbilden
581
durfte .
Dies ermoglichte vielen bauerlichen Handwerkern eine zunftfreie Arbeit in der
Stadt. AuBer Bauern gab es in der Stadt Armeehandwerker, Hofhandwerker und
die Handwerker v o n verschiedenen staatlichen Ressorts. Ein Beispiel fur diese
Vielfalt liefert eine G e g e n d in der N a h e von St. Petersburg, die Ochta, die fast
ausschlieBlich v o n H a n d w e r k e r n bewohnt war. Hier arbeiteten uberwiegend
Zimmerleute, Schreiner, Holzvergolder und Mobelmeister, die das Privileg hatten,
ihr H a n d w e r k frei ausuben zu dtirfen. Sie waren dem Marineministerium und der
Direktion der kaiserlichen Theater unterstellt. Diese H a n d w e r k e r zahlten keine
Steuern an die Handwerksverwaltung, sondern Kopf- und andere Steuern. Mit dem
ErlaB v o m 3 1 . Mai 1860 wurden diejenigen, die ihr 60. Lebensjahr erreicht hatten
und noch im Dienst waren, von der Besteuerung vollstandig befreit und bekamen
eine Rente. Der Ochtensker Zimmerer Aleksej Rogov, der seit 30 Jahren bei der
Theaterdirektion arbeitete, beschwerte sich beim Militar-Generalgouverneur von
St. Petersburg, daB die Verwaltung der Ochtensker Vorstadt ihn mit Steuern
belegte, obwohl er im Dienst war und zur Zeit nur 85,71 Silberrubel Rente im Jahr
bekam. Es bedurfte des Senatserlasses vom 1. Dezember 1861, um Rogov von den
Steuern zu befreien .
Eine andere G r u p p e der gewerbetreibenden Bevolkerung, die Kaufleute,
Kleinburger und Bauern, bildete seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen wichtigen
Wirtschaftsfaktor, der fur das Zunfthandwerk eine ernstzunehmende Konkurrenz
bildete. D a die Kaufleute eine oder mehrere Handwerksstatten errichten konnten,
werden hier die Besteuerungssatze der Kaufleute fur drei Gilden aufgefuhrt .
V o n 1807 bis 1863, als die Gilden im Z u g e der „GroBen Reformen" abgeschafft
wurden, blieb die H o h e des Kapitals unverandert. Entsprechend ihrem
Steuerbetrag durften die Kaufleute der 1. und 2. Gilde unbegrenzt Fabriken und
Meister unterhalten. Die Kaufleute der 3. Gilde durften W e r k b a n k e (stony) haben
und verschiedenen H a n d w e r k e n nachgehen. Die Kleinburger zahlten die
Kopfsteuer und durften ebenfalls Werkbanke besitzen.
A m 14. N o v e m b e r 1824 w u r d e mit der Gildenreform des Finanzministers Kankrin
ein anderes Besteuerungssystem eingefuhrt, das bis 1863 bestehen blieb. Die
582
583
581
Raz-jasnenie departamenta raznych podatej i sborov ministerstva finansov vom 8.
November 1826, in: RGIA, f. 560, op. 6, d. 441: Po pros'be masterov v S. Peterburge о
predpoloiennoj jakoby s nich podati pod nazvaniem akciza, hier 1. 2f.
582
OtnoSenie S. Peterburgskogo voennogo general-gubernatora к upravljajuScemu
ministerstvom vnutrennich del vom 28. Juni 1861, in: Ob osvoboidenii ot plateia podatej
otstavnogo plotnika imperatorskich S. Peterburgskich teatrov Rogova (3. Juli - 12. Dezember
1861), hier 1. If., 15.
Kaufleute sollten, start 1% von ihrem Kapital zu zahlen, Handelslizenzen kaufen,
die an das Patentsystem in Frankreich erinnern, auf deren Grundlage sie ihre
Handelstatigkeit ausiiben durften. Zusatzlich b e k a m e n sie kostenlos besondere
Gewerbescheine, mit denen sie Fabriken bzw. Werksstatten unterhalten durften.
Kleinburger sollten ebenfalls besondere Handelslizenzen erwerben, w e n n sie d e m
Kleinhandel nachgingen. Sie zahlten 120 Silberrubel fur eine Handelserlaubnis im
Jahr und durften in ihren Handwerksstatten bis zu acht H a n d w e r k e r beschaftigen.
Die Kleinburger, die keine Handelserlaubnis kauften und nur die Kopfsteuer
zahlten, durften eine Handwerksstube mit bis zu drei Beschaftigten fuhren .
Fur Bauern wurden Handelslizenzen in sechs Klassen eingeteilt, die j e 2.600,
1 . 1 0 0 , 4 0 0 , 1 5 0 , 4 0 und 25 Papierrubel kosteten. Die Bauern mit Handelslizenzen
erster bis funfter Klasse durften in der Stadt alle H a n d w e r k s a r t e n betreiben u n d
Werkstatten haben, wobei die Bauern der ersten drei Klassen sowie die Kaufleute
der ersten drei Gilden j e drei Gewerbekarten fur die Handelsstuben bekamen. Fur
j e d e n zusatzlichen Gewerbeschein zahlten sie j e 100 P a p i e r r u b e l . Die
Kleinburger und die Bauern mit einer Handelslizenz der vierten Klasse b e k a m e n
j e einen Gewerbeschein fur eine „lavka". Der Begriff „lavka" beinhaltete in der
Gesetzgebung ein sehr breites Bedeutungsspektrum. In der U m g a n g s s p r a c h e
bedeutete „lavka" ein „ B a n k c h e n " oder eine,,Handelsstube". Im Gesetzeskontext
hatte „lavka" j e d o c h auch folgende Bedeutungen: Weinkeller, Hotel, Restaurant,
Cafe, Gasthaus, Speisewirtschaft, Herberge, Fabrik, B a d e h a u s und eigentlich j e d e
kleine Betriebsstatte .
584
585
586
Mit d e m Gesetz v o m 3 1 . August 1825 wurde der Beitrag fur eine Handelserlaubnis
fur die Kleinburger v o n 120 auf 60 Papierrubel halbiert. Die B a u e r n zahlten fur
die vierte Klasse nicht mehr 150, sondern 100 Papierrubel und fur die
Gewerbekarten 4 0 Papierrubel. Mit den Erlassen v o m 11. Juli 1826 (PSZ RI 2, Nr.
4 5 8 ) und v o m 2 1 . Dezember 1827 ( P S Z RI 2, Nr. 1631) wurden weitere
Erleichterungen fur diese zwei Gruppen der gewerbetreibenden Bevolkerung
geschaffen. Die B e g r e n z u n g der Betriebsgrofle fur die Kaufleute dritter Gilde und
die Handelslizenzen fur die Bauern funfter und sechster Klasse wurden
abgeschafft. Die Kleinburger waren von n u n an nicht m e h r verpflichtet,
Handelslizenzen zu k a u f e n .
587
Ungeachtet einer standigen Senkung des Steuersatzes gab es immer noch eine
Vielzahl v o n B e s c h w e r d e n seitens der Kleinburger und Bauern w e g e n einer zu
hohen Besteuerung und der Hindernisse, die mit d e m Standessystem verbunden
584
Istorideskij ocerk oblozenija torgovli i promyslov v Rossii. St. Petersburg 1893, S. 126f.; s.
dazu: PSZRI2,Nr. 30115.
585
Ebd., S. 128f.
586
Ebd., S. 129.
waren. N a c h dem Gesetz v o m 13. Oktober 1855 sollten die kaufmannischen
Gilden abgeschafft und die gewerbetreibende Bevolkerung in funf G r u p p e n
eingeteilt werden, u m die Wirtschaft zu liberalisieren. Je nach Art der G r u p p e
wurde die Anzahl der Beschaftigten in den Betrieben festgelegt. V o n besonderem
Interesse sind hier die letzten zwei Gruppen: die Betriebe mit einer
Beschaftigtenzahl von bis zu 16 und die mit einer bis zu 50 Hilfskraften. Diese
Betriebe gehorten jeweils zu der vierten und zu der funften Gruppe und waren, mit
wenigen A u s n a h m e n , nichts anderes als Handwerksstatten. In St. Petersburg lag
der Steuersatz fur diese Betriebe mit j e 30 und 75 Rubeln etwas hoher als im
ubrigen RuBland.
D a s Gesetz v o m 1. Juni 1863 fuhrte folgende Beitrage fur die Handelslizenzen ein:
Fur die erste G r u p p e 30 Rubel, fur die zweite 20 Rubel und fur die dritte Gruppe
zehn Rubel. Mit d e m Gesetz v o m 4. Juni 1884 wurde ein noch differenzierterer
Steuersatz eingefuhrt: Die Betriebe mit zehn bis 16 Beschaftigten zahlten 30
Rubel, mit funf bis neun Beschaftigten 20 Rubel und die Betriebe mit zwei bis vier
Beschaftigten 10 R u b e l . Die bauerlichen Handwerker, die auBer Zunft standen,
nutzten das Recht, ihr H a n d w e r k in einem geringen Umfang zu betreiben und
zahlten dabei niedrigere Steuern als ihre Kollegen in den Zunften.
588
6.4
D i e A u f g a b e n der r u s s i s c h e n
B e s t e u e r u n g der H a n d w e r k e r
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bei d e r
Eine wichtige Aufgabe, die der Handwerksverwaltung seit 1824 auferlegt wurde,
bestand im Verkauf der Handelslizenzen, w e l c h e die Meister j e d e s Jahr neu
erwerben muBten. Die Erlossummen waren bedeutend. 1873 wurden 5.559
Erlaubnisse fur 67.723 Rubel und 1891 7.348 Erlaubnisse fur 102.030 Rubel
verkauft. DaB diese S u m m e n sich nicht in den E i n k o m m e n der Verwaltung
nachweisen lassen, laBt v e n n u t e n , daB diese Einnahmen an die Stadtduma
weitergegeben und fur die Bedurfhisse der stadtischen Wirtschaft verwendet
wurden .
589
In den Jahren v o n 1873 bis 1884 blieb der Durchschnittswert einer Handelslizenz
mit A u s n a h m e der Jahre 1878 und 1884, als der Wert auf 9 6 , 4 % u n d 9 7 , 8 % v. H.
zuriickfiel, etwa auf dem gleichen Niveau. Dies bezeugt indirekt ein stagnierendes
Wachstum der mittelgroBen Handwerksbetriebe, da der Wert der Handelserlaubnis
durch die Anzahl der Beschaftigten im Betrieb bedingt war. AuBerdem war fur die
Stagnation ein verminderter Warenabsatz verantwortlich, weil j e n e Betriebe, die
bei der Werkstatt einen Laden hatten, Handelslizenzen v o n erhohtem Wert kaufen
m u B t e n . In d e n d a r a u f f o l g e n d e n
Jahren, wahrend
der
zweiten
Ebd., S. 182, 256.
Industrialisienmgsphase in der zweiten Halfte der 80er und in den 90er Jahren, gab
es eine erhohte Wachstumsrate des Lizenzwertes mit 110,6% im Jahre 1885 u n d
114% im Jahre 1 8 9 1 .
Detaillierte A n g a b e n uber die verschiedenen Klassen der Lizenzen, die v o n der
Verwaltung verkauft wurden, sind nur fur die Jahre 1873 und 1909 v o r h a n d e n ,
wobei fur 1873 noch die Gewerbeerlaubnisse fur die Kleinburger registriert
wurden. Die Klassen wurden 1873 wie folgt eingeteilt:
1. Handelszeugnis erster Klasse fur ein Jahr zu 20 Rubeln
- 1479 Stuck
-„fur ein halbes Jahr zu 10 Rubeln
- 13 Stuck
Handelszeugnis zweiter Klasse fur ein Jahr zu 10 Rubeln
- 3 0 6 6 Stuck
-„fur ein halbes Jahr zu 5 Rubeln
- 60 Stuck
2. Handelszeugnis fur ein Jahr zu 10 Rubeln
- 697 Stuck
-„fur ein halbes Jahr zu 5 Rubeln
- 10 Stuck
3. Gewerbescheine fur Kleinburger fur ein Jahr zu 2,5 Rubeln - 231 Stuck
-„fur ein halbes Jahr zu 1,25 Rubeln - 3 Stuck
590
591
A u s der Statistik ist zu ersehen, daB es im Jahre 1873 3.126 Betriebe mit einer
Beschaftigtenzahl v o n funf bis neun, 1.492 Betriebe mit einer Beschaftigtenzahl
von zehn bis 16 Personen oder 4.618 Werkstatten und 941 kleinere Betriebe, bzw.
5.559 insgesamt gab, deren Inhaber die Handelslizenzen bzw. Gewerbescheine fur
insgesamt 68.271,25 Rubel bei der Handwerksverwaltung
erwarben.
Dementsprechend betrug die Zahl aller Beschaftigten in alien Betrieben mit einer
Handelserlaubnis erster Klasse 19.396, zweiter Klasse 21.882 und in den ubrigen
Betrieben rund 1.900 oder insgesamt 43.178 Handwerker.
Mit der Zeit stiegen diese A b g a b e n etwas an, so daB im Jahre 1909 5.766
Zeugnisse fur 73.585,5 Rubel v o n der Handwerksverwaltung verkauft w u r d e n .
Z w i s c h e n 1873 und 1909 laBt sich ein beinahe konstanter Durchschnittswert der
Gewerbezeugnisse bzw. -scheine feststellen. Der Durchschnittswert eines
Gewerbezeugnisses blieb mit einem leichten Anstieg fast konstant und betrug in
den Jahren 1873 u n d 1909 12,18 bis 12,76 Rubel. Dies war der ausgeglichenen
Steuerpolitik der russischen Regierung zu verdanken, die seit 1852 in den
russischen Zunften eine Progressivsteuer eingefuhrt hatte, w o n a c h die Steuerlast
immer proportional zur GroBe des Betriebes festgesetzt wurde. D a s gait auch fur
die Gewerbezeugnisse bzw. -scheine, die in verschiedene Klassen, j e nach GroBe
592
590
591
Otcety S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1873-1882, 1884 und 1886-1891 gody.
Otdet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1873 god. St. Petersburg 1874, S. 6.
NatUrlich lafit sich diese Zeitltlcke schlieBen, wenn die Archivbestande der
Handwerksverwaltung im Stadtarchiv von St. Petersburg an der Pskovskaja Strafle
erschlossen werden. Der Autor konnte leider aus technischen Griinden dieses Material nicht
einsehen, weil das Stadtarchiv wegen Renovierung fur langere Zeit geschlossen blieb.
des Betriebes, eingeteilt wurden, so daB immer ein etwa gleicher Mittelwert
zustande kam. Die Steuerklassen VII u n d VIII im Jahre 1909 sind durchaus mit
den Steuerklassen I u n d II v o m Jahr 1873 vergleichbar. 1873 wurden 1.479
Gewerbezeugnisse fur 20 Rubel und 3.066 Gewerbeerlaubnisse fur 10 Rubel u n d
1909 1.363 Gewerbeerlaubnisse fur 15 Rubel und 3.170 fur sechs Rubel verkauft.
Zu diesen Gruppen k a m noch die dritte Gruppe der groBen Handwerksbetriebe
hinzu, die eine Obergangsform zur Fabrik darstellten. E s gab 277 solcher Betriebe,
die 30 Rubel pro Gewerbeerlaubnis zahlten.
U m die Dynamik d e s W a c h s t u m s zu verdeutlichen, kann z u m Vergleich ein
Zwischenwert v o m Jahr 1891 herangezogen werden. In der Zeit v o n 1873 bis 1891
w u c h s die Gesamtzahl der verkauften Zeugnisse v o n 5.559 a u f 7.348 oder u m
3 2 , 2 % . D i e GroBe des Gesamtbetrages w u c h s zwischen 1873 und 1891 v o n
67.723 auf 102.030 Rubel oder u m 5 0 , 7 % . Dies besagt, daB die mittlere
BetriebsgroBe wesentlich schneller w u c h s als die Anzahl der Betriebe selbst, so
daB deutlich zu sehen ist, daB das kleine u n d mittlere Gewerbe ebenfalls wahrend
des ersten industriellen Aufschwungs expandierte. Diese allgemeine Aussage laBt
sich j e d o c h nicht fur alle Branchen treffen; einige Betriebe profitierten v o n der
Industrialisierung,
andere aber gingen unter. Mit dem zweiten
Industrialisierungsschub g a b es dann zwischen 1891 und 1909 einen starken
Rtickgang der Gesamtzahl der verkauften Zeugnisse v o n 7.348 a u f 5 . 7 6 6 oder auf
7 8 , 5 % v. H.. Folglich fiel im Jahre 1909 die Anzahl der verkauften Zeugnisse a u f
das Niveau des Aufschwungjahres 1874 zuriick. Zwischen d e n Jahren 1891 und
1909 ging die S u m m e der Beitrage von 102.030 Rubeln auf73.585 oder auf 72,1 %
zuriick. Dies spricht dafur, daB sich mit d e m allgemeinen R u c k g a n g der
kleinindustriellen Betriebe wahrend des zweiten Industrialisierungsschubes ihre
mittlere GroBe reduzierte. Diesem Sachverhalt wird im weiteren Verlauf der Arbeit
und besonders im Unterkapitel uber die allgemeine wirtschaftliche Lage der
Handwerker ausfuhrlicher n a c h g e g a n g e n .
593
594
Die oben ausgefuhrten A n g a b e n helfen, einen allgemeinen Eindruck uber die
Entwicklung der Klein- und Mittelgewerbe zu gewinnen, sie sollten allerdings mit
Vorsicht gehandhabt werden, weil seit den 1890er Jahren, als sich die St.
Petersburger Gesellschaft u n d die wirtschaftlichen Verhaltnisse liberalisierten,
eine immer groBer werdende 2,ahl der Gewerbetreibenden d e n A b g a b e n an die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g entkam. 1906 wurde dieser Sachverhalt, der anscheinend
schon seit mehreren Jahren praktiziert wurde, in der Handwerksverwaltung u n d
im Handels- u n d Industrieministerium diskutiert. Die Standesaltesten gaben fast
keine Handwerkserlaubnisse (renteslenrtye svidetel 'stva) mehr aus, die z u s a m m e n
S. Tabelle 44 im Tabellenanhang.
Vgl. die Ausfuhrungen im Unterkapitel 10.1.
595
mit den Gewerbescheinen bzw. - z e u g n i s s e n vergeben wurden. Die Handwerker,
die einmal ihre Handwerkserlaubnis b e k o m m e n hatten, beantragten sie nicht mehr,
wie es fruher j e d e s Jahr der Fall war, und arbeiteten dennoch in der Stadt weiter.
D e r Deputierte Makarov-Junev richtete diesbeziiglich Anfang 1906 eine Anfrage
an die Handwerksverwaltung, die sich ihrerseits an das Kassenamt wandte. D a s
Kassenamt benachrichtigte die Handwerksverwaltung am 2 7 . Februar und
bestatigte, daB der Nichterwerb der Handwerkserlaubnisse kein GesetzesverstoB
s e i , so daB dieses Verfahren seine Legitimation erhielt. Der Standesalteste
stellte von n u n an unbefristete H a n d w e r k s e r l a u b n i s s e aus. D i e s e n
„GesetzesverstoB" n a h m ein ehemaliger Schreiber der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g in
seiner Bittschrift v o m 9. N o v e m b e r 1906 an den Finanzminister z u m AnlaB fur die
B e s c h w e r d e , daB der Standesalteste keine Handwerkserlaubnisse der alten Art
mehr ausgebe, sondern nur noch unbefristete Handwerkserlaubnisse. Dadurch
entstunden groBe Verluste fur die Staatskasse. Fruher hatte die Verwaltung viele
Handwerkserlaubnisse herausgegeben z. B . im D e z e m b e r und Januar 1906
zwischen 200 u n d 3 0 0 Stuck a m Tag, so daB in zwei M o n a t e n 13.500
Handwerkserlaubnisse verkauft worden waren. Die Bittschrift hatte aber keinerlei
EinfluB, da nach A n w e i s u n g des Kassenamtes diese Angelegenheit als
abgeschlossen g a i t .
Die M a s s e der gekauften Gewerbeerlaubnisse zeigt, daB eine
ubereilte
SchluBfolgerung iiber d e n U n t e r g a n g des H a n d w e r k s w a h r e n d der
Industrialisierung fehl a m Platz ware. Die Komplexitat des wirtschaftlichen und
sozialen Gefuges der Hauptstadt anderte die gesamtwirtschaftlichen Strukturen
und die Beziehungen zwischen den gewerbetreibenden Gruppen, schuf neue
Ordnungshierarchien, in die die Handwerksverwaltung nicht m e h r hineinpaBte.
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Hauptstadt ging an der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g vorbei; sie war so intensiv und breit gefachert, daB sich die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g ihr nicht anpassen und ihren Wirkungskreis anscheinend
auch nicht mehr vergroBern wollte und konnte. Die Verwaltung w a r nicht fahig,
iiber ihren standischen R a h m e n hinauszuwachsen. Sie konnte w e g e n ihrer engen
standischen Interessen kein vereinigendes Organisationsprinzip fur Klein- und
Mittelgewerbe ausarbeiten bzw. bilden und begnugte sich mit ihren standischen
Angelegenheiten. Die Gesamtangaben iiber die St. Petersburger Industrie belegen,
596
597
595
Die Vielzahl der Begriffe wie Handwerkserlaubnis, Gewerbeschein und Handelslizenz
kann den Leser verwirren, dem Autor blieb aber nichts anderes ubrig, als sie zu vergleichen.
Es soil angemerkt werden, daB es sich hier um zwei Besteuerungsarten der Handwerker
handelte. Die Handwerkserlaubnisse und Gewerbescheine waren eine Art „Gewerbe-" und
die Handelslizenzen eine Art „Umsatzsteuer".
596
597
Otdet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1907 god. St. Petersburg 1908, S. 207.
ProSenie byvsego pisca remeslennoj upravy к ministru finansov vom 19. November 1906,
in: RGIA, f. 23, op. 7, d. 470: Po raznym voprosam, hier 1. 6f.
daB nicht nur die Anzahl der groBeren, sondern auch der mittleren und kleineren
Betriebe sowie die Gesamtzahl der Handwerker schnell anwuchs. So verdoppelte
s i c h z . B . die Anzahl dieser Art von Betrieben v o n 6.882 im Jahre 1869 auf 13.728
im Jahre 1900. Die Anzahl der Handwerker w u c h s ebenfalls stark von 85.000 auf
126.757 im gleichen Zeitraum a n .
U m den Anteil des H a n d w e r k s am Gewerbe der Hauptstadt zu verdeutlichen,
w e r d e n hier die Gesamtangaben uber die verkauften G e w e r b e - und
Handelslizenzen in der Hauptstadt angefuhrt. Der Anteil des Zunfthandwerks an
den Gesamtabgaben fur die Gewerbe- und Handelslizenzen lag v o n 1873 bis 1891
zwischen 5 , 3 % und 4,04%, was auch ungefahr d e m prozentualen Anteil der
Zunfthandwerker an der Gesamtbevolkerung St. Petersburgs e n t s p r a c h .
In den Jahren des industriellen Aufschwunges zwischen 1873 und 1875 konnten
Klein- und Mittelgewerbe noch ein absolutes Wachstum erzielen: Ihr Anteil an der
Gesamtzahl der erworbenen Gewerbe- und Handelslizenzen stieg von 5 , 3 % auf
5,5%. Seit 1875 zeichnete sich dann allerdings ein stetiger R u c k g a n g des
prozentualen Anteils des Kleingewerbes an den Gesamtabgaben ab (mit Ausnahme
des Jahres 1880 mit 6%), so daB der Anteil bis 1881 auf 2 , 6 % sank, was auf die
Jahre der Rezession zuruckzufuhren ist. Spater konnte sich das Kleingewerbe
etwas erholen und erreichte 1889 4 % und 1890 4 , 0 4 % Gesamtanteil. Die Beitrage
der Handwerker wuchsen von 67.723 auf 95.525 Rubel an. Im prozentualen
Verhaltnis betrug die Zuwachsrate von 1873 bis 1890 4 1 % oder 2 , 4 1 % pro Jahr.
Es w u r d e schon darauf hingewiesen, daB die zeitweiligen H a n d w e r k e r wegen ihrer
Uberzahl wesentlich mehr als die standigen Handwerker in die Handwerkskasse
einzahlten .
598
599
600
Es ist auffallig, daB die Eintrittsgelder und freiwilligen Beitrage mehr als die
Halfte der Einkunfte ausmachten, w a s darauf hinweist, daB j e d e s Jahr eine groBe
Anzahl von H a n d w e r k e r n in die Zunfte eintrat. Im Unterschied zur allgemeinen
Handwerkskasse hatten die Zunftkassen keine regelmaBigen Einkunfte. Die H o h e
ihrer E i n n a h m e n konnte von Jahr zu Jahr sehr unterschiedlich s e i n . Die Anzahl
der Beitrage der zeitweiligen Handwerker in die Handwerkskasse konnte ebenfalls
sehr unterschiedlich sein. In den Jahren 1881 bis 1886 zahlten sie nahezu nichts
ein .
Die wirtschaftliche Rezession in den 80er Jahren fand ihren Niederschlag in den
fehlenden Beitragen fur die Zunftkassen. Die Zunftverwaltungen muBten einsehen,
601
602
Vgl. Tabelle 1,21 und 24 im Tabellenanhang.
Vgl. Tabelle 46 im Tabellenanhang.
Vgl. Tabelle 47 im Tabellenanhang.
Vgl. Tabelle 48 im Tabellenanhang.
Vgl. Tabelle 49 im Tabellenanhang.
daB sie angesichts der Vielzahl von Pleiten und dem K a m p f u m das bloBe
Uberleben der Handwerksbetriebe auf das Einsammeln von fehlenden Beitragen
fur die Zunftkassen weitgehend verzichten muBten. N u r 1887 w u r d e n noch fast
alle offenstehenden Beitrage eingetrieben. Die finanzielle Kraft der zeitweiligen
Handwerker war damit beinahe erschopft, so daB sie im nachsten Jahr nur einen
Bruchteil einzahlen konnten: 1887 waren es 32.154 zeitweilige H a n d w e r k e r und
1888 nur noch 5.530 oder 17,2% der Vorjahreszahl. AuBerdem wurden sie im
Vergleich mit den standigen Handwerkern benachteiligt, indem sie haufiger zur
Kasse gebeten wurden.
Bis z u m Jahre 1916 erhohte sich die H o h e des Beitrages in die Zunft- und
Handwerkskasse etwas, was teilweise durch die Inflationsrate verursacht wurde.
In diesem Jahr zahlte der Meister in die oben genannten Kassen folgende Beitrage
ein: 1. Einmalig b e i m Eintritt in die Zunft 3 Rubel, 2. alljahrlich: in die Zunftkasse
2 Rubel, in die Allgemeine Handwerkskasse 2 Rubel und fur die Unterhaltung der
wohltatigen Anstalten 3,75 Rubel. Insgesamt zahlte ein Meister im Durchschnitt
7,75 Rubel im Jahr. Dies gait als eine M i n d e s t s u m m e ; beim Eintritt wurden oft bis
zu 25 Rubel verlangt. Die Gesellen zahlten beim Eintritt 1,5 Rubel und alljahrlich
1,40 R u b e l .
603
6.5
Zusammenfassung
Zusammenfassend laBt sich uber die Besteuerung der auslandischen Handwerker
im 19. Jahrhundert folgendes sagen: Peter I. beabsichtigte mit der Befreiung der
auslandischen H a n d w e r k e r von der Besteuerung, diese in RuBland anzusiedeln
und das H a n d w e r k voranzubringen. Bis 1810 blieb dieses Privileg erhalten. Der
1810 eingefuhrte Steuersatz von 100 Rubel fur auslandische Meister, 40 Rubel fur
einen Gesellen u n d 20 Rubel fur einen Lehrling w a r im Vergleich mit dem
Steuersatz der russischen H a n d w e r k e r etwa dreimal so hoch. Dies bezeugt einen
in der Regel hoheren Lebensstandard und bessere Geschuftsergebnisse der
auslandischen H a n d w e r k e r im Vergleich mit den russischen. Allerdings
verschlechterte sich 1812, als die Napoleonische G r a n d e A r m e e ins Russische
Kaiserreich einfiel, rasant die gesamtwirtschaftliche Lage. Die auslandischen
Meister akzeptierten in der Regel die geforderten S u m m e n und wiesen lediglich
darauf hin, daB es ihnen unmoglich sei, die ausstehenden Beitrage fur mehrere
Jahre auf einmal zu zahlen. Im Laufe der Zeit w u r d e allerdings eine
Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der auslandischen Handwerker immer
deutlicher. Die standige Verteuerung der Rohstoffe und der Industrieguter Anfang
des 19. Jahrhunderts verbunden mit der kontinentalen Blockade u n d den Kriegen
mit Frankreich und dem Osmanischen Reich, die steigende Inflation und
schlieBlich die niedrigen Zolle fur eingefuhrte Waren trugen zwischen 1817 und
Remeslenniki i remeslennoe upravlenie, S. 37.
1822 dazu bei, daB der Wohlstand der auslandischen Handwerker abnahm und sich
langsam d e m Niveau ihrer russischen Kollegen annaherte. Infolgedessen
verminderte sich die Anzahl der Handwerker in den deutschen Zunften v o n rund
3.000 u m 2.200 auf rund 800 im Jahre 1817. Die gleiche Entwicklung war infolge
der Kontinentalblockade bei den Kaufleuten zwischen 1801 und 1811 zu
beobachten, deren Zahl von 14.310 auf 7.190 sank. Unter den Folgen der
niedrigen Zolle und der allgemeinen wirtschaftlichen Krise in den 18 lOer Jahren,
litten auch die H a n d w e r k e r in den russischen Zunften, deren Anzahl sich zwischen
1811 und 1821 v o n 15.631 auf 7.187 h a l b i e r t e .
Als erstes w u r d e die Besteuerung der Gesellen und Lehrlinge bei den
auslandischen H a n d w e r k e r n mit jeweils 40 und 20 Rubel an die Staatskasse im
Jahre 1818 abgeschafft und eine differenzierte Besteuerung eingefuhrt, nach der
die auslandischen Meister entsprechend ihrem Wohlstand mit einer Steuer v o n 50,
100 u n d
150 R u b e l n b e l e g t w e r d e n k o n n t e n , w a s j e w e i l s
die
Handwerksverwaltung entscheiden konnte. Allerdings sollte sich der mittlere
Steuersatz immer auf 100 Rubel belaufen. Diese Besteuerungsweise wurde im
Jahre 1842 abgeschafft, wonach ein allgemeiner Steuersatz von zwolf Rubel
eingefuhrt wurde. Diese Tatsache spricht dafur, daB die auslandischen Handwerker
ihre Vormachtstellung langsam verloren, was sich in ihrer wirtschaftlichen L a g e
niederschlug. Die Steuerlast der auslandischen Handwerker wurde der der
russischen Handwerker etwa angeglichen. In den Jahren 1849 bis 1851 betrugen
die Steuerabgaben der auslandischen Meister pro Jahr und pro K o p f jeweils 17,6,
19,4 und 15,5 Silberrubel. Die Meister in den russischen Zunften zahlten im Jahre
1825 zwischen neun und zehn Silberrubel, wobei die zeitweiligen Meister noch
drei bis funf Silberrubel an das Adreflkontor zahlten. Im Jahre 1864 lag der
Steuersatz inklusive der Gewerbeerlaubnis bei den letzteren zwischen acht und 14
Silberrubeln, was etwas unter den Werten der auslandischen H a n d w e r k e r lag, weil
diese mehr Kosten an den sozialen Einrichtungen trugen.
Im allgemeinen ist es aber nur moglich, annahernde A n g a b e n uber die
Besteuerung der Zunfthandwerker russischer Zunfte machen, weil es viele
zusatzliche Steuern gab.
604
D e n v o n den Regierungsbeamten festgestellten „MiBbrauchen" in den russischen
und deutschen Zunften lagen zwar Vermutungen uber Geldunterschlagungen der
Zunftaltesten zugrunde, direkte Belege dafur gab es aber nicht. Z u m Teil wurden
diese V e r m u t u n g e n durch die unsachgemaBe Buchfuhrung hervorgerufen.
AuBerdem machte die Handwerksverwaltung von ihrem Recht Gebrauch, die H o h e
der Beitrage fur die Unterhaltskosten der Handwerksverwaltung selbst zu
bestimmen. Seit 1848 wurden diese Sondergeldsammlungen z u m Teil legalisiert,
indem z. B . die bei der Verwaltung angestellten Makler Gehalter bekamen.
U n a b h a n g i g davon, ob die Handwerksverwaltungsmitglieder das Geld
unterschlagen hatten oder nicht, steht fest, daB die Handwerksverwaltung oft von
Vgl. Oderki istorii Leningrada, torn 2, S. 25.
ihrem Recht Gebrauch machte und die Handwerker zu unangemessenen A b g a b e n
zwang. So durfte z. B . j e d e r H a n d w e r k e r aus den Zunften austreten, w e n n er in
einen anderen Stand wechselte b z w . aus d e m Handwerkerstand ausschied. Er
sollte dabei keine zusatzlichen A b g a b e n an die Handwerksverwaltung entrichten.
Trotzdem verlangte die Handwerksverwaltung z. B . v o n Ignatij Karlov, der sich
im Jahre 1850 der geistlichen Laufbahn im Ceremeneckij-Kloster w i d m e n wollte,
eine unangemessene S u m m e v o n 100 Silberrubel als Abtrittsgeld, w o z u sie kein
Recht h a t t e .
W a s die nichtzunftigen H a n d w e r k e r anbetrifft, so waren sie steuerrechtlich
gesehen in einer besseren Lage als die Ziinftigen, weil bei ihnen eine M e n g e
Zunftabgaben wegfielen. Sie entrichteten in der ersten Halfte d e s 19. Jahrhunderts
die Kopfsteuer in H o h e v o n 0,83 b z w . 0,95 Silberrubel sowie eine A b g a b e v o n
drei bis funf Silberrubel an das AdreBkontor, u m in der Hauptstadt ihr G e w e r b e
betreiben zu konnen.
605
605
Po proseniju Ignatija Karlova ob uvoPnenii ego iz obScestva dlja postuplenija v
Bogoslovskij Ceremeneckij monastyr' (30.09.1850-26.10.1851), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d.
911.
7.
Die soziale L a g e der H a n d w e r k e r
Die Erforschung der sozialen Lage der Handwerker in St. Petersburg kann viel
dazu beitragen, die Ursachen fur das soziale Elend der „Unterschichten" der
russischen Gesellschaft zu verstehen. Die Rede v o n V. O. Iordan wahrend der
zweiten T a g u n g iiber die technische Berufsausbildung war eine W a r n u n g , ein
Appell an die Offentlichkeit, nicht die Interessen der „Unterschichten" zu
miBachten:
„...
Wir
diirfen
nichi:
darauf
warten,
bis
die
gegenseitigen
MiBverstandnisse und die Unzufriedenheit der Handwerker dazu fuhren,
daB sie mit der Grausamkeit einer wiitenden M e n s c h e n m e n g e auf die
StraBe gehen. [...] Die materielle Lage vieler H a n d w e r k e r unterscheidet
sich k a u m von der Lage der Haftlinge im Gefangnis, so daB solche
Handwerker
nichts
zu
verlieren
haben
und
bei
solchen
Lebensumstanden keinen Wert mehr auf Ehre und guten R u f legen. Mit
welchen MaBnahmen wird dann die Gesellschaft eingreifen, um sich
von den verbrecherischen Handlungen der verdorbenen handwerklichen
606
U m g e b u n g zu s c h i i t z e n ? " .
Es ist zu klaren, inwieweit die Worte von Iordan der wirklichen Lage der
H a n d w e r k e r entsprachen, ob sie, bedingt durch eine Ubertreibung, eher eine
„Schwarzmalerei" der Lebensumstande der niederen Bevolkerungsschichten waren
und wenig mit der Realitat zu tun hatten, oder o b sie vielmehr Ausdruck der
Hilflosigkeit und E m p o r u n g iiber das soziale Elend der H a n d w e r k e r waren?
7.1
Die soziale Herkunft der H a n d w e r k e r und ihre
demographische
Verteilung
Nicht nur die Kaufmannschaft
und der Adel waren von der Herkunft her
heterogen, so daB sie ihre Mitglieder aus unterschiedlichsten sozialen Schichten
rekrutierten, sondern auch die Handwerkerschaft, w a s mit einem Beispiel zu
belegen ist: Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts gab es in St. Petersburg 18
Hutwerkstatten mit einem bis sechs Beschaftigten. Acht Werkstatten gehorten
Auslandern, funf russischen Kaufleuten, drei Soldaten und Matrosen und j e eine
607
einem Bauern und einem Zunftmeister .
Im Z u s a m m e n h a n g mit der Herkunftsbasis bzw. der sozialen Z u s a m m e n s e t z u n g
der Handwerkerschaft St. Petersburgs ist es notig, auf den Arbeiterbegriff im 19.
Jahrhundert einzugehen. Puttkamer machte auf die wichtige Tatsache aufmerksam,
daB es fur die Reformprojekte und Arbeiterschutzgesetze in der Zeit zwischen den
sechziger und achtziger Jahren charakteristisch war, die Arbeiterschaft nicht als
eine soziale Gruppe, sondern rein funktional als die Beschaftigten in den
jeweiligen Fabriken zu bezeichnen. Erst 1893 w u r d e n in einem Gesetzesentwurf
„,Arbeiter* (rabodie) und ,Arbeitgeber* (rabotodateli)
als zwei komplementare
soziale Gruppen mit entgegengesetzten Interessen" genannt, „wahrend bislang die
Unternehmer den Arbeitern als Partner eines Rechtsverhaltnisses
(nanimateli,
wortlich: Beschaftiger) oder als Herren (chozjaeva, vladel *cy) gegenubergestellt
worden w a r e n " .
Die Ursache, w a r u m die , Arbeiter
nicht als eine soziale G r u p p e w a h r g e n o m m e n
werden konnten bzw. w a r u m es unmoglich war, unter diesem Begriff nur die
Fabrik- u n d Werksarbeiter zu verstehen, lag in der Multifunktionalitat dieses
Wortes. Unter „Arbeiter" wurden g a n z verschiedene professionelle und soziale
G r u p p e n zusammengefaBt. Meistens waren es Saisonarbeiter uberwiegend
bauerlicher, aber auch kleinburgerlicher Herkunft. So stellt Hildermeier fest:
„Innerhalb des meSeanstvo bildete sich - mit dem unscharfen zeitgenossischen
Begriff zu reden - eine untere, noch geringer geachtete , K l a s s e \ die m a n als
, Arbeitsleute' (rabodie ljudi) b e z e i c h n e t e " . D e r Staatsrat OznobiSin formulierte
1841 z. B . den Begriff des „Schwarzarbeiters" (dernorabodij), der mit dem Begriff
„Arbeiter" haufig verwechselt und gleichgesetzt w u r d e , auf folgende Weise:
608
u
y
609
„Unter einem Schwarzarbeiter wird eine Person verstanden, die im
AdreBkontor in der vierten oder funften Klasse registriert ist. Das sind
namlich Lakaien, Kutscher, StraBenfeger, A m m e n , Kochinnen,
Wascherinnen, Kuchenjungen, Gespannreiter, sowie diejenigen, die bei
Privatpersonen beschaftigt werden; die sich in den Arbeitshausern und
in der Lehre bei den masterovye und rerneslenniki
befinden, sowie
Pflasterer, Erdarbeiter, Maurer, Steinschleifer, Ofensetzer, Zimmerer,
607
RGIA, f. 1, op. 2, d. 1879,1. 4f.; d. 1882,1. 38-42; f. 2, d. 629,1. 623f., in: Ocerki istorii
Leningrada, Bd. 1, S. 281.
608
Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 32f.
Stuckarbeiter, Lohnarbeiter (podensdiki), Matrosen, Lotsen und andere
mit schwerer korperlicher Arbeit Beschaftigte" .
610
Bezeichnend ist, daB Oznobisin auch solche Gruppen erwahnt, die mit Arbeitern
nach dem heutigen Verstandnis uberhaupt nichts zu tun hatten. Dies sind Lakaien,
Kutscher, StraBenfeger, A m m e n , Kochinnen, Wascherinnen, Kuchenjungen,
Vorreiter, Lehrlinge, Matrosen und Lotsen. Sehr bedingt k o n n e n unter diesem
Begriff auch Pflasterer, Erdarbeiter, Maurer, Steinschleifer, Ofensetzer, Zimmerer
und Stuckarbeiter zusammengefaBt werden, die fast alle in Artels organisiert
w u r d e n , die mit e i n e r B e g r i f f s k e t t e
wie:
Arbeiter-ArbeiterklasseIndustrieproletariat w e n i g gemeinsam haben. Die einzige Gruppe, die z u m Begriff
der Arbeiter passen konnte, sind die Lohnarbeiter. DaB unter ihnen nicht die
Arbeiter in den GroBindustriebetrieben verstanden wurden, belegt allerdings die
Tatsache, daB Oznobisin zu dieser Gruppe der „Schwarzarbeiter" v o n ca. 130.000
noch weitere 50.000 bis 60.000 Arbeiter, die standig in der Stadt beschaftigt
wurden, dazuzahlte. Z u diesen letzteren sollten auch die Arbeiter in der
GroBindustrie gehoren. Trotzdem war die Anzahl der groBindustriellen Betriebe
zu dieser Zeit im Vergleich zu den Werkstatten bzw. den Betrieben des kleineren
und mittleren G e w e r b e s gering. D a s Petersburger Gewerbe trug in der ersten
Halfte des 19. Jahrhunderts noch uberwiegend kleinindustriellen, handwerklichen
Charakter.
Oznobisin beziffert die Gesamtzahl der „Schwarzarbeiter", die saisonal in die
Hauptstadt kamen, in den Jahren 1839, 1840 und 1841 mit jeweils 127.831,
132.920 und 125.293, wobei davon 1840 und 1841 j e w e i l s 98.621 bzw. 91.877
mannlichen und 34.299 bzw. 33.416 weiblichen Geschlechts waren. D a s waren
fast ausschlieBlich bauerliche Saisonarbeiter, die in St. Petersburg bei ihren
Arbeitgebern in unterschiedlichen Rechtsverhaltnissen standen. Diejenigen, die
weniger als ein Jahr in der Stadt arbeiteten, w u r d e n meistens als Stuckarbeiter
eingesetzt. Diejenigen Arbeiter, die langer als ein Jahr beschaftigt w u r d e n oder
diejenigen, die in die Lehre geschickt wurden, schlossen meistens einen
schriftlichen Vertrag ab, ansonsten waren mudliche Absprachen ublich. Die
610
„Pod cernorabo£imi polagajutsja ljudi, zapisannye v Adresnoj ekspedicii po 4 i 5
razrjadam, как to: lakei, кибега, dvorniki, kormilicy, kucharki, pra6ki, povarenki, forrejtory,
nanimaju§6iesja и dastnych ljudej i и izvoz6ikov, i nachodjaSdiesja v obudenii, v naemnych
domach, obu6aju§6iesja po kakomu-libo usloviju и masterovych i remeslennikov, как
muzskogo tak i zenskogo pola, a takze ne zapisavslesja v Adresnoj ekspedicii: mostovSdiki,
zemlekopy, kamenSCiki, kamenotesy, pe6niki, plotniki, stukatury, poden§6iki, motrosy i
locmany i procej tjazeloju rabotoj /^nimajuSdiesja", aus: Mnenie statskogo sovetnika
OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8, d. 577: О merach uluesenija polozenija rabodich i
remeslennikov v Peterburge, 1. 42.
Arbeitgeber ubernahmen Kost und Logis, w a s fur den handwerklichen Charakter
der meisten Betriebe s p r i c h t .
Die standigen Arbeiter bzw. die standig Beschaftigten im stadtischen H a n d w e r k
w u r d e n allerdings nicht in der oben genannten Gesamtzahl der „Schwarzarbeiter"
erwahnt, weil Oznobisin die Gesamtzahl aller „Arbeiter" mit ca. 188.000-198.000
bezifferte. Mit den Apanagebauern waren es 1840 205.000 ,>Arbeiter". In diese
Statistik w u r d e n die selbstandigen Meister bzw. Zunftmeister nicht aufgenommen,
da diese zu den Arbeitgebern (nanimateli, chozjaeva) gezahlt wurden.
In der Statistik v o n Veselovskij aus dem Jahre 1843 sind etwas andere Zahlen
angefuhrt. In diesem Jahr k a m e n laut den offiziellen A n g a b e n 90.000
unqualifizierte Arbeiter jahrlich nach St. Petersburg (dernorabocy).
R u n d 60.000
dieser Arbeiter k a m e n nur in der Sommerzeit und wurden meistens in der
Bauindustrie beschaftigt. Die ubrigen etwa 30.000 blieben ganzjahrig in St.
Petersburg. A u s ihren Reihen w u r d e n die Arbeitskrafte fur die H a n d w e r k s - und
Industriebetriebe rekrutiert. Hier ist es schwer zu schatzen, w e l c h e n Anteil die
Handwerksbetriebe daran hatten. A u f j e d e n Fall war die Mehrheit im H a n d w e r k
tatig. Die v e r a l l g e m e i n e m d e Bezeichnung der in die Stadt Zugewanderten als
unqualifizierte Arbeiter seitens offizieller Statistiker scheint hier unangebracht zu
sein, weil unter diesen „Arbeitern" auch ausgebildete Handwerker waren. E s kann
als sicher gelten, daB diese Zahl nur die H a n d w e r k e r und Fabrikarbeiter
beinhaltete, weil die wirklich unqualifizierten Arbeiter, unter ihnen Mullversorger,
Trinkwasserfuhrleute u. a., extra aufgefuhrt wurden. Ihre Zahl erreichte 20.000.
D a z u k a m e n noch 6.000 StraBenverkaufer .
611
612
D e m Kontext der Formulierung v o n Oznobisin gemaB gehorten die masterovye
u n d remeslenniki nicht zu den „Arbeitnehmern", sondern zu den „Arbeitgebern",
weil sie Lehrlinge aufiiehmen konnten und v o n daher eigene Werkstatten fuhrten.
Allerdings konnten mit diesen Begriffen auch andere Gewerbegruppen bezeichnet
werden. Masterovoj
konnte damals remeslennik
(Handwerker),
remeslennyj
rabocy
(Handwerksarbeiter), podmaster'e
(Geselle) oder einfach
rabocy
(Arbeiter) im H a n d w e r k oder in der Fabrik bzw. zavodskoj
masterovoj
(Fabrikarbeiter) heiBen. Unter den remeslenniki
wurden dagegen fast
ausschlieBlich H a n d w e r k e r bzw. Meister v e r s t a n d e n .
Die Hauptquelle der Arbeitskrafte fur das expandierende H a n d w e r k St.
Petersburgs waren also fur die hier untersuchte Periode uberwiegend Bauern und
613
611
Ebd., 1. 42f.
612
Veselovskij, Statisticeskie issledovanija, S. 26f.
613
4
Vladimir Dal', Tolkovyj slovar zivogo velikorusskogo jazyka, Bd. 2, Moskau 1989, S.
303f.: „Master, Mesterovoj"; Bd. 3, Moskau 1990, S. 185: ,,Podmaster'e"; Bd. 4, Moskau
1991, S. 6: „Rabo6ij", S. 91 f.: „Remeslo, remeslenyj, remeslenik".
614
Kleinburger anderer russischer Stadte sowie Handwerker aus d e m A u s l a n d .
Dafur legen einige statistische A n g a b e n Zeugnis ab. N a c h einem Verzeichnis aus
den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts wurden in den russischen Zunften 1.455
H a n d w e r k e r gezahlt, von denen 838 oder 5 7 , 6 % leibeigene Bauern waren. 2 6 9
Beisassen m a c h t e n 1 8 , 5 % der Gesamtzahl aus und kamen aus verschiedenen
Stadten. Die Mitglieder anderer sozialer Schichten waren wie folgt vertreten: 14
niedere Kirchendiener, neun Soldatenkinder und Kutsche, funf Personen
unbestimmter sozialer Herkunft, 96 Auswanderer aus den Ostseeprovinzen und
188 auslandische Handwerker. Die letzteren traten fast ohne A u s n a h m e den
deutschen und russischen Zunften b e i .
615
Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts blieb das prozentuale Verhaltnis der
sozialen Herkunftsgruppen unter den Zunfthandwerkern im Vergleich zu den
1720er Jahren ungefahr gleich. Die Materialien der drei stadtischen
Volkszahlungen von 1 8 1 1 , 1 8 1 5 / 1 6 und 1834/35 geben eine Vorstellung iiber die
soziale Herkunft der standigen Zunftmeister, die einen festen Stamm der
Handwerkerschaft St. Petersburgs b i l d e t e n (siehe Tab. 10).
Die statistischen Erhebungen der Jahre 1 8 1 1 , 1 8 1 5 / 1 8 1 6 und 1834/1835 erfaBten
insgesamt 1.465 Personen. V o n diesen neuen Zunftmitgliedern waren 762
freigelassene und staatliche Bauern, was mehr als 5 0 % ausmachte. E s waren keine
leibeigenen Personen mehr, wie es 1724 noch der Fall war, sondern ehemalige
leibeigene Bauern. In dieser Gruppe wiederum waren am zahlreichsten die
freigelassenen
Hausknechte vertreten, was kaum ein Zufall war, weil z. B . im
Jahre 1836 in St. Petersburg mehr als 50.000 Hausknechte wohnten, von denen
viele unter anderem dem Schneider- oder Schuhmacherhandwerk nachgingen,
ohne dabei in die Zunft der Hausdiener (cech slug) oder in die Zunft des
entsprechendes H a n d w e r k s einzutreten .
616
617
Die Anzahl der in die Zunfte eingetretenen Beisassengemeindemitglieder stieg im
Vergleich zu den 1720er Jahren wesentlich an. Dieser Bevolkerungsgruppe
gehorten Kleinburger, Kaufleute, Handwerkerkinder und Zoglinge des
Erziehungshauses an. Es entstand ein fester Kern von Stadtburgern, w a s dazu
beitrug, daB sich der Handwerker stand immer deutlicher profilierte. In den ersten
Jahren nach der Hauptstadtgriindung war es nicht moglich, weil die ganze
Handwerkerschaft wie auch die ganze gewerbetreibende Bevolkerung auf einmal
614
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 8; Heiko Haumann, Unternehmer in der
Industrialisierung RuBlands und Deutschlands. Zum Problem des Zusammenhanges von
Herkunft und politischer Orientierung, in: Scripta Mercaturae, Heft 1/2, 1986, S. 143-161.
615
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 102.
6 , 6
Ebd., Bd. 2, S. 32.
617
Zabolockij-Desjatovskij, Statistideskie svedenija о St. Peterburge, Bd. 1-2. SPb. 1836, S.
124.
ktinstlich auf den B o d e n der neuerstandenen Stadt verpflanzt w u r d e . Die Beitritte
z u m Handwerkerstand aus dieser sozialen G r u p p e lagen in den Jahren 1811 bei
2 6 % und zwischen 1834 und 1835 bei 2 7 , 3 % der Gesamtzahl der Eintritte in die
Zunfte. D i e Nachkriegsjahre 1815/1816 k o n n e n hier als eine A u s n a h m e betrachtet
werden, weil die stadtische Gesellschaft in ihren finanziellen und menschlichen
Ressourcen vollig erschopft war. D a s beweist auch der starke R u c k g a n g der
Handwerkerzahlen in diesen J a h r e n :
618
Tabelle 10: D i e soziale Herkunft der Zunftmeister 1811. 1815-1816 und 18341835
1811
1815-1816
1834-1835
Freigelassene
Hausknechte
(dvorovye)
155 (30,2%)
80 (40%)
296 (39,5%)
Freigelassene Bauern
53 (10,3%)
16 (8%)
61 (8,1%)
Staatsbauern
45 (8,7%)
8 (4%)
48 (6,4%)
Kleinburger von St.
Petersburg unter
anderem Stadten
48 (9,3%)
-
87(11,6%)
Kaufleute von St.
Petersburg unter
anderem Stadten
20 (3,8%)
3(1,5%)
17(2,2%)
106(18,8%)
73 (36,5%)
108(14,5%)
Kinder der
Handwerker von St.
Petersburg
35 (6,8%)
3(1,5%)
9(1,2%)
Uneheliche Kinder u.
aus dem
Erziehungshaus
6(1,1%)
1 (0,5%)
92(12,3%)
Soldaten im
Ruhestand und ihre
Kinder
8(1,5%)
-
-
Ubrigen
37 (9,5%)
15(8%)
25 (4,2%)
523 (100%)
199 (100%)
743 (100%)
Jahr
Auslander
Gesamt
Quelle: Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2, S. 32.
Die auslandischen Handwerker spielten bei der Bildung der handwerklichen
Korperschaft der Hauptstadt eine genauso wichtige Rolle wie 100 Jahre zuvor. In
den Jahren 1811 und 1834/1835 wiesen sie mit jeweils 1 8 , 8 % und 1 4 , 5 % einen
hohen Prozentsatz an der Gesamtzahl der Beitritte auf. In den 181 Oer Jahren nach
d e m E n d e des Krieges mit N a p o l e o n traten sehr viele auslandische Handwerker
in die russischen Zunfte uber, w a s eine Halbierung der Handwerkerzahlen in den
deutschen Zunften verursachte. So machten sie unter den neu Beigetretenen in den
russischen Zunften in den Jahren 1815-1816 mit 73 Meistern 3 6 , 5 % aus. Dies laBt
sich dadurch erklaren, daB die Handwerker in den deutschen Zunften seit 1810 mit
100 Rubel besteuert wurden, was weit uber dem Steuersatz der H a n d w e r k e r in den
russischen Zunften lag. D u r c h den Ubertritt wollten sie offenbar dieser hohen
Besteuerung entkommen. Die relativ hohe Beitrittszahl der Kleinburger lieB spater
deutlich nach, so daB in den Jahren 1855 bis 1856 nur 4 4 7 mannliche u n d 2 9 0
weibliche Personen, insgesamt also 737 Kleinburger, als Handwerker tatig waren.
D a s machte 1,1% der Gesamtzahl der mescane a u s .
Die soziale Herkunft aus dem Bauernstand schlug sich bei den Zunftmitgliedern
folgendermaBen nieder. Im Jahre 1844 gab es unter den zeitweiligen Handwerkern
der russischen Zunfte und in den deutschen Zunften 13.274 Gesellen und 12.836
Lehrlinge, von denen jeweils 6 1 , 5 % bzw. 6 5 , 9 % ihrem Stand nach Leibeigene
w a r e n . Einer anderen Quelle ist zu entnehmen, daB im gleichen Jahr v o n den
24.703 zeitweiligen Zunftmeistern, Gesellen und Lehrlingen 15.043 oder 61 % dem
bauerlichen Stand a n g e h o r t e n .
Der immer starkere Z u w a c h s an bauerlichen Handwerkern w u r d e hauptsachlich
dadurch verursacht, daB die leibeigenen Bauern immer weniger dem Frondienst
(barscina)
nachgingen, da sie von den Grundherren in die Stadt z u m
Geldverdienen geschickt wurden und auch die Bauernkinder wurden zu den
stadtischen H a n d w e r k e r n in die Lehre gegeben, u m spater von ihnen als
selbstandige H a n d w e r k e r oder Gesellen bei einem Meister Geldzins (obrok)
b e k o m m e n zu k o n n e n . So n a h m zwischen den Jahren 1765 und 1858 der
Prozentsatz der Barscina-Bauern von 40,8 auf 3 2 , 5 % an der Gesamtzahl der
619
620
621
622
619
Otcet po upravleniju S. Peterburgskogo meScanskogo soslovija S. 23-35, aus: Hildermeier,
Burgertum, S. 443.
620
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2, S. 33; Vgl. ebd., Bd. 1, S. 36 f., aus: RGIA, f. 1287, op.
37, d. 180 (1844): О disle nachodjasdichsja v S. Peterburge rabotnikov i ucenikov kazdogo
cecha porozn , как krepostnogo, tak i svobodnogo sostojanija, 1. 6-11; ebd., S. 37, aus: RGIA,
f. 1287, op. 37, d. 180 (1844): О aisle, 1. 13 ff.
4
621
Zapiska statskogo sovetnika Smirnova vom 23.06.1844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100:
Ob obrevizovanii, hier 1. 48.
622
Zum bauerlichen Standeswechsel s.: Heller, Rechtliche, S. 99-107; Hildermeier,
Burgertum, S. 234-246.
6 2 3
Bauern a b . A u c h die Staatsbauern wurden durch die E r h o h u n g des Geldzinses,
der zwischen 1725 und 1839 v o n 0,4 auf 2,86 Rubel angestiegen war, dazu
gezwungen, als Saisonarbeiter in die Stadt zu g e h e n . U m zu verdeutlichen,
welche A u s w i r k u n g e n das fur St. Petersburg in der Zeit vor der groBen Reform
von 1861 hatte, soil hier in Erinnerung gerufen werden, daB im Jahre 1801 50.454
oder 2 5 % , 1821 107.983 bzw. 2 7 , 5 % und 1857 202.847 bzw. 4 1 , 3 % der
stadtischen B e v o l k e r u n g Bauern w a r e n . U m die Jahrhundertwende machten die
Bauern schlieBlich gut die Halfte der hauptstadtischen Bevolkerung aus.
Es ist fast selbstverstandlich, daB St. Petersburg mit seinem groBen
wirtschaftlichen Potential fur die naheliegenden Regionen ein starker Magnet war,
so kann es nicht verwundern, daB auch die finnischen H a n d w e r k e r zahlreich in der
Hauptstadt vertreten waren.
W u r d e n im 18. Jahrhundert z. B . 98 finnische Juweliere in St. Petersburg gezahlt
so w u c h s deren Anzahl zwischen 1800 und 1870 auf 508 an. Es waren nicht nur
erwachsene H a n d w e r k e r , die in die Hauptstadt kamen, sondern auch finnische
Kinder, von denen viele in die Lehre zu den St. Petersburger Meistern gegeben
wurden. Seit d e m Jahre 1851, als alle finnischen Lehrlinge dazu verpflichtet
wurden, ihre Vertrage mit den Meistern in der Finnischen Abteilung fur das PaBund M e l d e w e s e n (Finskijpasportnyj
otdel) zu registrieren, w u r d e n hier bis 1900
2081 solcher Vertrage registriert . E s gab mehrere Griinde, w a r u m die
H a n d w e r k e r aus Finnland nach St. Petersburg k a m e n . Fur die Gesellen aus
Finnland, die zu H a u s e nur schwerlich den Meistertitel erlangen konnten, weil es
dort weniger Arbeit gab und die Zunfte rigoros die Anzahl der Handwerker
begrenzten, bot St. Petersburg viel groBere Chancen z u m beruflichen Aufstieg und
bessere V e r d i e n s t m o g l i c h k e i t e n . Sie konnten hier auBerdem eine hohere
Fachqualifikation erwerben. A u c h die Wettbewerbsfreiheit, die in Finnland durch
die Zunfte stark eingeschrankt war, spielte eine wichtige Rolle fur den EntschluB,
nach St. Petersburg zu gehen, die fur die finnischen H a n d w e r k e r im 18. u n d 19.
Jahrhundert die bedeutendste Stadt der nordeuropaischen Region und sowohl ein
Fenster nach Europa als auch nach RuBland w a r .
624
625
626
627
628
Fur die Schweden tibte St. Petersburg ebenfalls eine starke Anziehungskraft aus.
V o n 1830 bis 1890 kamen aus Stockholm 1.800 Handwerker nach St. Petersburg.
623
Mieck, Europaische, S. 763.
624
Ebd., S. 766.
625
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 2, S. 25.
626
Sune Jungar, Finljandskie remeslenniki v S. Peterburge, in: Remeslo i manufaktura v
Rossii, Finljandii i Pribaltike. Leningrad 1975, S. 96.
627
Ebd., S. 97.
Insgesamt b e k a m e n in A b o , einer finnischen Stadt, die als Zwischenstation fur
nordeuropaische Auswanderer gait, in den Jahren zwischen 1828 und 1852 2.356
auslandische H a n d w e r k e r Passe ausgehandigt, u m nach St. Petersburg gehen zu
konnen .
Die vielschichtige soziale Z u s a m m e n s e t z u n g der Handwerkskorperschaft der
Zunfte wurde durch die Gesetzgebung begiinstigt, die flieBende Standesgrenzen
zulieB, was schon im Unterkapitel uber die Gesetzgebung im 18. Jahrhundert
erlautert wurde. Prinzipiell wurde eine gewerbliche Tatigkeit bzw. die
Unterhaltung eines Gewerbebetriebes alien ohne Standesunterschied erlaubt.
Dort, w o Zunfte bestanden, trat ihnen j e d e r bei, der die dafur benotigten
Voraussetzungen
erfullte
u n d die d a z u b e n o t i g t e n G i l d e n oder
Handelsbescheinigungen erwarb. Als standiger Meister konnte der Zunft j e d e r
beitreten, der z u m Kleinburgertum gehorte; als zeitweilige Zunfthandwerker
konnten sich ohne Wechsel des Standes Kleinburger, Raznocmcy, Bauern, Adelige
und Auslander e i n s c h r e i b e n .
Die Reform v o n 1861 hatte keine grundsatzlichen Veranderungen im
Zuwachsprinzip bzw. in der sozialen Z u s a m m e n s e t z u n g der Handwerker in St.
Petersburg herbeigefuhrt und verstarkte nur die fhiheren Tendenzen, da sie eine
weitere Freisetzung der Arbeitskrafte auf dem Land fur die stadtische Industrie
bewirkte. St. Petersburg blieb eine Einwanderungsstadt, die den enormen Bedarf
an Arbeitskraften nur durch den N a c h s c h u b v o m Land decken konnte. Diese
Tatsache k o n n t e zu dem SchluB verleiten, daB die meisten bauerlichen
Handwerker bzw. Lohnarbeiter nur saisonal oder kurzfristig in der Stadt
beschaftigt wurden, w a s auch fur die Jahre von der G r u n d u n g der Stadt bis z u m
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zutraf. Es ist aber festzustellen, daB gerade in
der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung in entgegengesetzter
Richtung eintrat. Es gab nun eine immer groBere Anzahl bauerlicher Handwerker,
die in der Hauptstadt seBhaft wurde. Ungeachtet der starken saisonalen
Fluktuation
der Arbeitskrafte
verfestigte
sich anscheinend
die
Arbeiterschaftsstruktur betrachtlich, so daB A. V. Pogozev fur die Jahre 1886-1893
feststellte, daB St. Petersburg den hochsten Prozentanteil derjenigen Arbeiter in
RuBland aufwies, die rund urns Jahr in den Fabriken arbeiteten und folglich nur
schwache Bindungen z u m Dorf h a t t e n . Genau g e n o m m e n waren in den 2 8 8
GroBbetrieben 81.573 Arbeiter beschaftigt, von denen 72.783 oder 8 9 % rund urns
629
630
631
629
Ebd., S. 95.
630
Trudy komissii, cast 1, S. 176f.
631
4
A. V. Pogozev, Ucet Cislennosti i sostav rabo£ich v Rossii, St. Petersburg 1906, S. 101;
Paiitnov, Polozenie rabocego klassa v Rossii, torn 2: Period svobodnogo dogovora v
uslovijach samoderzavnogo rezima (s 1861 po 1905 g.), izd. 3, Leningrad 1924, S. 22f.
632
Jam* in St. Petersburg b l i e b e n . D e s w e g e n m a g die B e h a u p t u n g von P. N .
Stolpjanskij, der sich seinerseits auf die M e i n u n g des Fabrikinspekteurs Ja. T.
Michajlovskij bezog, daB
„der Fabrikarbeiter [...] in RuBland in uberwiegender Mehrzahl
gleichzeitig ein Landeigentumer [ist]. Fur ihn ist die Arbeit in der
Fabrik nicht die einzige Einnahmequelle, sondern nur ein
N e b e n v e r d i e n s t zu d e m erwirtschafteten
P r o d u k t bei der
Landbestellung. [Der Fabrikarbeiter] bleibt ein Landarbeiter [ein Bauer]
und zieht die Arbeit auf dem Land der Fabrikarbeit v o r " ,
633
fur die allgemeinrussischen Verhultnisse richtig sein, fur St. Petersburg ist es aber
k a u m zutreffend. Hier war eine deutliche T e n d e n z der Handwerker zu erkennen,
nicht nur saisonal sondern ganzjahrig in der Stadt zu bleiben. Ein
Regierungsbeamter bestatigte diese Tendenz, indem er schon 1866 feststellte, daB
die zeitweiligen H a n d w e r k e r in St. Petersburg meistens seBhaft waren. E r
konstatierte aber auch eine betrachtliche Spaltung in den Betrieben der standigen
Zunfthandwerker und sagte, daB in dieser Gewerbeschicht
„zwei groBe M a s s e n vorhanden sind: einerseits die selbstandigen
Meister, andererseits die Arbeiter [rabotniki], die z u m groBten Teil
zeitweilig im H a n d w e r k und in der Hauptstadt ihre Beschaftigung
fanden .
634
Diese Tatsache spricht dafur, daB die standigen Handwerker, die zu den
Stadtbiirgern gehorten und in der Stadt ihre Werkstatt lebenslang oder den groBten
Teil ihres Lebens betrieben, in betrachtlichem MaB zu Kleinunternehmern wurden,
die kein Interesse an der Ausbildung von Lehrlingen hatten, da sie - von wenigen
A u s n a h m e n abgesehen - keine Lehrlinge mehr beschaftigten, sondern nur noch
erwachsene Arbeitnehmer. Ihnen wurde bestandig das Beispiel der Kaufleute vor
A u g e n gefuhrt, die in der Regel auch kein H a n d w e r k beherrschten und trotzdem
oft eine Werkstatt betrieben. Sie stellten einen Meister bzw. F a c h m a n n ein und
kummerten sich nur noch u m den Warenabsatz.
Dies war nicht der Fall bei den zeitweiligen Handwerkern, die v o m Land kamen
und deren soziale Orientierungswerte noch patriarchalisch blieben, w a s heiBt, daB
sie sich an traditionellen Werten orientierten, unter denen sie ein „richtiges"
arbeits- und hausgemeinschaftliches Leben verstanden, in d e m die Gesellen und
632
Pazitnov, Polozenie, t. 2, S. 23.
633
P. N. Stolpjanskij, 2izn' i byt peterburgskoj fabriki za 210 let её suSiestvovanija 17041914, Leningrad 1925, S. 118f.
634
Dokladnaja zapiska M. Machova, in: RGIA, 1287, op. 8, d. 1554,1. 2.
Lehrlinge ihren Platz als „Familienmitglieder" hatten. Dies hinderte j e d o c h die
zeitweiligen H a n d w e r k e r nicht daran, ihre Betriebe, die in der Regel v o m Umfang
her doppelt so groB wie die der standigen Handwerker waren, im breiten MaBstab
zu betreiben. Dies barg oft Risiken, sie gingen oft bankrott, w o r a u f indirekt ihre
hohe Fluktuation hinweist. Infolge der groBen sozialen und raumlichen Mobilitat
der zeitweiligen Handwerker traten im Laufe von 15 Jahren, zwischen 1855 und
1870, rund 37.000 H a n d w e r k e r zeitweilig in die Zunfte ein und in etwa auch die
gleiche Anzahl a u s .
635
Die regionalen Besonderheiten der Korperschaft, die im Gewerbe St. Petersburgs
tatig war, lassen sich der Volkszahlung in Stadt und Gouvernement im Jahre 1897
entnehmen. Insgesamt gab es in diesem Jahr 2.112.033 Einwohner, v o n denen
1.007.567 zur ortsansassigen Bevolkerung gehorten: sie machten 4 7 , 7 % der
Gesamtzahl aus. Die andere Halfte bildeten die A n k o m m l i n g e aus dem St.
Petersburger
Gouvernement
mit
155.893
oder
Gouvernements und Staaten mit 948.573 oder 4 4 , 9 %
7,4%
636
und
aus
anderen
. Die meisten Einwanderer
k a m e n aus dem T v e r ' e r (149.560), JaroslavPer (104.283), N o v g o r o d e r (81.720)
und Vitebsker (44.766) Gouvernement, aus Livland (37.709), d e m Rjazansker
(34.510), Smolensker (33.412), Kostromaer (31.413) und M o s k a u e r (29.729)
Gouvernement, aus Estland (27.729) sowie dem Kaluzsker (20.082), Vologoder
(17.736) und anderen Gouvernements. Dabei lassen sich drei
Regionen,
ZentralruBland, die Ostseeprovinzen und der russische Norden ausgliedern, die die
637
groBte Zahl der E i n w a n d e r e r stellten . D a s besondere daran war, daB der St.
Petersburger Arbeitsmarkt die groBte Zahl von Zuwanderern nicht aus den
naheliegenden Gouvernements wie Vologoda, Oloneck und Pskov, mit A u s n a h m e
4
N o v g o r o d s , hatte, sondern von weit entfernten G o u v e r n e m e n t s wie T v e r ,
4
638
Jaroslavl , Vitebsk und a n d e r e n . Das Kontingent der Einwanderer blieb dabei
jahrzehntelang konstant. Die Volkszahlung von 1910 ergab ahnliche Ergebnisse
wie die von 1869. A u c h 1910 kamen die Bauern aus denselben Gouvernements
nach St. Petersburg und in ungefahr dem gleichen proportionalen Zahlenverhaltnis
635
Proekt obrazovanija novogo „S. Peterburgskogo obScestva remeselnnoj promySlennosti,
St. Petersburg 1871, S. 23.
636
В. V. Tichonov, Osnovnye napravlenija vnutrennej migracii naselenija Rossii (po dannym
perepisi 1897 g. о nemestnych urozencach), in: IZ 88, Moskau 1971, S. 210-256, hier S. 229.
637
638
Ebd., S. 243ff.
Vgl. Ё. А. Korol'cuk, Ob osobennostjach ekspluatacii i stacecnoj bor'by peterburgskogo
proletariata (70-90-e gg. 19 veka). In: IZ 89 (1972), S. 134-186, hier S. 153f.
wie 1 8 6 9
639
. Eine ausgesprochen wichtige Rolle spielte St. Petersburg fur die
Bevolkerung des St. Petersburger Gouvernements, aus dem z. B . im Jahre 1912
44.057 Heimarbeiter in St. Petersburg beschaftigt w u r d e n
640
.
Hinsichtlich der beruflichen Z u s a m m e n s e t z u n g der bauerlichen H a n d w e r k e r ist
die Untersuchung uber die Jaroslavler bauerlichen H a n d w e r k e r v o n L. L u r ' e und
A. Chitrov von besonderem Interesse
6 4 1
. Ihren A n g a b e n nach wurden diese
A n k o m m l i n g e wie auch die Mehrheit aller gewerbetreibenden Bauern, die nach
St. Petersburg k a m e n , in der Bauindustrie, aber auch als Schneider beschaftigt.
Uberhaupt gingen 6 1 , 7 % aller Saisonarbeiter im J a r o s l a v r e r Gouvernement nach
St. Petersburg. Darunter waren solche Berufe wie die der Maurer, Ofensetzer,
Dachdecker, Maler, Stuckarbeiter, Tapezierer, Schneider und
Korbflechter
vertreten. Der Anteil der J a r o s l a v r e r an der B e v o l k e r u n g der Hauptstadt w u c h s
v o n 6 , 8 % oder 45.200 Personen im Jahre 1869 auf 8,2% oder 154.400 Personen
642
im Jahre 1 9 1 0 .
U b e r die Stellung der Frauen im H a n d w e r k ist nicht besonders viel bekannt. Deren
Anteil im H a n d w e r k w a r traditionell gering. Die Frauen w u r d e n meistens in der
Tabak-, Textil- u n d Bekleidungsindustrie beschaftigt. A u s den wenigen A n g a b e n
iiber ihre Lage ist es moglich, eine allgemein unbefriedigende berufliche und
soziale Situation sowohl im H a n d w e r k als auch in der GroBindustrie festzustellen.
U m die Jahrhundertwende waren die Hauptmerkmale der Frauenarbeit ein
niedriger Arbeitslohn, ein langer Arbeitstag (bis zu 14 Stunden), fehlende
koфorative
bzw.
professionelle
Bindungen
unter
den
Frauen
und
ihre
unzureichende professionelle Ausbildung aufgrund der ungeniigenden Zahl v o n
Lehrstellen und des mangelhaften Ausbildungsprozesses, w a s sich in haufigen
643
Klagen, die seitens der Arbeitgeber zu horen waren, n i e d e r s c h l u g .
639
Vgl. A. G. Rasm, Forrnirovanie promySlennogo proletariata v Rossii, Moskau 1940;
КогоРбик, Ob osobennostjach, S. 155.
640
Promysly krest'janskogo naselenija S. Peterburgskoj gubernii. S. Peterburgskij uezd, SPb,
1912; Promysly (...), CarskosePskij uezd, St. Petersburg 1910; Promysly (...), Petergofskij
uezd, St. Petersburg 1911; Promysly (...), SlissePburgskij uezd, St. Petersburg 1909;
Promysly (...), Gdovskij uezd, St. Petersburg 1914; Promysly (...), Luzskij uezd, St.
Petersburg 1913; Promysly (...), Novoladoiskij uezd, St. Petersburg 1908.
641
L. Lur'e, A. Chitrov, Krest'janskie zemljacestva v rossijskoj stolice: jaroslavskie
„piter§6iki", in: Nevskij Archiv. Istoriko-kraevedceskij cbornik П, Moskau-St. Petersburg
1995, S. 307-354.
642
643
Ebd., S. 309.
V. N. Chanykov, К voprosu о ienskom trude v Rossii, Moskau 1899, S. 10ff.; Karnovid,
О razvitii zenskogo truda v Peterburge, St. Petersburg 1863.
Es ist im Zusarnmenhang mit Frauen bzw. Meisterinnen im H a n d w e r k ein Vorfall
zu erwahnen, der einem archivalischen Aktensttick zu entnehmen ist, das einen
kurzen Einblick in ihre Lage um die Mitte des 19. Jahrhunderts erlaubt . Es ging
u m die Meisterinnen der Nudelmacherzunft Elena Michajlovna Petrova u n d
Evdokija Kubova, die am 2 8 . April 1850 an den Innenminister einen Bittschrift
einreichten, in der sie sich uber die angeblichen Monopolbestrebungen der
Backerzunft beschwerten. In der Beschwerdeschrift wurde angemahnt, daB laut
d e m neuen Statut die Backerzunft angeblich auch N u d e l w a r e n herstellen dtirfe
und dadurch die Existenz der Nudelmeister bedroht sei. Drahtzieher dieser Intrige
waren, wie sich spater herausstellte, der fruhere Konditorenzunftalteste Tobias
Branger, der Alteste der Nudelmacherzunft Greppi sowie der Kaufmann Aleksej
Lapin, die die Meisterinnen K u b o v a und Petrova zur Unterschrift der
Beschwerdeschrift g e z w u n g e n hatten. Sie galten damit als Klagerinnen und zogen
somit den U n m u t des Innenministers auf sich. Dieser Vorfall zeigt, daB die Frauen
zu dieser Zeit immer noch eine untergeordnete und passive Stellung in der
„Mannerwelt" hatten und sich den A n w e i s u n g e n v o n Handwerkskollegen fugen
muBten, wodurch sie manchmal in eine prekare L a g e g e r i e t e n .
Uber den Anteil der Frauen im St. Petersburger H a n d w e r k in der ersten Halfte des
19. Jahrhunderts gibt es wenig Zahlenmaterial. Im M a r z 1841 waren z. B . unter
3.776 Beschaftigten in den untersuchten Handwerksstatten nur 36 Meisterinnen
bzw. Facharbeiterinnen, 39 Lehrmadchen, 2.872 erwachsene Arbeitskrafte
mannlichen Geschlechts und 839 Jugendliche beschaftigt, w a s einen Frauenanteil
von nur 2 % a u s m a c h t e .
644
645
646
In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts verstarkte sich die allgemeine Tendenz,
den ansteigenden Bedarf an Arbeitskraften durch die billigere Arbeitskraft des
weiblichen
Geschlechts
zu
decken.
So
waren
in
der
St.
Petersburger
verarbeitenden Industrie im Jahre 1869 2 5 , 2 % aller Arbeitnehmer Frauen und im
Jahre 1885 machten sie schon 3 1 , 4 % a u s
647
. Den A n g a b e n von N . 2ennin nach gab
644
Es war dariiber hinaus unter der Vielzahl, der Шг diese Arbeit untersuchten Aktenstucke,
das einzige Aktenstuck, in dem uber die Meisterinnen im Handwerk berichtet wurde.
645
Po proseniju masteric (...) Petrovoj i Kubovoj (...), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 846,1. 1,
4f.
646
Raport OznobiSina (mart 1841 g.), in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uludSenija,
hier 1. 12; Ein wesentliches Merkmal der St. Petersburger Zunfte war, daB in ihnen auch
Frauen Mitglieder waren, die manchmal sehr erfolgreich ihr Handwerk betrieben. So fand
sich beispielweise 1861 unter den Teilnehmern der Manufakturausstellung die Zunftmeisterin
und Korsettmacherin Gjusson, die eine Auszeichnung Шг ihre Exponate erhielt, aus:
Statisticeskie svedenija о fabrikax i zavodax eksponentov, polu6iv§ich nagrady na
manufakturnoj vystavke 1861 g., St. Petersburg 1862, S. 76.
es 1858 im Gesamthandwerk der Hauptstadt 2 2 % Handwerkerinnen u n d 7 8 %
648
Handwerker .
Die Werte bei den Zunfthandwerkern und -handwerkerinnen waren in der zweiten
Halfte des 19. Jahrhunderts viel niedriger im Vergleich mit d e m G e s a m t h a n d w e r k
bzw. -industrie. Dennoch lassen sie die demographischen Tendenzen im H a n d w e r k
deutlich werden. Im Jahre 1866 gab es 1.959 Meisterinnen und L e h r m a d c h e n oder
6,7% der Gesamtzahl der Handwerker in den russischen Zunften. Es ist dabei zu
bemerken, daB auch die Tochter und Frauen der standigen Meister
als
Standesangehorige mitgezahlt wurden. D e s w e g e n liefern diese A n g a b e n nur
annahernde Werte. In den Jahren 1867, 1868 u n d 1873 stiegen die Proportionen
mit 2.076 oder 6,7%, 1.789 oder 6 % und 2.741 oder 7,6% Frauen leicht an. In den
nachsten Jahren trat diese steigende Tendenz immer deutlicher z u t a g e
Folglich konnte sich der prozentuale Anteil an Arbeitskraften
649
.
weiblichen
Geschlechts v o n 6,7% im Jahre 1866 auf 15,7% im Jahre 1891 mehr als
650
v e r d o p p e l n . In den nachsten zehn Jahren stiegen die Werte mindestens noch u m
ein Drittel u n d betrugen im Jahre 1900 2 0 , 8 %
Tabellenanhang
sind
Handwerksbetriebe
alle
Branchen
mehrheitlich
fur
vertreten
651
. In der Tabelle 24 im
1900
waren.
aufgefuhrt,
Der
in
Prozentsatz
denen
der
Arbeiterinnen zur Gesamtzahl der Beschaftigten betrug hier 16,7%. Zieht man, u m
einen noch genaueren Koeffizient erreichen zu konnen, alle Betriebe, die mehr als
2 0 Beschaftigte hatten und ihren handwerklichen Charakter moglicherweise
verloren, ab, so ergibt sich ein prozentuales Verhaltnis v o n 2 0 , 8 % .
E s ist festzustellen, daB sich mit Beginn der Industrialisierung der Anteil
weiblicher Arbeitskrafte nicht nur in der GroBindustrie, sondern auch im
H a n d w e r k wesentlich vergroBerte. AuBerdem w u r d e St. Petersburg in der zweiten
Halfte
des
19. Jahrhunderts zu einer M o d e m e t r o p o l e
in RuBland - die
Damenschneidereien u n d uberhaupt alle H a n d w e r k e , die mit D a m e n b e k l e i d u n g
zu tun hatten, expandierten kraftvoll und stellten Waren nicht nur fur St.
Petersburg, sondern fur ganz RuBland her, w a s z u m absoluten Z u w a c h s an
weiblichen Fachkraften im H a n d w e r k beitrug.
648
N. Vermin, Е§бё neskoPko slov, S. 526.
649
Vgl. Tabelle 5, 6, 7 und 8 im Tabellenanhang.
650
Vgl. Tabelle 19, 55 im Tabellenanhang.
7.2
Die L e b e n s - und Arbeitsverhaltnisse im H a n d w e r k
A m 6. D e z e m b e r 1840 schickte der Leiter der dritten Abteilung der Kaiserlichen
Kanzlei, Graf Aleksandr Christoforovic Benkendorf, d e m Finanzminister, Graf
Egor Francevic Kankrin, ein Geheimschreiben mit der Verfugung des Zaren, die
Lage der Arbeiter und H a n d w e r k e r zu erforschen. Die Regierung war nicht bereit,
diesem Problem offen nachzugehen, um die Aufmerksamkeit der Offentlichkeit
nicht zu wecken bzw. die Gemuter nicht zu reizen. Es sollten vor allem die
Ursachen fur schwere Erkrankungen in dieser Bevolkerungsgruppe festgestellt und
die Mittel zu ihrer V o r b e u g u n g herausgefunden werden. Die K o m m i s s i o n wurde
mit d e m Generalmajor Graf Fedor Fedorovic Buksgevden (Friedrich-Wilhelm),
d e m Adjutanten Oberst Furst Illarion Vasil'evie Vasil*cikov, d e m Adelsmarschall
von
St.
Petersburg,
dem
Stadtoberhaupt
und
einem
Beamten
vom
652
Finanzministerium b e s e t z t . Die Durchfuhrung des V o r h a b e n s leitete der
Staatsrat
Oznobisin.
ausfuhrlichen
Bericht
Reviervorsteher
des
Er
legte
vor,
der
am
18. Februar
sich
Ochtensker,
auf die
des
1841
Buksgevden
Informationen,
Vasil'evsker
und
einen
welche
des
die
zweiten
Admiralitatsviertels gesammelt. hatte, stutzte.
In diesen Stadtteilen besichtigten die Beamten 85 W o h n u n g e n , v o n denen 25 als
gut, 30 als befriedigend und 30 als sehr schlecht bewertet wurden. Sie wurden
meistens von Atelsarbeitern bewohnt, die in den B a u h a n d w e r k e n als Zimmerleute,
Steinschleifer, Maurer, Stuckarbeiter und Ofensetzer beschaftigt wurden. Daruber
hinaus waren in den untersuchten Gewerben traditionelle H a n d w e r k e wie Tischler,
Backer, Bottcher und Reifenmacher vertreten.
AuBer der Ш е ф г и г ш ^ des sanitaren Zustandes der Raumlichkeiten, in denen die
Handwerker arbeiteten und wohnten, stellte die K o m m i s s i o n Statistiken mit den
Krankenzahlen und der L o h n h o h e z u s a m m e n (siehe T a b . 11). D e r Tabelle ist zu
entnehmen, daB der Arbeitstag j e nach Handwerk unterschiedlich lange war. Seine
Lange lag zwischen 10 und 13 Stunden. Sie reduzierte sich wesentlich im Winter,
weil der Sonnenstand zu kurz war und nurbei Tageslicht gearbeitet werden konnte.
652
Rasporjazenie о komandirovanii Cinovnika nacaTnika III otdelenija Kanceljarii e.i.v. grafa
Aleksandra Christoforovica Benkendorfa к ministru finansov grafu Egoru FranceviCu
Kankrinu ot 6 dekabrja 1840 g., in: RGIA, f. 560, op. 8, d. 577: О merach uluCsenija
polozenijarabodichi remeslennikov v Peterburge (1840-1842), hier 1. 1; Zur Arbeit der
Kommission s. auch: Zelnik, Labor, S. 52.
Im allgemeinen w a r der Arbeitstag in den Werkstatten und in den Fabriken etwas
653
langer und dauerte oft bis zu 14 S t u n d e n .
D e n gesundheitlichen Zustand der H a n d w e r k e r in den Artels bezeichnete
Oznobisin als gut:
„Die Arbeiter sahen gesund und heiter aus, w a s die SchluBfolgerung
ziehen laBt, daB die schlechten W o h n u n g e n w e n i g A u s w i r k u n g auf ihre
654
Gesundheit ausuben, da sie die meiste Zeit frische Luft e i n a t m e n " .
In der Statistik sind erstaunlich w e n i g Kranke, namlich vier a u f 4 5 6 Beschaftigte
Tabelle 1 1 : A n z a h l der Beschaftigten u n d
kontrollierten Betrieben 1841
Handwerker
Auftragnehmer
Artelarbeiter
der
Kranke
Arbeitsstunden
in d e n
Arbeitsstunden
pro Tag
Sommerzeit
Winterzeit
Steinmetze
6
84
2
36475
36443
Steinschleifer
2
54
-
36475
36412
Bottcher und
Reifenmacher
1
5
-
36444
36317
Semmelbacker
1
8
-
36475
36381
Tischler
6
115
1
36506
36444
Maurer, Stuckarbeiter
und Ofensetzer
6
62
-
36506
36348
Zimmerleute
6
128
1
36506
36349
Quelle: О merach uludsenija polozenija rabodich i remeslennikov v Peterburge (1840-1842), in:
RGIA, f. 560, op. 8. d. 577,1. 6f.
653
S. О merach ulu6Senija polozenija rabodich i remeslennikov v Peterburge (1840-1842), in:
RGIA, f. 560, op. 8. d. 577,1. 6f.
654
Raport statskogo sovetnika Oznobisma general-majoru grafu Buksgevdenu vom 18.
Februar 1841, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uludsenija, hier 1. 7.
(1:114) oder 0 , 8 7 % v o n 100%, registriert. Dies kann darauf zuruckgefuhrt werden,
daB die meisten Artelarbeiter nur fur kurze Zeit in der Stadt arbeiteten: Die
Handwerker dieser Artels stammten meistens aus d e m Vologodsker und dem
Smolensker Gouvernement, wobei die L a n d b e w o h n e r in der Regel einen besseren
gesundheitlichen Zustand als die Stadter aufwiesen, und fur damalige Verhaltnisse
gut ernahrt waren:
„Die E r n a h r u n g unterscheidet sich in einem Artel von der in einem
anderen wenig. In der Fastenzeit b e k o m m e n die Arbeiter Kohlsuppe mit
Fisch, Linsen, Kartoffeln und verschiedene Breiarten mit Butter.
Wahrend der ubrigen Zeit sind Kohlsuppe mit einem halben bis zu
einem Pfund Fleisch pro Person und Brei im Kostplan, an Feiertagen
kochen sie N u d e l n mit Fleisch und backen Piroggen. Eine A u s n a h m e
bilden die Steinschleifer und die Steinmetze, die auf eigene Kosten
leben und gerne start Brei Fisch wie Dorsch, Stromling und Steinbutt
Es war dies eine nahrhafte Volkskuche, die die Handwerker hatten, wodurch die
geringe Erkrankungsrate teilweise zu erklaren ist. Eine einleuchtende Erklarung
fur die niedrigen Krankenzahlen scheint wohl auch zu sein, daB den kranken
Arbeitnehmern in der Regel sofort gekundigt wurde. Meistens lagen die
Erkrankten zwei bis drei Tage, die v o m L o h n abgezogen wurden, im Bert. W e n n
die Lage sich nicht verbesserte, der Erkrankte sich aber weigerte, ins Krankenhaus
zu gehen, kundigte ihm der Auftraggeber u n v e r z u g l i c h .
Die H a n d w e r k e r begaben sich nur unwillig und in Ausnahmefallen ins
Krankenhaus. Dafur waren die langen Wartezeiten in den Krankenhausern und die
Kosten fur den Aufenthalt verantwortlich. N u r im Fall einer schweren Erkrankung
wurden Arbeiter dorthin gebracht, w a s den Arzten zusatzliche Probleme bereitete,
da dies haufig zu spat geschah.
656
AuBer der Hausmedizin und dem Aufenthalt im Krankenhaus gab es noch eine
dritte Moglichkeit, die Erkrankten zu behandeln, die unter den Handwerksmeistern
praktiziert w u r d e : Falls die Erkrankten nicht im Krankenhaus aufgenommen
w u r d e n , behandelte sie ein Arzt zu Hause, wobei die Tage, an denen der
H a n d w e r k e r arbeitsunfahig war, wiederum vom Lohn abgezogen wurden. In
seltenen Fallen verlangten die Auftraggeber von den Handwerkern noch zusatzlich
fur eine arztliche Verpflegung in H o h e von 4 0 bis 70 K o p e k e n pro T a g .
657
655
Raport OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach ulu6senija, hier 1. 7f.
656
Ebd.
OznobiSin wies seinerseits auf die folgenden funf Ursachen fur den ernsten
Zustand der Arbeiter, die ins Krankenhaus gebracht wurden, hin:
1.
Sie HeBen sich nicht v o n einem Arzt behandeln und blieben zu H a u s e .
2.
U m Kosten zu sparen, w u r d e n sie mit H a u s - bzw. Volksmedizin behandelt.
3.
Die Erkrankten wurden nur bei erheblicher Verschlechterung ihres
Gesundheitszustandes u m Arzt gebracht.
4.
Die Arbeiter u n d Handwerker schreckten vor einem monatlichen
Krankenhausbeitrag in H o h e v o n 18 Papierrubel zuriick u n d zahlten den
Beitrag nicht im Voraus, w a s eine A u m a h m e ins Krankenhaus unmoglich
machte. D a s w a r eine Art der ,,Krankenversicherung", die die Arbeitnehmer
im Ernstfall absichern sollte. Die Zuruckhaltung in Fragen der
gesundheitlichen Absicherung ist dadurch zu erklaren, daB der Beitrag fur
die meisten H a n d w e r k e r zu hoch war.
5.
W e g e n Platzmangel in den K r a n k e n h a u s e r n konnten die Arbeiter nicht
behandelt w e r d e n .
Ein zweiter Bericht erfolgte im M a r z 1841, wobei diesmal 199 W o h n u n g e n in
denselben Stadtbezirken untersucht wurden. V o n diesen W o h n r a u m e n galten 23
als gut, 65 als befriedigend, 58 als schlecht und 53 als sehr schlecht. Die
schlechtesten W o h n u n g e n bewohnten Tagelohner, Trinkwasserfuhrleute, Kutscher
u n d Steinschleifer, die in der Regel keine H a n d w e r k e r waren. Die besten
W o h n u n g e n b e w o h n t e n die Beschaftigten in den Textil-, Mobel-, Zucker- und
Lederfabriken sowie der BronzegieBerei und des Sagewerkes. Die besten
Wohnverhaltnisse hatten unter den Zunfthandwerkern die Schreiner, Zimmerer,
Schneider und die Beschaftigten bei den S t e i n m e t z e n .
Es ist festzustellen, daB, j e wohlhabender ein H a n d w e r k e r war, desto schlechter
verpflegte er in der Regel die Beschaftigten in seiner Werkstatt. Als Beispiel dafur
kann die Werkstatt des Wagenbauers Frebelius dienen, die in seinem groBen H a u s
eingerichtet war, in dem auch die Gesellen und Lehrlinge wohnten. Fur
Lebensmittel b e k a m e n sie 12 bis 13 Papierrubel im Monat, obwohl bei anderen
Meistern dafur 14 bis 17 Papierrubel pro Person ausgegeben wurden. Ein anderer
Meister, der Hutmacher Simis, beschaftigte sieben Lehrlinge auf Vollkost. Z u m
Essen hatten sie selten Kohlsuppe, K a s c h a fast nie. Gewohnlich verkostigte sie der
Meister nur mit irgendeiner dunnen Suppe. Drei der Lehrlinge, die schon langer
in der Lehre waren u n d dem Meister einigen N u t z e n brachten, erhielten manchmal
Rindfleisch. Dariiber hinaus wurden die auslandischen Meister getadelt, daB die
Russen bei ihnen die Fastenzeit nicht einhielten.
Die 199 W o h n u n g e n w u r d e n von 3.776 Personen, die Familienangehorigen der
Arbeitgeber nicht mitgerechnet, bewohnt. E s g a b also im Durchschnitt mehr als
20 B e w o h n e r pro W o h n r a u m . Die 30 Erkrankten machten ein Verhaltnis von 1 zu
658
659
Raport OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uludsenija, hier 1. 8f.
Ebd., 1. 11.
126 oder 0 , 7 9 % von 100% aus. Elf Erkrankte, also ein Drittel der Gesamtzahl,
wurden in der Mobelfabrik des Kaufmanns Betcher gezahlt. D a s ist u m s o
erstaunlicher, da seine Fabrik in Hinsicht auf die Wohnverhaltnisse als vorbildlich
gait .
Bei den folgenden sieben Arbeitgebern auf der Vasilij-Insel und im zweiten
Admiralitatsviertel wurden die besten Wohnverhaltnisse festgestellt:
1.
Die Parkett- und Mobelfabrik des Taganroger Kaufmanns Vasilij Betcher
auf der Vasilij-Insel. Die 34 Arbeiter, 50 Zoglinge des Erziehungshauses,
drei Frauen und drei leibeigene Jungen arbeiteten in drei holzernen Hausern
im Innenhof. Die Beschaftigten wohnten in groBen, w a r m e n und hellen
Raumlichkeiten, die sauber gehalten wurden. Die hohe Erkrankungsrate der
H a n d w e r k e r w a r wahrscheinlich durch die schlechten Arbeitsverhaltnisse
bedingt.
2.
Die Lederfabrik des Kaufmanns der zweiten Gilde, Ivan Sokov, im eigenen
Haus. Die 28 Arbeitnehmer bewohnten den holzernen Flugel, der trocken,
w a r m und hell war und in sauberem Zustand gehalten w u r d e .
3.
Der standige Meister der Steinmetzezunft Stepan Anisimov bewohnte ein
eigenes H a u s in der 17. Linie der Vasilij-Insel. Die zwolf Arbeitnehmer
w o h n t e n bei ihm in einem holzernen H a u s auf d e m Hof.
4.
Der St. Petersburger Kleinburger und zeitweilige Meister der
Steinmetzenzunft, Ivan Aleksandrovic Aleskov, hatte seine Werkstatt auf
der Vasilij-Insel. Bei ihm waren 17 Arbeitnehmer beschaftigt. Sie w o h n t e n
in einem holzernen Haus auf d e m Hof.
5.
Der Schneider Jauchc im H a u s der deutschen evangelisch-lutherischen St.
Peter-Kirche am Nevskij Prospekt. Die sieben Gesellen und 18 Lehrlinge
arbeiteten in einem Z i m m e r und wohnten in zwei Nebenzimmern.
6.
Der BronzegieBer und Zunftmeister D o m i a n K n u s m a n b e w o h n t e mit 16
Beschaftigten, von denen zehn Lehrlinge waren, eine W o h n u n g im dritten
Stockwerk des Sondermannschen H a u s e s , wobei die Lehrlinge auf d e m
B o d e n auf Matratzen schliefen.
7.
Die Werkstatt des Schreiners Karl Nibel, die sich ebenfalls im H a u s von
Sondermann befand. Seine zwolf erwachsenen Arbeitnehmer und 16
Lehrlinge schliefen im Arbeitsraum auf den W e r k b a n k e n .
Diese sieben „besten" W o h n u n g e n waren als trocken, warm, hell und sauber
bewertet worden. E s war typisch fur die Zeit, daB es als normal empfunden wurde,
daB die Beschaftigten im Arbeitsraum auf den Werkbanken schliefen oder auf
Matratzen auf d e m FuBboden iibernachteten, w o sich viel Staub, z. B . bei den
660
661
662
660
Raport OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uluCSenija, hier 1. 12.
661
Steinmetzezunft - cech monumental nych masterov.
662
Raport OznobiSina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uludsenija, hier 1. 17f.
1
Schreiner- und metallverarbeitenden Betrieben, angesammelt hatte. Es war fur St.
Petersburger Verhaltnisse ublich, daB die Arbeitsraume auch als W o h n r a u m e
benutzt wurden.
Die schlechtesten W o h n u n g e n waren bei folgenden H a n d w e r k e r n vorgefunden
worden:
1.
Der W a g e n b a u e r Ivan Forbelius hatte ein eigenes steinernes H a u s . D i e
sieben Gesellen, drei Arbeiter und acht Lehrlinge wohnten im ersten
Stockwerk in einem feuchten kleinen Z i m m e r gegenuber der Toilette,
wodurch die Luft verpestet wurde.
2.
D a s Artel der Steinschleifer bei der Isaaks-Kathedrale mit 45
Arbeitnehmern bewohnte einen halbdunklen, auBerst feuchten und engen
Keller in einem steinernen H a u s , in dem die Schlafplatze auf B a n k e n
untergebracht waren.
3.
Beim Steinschleifer Ivan Vyracev, ein Staatsbauer aus d e m Vologodsker
Gouvernement, wohnten 23 Arbeitnehmer in zwei hellen, aber sehr kalten
und nassen Z i m m e r n im zweiten Stock eines steinernen H a u s e s und
schliefen auf engen Schlafbanken.
4.
Die vier Arbeitnehmer beim leibeigenen Stuckarbeiter Jakov S o l o v ' e v aus
dem JaroslavPer G o u v e r n e m e n t wohnten in einem steinernen H a u s im
dritten Stock in einem groBen, aber kalten und nassen Z i m m e r .
Es w u r d e v o n der K o m m i s s i o n festgestellt, daB die Arbeiter in den Fabriken im
allgemeinen besser verpflegt w u r d e n als in den Handwerksbetrieben. Als
besonders gut w u r d e n in dieser Beziehung die Zuckerraffinerien von Stieglitz,
Ponomarev und Alferovskij bezeichnet. Die Handwerksmeister u n d Auftraggeber
bei den Artels ktimmerten sich in der Regel w e n i g u m die Beschaftigten in ihren
Betrieben, um ihre Ernahrung u n d Verpflegung. Die Meister, besonders in den
Webereien, zogen v o m L o h n der Beschaftigten mehr ab, als beispielweise fur die
Kost verbraucht wurde. Die Arbeitsbedingungen bei den Schmieden, Schlossern,
KupfergieBern und alien nichtqualifizierten Arbeitern waren in der Regel
unbefriedigend. In m a n c h e n Betrieben hatten die Beschaftigten in der Winterzeit
weder w a r m e K l e i d u n g noch S c h u h w e r k .
663
664
Uberhaupt hatten alle nichtqualifizierten Arbeiter und in vielen Betrieben auch die
Gesellen und Arbeiter (masterovye) schlechte W o h n v e r h a l t n i s s e . Sie wohnten
665
663
Ebd., 1. 19ff.
664
Osobyj zurnal komiteta ministrov ot 23 dekabrja 1841 goda о merach к otvraSdeniju
besporjadkov v soderzanii raboeich i remeslennikov v S. Peterburge, in: RGIA, f. 1263, op. 1,
d. 1429,1. 556f.
665
Vgl. О byte raboeich ljudej, S. 57f.; Die Wohnverhaltnisse sahen in Westeuropa um diese
Zeit ahnlich aus: „Ein grofler Teil der stadtischen Bev6lkerung [lebte] in unzumutbaren
Wohnungen. Vielerorts entstanden Mietskasernen, die ebenso wie Kellerwohnungen viele
Menschen auf engem Raum unter schlechten Licht- und Luftverhaltnissen beherbergten.
unter groBem Platzmangel, in schlecht durchlufteten Kellern oder kalten und
nassen W o h n u n g e n . Die W e b e r schliefen auf den Webstuhlen, die Backer auf den
Arbeitstischen, die Tischler auf den Werkbanken. Die Wohnverhaltnisse bei den
reichen Zunftmeistern waren besonders schlecht. Die meisten der steinernen
Hauser im dritten Admiralitatsviertel, in denen eine Vielzahl v o n Handwerkern
wohnte, entsprachen nicht den elementaren Feuerschutzregeln. Sie hatten haufig
holzerne Treppen, u n d es bestand die Gefahr, daB im Fall eines Brandes und im
Gedrange eine Vielzahl von Menschen u m k o m m e n konnte. In m a n c h e n
Schreinereien wurden kleine eiserne Ofen installiert, die bei der groBen M e n g e
von Spanen eine Brandgefahr darstellten. Die meisten Schlosser- und
Schmiedebetriebe der Stadt waren baufallig und stellten ebenfalls eine
Brandgefahr d a r .
Die Arbeitsbedingungen waren in den Tabakfabriken, Weberwerkstatten und in
den Handwerksbetrieben der Schneider, Schuhmacher und Frauenschuhmacher,
in denen die meisten Lehrjungen beschaftigt waren, besonders schwierig. Die
Beschaftigten in diesen Werkstatten hatten wegen einer ununterbrochen sitzenden
Arbeitsweise in engen R a u m e n mit schlechter Luft und eines langen, 1214sttindigen Arbeitstages meistens ein ungesundes und bleiches Gesicht.
AuBerdem arbeiteten die Schneider, Schuhmacher und andere Handwerker oft
nachts. Die Arbeit fur die Steinschleifer am Bau der Isaaks-Kathedrale beim
Auftragnehmer (podrjaddik)
Jakovlev envies sich als besonders schwer. Der
Arbeitstag betrug hier im Winter bis zu 17 S t u n d e n . Der Ministerialrat verwies
diesbeziiglich auf die Vorschlage v o n Oznobisin, die unten aufgefuhrt w e r d e n .
N a c h dieser Untersuchung k a m Oznobisin zu der Uberzeugung, daB die W o h n und Arbeitsverhaltnisse der H a n d w e r k e r sich verbessern lieBen, w e n n eine
Institution sich darum kiimmern wurde. Deshalb initiierte er das Projekt des
„Ftirsorgekomitees fur die Arbeiter und Handwerker in St. Petersburg"
(Popeditel 'nyj komitet о rabodich i renteslennikach v S. Peterburge). Der President
des Komitees sollte der St. Petersburger Militar-Generalgouverneur sein. D e s
weiteren sollte es aus j e einem Mitglied des Finanzministeriums, des Ministeriums
fur die Staatsgtiter (ministerstvo
gosudarstvennych
imusdestv),
des
666
667
668
Wegen steigender Mieten waren viele Familien gezwungen, ihrerseits an sogenannte
,Schlafganger' unterzuvermieten [...]. Die Wohnverhaltnisse waren dadurch haufig, vor allem
in hygienischer Hinsicht, katastrophal, so daB Krankheits- und Sterblichkeitsraten in
stadtischen Elendsvierteln weit uber dem Durchschnitt lagen", in: Hans Pohl, Wirtschaftsund sozialgeschichtliche Grundztige der Epoche 1870-1914: Einfuhrung in die Problematik,
in: Ders. (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870
-1914), hier S. 14 - 55, hier S. 37f.
666
Osobyj zurnal komiteta, in: RGIA, f. 1263, op. 1, d. 1429,1. 556f.
667
Ebd., 1. 560f.
Gendarmeriekorps, des Adels, der Kaufinannschaft sowie einem Doktor der
Medizin, einem Architekt, zwei Beamten fur Sonderauftrage (dinovnikpo
osobym
porudenijam)
und 13 M i t g l i e d e m der Schlichtungsgerichte (slovesnye sudy) als
Deputierte des Komitees b e s t e h e n . D a s Komitee sollte d e m Innenministerium
unterstellt sein und weitreichende Befugnisse haben; die Schlichtungsgerichte und
die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g sollten dem Komitee monatliche Berichte uber die
Verhaltnisse in den Handwerksbetrieben bezuglich der Arbeits- und
Wohnverhaltnisse der Beschaftigten erstatten.
N a c h d e m die K o m m i s s i o n ihre Arbeit beendet hatte, bestimmte der Ministerrat a m
7. Januar 1842, daB sie weiter bestehen sollte, wodurch sich die Frage der Existenz
des v o n Oznobi§in v o r g e s c h l a g e n e n Komitees v o n selbst loste. V o n n u n an war
es die Aufgabe der Kommission, die Arbeits- und Wohnverhaltnisse in den
Werkstatten zu kontrollieren. Sie sollte besonders darauf achten, daB:
1.
die Arbeitgeber unverzuglich die festgestellten M a n g e l in den Arbeits- und
Schlafraumen beseitigten,
2.
in den Werkstatten der Weber, Konditoren, Kalatsch- u n d Lebkuchenbacker
entsprechende Schlafraume eingerichtet w u r d e n und
3.
die Vermieter W o h n u n g e n , die sie an Arbeiter vermieteten, sauber und
ordentlich h i e l t e n .
Die Ergebnisse der Tatigkeit der K o m m i s s i o n hatten in Anbetracht der
Komplexitat des Problems eine sekundare Rolle fur die realen Arbeitsverhaltnisse.
Wesentliche Verbesserungen der Arbeits- und Wohnverhaltnisse im H a n d w e r k
HeBen sich nicht durch reine Kontroll- bzw. ZwangsmaBnahmen seitens der
Regierung erzielen. D a s war eher ein vielschichtiges wirtschaftliches und soziales
Problem, dessen L o s u n g allmahlich durch eine allgemeine Verbesserung der
wirtschaftlichen und sozialen R a h m e n b e d i n g u n g e n und der E r h o h u n g des
allgemeinen Ausbildungsgrades der Handwerker erreicht werden konnte. Eine
Kommission, die sich mit den gleichen Aufgaben auseinandersetzte, wurde
nochmals 1847 eiberufen und untersuchte im Laufe ihrer Tatigkeit 500 B e t r i e b e .
Mit der Tatigkeit der Regierungskommissionen v o n 1840 und 1847 n a h m eine
ganze Reihe von Untersuchungen uber die Lage der unteren Schichten der
Stadtbevolkerung ihren Lauf. Die Untersuchungen des Statistikers K. S.
Veselovskij, die er 1843-1844 in St. Petersburg durchfuhrte, erganzen die Berichte
v o n OznobiSin u n d schildern unter anderem die Wohnverhaltnisse der unteren
Schichten der Bevolkerung:
669
670
671
669
Proekt ucrezdenija Popeiitel'nogo komiteta о raboeich i remeslennikach v S. Peterburge ot
28.04.1842, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uluCSenija, 1. 58-107, hier 1. 60f.
670
О byte rabodich ljudej v S. Peterburge i о sredstvach к ulueSeniju ich polozenija, Berlin
1863, S. VI.
„Es ist bemerkt worden. daB die Enge des W o h n r a u m s und seine
Uberfullung durch die B e w o h n e r sowohl fur die Gesundheit als auch fur
die Moral schadlich ist. Stellen wir u n s einen R a u m v o n einigen
Quadratmetern vor, der Werkstatt, Kuche, Schlafraum u n d Wascherei
in einem ist. W i e viele M i a s m e n schweben hier in der Luft. N o c h
schlimmer ist es, w e n n j e m a n d stirbt. In diesem Fall bleibt die Leiche
drei T a g e im Z i m m e r liegen, in d e m die Arbeiter essen und schlafen" .
672
Besonders hoch war die Sterberate unter der zugewanderten Bevolkerung, die
meistens in groBer E n g e in feuchten Kellerraumen wohnte, in denen stickige Luft
und gesundheitsschadliche Verhaltnisse die Verbreitung v o n Krankheiten
forderten .
1843 gab es in St. Petersburg auf 3 2 0 . 0 0 0 E i n w o h n e r 46.215 W o h n u n g e n , oder
sieben Untermieter pro W o h n u n g , von d e n e n j e d e r im Durchschnitt 31 Rubel
jahrlich zahlte. Folglich kostete eine W o h n u n g im Durchschnitt 217 Rubel im
J a h r . Diese W o h n u n g e n kann m a n j e nach der Miethohe in vier groBe Gruppen
unterteilen:
673
674
Tabelle 12:
Anzahl der W o h n u n g e n und H o h e der Miete
Miete in Rubel
Wohnungsanzahl
in Prozent
unter 30 Rubel im Jahr
1979
4,28
zwischen 30 und 150
25294
54,73
zwischen 150 und 1000
17654
38,11
zwischen 1000 und 30000
1283
2,79
Summe
46215
100
Quelle: K. S. Veselovskij, Statisticeskie issledovanija о nedvizimych imu&estvach v Peterburge,
in: Otecestevennye zapiski, torn 57, Nr. 3-4, Cast 2 (1848), S. 15.
4
672
Opisanie issledovanija K. S. Veselovskogo „Statisticeskie issledovanija о nedvizimych
imuScestvach v S. Peterburge v 1843-1844 godach, in: Otecestvennye zapiski, t. 56 (1848), S.
72-85, hier S. 84. Nach dem russisch-orthodoxen Glauben sollte die Leiche drei Tage nicht
bestattet werden.
673
4
G. I. Archangel skij, 2izn' v Peterburge po statisticeskim dannym, in: Archiv sudebnoj
mediciny i obScestvennoj gigieny, kn. 2 (Juni), C. 3 (1869), S. 42.
Nicht weniger als zehn Silberrubel kostete ein Winkel in einer W o h n u n g . In den
W o h n u n g e n der zweiten Kategorie, die nicht besonders komfortabel waren, lag die
Miete zwischen 30 u n d 150 Rubel. Dort wohnten uberwiegend arme Handwerker,
Kleinburger und niedrigbezahlte Angestellte. Die w o h l h a b e n d e n Handwerker
mieteten die W o h n u n g e n der dritten Gruppe fur 150 bis 1.000 Rubel pro J a h r .
Eine Vielzahl der W o h n u n g e n der beiden niederen Preisklassen lag in den billigen
Mietshausern u m den Heumarktplatz (Sennaja plosdad ) u n d w u r d e v o n Bauern
und H a n d w e r k e r n bewohnt. Dieses Stadtviertel w u r d e oft in den Werken v o n F.
M . Dostoevskij als ein Beispiel des sozialen Elends angefuhrt. Ein typisches H a u s
dieser Art, das in der Bevolkerung die ,ДериЬНк" (respublika) genannt w u r d e ,
befand sich in der N a h e des Heumarktplatzes. E s w a r ein dreistockiges Haus mit
46 F e n s t e m auf j e d e m Stockwerk und 60 W o h n u n g e n . W e n n eine
durchschnittliche Bewohnerzahl v o n sieben Personen pro W o h n u n g a n g e n o m m e n
wird, so betriige die Anzahl aller B e w o h n e r des Hauses 4 2 0 Personen. Tatsachlich
w o h n t e n hier zwischen 800 und 1.000, im S o m m e r bis zu 1.700 Personen oder
etwa 2 8 in einer W o h n u n g .
675
1
676
Eine untersuchte W o h n u n g dieses Hauses bestand aus einem Flur und einem
geraumigen Z i m m e r mit einem groBen russischen Ofen in der E c k e , der etwa ein
Viertel des R a u m e s einnahm. In der Mitte des Z i m m e r s stand eine aus
Holzbrettern zusammengefiigte Schlafstatte. Unter der D e c k e trocknete die
W a s c h e . Im Z i m m e r wohnten die Wirtin, die diese W o h n u n g fur 45,5 Papierrubel
im M o n a t mietete, und ihre Untermieter. Unter ihnen waren z w o l f Sagearbeiter,
vier Maurer, funf Zimmerleute mit ihren Frauen und Kindern oder 4 0 Personen
insgesamt. Sie alle schliefen o h n e Bettwasche in einer Reihe nebeneinander. Die
Miete betrug im Durchschnitt 50 Silberkopeken oder rund 1,75 Papierrubel pro
Person im Monat. Die Untermieter teilten sich in verschiedene Gruppen, so daB
eine W o h n u n g in der Regel nur von den Maurern, die andere nur von den
Zimmerleuten b e w o h n t w u r d e .
In diesem H a u s befand sich im Keller eine Backerei, die „ kuren'" genannt wurde.
Diese Art von Backereien produzierte verschiedene Brotsorten und Geback, z. B .
WeiBbrot, Roggenbrot, Piroggen und anderes fur den Verkauf auf den
Marktplatzen der Stadt. Es war ein groBes verrauchertes Zimmer, das zum groBten
Teil von einem massiven Ofen besetzt wurde. Ringsherum standen Arbeitstische,
an den W a n d e n die Regale mit der fertigen Ware und in den dunklen Ecken die
Bretter, auf denen die Arbeiter schliefen. Der Zustand des B o d e n s und der W a n d e
zeigte, daB der B o d e n niemals gewaschen und die W a n d e niemals gestrichen
wurden. Es w a r kein Handwerksbetrieb im strengen Sinne des Wortes. Der
677
675
Ebd., S. 15f.
676
Ebd.
677
Ebd., S. 18ff.
Betriebsinhaber war eine Art Unternehmer, der den R a u m mietete und die Arbeiter
einstellte. Er selbst n a h m an der Arbeit der Backerei nicht teil und wohnte
anderswo. Hier w o h n t e n und arbeiteten 26 Handwerksarbeiter, wobei sechs von
ihnen im Flur tibernachteten, in d e m in einer Nische eine Art Schrank eingebaut
war, der durch Bretter in sechs Abteilungen geteilt wurde. Er war so eng gebaut,
daB man nur einzeln hinein- und hinauskriechen konnte. AuBer den Arbeitern
wohnten hier die Austrager, die die Ware auf den Marktplatzen verkauften .
In den Berichten der Regierungskommission von 1847 wurden ahnliche
Verhaltnisse festgestellt. N a c h M e i n u n g der Kommissionsmitglieder sollten die
Backereien o h n e Rauchfang (pekarnye
kureni), in denen die „schlimmste
Unsauberkeit" (gospodstvuet
velicajsaja necistota) herrschte, besonders auf die
Arbeitshygiene achten. Die Arbeitgeber sollten in den Arbeitsraumen nach Bedarf
wenigstens die W a n d e weiBen, den FuBboden ofter waschen und den Arbeitern
nicht erlauben, auf den Arbeitstischen zu schlafen, sondern dafur vorgesehene
Schlafraume einrichten. Laut Empfehlung der Kommission sollten die Lehrlinge
wenigstens zweimal im M o n a t ein Dampfbad nehmen und taglich Gesicht und
Hande waschen. Die arztliche Versorgung lieB zu ubrig wtinschen. Es gab Falle,
in denen Arbeiter tot auf der StraBe aufgefunden wurden, wobei in ihren Taschen
die Verweiszettel v o n drei oder mehr Heilanstalten entdeckt w u r d e n .
Uber die Ubernachtungshauser w u r d e im Kommissionsbericht von 1847 immer
noch in Form einer Moglichkeit gesprochen. Diesbezuglich w u r d e im
Kommissionsbericht ein Asyl fur Dienstmagde (prijut dlja sluzanok)
in der
BoPsaja Mesdanskaja Strasse als ein Beispiel zur N a c h a h m u n g empfohlen, das
schon 1839 v o n Privatpersonen gegrundet worden w a r . E s war fur diese aber
zumeist unmoglich, den finanziellen Aufwand, der fur die Einrichtung eines
Ubernachtungshauses notig war, ohne Unterstutzung der R e g i e r u n g zu leisten,
w o d u r c h die Projekte meistens nur auf dem Papier existierten. Fur die Regierung
gait es, wenigstens die gravierendsten Mangel der Arbeits- und Wohnverhaltnisse
zu beseitigen. In Paragraph funf z. B . empfahl diese Kommission, zu verbieten, die
Arbeiter auf den FuBboden schlafen zu l a s s e n .
678
679
680
681
Ungeachtet vieler Regierungskommissionen fand keine wesentliche Veranderung
in den Arbeits- und Wohnverhaltnissen start. M e h r noch, die privaten Projekte zu
deren Verbesserung fanden von Regierungsseite wenig Unterstutzung. Schon im
Juli 1843 reichte eine unbekannte Person ein Projekt iiber die Einrichtung
spezieller Hauser fur die uberwiegend saisonale Bevolkerung in den verschiedenen
8
Ebd., S.21.
9
Ebd., S. 28, 30f.
10
Ebd., S. 25.
Stadtteilen an d a s Innenministerium ein. 1847 schlugen der Staatsrat Arngold und
sein Geschaftspartner Bulycev d e m Innenministerium ein ahnliches Projekt vor.
Im gleichen Jahr b e k a m dasselbe Ministerium ein Projekt v o n einem Auslander
n a m e n s K l e m e n t Rej vorgelegt, der die Einrichtung v o n Hausern fur die
Bevolkerung der unteren sozialen Schichten vorschlug, in denen die Arbeiter und
H a n d w e r k e r kostenlos oder fur eine minimale Zahlung eine oder mehrere
kostenlose b z w . billige Ubernachtungen in Anspruch n e h m e n konnten. D a s
Innenministerium gab sein Einverstandnis diesen Projekten, leistete j e d o c h keinen
finanziellen
Beistand, w a s in Anbetracht
der vielen K o m m i s s i o n e n u n d
Vorschlage nicht schlussig erscheint u n d a u f die stark ausgepragte formale
682
Handlungsweise der Vertreter d e s Innenministeriums h i n w e i s t .
Ahnliche Zustande deckten Publizisten und Fachleute auf. Seit d e m E n d e der 50er
Jahre laBt sich ein immer groBeres Interesse der Presse und der Offentlichkeit an
der sozialen
Lage
der unteren
Schichten
der Bevolkerung,
Handwerker
inbegriffen, feststellen. Die Aufsatze v o n N . Vermin im „Atenej", V . Piskunov im
u
„ S o v r e m e r m i k u n d v o n A. Zabelin im „2urnal z e m l e v l a d e P c e v " v o n 1858 u n d
1859
wurden
v o n den Berichten
in der Presse
uber
die Arbeit
der
Regierungskommission, die unter d e m Vorsitz d e s Barons Stackelberg v o n 1859
683
bis 1863 bestand, e r g a n z t . Ungeachtet der unterschiedlichen Betrachtungsweise,
mit der die Autoren die L o s u n g des Problems angingen, ist ihren Darstellungen
eines gemeinsam: D a s Verstandnis fur die Unmoglichkeit des Weiterbestehens der
vorhandenen
Rahmenbedingungen,
unter
anderem
im
Bereich
der
Arbeitsbedingungen, d e s Arbeitsschutzes u n d der elementaren Forderungen der
Hygiene im H a n d w e r k .
Vermin wie auch sein O p p o n e n t Piskunov erkannten bedingungslos die schadliche
Wirkung der Leibeigenschaft sowohl im wirtschaftlichen als auch im geistigen
Sinne an. Allerdings wies Zennin darauf hin, daB die russische Gesellschaft
trotzdem verpflichtet sei - solange die Leibeigenschaft nicht abgeschafft sei - zu
handeln u n d zu versuchen, die Situation, w e n n auch anfangs n u r lokal, mit
konkreten MaBnahmen zu verbessern. Er schlug schon jetzt vor, noch vor der
Abschaffung der Leibeigenschaft, moderne u n d groBe Werkstatten einzurichten,
in denen bis z u 2 0 0 H a n d w e r k e r beschaftigt werden konnten. Sie sollten
682
О byte rabofiich ljudej, S. IX.
683
A. Zabelin, Byt remeslennikov i masterovych s medikopolicejskoj to£ki zrenija, in: £urnal
zemlevladePcev, Bd. 4, Nr. 16, S. 80-85 (1859); N. 2ennin, ESce neskol'ko slov о naSich
remeslennikach, in: Atenej, cast 6 (November-Dezember 1858), S. 519-526; V. Piskunov, О
nekotorych neblagoprijatnych obstojatel'stvach byta nasego remeslennogo soslovija, in:
Sovremennik, Bd. 72, Nr. 11 (November 1858), S. 120-127; derselbe, E§£6 neskol'ko slov о
naSich remeslennikach, in: Sovremennik, Bd. 74, Nr. 3 (Marz 1859), S. 345-350.
4
entsprechend ihrer Leistung entlohnt und verpflegt werden. Bei den Werkstatten
sollte sich eine Schule fur die Lehrlinge befinden, in der sie eine
Allgemeinbildung erhalten sollten. Diese Werkstatten sollten in einer
„Aktiengesellschaft der Handwerksstatten" (Akcionernoe obsdestvo
remeslennych
masterskich) zusammengefaflt werden. Der Vorschlag, die Handwerksstatte unter
dem Dach einer Aktiengesellschaft zu vereinigen, war nicht zufallig.
In dieser Zeit w u r d e eine Vielzahl von Aktiengesellschaften in RuBland gegrundet,
von denen viele bald wieder in Konkurs gingen. Zwischen 1856 u n d 1860 w u r d e n
in RuBland 101 neue Aktiengesellschaften mit einem Gesamtkapital von 286,7
Mill. Silberrubel g e g r u n d e t . Allein im Jahre 1858 w u r d e n
34
Aktiengesellschaften mit einem Gesamtkapital von 56 Mill. Silberrubel
registriert . M a n sollte, so Zennin, nicht nur d e m Bauern, sondern auch dem
H a n d w e r k e r seine menschliche W u r d e wiedergewinnen helfen. Er kritisierte die
Meister, die dafur keinerlei Anstrengungen unternahmen. Die Lehrlinge und die
Gesellen sollten vor der Willkur letzterer geschutzt w e r d e n .
Es bleibt unbekannt, ob dieses Projekt zustande kam. A u f j e d e n Fall war die von
ztennin gewahlte Richtung vielversprechend. Der Versuch von Piskunov, alle
Schuld d e m herrschenden System bzw. der Leibeigenschaft zu geben, in dem der
Bauer faktisch und formal personlich abhangig war, kann einer kritischen
Betrachtung nicht standhalten: „Der Schaden ist allein der heutigen Sachlage
zuzuschreiben", schrieb er, „wenn dies (die Abschaffung der
Leibeigenschaft,
A.K.) geschieht, w e n n unser Handwerker frei wird, dann wird sich nicht nur in
unserem Handwerkerstand, sondern in den H a n d w e r k e n selbst eine blitzartige
Verbesserung v o l l z i e h e n " . Diese von Piskunov erhoffte
„blitzartige
Verbesserung" lieB - wie bekannt - noch einige Jahrzehnte nach dem
Befreiungsmanifest v o m 19. Februar 1861 auf sich warten. Er unterschatzte die
wichtige Rolle der alltaglichen Arbeit auf d e m W e g der Verbesserung. 2 e n n i n
behauptete dagegen, daB sich die Situation nicht schlagartig mit einem
Befreiungsmanifest andern w u r d e :
684
685
686
687
„Nicht nur die Leibeigenschaft [des Handwerkers,
A.K.J ist daran
schuld, sondern auch das, was er wahrend seiner Lehrlingszeit sah und
erlebte: Die schlechte Behandlung, das schlechte Beispiel der Gesellen,
684
L. E. Sepelev, Akcionernye kompanii v Rossii, Leningrad 1973, S. 65f.
685
N. Babst, Mysli о sovremennych nuzdach naSego narodnogo chozjajstva, Moskau 1860, S.
14.
686
2ennin, ESce neskoPko slov, S. 521.
die alltaglichen Beleidigungen
MiBhandlungen und P r t i g e l " .
und eine unendliche
Reihe
von
688
Ungeachtet der unterschiedlichen M e i n u n g e n der Autoren zur Frage der
Abschaffung der Leibeigenschaft, schilderten sie in ihrer Polemik das Leben der
Handwerker der Stadt. Piskunov stimmte ztennin zu, daft die L e b e n s - und
Arbeitsumstande, besonders der L e h r l i n g e , schrecklich seien und zitierte ihn
selbst:
689
,ДЭег Junge - etwa zehn Jahre alt - k o m m t aus dem Dorf, w o das Leben
nicht gerade schoner ist, aber w o er wenigstens frische Luft einatmen
kann, in eine schmutzige Werkstatt mit stickiger Luft und feuchten
Wanden. D o r t schlaft er, wie es kommt, auf einem verschmutzten
Boden, unter der Bank, und wird miserabel emahrt. N a c h drauBen wird
er halbnackt in einem diinnen Arbeitskittel geschickt. N e b e n dem
Priigeln v o m Meister wird er von dessen Frau, von der Kochin, von den
anderen Hausbewohnern u n d schlieBlich v o n den Gesellen miBhandelt
und schikaniert. Im anderen Fall, w e n n die Gesellen den L e n d i n g gut
behandeln, w e r d e n sie v o m Meister aufgefordert, den Lehrling zu
schlagen, weil der ,seine Lehre b e k o m m e n m u B ' " .
690
N o c h schlimmer zeichnete Piskunov die Lage der j u n g e n M a d c h e n , die in die
Lehre geschickt wurden: „Die Meisterinnen und die Inhaberinnen der
WeiBnahwerkstatten und Modegeschafte gehen n o c h schlechter, n o c h brutaler mit
den j u n g e n M a d c h e n u m " . Die Tatsache, daB die meisten Prostituierten in St.
Petersburg aus der Berufsschicht der Naherinnen und Schneiderinnen kamen, war
nur allzu gut b e k a n n t .
691
692
688
Zennin, ESce neskoPko slov, S. 524.
689
Ober die Kinderarbeit in Westeuropa s.: Lotte Adolfs, Erziehung und Bildung im 19.
Jahrhundert. Duisburg 1979; Nils Hansen, Fabrikkinder: zur Kinderarbeit in schleswigholsteinischen Fabriken im 19. Jahrhundert. Neumtinster 1987 (Studien zur Volkskunde und
Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, hrsg. v. Seminar fur Volkskunde d. ChristianAlbrechts-Universitat Kiel; 19); Siegfried Quandt, Kinderarbeit und Kinderschutz in
Deutschland 1783-1976: Quellen und Anmerkungen. Paderborn 1978; Clark Nardinelli, Child
labor and the industrial revolution, Bloomington 1990; Lees Weissbach, Child labor reform
in nineteenth-century France: assuring the future harvest, Baton Rouge: Louisiana State
University 1989.
690
Piskunov, О nekotorych neblagoprijatnych, S. 121.
691
Ebd., S. 124.
692
Vgl. V. O. Iordan, Uceniki-remeslenniki, in: Russkaja mysl', kniga 4 (1894), S. 1-23, hier
S. 7f.
Die Leibeigenschaft als Hauptursache der MiBstande in der Handwerkerschaft
stufte Piskunov wie auch die meisten seiner Zeitgenossen richtig e i n . E s war
klar, daB die personliche Unabhangigkeit eine wichtige Voraussetzung fur die
wirtschaftliche Entwicklung war. Es gab leibeigene Handwerker, die einen hohen
Wohlstand erreichten und eine vollig burgerliche Lebensweise in St. Petersburg
fuhrten, aber weiterhin leibeigen blieben. In vielen Fallen erlaubten die Gutsherren
ihren ehemaligen Bauern nicht, sich freizukaufen. Piskunov erwahnte einen
bertihmten Schneider in St. Petersburg, der seine Lehre bei einem Franzosen
gemacht hatte, dann nach Paris g e g a n g e n war, u m dort seine berufliche
Qualifikation zu erhohen, nach St. Petersburg zuruckgekehrt w a r und dort ein
Atelier eroffhet hatte. Er w a r erfolgreich und wollte sich freikaufen. Sein Herr aber
schlug sein A n g e b o t von zunachst 5.000, spater 10.000 Papierrubel ab und
verlangte von ihm 100.000 Papierrubel. W e n n diesem Schneidermeister nicht
machtige Freunde zu Hilfe geeilt waren, hatte er in diesem Streitfall keine C h a n c e
gehabt. Sie vermittelten zwischen ihm und seinem Herrn, wodurch der Meister
„nur" rund 45.000 Papierrubel fur seine Freiheit zahlen m u B t e .
Die MiBstande, die im H a n d w e r k zu beseitigen waren, sind auch im Aufsatz von
A. Zabelin zu finden. Der Tenor, in dem er und fruhere Autoren dieses T h e m a im
Jahre 1858 bzw. 1859 behandelten, wich wesentlich von der Berichterstattung des
Regierungsangestellten Oznobisin im Jahre 1841 ab. Zabelin wies ohne j e d e
Zuruckhaltung auf die negativen Tatbestande im H a n d w e r k hin:
693
694
„Leider sind die Folgen der Leibeigenschaft uberall zu spiiren. Sie ist
ein Teil unserer Sitten geworden. Der Steuerpachter, der einfache
Industrielle, der Handwerksmeister und des weiteren - sie nutzen, gleich
einem Grundherr, einen anderen M e n s c h e n , wenn nicht nach d e m
Recht, dann doch nach der Gewohnheit vollig aus. [...] M e h r m a l s habe
ich beobachtet, daB die Meister ihre Arbeiter nicht als ihresgleichen,
sondern nur als eine Arbeitskraft betrachten. Diese Verhaltensweise
693
Zur Leibeigenschaft s.: Johannes Engelmann, Die Leibeigenschaft in RuBland: eine
rechtshistorische Studie. Aalen 1965; Andreas Grenzer, Adel und Landesbesitz im
ausgehenden Zarenreich: der russische Landadel zwischen Selbstbehauptung und Anpassung
nach Aufhebung der Leibeigenschaft. Stuttgart 1995; P.G. Ryndzjunskij, Krest'jane i gorod
doreformennoj Rossii. In: VI 1955 Nr. 9, S. 26-40; Christoph Schmidt, Leibeigenschaft im
Ostseeraum: Versuch einer Typologie. K5ln, Weimar, Wien 1997, S. 63-71; ders.,
Sozialkontrolle in Moskau: Justiz, Kriminalitat und Leibeigenschaft; 1649-1785. Stuttgart
1996; V. I. Semevskij, Krest'jane v carstvovanie imperatricy Ekateriny II. 2. verb. u. erg.
Aufl., Bd. 1-2, St. Petersburg 1901-1903; ders., Krest'janskij vopros v Rossii v XVIII i pervoj
polovine XIX veka. Bd. 1-2. St. Petersburg 1888; Gabriele Witter, Patriarchale
Herrschaftsmuster von der Leibeigenschaft bis zur Demokratie. Frankfurt/Main 1990
(Europaische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd.
439).
ruhrt v o n der Ignoranz und Grobheit der Meister her. Sie orientieren
sich an Werten, die sie sich noch als Lehrlinge angeeignet haben u n d
erinnern sich sehr gut daran, daB sie auf die gleiche Weise behandelt
wurden" .
Einen Hauptunterschied zwischen reich und arm bestand in den unteren Schichten
der Bevolkerung in der Ernahrung. Ein wohlhabender Meister konnte sich in der
Regel gut und ausreichend ernahren. Die Beschaftigten, besonders Minderjahrige,
wurden dagegen in der Regel schlecht u n d dtirftig verkostigt. In m a n c h e n
Werkstatten w u r d e die Mahlzeit stehend eingenommen, u m Zeit zu sparen. Die
Unterwasche wechselte ein Meister im Durchschnitt wochentlich u n d ein Arbeiter
hingegen alle zwei Wochen. Das w a r bei der korperlichen Arbeit vollig
unzureichend, da die Unterwasche wahrend des Arbeitsprozesses stark
verunreinigt w u r d e . Die Oberbekleidung eines Arbeiters bestand in der Regel nur
aus einem Arbeitskittel. N e u e s Schuhwerk g a b es kaum. Der Meister arbeitete
vielfach in einem separaten Zimmer, dessen Fenster zur StraBenseite lagen,
wodurch er mehr Licht hatte. Die Arbeiter befanden sich dagegen meistens in
einem Z i m m e r auf der Innenhofseite, w o die Latrine die Luft verpestete. „Die
Toiletten werden fur sie (die Arbeiter, A. K.) schlechter als ein Viehstall
eingerichtet" .
695
696
Die Vielzahl der K o m m i s s i o n e n fur Arbeiterschutzfragen bewirkte, daB auch in
den hauptstadtischen Periodika und in der Offentlichkeit die Diskussion uber das
Leben der mittleren und unteren Schichten der hauptstadtischen B e v o l k e r u n g
e n t f a c h t e . Es w a r an der Zeit, MaBnahmen zur Verbesserung der L e b e n s - und
697
695
Zabelin, Byt, S. 81.
696
„Otchozie mesta dlja nich (rabodich, A.KJ deriatsja chuze stojl dlja skota", Zabelin, Byt,
S. 83.
697
Die 6ffentliche Diskussion fuhrte zur Grundung am 3. Oktober 1858 der
„Aktiengesellschaft fiir die Zurverftlgungstellung der wohleingerichteten Wohnungen filr die
Arbeiterklasse" (ObSdestvo na akcijach dlja ustrojstvo v S. Peterburge ulu&ennych
pomeSdenij dlja rabodego klassa i voobSde ljudej nedostatoCnogo sostojanija), wobei die
Initiatoren der Gesellschaft auf die Ergebnisse der Regierungskommissionen von 1840/41
und 1847 Bezug nahmen. Die Mitglieder der Gesellschaft waren hoch angesehene Vertreter
der Adels-, Regierungs-, Industriellen- und Finanzkreise Rufilands. Zu ihnen zahlte die
Witwe des Obersten A. K. Karamzin, Hofineister Senator ChruSeev, der St. Petersburger
Adelsmarschall Graf Suvalov, das Ratsmitglied der Eisenbahngesellschaft RuBlands, Abaza,
Flugeladjutant Graf Bobrinskij, Hofbankier Baron Stieglitz und Ingenieur Palibin. Es gibt
keine ausftihrlichen Informationen uber die Tatigkeit der Gesellschaft. Angesichts der
prominenten Mitglieder kdnnte der Eindruck entstehen, dafi die Erfolgsaussichten dieser
Gesellschaft groB gewesen waren, was nicht der Fall war, im Gegenteil: das fursorgliche
Leitmotiv, das im Namen der Gesellschaft abzulesen ist, hatte wenig mit der
Wirtschaftlichkeit zu tun. Das baldige Ende dieser Gesellschaft wurde schon im Namen
einprogrammiert.
Arbeitsverhaltnisse von Handwerkern und Arbeitern zu ergreifen. In welcher Form
dies geschehen sollte, wuBte k e i n e r .
Besonders intensiv wurde die Lage der Kinder im H a n d w e r k und in der Industrie
diskutiert, w a s z u m Teil aus den frtiheren Erorterungen zu ersehen ist. Ein aktiver
Verfechter des Gesetzes, das die Kinderarbeit regeln sollte, war der Ingenieur,
Fabrikinspektor und ein aktives Mitglied der Kaiserlichen russischen technischen
Gesellschaft Evgenij Nikolaevid A n d r e e v . D a n k der Initiative Andreevs w u r d e
unter seiner Leitung eine Kommission beim Volksbildungsministerium gebildet,
die unter der Beteiligung von Professor Janson sowie Arzten u n d Industriellen
1874 einen Gesetzesentwurf iiber die Kinderarbeit ausarbeitete, dessen zwei
Varianten an Innenminister Valuev weitergeleitet wurden. Die K o m m i s s i o n
richtete ihre Aufmerksamkeit ausschlieBlich auf Fabriken oder groBere Betriebe,
da Andreev und die Mitglieder der Kommission der M e i n u n g waren, daB das
Problem der A u s b i l d u n g im H a n d w e r k nicht so aktuell wie in den Fabriken war.
N a c h den Berechnungen der Kommission war die Kinderarbeit in St. Petersburg
besonders in der Textilindustrie verbreitet, deren Betriebe zur manufakturellen
Herstellungsweise neigten und sich monotoner u n d einfacher Operationen
bedienten. 1883 waren in der Flachsverarbeitung 2 8 , 5 % und in der
Baumwollherstellung 2 2 , 5 % Kinder beschaftigt. D e r Anteil der Kinder in den
Hutfabriken erreichte 4 0 % , in den Glasereien 3 4 % , bei den Waffenschmieden
3 3 % , bei den Wagenbauern 2 2 % , in den Topferbetrieben 16%, in der
Streichholzerherstellung 1 5 % und in der Wollverarbeitung 1 4 % . Das Gesetz
v o m 1. Juni 1882 iiber die Beschrankung der Kinderarbeit geniigte offenbar nicht,
u m sie in den H a n d w e r k s - und Industriebetrieben sichtbar e i n z u s c h r a n k e n .
1891 schilderte der Jurist Dmitrij DriP in einem Aufsatz etwa die gleichen
Wohnverhaltnisse unter den H a n d w e r k e r n wie vor vierzig Jahren. Die
Hausvermieter, die den groBtrnoglichen Gewinn aus ihren Immobilien ziehen
wollten, vermieteten ihre Hauser groBtenteils an kleine Handwerker. So zahlte ein
698
699
700
701
698
О byte rabocich ljudej, S. 53; Im Verhaltnis zu Westeuropa war RuBland im Rttckstand. In
England war besonders viel ftir die Arbeiter getan worden. Dort belief sich die Anzahl solcher
Gesellschaften um die Zeit auf rund 12.000, aus: 2MVD, 6ast 24 (Mai-Juni 1857), hier otdel
V, S.19-28.
4
699
E. N. Andreev (1829-1889) war ein aktiver Verfechter der Entwicklung der te chnischen
und Berufsausbildung.
700
E. N. Andreev, О rabote i ob obucenii maloletnich rabodich, in: Trudy obScestva dlja
sodejstvija russkoj promySlennosti i torgovle, cast' 13. St. Petersburg 1883, S. 47-68, hier S.
50f.; ders., Rabota maloletnich v Rossii i v Zapadnoj Evrope, St. Petersburg 1884. Zur
Kinderarbeit in Deutschland siehe Hansen, N., Zur Kinderarbeit in schleswig-holsteinischen
Fabriken im 19. Jahrhundert, Neumilnster 1987; K. Ludwig, Die Fabrikarbeit von Kindern im
19. Jahrhundert, ein Problem der Technikgeschichte, in: VSWG 52 (1965), S. 63-85.
Schneider Шг eine 25 Quadratmeter groBe W o h n u n g 10 Rubel im M o n a t oder 120
Rubel im Jahr. Ein Schuhmacher mietete fur 18 Rubel im M o n a t oder 216 Rubel
im Jahr zwei kleine und unsaubere Zimmer, w a s sehr teuer war. U m Kosten zu
sparen, mieteten die Handwerker kleine W o h n u n g e n , in denen sie mit ihren
Familien, Gesellen und Lehrlingen arbeiteten und w o h n t e n , wodurch sich die
sanitaren B e d i n g u n g e n wesentlich verschlechterten .
Die schweren Lebens- und Arbeitsverhaltnisse im H a n d w e r k schlugen sich negativ
auf die Lebenserwartungen der Handwerker nieder. Die Statistiken, die 1911 v o n
dem St. Petersburger Arzt M . M . M a g u l o erstellt wurden, k o n n e n als Beleg dafur
gelten. Sie zeigten, daB die durchschnittliche Lebenserwartung eines
Kirchendieners 60 Jahre, eines Angestellten 5 3 , eines Schneiders 38 und eines
Schuhmachers 37 Jahre betrug. Die Schwindsucht war die Berufskrankheit der
Schneider und Schuhmacher, unter denen auf 1000 Verstorbene j e w e i l s 560 bzw.
4 9 0 v o n dieser Krankheit Betroffene entfielen .
Mit der kurzen Lebenserwartung der Handwerker hing auch der starke
A l k o h o l k o n s u m zusammen, der unter den Handwerkern das AusmaB einer Seuche
a r m a h m . Dies bestatigt die Untersuchung des St. Petersburger Arztes N . I.
G r i g o r ' e v , die er zwischen 1886 und 1897 durchftihrte. Die Ergebnisse waren
niederschmetternd. Drei Funftel aller Alkoholkranken, die in den sechs St.
Petersburger Heilanstalten eine Kur erhielten, waren Handwerker. E s gab
Handwerker, die im Jahr 23-24 und gar 42 mal polizeilich in diese Anstalten
eingeliefert wurden. Nach Umfragen unter 4 7 0 Handwerkern konsumierten 130
von ihnen tagsiiber Alkohol. Unter ihnen gab es fast nur Gesellen, kaum Meister.
Ihnen folgten 120 Handwerker, die obligatorisch an den Feiertagen betrunken
waren. 104 H a n d w e r k e r n a h m e n regelmaBig Alkohol uber langere W o c h e n zu
sich, ein Verhalten, das im Russischen „ z a p o j " genannt wird und der periodischen
Trunksucht entspricht, und mindestens einmal im Jahr wurden sie davon „ k r a n k .
116 H a n d w e r k e r konsumierten „nur" gelegentlich A l k o h o l .
A u s dieser Zeit stammt auch eine umfangreiche Untersuchung der sanitaren
Zustande, unter denen die Handwerker in St. Petersburg leben muBten, die unter
der Leitung des Hauptarztes der hauptstadtischen Medizinpolizei, I. Eremeev,
702
703
704
u
705
702
DriP, Polozenie, S. 43.
703
Protokoly zasedanij sekcii po remeslennomu ucenicestvu, in: Trudy vtorogo
Vserossijskogo s-ezda, S. 152f.
704
705
Vgl. Zelnik, Labor, S. 247-251.
G. I. Dembo, P'janstvo sredi maloletnich remeslennikov, in: Trudy Vserossijskogo s-ezda
po remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge 1900 g., torn 3, St. Petersburg 1901, S. 260276; Vgl. Po predloieniju juvelira Gronmejera, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 135,1. 4; Jadrov,
Golos, S. 6; DriP, Polozenie, S. 45.
durchgefuhrt w u r d e
706
. D i e Ergebnisse der Untersuchung waren w e n i g trostlich
und erinnerten sehr an die Zustande, die in den 40er Jahren festgehalten worden
waren.
7.3
Die soziale Versorgung d e r H a n d w e r k e r
Die Reorganisation der Handwerksverwaltung im Rahmen der neuen Stadtordnung
v o n St. Petersburg im Jahre 1846 fand ihren Niederschlag in der Aktivitat der
Handwerker in Fragen des Aufbaus einer sozialen Infrastruktur: Altersvorsorge,
Unterstutzungs- und Sterbekassen. U m die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte
die russische H a n d w e r k s v e r w a l t u n g immer mehr E n g a g e m e n t in der sozialen
Unterstutzung der A r m e n u n d der Altersversorgung der alten Zunfthandwerker.
Allerdings hatten diese MaBnahmen rein standischen Charakter u n d betrafen nur
die standigen Zunfthandwerker.
Schon 1846 schlug die a u s einigen Deputierten der Handwerksabteilung der
Allgemeinen Stadtduma bestehende Kommission zur Ermittlung der Bedtirfhisse
der Handwerker vor, ein Altersheim fur Handwerker zu eroffhen und am 16.
Dezember 1847 beschloB die D u m a , in St. Petersburg ein „Altersheim fur die
armen, hochbetagten u n d durch einen Arbeitsunfall behinderten Handwerker des
Standes der standigen Zunfthandwerker beiderlei Geschlechts" (Prijut
bednych,
prestarelych
i uvecnych
remeslennikov)
dlja
zu griinden. U m dieses
Unternehmen z u finanzieren, initiierte die Handwerksverwaltung eine S a m m l u n g
unter d e n H a n d w e r k e r n u n d auch Mieteinnahmen in H o h e v o n rund 1.076
Silberrubel, die durch die Mietshauser der Handwerksverwaltung erwirtschaftet
wurden, flossen in das Projekt. A u s Schenkungen u n d mit einem ZuschuB der
Handwerkskasse konnte schon 1848 ein steinemes H a u s fur 21.000 Silberrubel
707
gekauft w e r d e n .
A m 9. M a i 1850 erfolgte die Eroffhung des Altersheimes, d a s sich im M o s k a u e r
Stadtviertel auf der Cernigovskaja 1/188, spater Nr. 158, befand. F u r den Anfang
sollte die Anzahl d e r Pflegebedurftigen auf 25 begrenzt werden. Kurz darauf
w u r d e ihre Zahl auf 35 erhoht. 1854 waren es schon 41 Personen mannlichen u n d
42 weiblichen Geschlechts im Alter zwischen 35 u n d 75 Jahren. D e r Tagesbedarf
706
1. Eremeev, Gorod S.-Peterburg s tocki zrenija medicinskoj policii, red. v. Hauptarzt I.
Eremeev. St. Petersburg 1897.
707
OtCet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1854 god, sostavlennyj stolonaiaPnikom 2.
gorodskogo otdelenija chozjajstvennogo departamenta tituljarnym sovetnikom Mann, in:
2MVD, 6ast' 14 (Oktober 1855), S. 7.
p r o Person betrug neun K o p e k e n oder 2,7 Silberrubel monatlich. Die
Raumlichkeiten des Altersheims sollten zuerst aus einer F u n f z i m m e r w o h n u n g
bestehen, in der die Pensionare untergebracht wurden, wobei die Zimmeranzahl
in der nachsten Zeit j e nach Bedarf erweitert wurde.
Ungeachtet einer Steigerung der obengenannten Mieteinnahmen, die fur die
Verpflegung der Pensionierten verwendet wurden, von 140 auf etwa 1.076
Silberrubeln, reichte das Geld nicht a u s . Eine andere Einnahmequelle w a r e n
Schenkungen, die sich allerdings von 1860 bis 1869 u m etwa zwei Drittel
verringerten. W e n n es 1860 n o c h 1.886 Silberrubel gewesen waren, so blieben
davon 1869 nur noch 688 Silberrubel. Dies fuhrte die Handwerksverwaltung auf
eine sich standig verschlechternde wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r in den
letzten Jahren zuriick. U m die Existenz des Armenhauses zu sichern und
V e r m o g e n zu bilden, legte die Handwerksverwaltung Kapital bei der Bank an, das
1855 8.945 Silberrubel b e t r u g .
Die Handwerkskasse k a m auf, w e n n die E i n n a h m e n fur das A r m e n h a u s nicht
ausreichten. Die A u s g a b e n der Verwaltung fur das A r m e n h a u s stiegen in den zehn
Jahren von 1860 bis 1869 v o n 1.290 Rubel a u f 6 . 5 0 0 Rubel stetig an. Ungeachtet
dessen hielt die Verwaltung daran fest, auf keinen Fall die Anzahl der Verpflegten
zu vermindern:
708
709
„Bei einer standig anwachsenden Verteuerung und einem Anstieg der
Lebenskosten wird die Zahl der Pflegebedurftigen immer grofier" .
710
U m die E i n n a h m e n der Verwaltung fur das A r m e n h a u s zu steigern, bestimmte die
Deputiertenversammlung der Handwerksabteilung der Stadtduma am 7. Oktober
1871, eine zusatzliche Gebiihr von 60 K o p e k e n einzufuhren, die grundsatzlich alle
H a n d w e r k e r im Adresskontor entrichten sollten. Die Handwerker erhielten dort
eine Aufenthaltsgenehmigung in der Hauptstadt (bilety na ziteVstvo). O b diese
B e s t i m m u n g der Stadtduma auch realisiert w u r d e , ist u n b e k a n n t .
Die Absicht der Verwaltung, das Altersheim zu vergroBern, blieb nicht nur eine
Option. In den sechs Jahrzehnten von 1850 bis 1910 gab es einen kontinuierlichen
711
708
Proekt polozenija о Dome prizremja ubogich i prestarelych S. Peterburgskich
remeslennikov, in: RGIA, f. 1287, op. 13, d. 594: Po otnoseniju S. Peterburgskogo voennogo
general-gubernatora ob ucrezdenii v zdesnej stolice Doma prizrenija remeslennikov (29. Juni
1848-21. September 1850), hier 1. 7f.
709
4
Otcet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1854 god, in: 2MVD, Cast 14 (Oktober
1855), S. 8.
710
Prigovor sobranija vybornych S. Peterburgskogo remeslennogo soslovija ot 7.10.1871, in:
RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1425,1. 4.
Z u w a c h s der pflegebedurftigen Personen sowohl mannlichen als auch weiblichen
Geschlechts von 25 auf 4 3 2 .
Fur die Jahre 1880, 1881, 1887 und 1890 gibt es A n g a b e n fur die zeitweiligen
Handwerker, die sparlich vertreten waren. In diesen Jahren waren es j e 1 6 , 1 2 , 1 0
und 17 mannlichen und j e 22, 19, 25 und 16 weiblichen Geschlechts. In
Anbetracht der Anzahl der zeitweiligen Handwerker, die die der standigen weit
ubertraf, ist der U n m u t der zeitweiligen Handwerker durchaus verstandlich . Die
Zahlenangaben der verpflegten Personen mannlichen Geschlechts fur das Jahr
1884 entsprechen
a n n a h e m d der Anzahl der H a n d w e r k e r j e nach den
Handwerksarten in der Stadt. Es gab demzufolge unter den 137 mannlichen
Personen 32 Schneider, 21 Schuhmacher, 13 Schreiner, neun Backer und acht
Schlosser und S c h m i e d e . Die medizinische Versorgung der Pflegebedurftigen
ubernahm fur die erste Zeit unentgeltlich ein Vollassistent des St. Petersburger
Armeespitals (S. Peterburgskij
voenno-suchoputnyj
gospitaV)
und des
Krankenhauses fur „ H o c h w o h l g e b o r e n e " (Lecebnoezavedeniedlja
blagorodnych
lie) der Arzt und Titularrat G a u s m a n (Hausmann). Dafur bekam er seinen Dienst
im A r m e n h a u s als Staatsdienst a n e r k a n n t .
7 1 2
713
714
715
7.4
Die Unterstiitzungs- und andere Kassen der H a n d w e r k e r
A u c h in den deutschen Zunften hatte sich innerhalb der gemeinnutzigen
Gesellschaften einiges getan. A m 20. Oktober 1862 wurde das Statut des
A r m e n h a u s e s „Palme", das fur Gesellen offenstand, bestatigt. D i e , , P a l m e " w u c h s
spater, unter d e m beachtlichen EinfluB der evangelisch-lutherischen St.
Peterkirche, als wohltatige Gesellschaft weit uber die Grenzen eines Armenhauses
h i n a u s . Dies schlug sich 1867 in den geanderten Paragraphen 4 und 6 des
Statutes nieder, in denen die Anzahl der Pastoren im Vorstand der Gesellschaft
von drei auf einen beschrankt wurde, wobei der Anderungsvorschlag dieser
Paragraphen von den Pastoren Laaland, H e r m a n n Dalton und Marius
716
712
OtCety S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1866 i 1910 gody. S. Tabelle 56 im
Tabellenanhang.
7 , 3
Vgl. Unterkapitel 5.4.2.
714
Otcet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1884 god. St. Petersburg 1885, S. 8Iff.
715
Otnosenie Grota direktoru chozjajstvennogo departamenta ot 19.07.1850, in: RGIA, f.
1287, op. 13, d. 594: Ob ucrezdenii, hier 1. 4If.
716
Po otnoseniju chozjajstvennogo departamenta s proektom izmenennogo ustava Doma
prizrenija podmaster'ev v S. Peterburge pod nazvaniem „РаРта", in: RGIA, f. 821, op. 5, d.
1081 (11.-22. September 1867); Busch, Deutsche, S. 101-105.
717
unterschrieben w o r d e n w a r . N e b e n d e m Pastor sollte der Vorstand a u s zwei
Handwerksmeistern u n d drei Vertretern anderer Berufe bestehen. D i e B e d e u t u n g
der „ P a l m e " als einer Gesellschaft sittlich-religiosen Charakters anderte sich in
Richtung eines universellen Vereins, in d e m es sowohl gesellig-unterhaltende
Sektionen w i e auch fachspezifische, wirtschaftliche u n d sozialfursorgende
Abteilungen gab. Im R a h m e n des Vereins existierten unter anderem eine Krankenund eine Sparkasse sowie eine Lebensversicherungs- und eine VorschuBkasse. Fur
die Lehrlinge g a b es eine S o n n t a g s s c h u l e .
Ein aktives Mitglied der deutschen H a n d w e r k s v e r w a l t u n g w a r d e r
Schneidermeister Eduard Dietrich, der 1862 d a s Statut der Gesellschaft z u r
Unterstutzung v o n Witwen u n d Waisen auslandischer H a n d w e r k e r beim
Innenminister Petr Aleksandrovic Valuev registrieren lieB. 1867 legte Dietrich ein
neues Projekt uber eine Sterbekasse bei der Gesellschaft vor, das a m 2 2 .
N o v e m b e r dieses Jahres ebenfalls v o n Valuev bestatigt w u r d e .
Mitglieder der Sterbekasse konnten nur die A n g e h o r i g e n der Gesellschaft zur
Unterstutzung v o n Witwen u n d Waisen auslandischer H a n d w e r k e r sein. D a s
Kassenmitglied zahlte im ersten Jahr seiner Mitgliedschaft funf Rubel, im
nachsten Jahr 10 Rubel, in j e d e m weiteren Jahr funf Rubel m e h r als im Vorjahr.
Im Sterbefall bekam eine Witwe 100 Silberrubel. Falls die Ehefrau eines Meisters
starb, bekam letzterer 75 Silberrubel .
718
719
720
In Fragen der sozialen Sicherheit waren die Druckhandwerker St. Petersburgs fur
andere H a n d w e r k e r der Hauptstadt beispielhaft . Schon Anfang der 60er Jahre
verfugten sie uber zwei Untersttitzungskassen. D i e eine Kasse bestand bei der
Druckerei der kaiserlichen A k a d e m i e der Wissenschaften, die andere w a r privat
und vereinigte 70 Drucker der S t a d t .
A n diesen Gesellschaften der Drucker orientierten sich 25 H a n d w e r k e r der Stadt,
als sie 1872 eine eigene Darlehens-, Spar- u n d Unterstutzungskasse der St.
Petersburger Gesellen u n d alleinstehenden Meister (Ssudo-sberegatel'naja
i
721
722
7 . 7
Po otnoseniju chozjajstvennogo departamenta, in: Ebd., 1. 2.
7 . 8
Busch, Deutsche, S. 104.
7 . 9
Prosenie prusskogo poddannogo, Ciena S. Peterburgskoj inostrannoj remeslennoj upravy
Eduarda Didericha ministru vnutrennich del P. A. Valuevu ot 13.05.1867, in: RGIA, f. 1287,
op. 8, d. 1560: Ob ustave Pochoronnoj kassy ObScestva dlja vspomo§destvovanija vdovam i
sirotam inostrannych remeslennikov prozivaju&ich v Peterburge (18. Mai - 22. November
1867), hier 1. If.
720
721
Ustav Pochoronnoj kassy, in: Ob ustave Pochoronnoj kassy, 1. 1 Iff.
Uber die Druckindustrie in St. Petersburg s.: Mark D. Steinberg, Moral Communitie: The
Culture of Class Relations in the Russian Printing Industry, 1867-1907, Berkeley 1992.
vspomogatel 'naja kassa S. Peterburgskich podmaster 'ev i master ov-odino сек) ins
Leben riefen. Diese Initiative der Handwerker war eine Antwort auf die restriktive
soziale Politik der Handwerksverwaltung, die es den Gesellen u n d zeitweiligen
Meistern nicht erlaubte, an den sozialen Einrichtungen des Standes teilzunehmen.
Unter den 25 Bittstellern gab es dem Stande nach 16 kleinbtirgerliche Handwerker,
vier St. Petersburger Handwerker, von denen einer ein standiger Meister war, zwei
Mecklenburger Staatsangehorige, zwei bauerliche und ein finnischer Handwerker.
Der Herkunft nach waren es nur drei Handwerker aus d e m Inneren RuBland, 14
weitere kamen aus St. Petersburg und aus dem Gouvernement, vier aus den
Ostseeprovinzen, zwei waren auslandische und einer finnischer Handwerker. Ein
H a n d w e r k e r gait als ein bodenloser Bauer unbekannter Herkunft. Es war eine sehr
heterogene Z u s a m m e n s e t z u n g der Handwerker, die gut zur Halfte aus der
H a u p t s t a d t u n d ihrer U r n g e b u n g s t a m m t e n , deren Interessen
aber
ubereinstimmten .
723
Die Handwerksverwaltung eiferte diesen gemeinnutzigen Einrichtungen nach und
griindete 1867 eine Unterstutzungskasse der St. Petersburger Handwerker (Kassa
vzaimopomosdi
S. Peterburgskich
remeslennikov),
die versuchte, eine
allumfassende Bedeutung fur die Handwerker der Stadt zu erlangen. O b die Kasse
imstande war, diesen Anspruch durchzusetzen, bleibt in Anbetracht der oben
erwahnten Unterstutzungskasse der Gesellen fraglich. Im ersten Paragraph ihrer
Satzung stand, daB Mitglieder der Kasse sowohl Meisterinnen und Meister,
Gesellinnen u n d Gesellen, als auch uberhaupt alle Arbeiter sein k o n n t e n . In der
Satzung von 1900 w u r d e der Paragraph etwas modifiziert. Start „Arbeiter" wurde
eine konkretere B e z e i c h n u n g weiterer Personen, die auBerhalb der Zunft standen,
gewahlt: Mitglieder der Kasse konnten Meisterinnen und Meister, Gesellinnen und
Gesellen und uberhaupt alle Personen, die ihren Lebensunterhalt mit einer
handwerklichen Arbeit verdienten, werden. Bemerkenswert ist, daB im Komitee
der Kasse, das aus 30 Mitgliedern bestand, jetzt 15 zeitweilige Meister prasent
waren.
724
Gegenuber der Satzung der Unterstutzungskasse von 1895 weist die Version v o n
1900 eine E r h o h u n g der Beitrage auf. Die Handwerker, die einmalig 25 Rubel im
Jahre 1895 bzw. 30 Rubel im Jahre 1900 in die Kasse zahlten, wurden als
lebenslangliche Mitglieder der Kasse anerkannt. Seit 1900 bekamen die
Handwerker, die m e h r als 100 Rubel an die Kasse in Form einer Schenkung gaben,
723
Prosenie S. Peterburgskich podmaster'ev i masterov odinocek ministru vnutrennich del v
ijune 1872 g., in: RGIA, f. 1287, op. 9, d. 475: Po ustavu ssudo-sberegatel'noj i
vspomogatel'noj kassy S. Peterburgskich podmaster'ev i masterov-odinodek (13. Juli-12.
September 1872), hier 1. If.
724
Siehe hierzu: Ob izmenenii ustava Vspomogatel'noj kassy S. Peterburgskich
remeslennikov, in: RGIA, f. 1287, op. 9, d. 3547 (15. Mai - 8. September 1895), 1. 4f. und Ob
izmenenii i dopolnenii dejstvitel'nogo ustava Vspomogatel'noj kassy S. Peterburgskich
remeslennikov, in: RGIA, f. 1287, op. 36, d. 151,1. 4f.
eine Goldmttnze z u m A n d e n k e n mit der Aufschrift: „Ordentliches Mitglied"
(podetnyj den), die an der Uhrkette getragen werden konnte. N e b e n den
Mitgliedsbeitragen konnten die Mittel der Kasse mit den E i n n a h m e n aus
Theaterauffuhrungen
(dramatidceskie
predstavlenija),
Literaturlesungen,
offentlichen Vorlesungen und Konzerten, die viermal im Jahr stattfinden durften,
aufgebessert w e r d e n .
1900 folgten weitere Schritte z u m Ausbau des sozialen Systems - die russische
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g griindete eine Sterbekasse fur die Zunfthandwerker. Sinn
und Z w e c k der Kasse war es, die einmaligen A u s g a b e n fur das Begrabnis der
verstorbenen Zunfthandwerker zu tragen. Die Mitgliedschaft in der Sterbekasse
w u r d e in zwei Gruppen von jeweils 4 0 0 Mitgliedern entsprechend der H o h e ihrer
Beitrage geteilt. In der ersten G r u p p e waren j e n e Handwerker, die beim Eintritt
drei Rubel und jahrlich 1,65 Rubel zahlten. Die H a n d w e r k e r der zweiten Gruppe
zahlten 1,5 Rubel beim Eintritt und 1,1 Rubel j a h r l i c h .
Der Sterbekasse folgte 1902 eine kostenlose Heilanstalt fur H a n d w e r k e r
(Besplatnaja
ledebnica
s postojannymi
krovatjami
dlja S.
Peterburgskich
remeslennikov).
Die Heilanstalt w a r mehr als bescheiden: E s gab zuerst nur sechs
Betten, v o n denen vier fur mannliche und zwei fur weibliche Personen reserviert
waren .
Die steigenden E i n n a h m e n der russischen Handwerksverwaltung erlaubten es ihr
mit der Zeit, immer groBere S u m m e n fur wohltatige Z w e c k e auszugeben. In den
Jahren 1888 bis 1890 wurden fur die Unterstutzung der armen H a n d w e r k e r j e
17.257, 18.732 und 18.840 Rubel ausgegeben. Dafur kamen 1890 sieben Ziinfte
mit den folgenden S u m m e n auf: von der Schneiderzunft 5.400 Rubel, v o n der
Silberschmiede- u n d Posamentiererzunft 2.700, von der Schlosser- und
Schmiedezunft sowie der Tapezierer- und Pferdehaarmacherzunft j e 2.400, von der
Lederer- und Schuhmacherzunft 1.880, v o n der Schreiner- und Drechslerzunft
1.300 und v o n der Malerzunft 1.100 R u b e l . Die sozialen Einrichtungen der
Verwaltung blieben erhalten und wurden weiter vergroBert. Im Jahre 1916 wurden
betrachtliche S u m m e n fur wohltatige Z w e c k e ausgegeben, namlich fur das
Altersheim mit m e h r als 4 0 0 Versorgten 40.000 Rubel, fur die Alexandrinische
Schule fur Waisenkinder und Kinder der armeren Handwerker, in der mehr als 2 0 0
Kinder unterrichtet wurden, 30.000 Rubel und 1.500 Rubel fur die Malschule, die
725
726
727
728
725
Ob izmeneii ustava, 1. 5.
726
Po proektu ustava Pochoronnoj kassy S. Peterburgskich remeslennikov (1901), in: RGIA,
f. 1287, op. 36, d. 340,1. 3f.
727
Proekt-Instrukcija zavedujuScemu besplatnoj leeebnicej s postojannymi krovatjami dlja S.
Peterburgskich remeslennikov. [St. Petersburg 1902], S. 2f.
728
Rospis' о dochodach po S. Peterburgskoj remeslennoj uprave na 1890 god, in: RGIA, f.
1287, op. 38, d. 2530,1. 35f.
die Kinder der H a n d w e r k e r zweimal in der W o c h e besuchten. AuBerdem wurden
bestimmte Beitrage an die Unterstutzungskasse der Petrograder H a n d w e r k e r und
an die Sterbekasse entrichtet .
Neben der Handwerksverwaltung spielte die Stadtduma eine betrachtliche Rolle
beim Aufbau des sozialen Systems in der Hauptstadt. So wurden z. B . von der
Stadtduma im Jahre 1907 144 Personen von der Sonderanstalt fur die
Bettlerfursorge (Osoboe prisutstvie po razboru i prizreniju nisdich) in den drei
Bildungs- und Arbeitsanstalten, 58 Personen in der Handwerkerschule
(Remeslennoe
udilisde), 51 Personen in der Handarbeitsschule
(Rukodel'noe
ucilisce) und 35 Personen im Herrenasyl fur Arbeit (Ubezisce dlja
muzdin)
u n t e r g e b r a c h t . D e s weiteren wurde die Handwerksarbeit in den Armenhausern
der Stadt praktiziert, in denen im Jahre 1909 unter anderem 14193 Frauen
beschaftigt wurden. Die Stadt vergab Stipendien fur eine handwerkliche
Ausbildung, so daB 1909 339 Stipendiaten in den Handwerksbetrieben
untergebracht w e r d e n k o n n t e n .
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges bediente sich das Handels- und
Wirtschaftsministerium des H a n d w e r k s als eines sozialen und wirtschaftlichen
Instruments, u m im Krieg verwundete Soldaten mit Arbeit zu versorgen und
dadurch ihre Reintegration in die burgerliche Gesellschaft zu erleichtern. Z u
diesem Z w e c k w u r d e n fur sie Handwerkskurse gegriindet, in denen sie in den
unterschiedlichsten H a n d w e r k e n eine Ausbildung e r h i e l t e n .
Das H a n d w e r k konnte sich auf diese Weise als ein effektives Mittel im R a h m e n
von AjbeitsbeschaffungsmaBnahmen behaupten und sicherte Tausenden von
M e n s c h e n den notwendigen Lebensunterhalt.
729
730
731
732
7.5
Zusarnmenfassung
Die Entstehung der beiden Regierungskommissionen von 1840/1841 und 1847
war Ausdruck einer allgemeineuropaischen Entwicklung, die auch in RuBland
sptirbar wurde. D a s w a r der Pauperismus bzw. die Massenarmut, deren Ursache
primar im rasanten Wachstum der Bevolkerung in Europa (erste Welle 1770-1830)
lag. Diese beunruhigenden Erscheinungen, die seit der Mitte der 1820er Jahren die
offentlichen G e m u t e r bewegten und Stoff fur Salongesprache gaben, wurden von
den oberen Schichten u m den Zaren mit Aufmerksamkeit beobachtet. Selbst der
729
Remeslenniki i remeslennoe upravlenie, S. 40.
730
Statisticeskij ezegodnik S. Peterburga za 1907 god. St. Petersburg 1913, S. 63.
731
Statistieeskij ezegodnik S. Peterburga za 1909 god. Pg. 1917, S. 72.
732
Vgl. Remeslennye kursy dlja uvecnych voinov. Pg. 1916.
Wortgebrauch
der
Regierungsbeamten
in
ihren
Berichten
verriet
die
Verwandtschaft dieser Regierungsinitiativen mit der offentlichen Diskussion iiber
die wirtschaftliche und soziale Lage der „handarbeitenden K l a s s e n " bis 1848 in
Westeuropa, als die gewerblich beschaftigte Bevolkerung nur bei intensiver Arbeit
hochstens das notdiirftige A u s k o m m e n verdienen k o n n t e
733
.
Die vollige Unterentwicklung der karitativen Organisationen und das Fehlen der
offentlichen Initiative trugen mit dazu bei, daB die Regierung „wie g e w o h n l i c h "
selbst zur Klarung der Ursachen fur die Verbreitung schwerer Krankheiten unter
den Fabrik- u n d Artelsarbeitern und den H a n d w e r k e n tatig w e r d e n muBte. Die
Regierungskommissionen
konnten
die L a g e der unteren
Schichten
der
hauptstadtischen Bevolkerung nicht spiirbar verbessern, sollten sie doch nur die
Sachlage klaren.
Die unsichere soziale und wirtschaftliche L a g e der H a n d w e r k e r und selbst der
Schicht der standigen Meister trug dazu bei, daB die Austritte aus d e m
Handwerkerstand oder der Wechsel in den kaufmannischen
Stand auf der
T a g e s o r d n u n g stand. Z w a r gab es im Handwerkerstand von St. Petersburg im
Laufe des 19. Jahrhunderts immer noch mehr Z u w a c h s als Riickgang der
Standesmitglieder. Dies war allerdings nur durch eine starke Immigration der
landlichen Bevolkerung in die Hauptstadt moglich. Die wohlhabenderen Meister
versuchten so schnell wie moglich, in den kaufmannischen Stand uberzutreten, um
734
ihre Kinder v o n der Wehrpflicht zu befreien . A u s dem gleichen Grund
versuchten die Handwerksmeister ihre Kinder in Berufen, die nichts mit d e m
H a n d w e r k zu tun hatten, (Apotheker, Arzte, Architekten) ausbilden zu lassen, w a s
iiber eine verbreitete vertikale Mobilitat unter den wohlhabenden Meistern spricht.
Dies
war
eine
der
Ursachen
des
Standeswechsels
und
der
fehlenden
735
handwerklichen Tradition eines F a m i l i e n b e t r i e b e s .
A u c h fur das westeuropaische H a n d w e r k war diese Entwicklung in der zweiten
Halfte des 19. Jahrhunderts eine typische Erscheinung, als das H a n d w e r k s durch
die fortschreitende Industrialisierung einen sozialen Wandel erlebte. So berichtete
G. B . Iollos im Jahre 1895, daB sich die Handwerksgenossenschaften
Offenburg, Schonau, E m m e n d i n g e n und anderen sudwestdeutschen
aus
Stadten
733
Vgl. Wolfgang Hardtwig, Der Vormarz. Der monarchische Staat und das Burgertum, in:
Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. v.
Martin Broszat, Wolfgang Benz und Hermann Graml, MUnchen 1985, S. 70.
734
Vgl. Oderki istorii Leningrada, torn 1, S. 519.
735
Po predlozeniju juvelira Gronmejera (Mai 1843), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 135,1. 3.
daruber beklagten, dafl w o h l h a b e n d e Meister ihre Kinder immer ofter in
nichthandwerklichen bzw. gehobenen Berufen ausbilden lieBen.
Die soziale Polarisierung erreichte unter den H a n d w e r k e r n besonders in der
zweiten Halfte des 19. Jahrhimderts ein groBes A u s m a B . Sie w u r d e z u m Teil
durch die h o h e Fluktuation der Arbeitskrafte ausgelost, w a s den ohnedies
schwachen oder uberhaupt fehlenden sozialen Zusammenhalt unter den
Handwerkern vernichtete. Dieses Gefuhl gemeinsamer sozialer Zugehorigkeit, das
sich nun in den Zunften langsam entwickelte, konnte sich nie vollkommen
entfalten. E s bildeten sich in der Stadt zwei groBe Handwerkergruppen heraus:
eine kleinere G r u p p e bildeten die wohlhabenden Meister, eine groBere die
Gesellen, Lehrlinge und angelernten Arbeiter, zu denen immer mehr die verarmten
Meister hinzukamen. Der Herkunft nach waren sie z u m groBen Teil aus d e m Land
zugereist. V o n daher hatten viele Werkstatten keine feste Betriebshierarchie, und
die Arbeitnehmer w u r d e n besonders in der Industrialisierung zu einfachen L o h n bzw. Facharbeitern.
736
737
Mit der Industrialisierung zeichneten sich aber auch einige positive Erscheinungen
ab. So bekamen viele Meister die Moglichkeit, in den Fabriken und Werken die
Meisterstellen oder den Platz eines qualifizierten Arbeiters zu besetzen, w o d u r c h
sich die horizontale Mobilitiit unter den Handwerkern erhohte und sie dem
sozialen Abstieg und der Verelendung entgehen konnten. Die m a s t e r o v y e bzw.
die Facharbeiter, die oft friihere Handwerksmeister waren, machten unter den
Fabrikarbeitem wegen „ihrer geringeren Zahl, der H o h e des Arbeitslohns und des
738
736
G. B. Iollos, Nemeckie remeslenniki. К charakteristike truda v germanskoj
promySlennosti, in: RB ijun 1895 Nr. 6, S. 86f.
4
737
Vgl. Lenger, Polarisierung, s. u.a. S. 143f.
738
4
In der 23. Ausgabe des Slovar russkogo jazyka S. I. Oiegovs im Jahre 1991 bezieht sich
das Wort „masterovoj" sowohl auf die Fabrikarbeiter als auch auf die Handwerker bzw.
Meister. Hier vollzog sich der Bedeutungswandel des Wortes, das zuerst nur Handwerker
bezeichnete. Mit der Entwicklung der GroBindustrie wurde das Wort „masterovoj" auf die
Fabrikarbeiter wie auch der Begriff der „Zunft" auf die Fabrikhallen ubertragen. Ju. Ё. Janson
zShlte im Jahre 1869 die „masterovye" zu den Einzelhandwerkern, die entweder Шг einen
Arbeitgeber oder fur einen Konsumenten die Waren herstellten. Sie waren weder
Fabrikarbeiter noch selbstandige Haлdweгksmeisteг, in: ders., Naselenie Peterburga i ego
ekonomideskij i social'nyj sostav po perepisi 10.12.1869 goda, St. Petersburg 1869, S. 629.
Das Wort „masterovoj" wurde von „master" d. h. Handwerker abgeleitet. „Master" und
„cechovoj master" bezogen sich anfanglich wie „masterovoj" ebenfalls auf die Handwerker.
Nur waren sie in dem Falle die Inhaber einer Werkstatt. Spater leiteten die „mastera" (die
Meister) die „fabricnye cechi" (Werks- bzw. Fabrikhallen in den groBen Industriebetrieben)
und waren uber die Gesellen (podmaster ja) und Arbeiter gestellt, Vgl. V. I. Dal , Tolkovyj
slovar zivogo velikorusskogo jazyka, torn 2, Moskau 1989, S. 303 „Master".
4
4
4
Lebensstils eine schmale Schicht aus. Sie [waren] so etwa wie die
Arbeiteraristokratie" .
D i e Handwerksverwaltung konnte die soziale Verelendung in Anbetracht ihrer
engen Befugnisse und ihrer geringen finanziellen Moglichkeiten nicht
wirkungsvoll bekampfen. AuBerdem hinderte der standische R a h m e n die
uberwiegende Mehrheit der Handwerker, soziale Leistungen in Anspruch zu
nehmen. A u c h den zeitweiligen Zunfthandwerkern war eine soziale Unterstutzung
verwehrt, w a s sie dazu veranlaBte, ein Projekt iiber die „St. Petersburger
Gesellschaft der Handwerksindustrie" auszuarbeiten, das aufgrund der
konservativen H a l t u n g der Regierung und des heftigen Widerstandes der standigen
H a n d w e r k e r nicht realisiert werden konnte.
739
739
Otfiet zemskoj upravy Peterburgskoj gubernii za 1879 g., zitiert nach Balabanov, Oderki, t.
2, S. 130.
8.
Die Fach- und Allgemeinbildung im H a n d w e r k
Die in der Regel bessere wirtschaftliche L a g e der auslandischen H a n d w e r k e r w a r im Gegensatz zu den russischen Handwerkern - nicht zuletzt ein Ausdruck ihrer
hoheren Allgemeinbildung . Sie konnten sensibler auf die M o d e a n d e r u n g e n vor
allem in der Bekleidungsbranche reagieren und deswegen d e m Geschmack des
Publikums eher entgegenkomrnen.
Immer noch blieb das H a n d w e r k die Hauptschmiede der Berufsausbildung und
deswegen sollte sie besser organisiert werden, u m das allgemeine Bildungsniveau
der Gesellen b z w . Facharbeiter zu heben. O b Bildungsinitiativen seitens der
technischen Intelligenz und der Handwerksverwaltung Fruchte trugen oder eher
ergebnislos blieben, soli in diesem Kapitel untersucht werden.
740
8.1
Die Allgemeinausbildung im H a n d w e r k
Die unbefriedigende Lage in der Allgemeinausbildung der H a n d w e r k e r schlug
sich in der Warenqualitat nieder und fand ihren Ausdruck letztlich in ihrer
wirtschaftlichen Lage. Der gute Geschmack und das Modeverstandnis, die
wiederum v o m jeweiligen Bildungsniveau der Handwerker abhingen, bestimmten
nicht zuletzt die Qualitat ihrer Produkte. Diesen Z u s a m m e n h a n g zwischen
741
A u s b i l d u n g und Qualitat der Ware hatten die Zeitgenossen begriffen . Die
dringende Notwendigkeit der В ildungsmaBnahmen unter den H a n d w e r k e r n wurde
v o m Handwerksaltesten der russischen Zunfte, Nikita M a k s i m o v i e Komarov, in
der Stadtduma zur Diskussion gestellt. Er setzte sich in seinem Bericht an die
D u m a v o m 5. Juni
1858 mit diesem T h e m a auseinander und
fragte
die
Deputierten, wie es moglich sei, daB die russischen Handwerker meistens solche
H a n d w e r k e ausubten, die mit schwerer korperlicher Arbeit zu tun hatten, w e n i g
kompliziert und schlecht bezahlt waren. Die auslandischen Meister dagegen hatten
in ihren H a n d e n eine breite Palette von H a n d w e r k e n vereinigt, die weniger
korperlicher Anstrengung bedurften, dafur aber gut bezahlt wurden. K o m a r o v gab
gleichzeitig zu, daB, u m solch komplizierte Handwerksarten ausiiben zu konnen,
der Handwerker einer hoheren Qualifikation und einer hoheren Ausbildung
bedurfe. Es gereiche den auslandischen Handwerkern dariiber hinaus z u m Vorteil,
740
Prosenie juvelirnogo mastera i starSiny Gronmejera к ministru vnutrennich del
Perovskomu v mae 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 135: Po predpolozeniju juvelira
Gronmejera ob osvobozdenii remeslennikov ot rekrutskoj povinnosti v nature (1843), hier 1.
3.
741
Vgl. Kornilij Tromonin, О chudozestve v remeslach. Moskau 1846, S. 10; G.F. Rakeev,
Ob ucenicestve u masterov, S. 20ff.
daB in der russischen Gesellschaft - nicht zu Unrecht - generell Vorbehalte gegen
russische Waren herrschten. Dies wurde immer wieder von Pftischern ausgenutzt
u n d half ihnen, Waren schlechter Qualitat mit verfalschten
auslandischen
Warenzeichen zu verkaufen. Weil die Kundschaft diese Betrtigereien als eine
A u s n a h m e ansah, revidierte sie ihre Vorurteile j e d o c h nicht zugunsten der
russischen Handwerker. So meinte K o m a r o v :
4
„Die Bezeichnungen ,eine russische und ,eine auslandische Ware*
werden mit einer ,schlechten* bzw. einer ,guten' Arbeit gleichgesetzt.
Oft ist diese M e i n u n g auf Vorurteile zuruckzufuhren. E s muB aber
742
zugegeben werden, daB sie in vielen Fallen gerechtfertigt ist" .
Der Handwerksalteste wies darauf hin, daB die H a n d w e r k e r im Ausland viel mehr
Moglichkeiten zur Ausbildung hatten: Schulen fur die Handwerker, ofYentliche
Vorlesungen, Ausstellungen und die fast fur j e d e Handwerksart periodisch
erscheinenden Zeitschriften, die immer auf Neuigkeiten achteten und sie den
743
Handwerkern bekannt gaben, trugen dazu b e i .
Die auslandischen Meister, die hauptsachlich in St. Petersburg und M o s k a u
wohnten,
hoben
sich
vom
durchschnittlichen
Niveau
schon
durch
ihre
Allgemeinbildung ab. AuBerdem unterschieden sie sich von den meisten ihrer
russischen Kollegen durch ihre Anstrengung, technisch auf dem neuesten Stand
in ihrem H a n d w e r k zu bleiben, abonnierten Fachzeitschriften und standen in
standigem Kontakt zu ihren Kollegen im Ausland. Die russischen H a n d w e r k e r
hatten nichts derartiges. Ihre Ausbildung war ungenugend und sehr viele von
ihnen waren Analphabeten. Als Folge davon konnten die Meister ihre N e u e r u n g e n
der breiten M a s s e der Kollegen nicht vermitteln, wodurch ein Austausch v o n
Fachkenntnissen unmoglich war:
„Unsere Produkte stehen den auslandischen in einiger Hinsicht nach,
w o d u r c h der russische Handwerker g e z w u n g e n ist, den Preis zu senken
und Verluste in K a u f zu nehmen. V o n daher verwendet er billigere und
deswegen schlechtere Werkstoffe in der Herstellung der W a r e und stellt
fur niedrigen Lohn wenig qualifizierte Arbeitnehmer ein. Als Folge
742
Prigovor S. Peterburgskoj gorodskoj obSSej dumy po remeslennomu otdeleniju ot 5 ijunja
1858 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 1931: Ob otkrytii v S. Peterburge voskresnych klassov
dlja remeslennikov (1858-1859), hier 1. 3f.; Vgl. V. A. Rezanov, Vzgljad na chod portnogo
masterstva v Rossii. St. Petersburg 1847, S. 1.
davon haben die russischen Waren einen schlechten Ruf. D a s sind die
Ursachen, w a r u m wir bei auslandischen Meistern nur als Arbeiter
angestellt sind. A u c h als selbstandige Meister ahmen wir sie nur
744
nach" .
Als erstes sollten nach dem Vorschlag von K o m a r o v Handwerksschulen in
RuBland, in St. Petersburg, gegebenenfalls eine Sonntagsschule fur die
Zunfthandwerker eroffhet und eine Fachzeitschrift herausgegeben werden. In den
ersten Klassen der Schule sollten im R a h m e n des Grundschulprogramms Lesen
und Schreiben, Religionsunterricht, Arithmetik und M a l e n unterrichtet sowie
Grundkenntnisse im gewahlten H a n d w e r k vermittelt werden. N a c h einer gewissen
Anlaufzeit sollten weitere Unterrichtsfacher hinzukommen, und die Erfahrungen
in einer gewahlten Handwerksart vertieft werden.
Die Zunftverwaltung war bereit, die Kosten fur die Sonntagsschule und fur die
Fachzeitschrift zu ubernehmen. Der Handwerksalteste meinte, daB die Zeitschrift
nicht nur fur St. Petersburg, sondern fur ganz RuBland von groBer B e d e u t u n g sein
wurde, da zur Zeit noch nichts derartiges verlegt wurde. Die Einnahmen aus dem
Vertrieb der Zeitschrift sollten der Sonntagsschule zugute k o m m e n . Falls sie nicht
ausreichen sollten, ware die Handwerksverwaltung ebenfalls bereit, diese Projekte
zu finanzieren.
D e r Generalgouverneur von St. Petersburg, Innenminister Lanskoj und
Volksbildungsminister Kovalevskij hieBen das Projekt willkommen und sagten
v o n ihrer Seite voile Unterstutzung zu. Die unterentwickelte Ausbildung der
Handwerker, die von Komarov angesprochen wurde, betraf eigentlich die gesamte
russische B e v o l k e r u n g , unter der es im Jahre 1859 nur 6 % Schreib- und
Lesekundige g a b . In St. Petersburg waren die Durchschnittswerte wesentlich
hoher. 1869 gab es z. B . unter 100 St. Petersburger Frauen 47 Lese- und
Schreibkundige. Bei einer naheren Betrachtung erreichten Frauen aus der sozialen
Schicht der H a n d w e r k e r den noch hoheren Prozentsatz v o n 5 4 % , bei den
R a z n o & n c e n g a b es 4 6 % , bei den Kleinburgern 3 8 % , bei den Bauern und
Armeeangehorigen j e 2 6 % lese- und schreibkundige F r a u e n . W e n n also die
obere Schicht des Beamtentums u n d des Adels auBer Acht gelassen wird, stellt
sich heraus, daB die Handwerker ungeachtet aller Mangel in Sachen Ausbildung
am weitesten fortgeschritten waren.
745
746
Die Fachzeitschrift sollte gegen die A b g r e n z u n g der Handwerker angehen und fur
ihre fachliche Weiterbildung sorgen. Es war vorgesehen, die Zeitschrift mehrmals
744
Prigovor, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 1931: Ob otkrytii, hier 1. 5.
745
A. G. RaSin, Naselelnie Rossii za 100 let. Moskau 1956, S. 289.
746
G. I. Archangel'skij, 2izn' v Peterburge po statisticeskim dannym, in: Archiv sudebnoj
mediciny i obScestvennoj gigieny, kn. 2 (Juni), c\ 3 (1869), S. 60.
p r o M o n a t zu verlegen. Die Meister bekamen in diesem Fall eine erste
Moglichkeit, Informationen uber alle wichtigen Handwerksarten, uber die
Entwicklung und den aktuellen Zustand des H a n d w e r k s , uber den G e s c h m a c k der
Kundschaft, uber die Verbesserungen und Erfindungen sowohl in RuBland als
auch im Ausland, uber beriihmte Meister und ihre Werkstatten, uber Ausstellungen
und uber alles, w a s z u m H a n d w e r k in irgendeinem Verhaltnis stand, zu erhalten.
Die Darstellungen sollten mit Zeichnungen u n d Abbildungen illustriert werden.
Es gelang leider nur zwei Jahre lang - von 1862 bis 1864 - die
Handwerkszeitschrift „Russkij remeslennik" (Der russische
Handwerker)
herauszubringen. Anfangs wurden alle notwendige Vorbereitungen getroffen. Die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g bestand als Initiatorin dieser Zeitschrift darauf, sie selbst
herauszugeben. D e r Militar-Generalgouverneur St. Petersburgs meinte dagegen,
daB dies nicht optimal sei. Seiner M e i n u n g nach sollte sie am besten unter der
Leitung einer Privatperson stehen. Dadurch k o n n e sie besser den Problemen des
H a n d w e r k s nachgehen und die Verfugungen der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g
unabhangig v o n ihr erlautern .
Im N o v e m b e r 1861 wurden Gliederung und Inhalt der Zeitschrift festgelegt, so
daB im J a n u a r 1862 die erste N u m m e r verlegt werden konnte. Der Redakteur T.
S. Frolov wies im ersten Heft der Zeitschrift unverzuglich darauf hin, mit welchen
Problemen er aufgrund des fehlenden offentlichen Interesses und der m a n g e l n d e n
Erfahrungen auf dem Gebiet der Wirtschaft kampfen muBte: „Die
Lebensverhaltnisse der Arbeiterklasse bleiben bei uns beinahe unerforscht, ihre
Bedurfhisse und Interessen u n b e k a n n t " .
Die Hefte sollten monatlich in einem Umfang zwischen 80 und 2 5 0 Seiten
herauskommen. Ein Heft bestand aus drei Teilen. Im ersten Teil sollten sowohl die
wichtigsten als auch die aktuellen Gesetze veroffentlicht werden. D e r zweite Teil
wurde den N e u e r u n g e n und technischen Errungenschaften im H a n d w e r k
gewidmet. Die Schneider z. B . b e k a m e n die Moglichkeit, den j e w e i l s neuesten
Pariser Stil k e n n e n z u l e m e n . Die Schreiner erfuhren etwas uber die
Neuentwicklungen in der Mobelkunst. Die Tapezierer, Friseure und andere
H a n d w e r k e r konnten sich uber neue Muster und Haarschnitte informieren. Der
dritte Teil berichtete uber die Lebensumstande der russischen u n d auslandischen
Handwerker. Die Handwerker erhielten Informationen uber die verschiedenen,
speziell fur sie eingerichteten Institutionen, wie z. B . uber die Gesellschaften fur
gegenseitige Hilfe, H a n d w e r k s b a n k e n u n d Handwerksvereinigungen. D a s
Jahresabonnement konnten die Interessenten fur vier Rubel b e k o m m e n . AuBerdem
747
748
747
Zapiska voennogo general-gubernatora S. Peterburga ministru vnutrennich del о
remeslennom zurnale ot 28 maja 1859 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 1931: Ob otkrytii v S.
Peterburge voskresnych klassov dlja remeslennikov, hier 1. 16.
Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 222.
kosteten die zwei bebilderten Anlagen, die D a m e n - und Herrenmode vorftihrten,
z u s a m m e n elf R u b e l .
Als die erste A u s g a b e der Zeitschrift fertig war, traf das Wirtschaftsdepartement
des Innenministeriums die notwendigen Vorkehrungen und befahl, am 3 1 .
D e z e m b e r 1861 an alle 54 Gouverneure j e 30 Exemplare der ersten A u s g a b e zu
verschicken. AuBerdem erhielten die Kriegsgouverneure (voennye
gubernatory)
v o n Odessa, Nikolaev und Kronstadt j e sechs E x e m p l a r e . Uber das Schicksal der
Zeitschrift ist nichts weiteres bekannt. Hochstwahrscheinlich blieben diese
Exemplare ungelesen in den Gouvernementsverwaltungen liegen. M a n kann fast
sicher davon auszugehen, daB die Meister an der Zeitschrift kein Interesse hatten
und schon gar nicht bereit waren, dafur Geld auszugeben. Es blieb bei der
Initiative des Handwerksaltesten von St. Petersburg und der Regierung, von oben
eine Fachzeitschrift fur die Handwerker in RuBland einzufuhren, von der die
H a n d w e r k e r aber nicht wuBten, w a s sie damit anfangen sollten. D a s MiBlingen
dieses V o r h a b e n s laBt sich aus mehreren Griinden erklaren: Erstens gab es in
RuBland nur wenige Handwerker, die des Lesens kundig waren. Zweitens hatte die
Mehrheit der H a n d w e r k e r nicht genug Geld, u m es fur die Zeitschrift auszugeben.
Drittens war es fur einen russischen Meister noch allzu ungewohnlich, aus einer
zusatzlichen Quelle und nicht nur aus seiner Berufserfahrung zu schopfen.
AuBer der Zeitschrift „Der russische H a n d w e r k e r " gab es noch den Versuch der
Gesellschaft der auslandischen Handwerker, „Palme", eine Fachzeitschrift unter
d e m N a m e n „Palmblatt" herauszugeben, die innerhalb der Handwerkerschaft den
fachlichen Informationsaustausch ermoglichen sollte und ebenfalls
wegen
fehlender Nachfrage seitens der auslandischen Handwerker unterging. N a c h zwei
Jahren, von 1866 bis 1868 war die Zeitschrift erschienen, wurde ihre Herausgabe
eingestellt .
749
750
751
Die Anfange allgemeiner Handwerksausbildung in St. Petersburg gehen auf die
Alexandrinische Schule zurtick, als der damalige Handwerksalteste N . M .
K o m a r o v in der Handwerksabteilung der Allgemeinen Stadtduma a m 26. Juli 1856
vorschlug, ein Asyl fur die Waisen und Kinder der armen H a n d w e r k e r (Prijut dlja
sirot i detej bednych remeslennikov)
zu eroffhen, in dem anfangs 30 Kinder
beherbergt werden sollten. Dieser Vorschlag w u r d e sofort in die Praxis umgesetzt.
Einige Jahre spater, am 2 3 . N o v e m b e r 1862, w a h r e n d der Amtszeit des
Handwerksaltesten E g o r Efimovie Malkov, erfolgte die Eroffhung der
Alexandrinischen Internatsschule beim Asyl. In der 50jahrigen Geschichte der
Schule fanden zwei Umztige in die von der Handwerksverwaltung speziell fur sie
gebauten G e b a u d e start. Zwischen 1862 und 1868 befand sie sich in einem
749
Otnosenie S. Peterburgskogo gorodskogo golovy Aleksandru Danilovicu Sumacheru ot 24
nojabrjal861 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 1931: Ob otkrytii, hier 1. 30f.
750
Ebd., 1. 39f.
zweistockigen holzernen H a u s auf der GroBen M o s k a u e r StraBe, w o j e w e i l s 20
M a d c h e n und 20 Jungen versorgt wurden. 1868 z o g die Schule in ein steinernes
H a u s beim A r m e n h a u s der Handwerksverwaltung auf der Cernigovskaja-StraBe
um, womit sie den Schuler- und Schulerinnenanteil bis z u m Jahre 1873 auf 106
vergroBern konnte. U n d schlieBlich, am 17. Mai 1874, w u r d e die Schule im neuen
steinernen dreistockigen Gebaude am Ligovskij-Kanal untergebracht, wodurch das
Schulerkontingent auf bis zu 200 erhoht werden konnte. Dieses G e b a u d e wurde
zwischen 1887 und 1892 durch einen U m b a u vergroBert, so daB die Gesamtkosten
der Verwaltung fur die Bauten und das U m b a u e n in den Jahren des Bestehens der
Schule rund 116.033 Rubel betrugen .
Der Ehrenkurator Grigorij Grigorievie Petrovskij, der spater zwischen 1868 und
1871 den Posten des Handwerksaltesten innehatte, sorgte fur einen geregelten und
ordentlichen Unterrichtsablauf und widmete seine besondere Aufmerksamkeit dem
Unterricht der Schreiner-, Dreher-, Schmiede- und GieBerhandwerke. Die
Initiative Petrovskijs im Handwerksunterricht w u r d e v o n den meisten
Handwerkern begriiBt und moglichst unterstutzt, so daB die Schulwerkstatt
verschiedene Arbeitsgerate und sogar eine Maschine mit Riemenantrieb v o n den
Meistern geschenkt bekam. Fur die B e m u h u n g e n in der handwerklichen
A u s b i l d u n g und fur ihr gutes Niveau wurde die Schule 1899 belohnt, als sie fur
ihre Exponate wahrend der Handwerksausstellung in St. Petersburg die groBe
silberne Medaille erhielt.
Zuerst b e k a m e n die Kinder der Alexandrinischen Schule Schulunterricht im
R a h m e n der Elementarschule. Hier wurden Grundschulfacher unterrichtet wie
Religionsunterricht, Russische Sprache, Arithmetik, Malen, Geographie,
Schreiben und M u s i k .
Insgesamt wurden im Schuljahr 1887/88 1809 Unterrichtsstunden fur 242
Heimschuler und -schulerinnen gegeben. Die laufenden Kosten der Schule
beliefen sich jahrlich auf 5.000 bis 6.000 Rubel. 1890 z. B . b e k a m die
Schulaufseherin 4 2 0 Rubel, vier ihrer Stellvertreterinnen 1.236 Rubel insgesamt,
der Lehrer fur Russisch und Kirchenslavisch 3 6 0 Rubel, der Zeichenlehrer 2 7 6
und der Musiklehrer 4 0 0 Rubel im Jahr. Insgesamt wurden in diesem Jahr 4.606
Rubel fur das Schulpersonal und den Unterhalt der Kinder a u s g e g e b e n .
Die Versorgung der Internatsschule wie auch des Altersheimes lief nicht immer
reibungslos. Der schon erwahnte stellvertretende Standesalteste Lebedev
vernachlassigte w a h r e n d seiner Amtszeit die Arbeit in den wohltatigen Anstalten
752
753
754
752
Pjatidesjatiletnij otcet Aleksandrovskoj Skoly dlja detej bednych remeslennikov S.
Peterburgskogo remeslennogo obSCesrva. St. Petersburg 1912, S. 3-7,9ff., 26ff.
753
754
S. Tabelle 57 im Tabellenanhang.
Rospis' о dochodach po S. Peterburgskoj remeslennoj uprave na 1890 god, in: RGIA, f.
1287, op. 38, d. 2530,1. 59.
der Verwaltung. N o c h vor dem 1. Juli 1876 wurde er laut BeschluB der
G e s a m t v e r s a m m l u n g w e g e n seiner Versaumnisse als Hausverwalter an der
Internatsschule und des Altersheimes seines Postens enthoben. A m 16. Juni 1880
berichtete
der
Ehrenkurator
der
Schule,
Kolosov,
dem
Minister
fur
Volksaufklarung iiber die unbefriedigende Lage der Schule und zahlte die
Versaumnisse auf:
„Der Kostenplan ist von der Verwaltung nicht vorgelegt worden,
wodurch die Materialbeschaffung und andere Ausgaben nicht gemacht
werden konnten. Die Gehalter der Schulangestellten sind gekiirzt
worden. Die Schulmadchen haben nur ein Kleid. E s werden alte
Hemden
fur
die Schuljungen
gebraucht.
Unterwasche
ist
nicht
ausreichend vorhanden und meistens abgenutzt. Fruher fuhrten die
Schulmadchen in der Ferienzeit Naharbeiten aus. Da aber im M o m e n t
kein Arbeitsmaterial vorhanden ist, vergeht die Ferienzeit nutzlos. D a s
755
Schulhaus ist nicht renoviert" .
Fur diese U m s t a n d e machte Kolosov den stellvertretenden
Standesaltesten
verantwortlich, der die Gelder aus dem Etat der Internatsschule sowie des
Altersheimes dazu verwendete, Rechnungen der Handwerksverwaltung
zu
begleichen.
Diese
voriibergehenden
Schwierigkeiten
konnten
den
guten
Willen
der
Handwerksgesellschaft, diese Anstalten weiterzufuhren, nicht brechen. Die Schule
blieb
dank
offentlicher
Kontrolle
seitens
des
Kurators
und
der
756
Deputiertenversammlung weiter erhalten und wurde sogar etwas vergroBert . In
absoluten Zahlen verdoppelte sich die Anzahl der Schuler und Schiilerinnen von
97 im Jahre 1866 auf 226 im Jahre 1910. Ungeachtet des starken Z u w a c h s e s war
dies in Anbetracht v o n tausenden Kindern der standigen Zunfthandwerker nur eine
kleine Zahl. Die Kinder der zeitweiligen Zunfthandwerker besuchten diese Schule
nur ausnahmsweise. 1903 waren von insgesamt 2 5 4 Schiilern und Schiilerinnen
757
nur 43 von den zeitweiligen Zunfthandwerkern .
Die
Gesamtausgaben
der
Handwerksverwaltung
fur
die
Alexandrinische
Internatsschule v o n 1862 bis 1912 betrugen insgesamt die betrachtliche S u m m e
755
Donesenie podetnogo popeditelja doma prizrenija prestarelych i uveCnych i sostojaScej pri
onom Aleksandrovskoj Skole Kolosova, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1952: Po proseniju
masterov (...) Cistjakova, Polikarpova, hier 1. 78.
756
S. Tabelle 58 im Tabellenanhang.
757
OtCet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1903 god. St. Petersburg 1906, S. 166.
v o n 933.960 Rubeln. Die Schule besuchten in diesem Zeitraum 1281 J u n g e n und
1063 M a d c h e n oder 2344 Schuler insgesamt.
AuBer
der Alexandrinischen
Schule organisierte
die
russische
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g eine unentgeltliche Sonntags-Malschule
(Besplatnaja
Voskresno-risoval'naja
skola) fur die Kinder der Zunfthandwerker. Die
statistischen A n g a b e n fur die Jahre 1887-1991 erlauben es, sich uber die GroBe der
Schule eine Vorstellung zu verschaffen .
E s ist u n b e k a n n t , w i e l a n g e d i e s e S o n n t a g s m a l s c h u l e
bei
der
Handwerksverwaltung existierte. Vielleicht w u r d e sie zu Klassen fur Zeichnen und
M a l e n (klassy risovanija i cercenija) zusammengefuhrt, die 1903 im Jahrsbericht
der russischen Handwerksverwaltung erwahnt sind. Fur diese Klassen zahlte j e d e
Zunft bestimmte Beitrage ein, die insgesamt 6.367 Rubel betrugen. E s waren die
Zunfte der Schneider (1297,5 Rubel), Backer (1020,25 Rubel), Silberschmiede
und Posamentierer (969 Rubel), Maler (653,75 Rubel), Gerber u n d Schuhmacher
(627 Rubel), Schreiner und Dreher (608,75 Rubel), Schlosser und Schmiede (604
Rubel) sowie Tapezierer und Pferdehaarmacher (587 R u b e l ) . 191 1 hatten diese
Klassen 2 0 0 Schuler und 60.000 Rubel Kapital .
Die Anstrengungen der Handwerksverwaltung bei der G r u n d u n g verschiedener
Lehranstalten in der zweiten Halfte des 19. und a m Anfang des 20. Jahrhunderts
zeigen, daB sie sich uber die Bedeutung der B i l d u n g durchaus im klaren war. V o m
Umfang her aber bewirkten diese Anstrengungen keine spurbaren Veranderungen
im Bildungssektor. A u f privatem W e g oder im R a h m e n des Standes war dieses
Ziel ohne staatliche Unterstutzung k a u m erreichbar. Die beiden Malschulen, die
1836 und 1841 in St. Petersburg von der Regierung eingerichtet wurden und deren
Zielgruppen in der Bevolkerung uberwiegend die H a n d w e r k e r und „Fabrikanten"
waren, konnten ebenfalls w e g e n ihrer geringen GroBe keinen wesentlichen
Bildungseffekt bewirken. D e s w e g e n muBte der Staat effektivere MaBnahmen
ergreifen, u m die Situation in der Bildung zu verbessern .
758
759
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8.2
Die Fachausbildung im H a n d w e r k s b e t r i e b bei den zunftigen
nichtzunftigen H a n d w e r k e r n
und
Die handwerkliche Fachausbildung war nicht allein d e m Zunfthandwerk
vorbehalten. Schon mit dem ErlaB v o m 7. Januar 1736 w u r d e Fabrikanten erlaubt,
758
S. Tabelle 59 im Tabellenanhang.
759
Otcet S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1903 god. St. Petersburg 1906, S. 167.
760
Protokoly zasedanij sekcii po remeslennomu ucenidestvu, in: Trudy vtorogo
Vserossijskogo s-ezda, S. 127.
761
Aleksandr Michajlovi£ Tjufilin, Zapiska о sostojanii remeslennosti. Kazan' 1906, S. 13ff.
762
ihren Beschaftigten Gesellen- und Meisterdiplome auszustellen . Daher entstand
hier ein groBer Konfliktpotential, da die Handwerker mit solchen Diplomen nach
St. Petersburg kamen, um dort zu arbeiten. Die Handwerksverwaltung hatte j e d o c h
diesen Handwerksmeistern die Arbeit untersagt, wozu sie kein Recht hatte.
H a n d w e r k e r mit derartigen Diplomen waren aber in der Hauptstadt eher eine
A u s n a h m e . Die uberwiegende Mehrheit der Lehrlinge w u r d e in den Werkstatten
ausgebildet, wobei die meisten von ihnen leibeigen waren, also aus d e m D o r f
kamen, wie im Bericht von Staatsrat Oznobisin von 1841 nachzulesen ist .
Die Gutsbesitzer gaben die Kinder ihrer Leibeigenen in die Lehre, u m spater von
ihnen den Grundzins zu b e k o m m e n , den sie als Handwerker in der Stadt verdienen
konnten. Das Schicksal dieser Lehrlinge war in der Regel sehr schwer. Die Kinder
wurden fur m e h r e r e Jahre zu einer kostenlosen Arbeitskraft, die der Meister
sattsam ausnutzte. Dabei spielte es keine Rolle, ob der Lehrling im Betrieb
arbeitete oder die Aufgaben im Haushalt des Meisters erledigte .
Die Handwerksausbildung lieB zu j e n e r Zeit noch viel zu w u n s c h e n ubrig. Die
Lehrlinge w u r d e n mit schwerer korperlicher Arbeit belastet, und die meisten von
ihnen b e k a m e n auch keine Grundschulausbildung. 1842 schrieb der standige
Meister der Schneiderzunft V. A. Rezanov: „ M a n darf den Franzosen und den
Deutschen Gerechtigkeit widerfahren lassen, daB ihre Ausbildungsmethode viel
vorteilhafter als die unserer Meister ist" . Die Ursachen der unzureichenden
Ausbildung der russischen Handwerker z. B. im Schneiderhandwerk lagen darin,
daB sie fast alle Analphabeten blieben. Die Kinder wurden mit sieben oder acht
Jahren in die Lehre geschickt, w o sie in der Werkstatt bei einem auslandischen
Meister sechs bis sieben Jahren lang blieben und keine Schule besuchten. A u c h
lernten sie nur Z u s a m m e n n a h e n und Formgeben. Die Zuschneidekunst selbst
lernten sie nicht. D a s war allein d e m Meister uberlassen. Die Kinder der Meister
wurden dagegen zuerst auf die Schule geschickt und begannen ihre Lehre mit
zwolf Jahren. N a c h d e m sie in vollem Umfang das H a n d w e r k erlernt hatten,
arbeiteten sie noch zwei bis drei Jahren als Gesellen und begaben sich mit dem
verdienten Geld in Westeuropa auf Wanderschaft, u m sich in ihrem H a n d w e r k zu
vervollkommnen .
763
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766
762
RGIA, f. 18, op. 2, d. 296: Po proSeniju karetnogo mastera Johanna Jochima, о dozvolenii
emu ustroit' v obSirnejsem vide fabriku, dlja delanija raznogo roda ekipazej, 1. 17: Ukaz
Senate ot 5 ijunja 1820.
763
Vgl. Raport Oznobisina, in: RGIA, f. 560, op. 8. d. 577: О merach uluCSenija.
764
Vgl. zu der Handwerksausbildung: Kitanina, Rabodie, S. 179f.
765
Proekt vecnocechovogo mastera portnogo cecha Rezanova ot 15 oktjabrja 1842 g., in:
RGIA, f. 1287, op. 37, d. 93: Po proektam masterov portnogo cecha Rezanova i Kessnera ob
obucenii maP6ikov portnomu masterstvu i proeee (oktjabr' 1842-janvar 1843), 1. 1-6, hier 1.
1; V. A. Rezanov, Vzgljad na chod portnogo masterstva v Rossii, St. Petersburg 1847.
4
Rezanov schlug vor, die Gutsbesitzer mit der Ausbildung der Kinder zu
verpflichten. Sie sollten zuerst das P r o g r a m m der Grundschule absolvieren u n d nur
dann mit zwolf bis 14 Jahren in die Stadt in die Lehre geschickt werden. Nach d e m
AbschluB sollten die Gesellen auf Wanderschaft ins Ausland gehen, wofur sie v o m
Staat ein Stipendium erhalten sollten. Dies sollte zur wesentlichen Verbesserung
im russischen Schneiderhandwerkbeitragen . Fehlende Systembedingungen, wie
z. B . die Abschaffung der Leibeigenschaft und damit die personliche Freiheit der
Bauern, lieBen dieses Vorhaben j e d o c h scheitern.
In den 40er Jahren n a h m die A b g a b e finnischer Kinder in die Lehre zu St.
Petersburger H a n d w e r k e r n die Ztige eines gewinntrachtigen Handels an, wie
sowohl der Staatssekretar v o n Finnland, als auch der Zustandige fur die
Handwerksverwaltung, der Vorsitzende der K E N O V , Kollegienrat Grot
konstatierten . Die Einheimischen aus Finnland brachten alljahrlich hunderte v o n
Kindern nach St. Petersburg und gaben sie fur ein bestimmtes Entgelt den St.
Petersburger Meistern ohne jegliche Bedingungen und fur unbestimmte Zeit in die
Lehre ab. Die Handler kummerten sich nicht u m das weitere Schicksal der Kinder.
Der Meister bekam gegebenenfalls eine Bescheinigung aus Finnland, die er j e d e s
Jahr im finnischen Adresskontor in St. Petersburg verlangerte, w o d u r c h der
L e n d i n g mehrere Jahre vollig in seiner Gewalt blieb.
Fur Streitfalle zwischen Lehrlingen und Meistern waren die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g
und die Polizei zustandig, die ausnahmslos die Partei des Meisters ergriffen und
den Lehrling zuriick in die Arbeit zwangen. Grot schlug vor, daB in Zukunft nur
noch schriftliche Vertrage zwischen Meister und Lehrling abzuschlieBen seien. So
sollten die Meister besser vor der Flucht ihrer Lehrlinge geschtitzt werden. D o c h
die Frage der Einschrankung oder gar des Verbotes der Kinderarbeit unter
bestimmten B e d i n g u n g e n war damals noch kein Thema. Die Regierung ging zwar
diesem Problem formell nach, interessierte sich j e d o c h ausschlieBlich fur den
rechtlichen Schutz des Meisters .
Erst E n d e der 1850er und in den 1860er Jahren geriet die Lage der Lehrlinge im
H a n d w e r k mehr und mehr in das Blickfeld der Offentlichkeit, w a s in einigen
konkreten MaBnahmen seinen Ausdruck fand. 1861 erfolgte der ZarenerlaB uber
767
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Ebd., 1. 5f.
768
Otnosenie stats-sekretarja velikogo knjazestva Finljandskogo к ministru vnutrennich del ot
16.03.1846, und dokladnaja zapiska Grota ot 5.12.1850, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 409: О
neprinjatii v udenie finljandcev к
S. Peterburgskim remeslennikam bez zakljucenija о torn kontraktov, hier 1. If., 18ff.
769
Dokladnaja zapiska Grota, in: Ebd., 1. 18f.; Vgl. uber die Lage der Kinderarbeit und bildung in Deutschland: S. Quandt (Hrsg.), Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland
1783-1976. Quellen und Anmerkungen, Paderborn 1978 (Geschichte, Politik. Materialien und
Forschung, Bd. 1, hrsg. v. G. C. Behrmann, K.-E. Jeismann, E. Kosthorst u.a.); Lange, S., Zur
Bildungssituation der Proletarierkinder im 19. Jahrhundert: Kinderarbeit und
Armenschulwesen in der sachsischen Elbstadt Pirna, Berlin 1978 (Monumenta Paedagogica,
Bd. 13).
die Aufsicht der Lehrlinge in den Handwerksbetrieben v o n den Kuratoren der
kaiserlichen Gesellschaft der Menschenliebe (Imperatorskoe
delovekoljubivoe
obscestvo).
Die Kontrolle seitens dieser Gesellschaft war ineffektiv und konnte w e n i g
bewirken, da MiBhandlungen der Lehrlinge eine alltagliche Erscheinung in den
Werkstatten w a r e n . Ein Beispiel dazu liefert der GerichtsprozeB gegen den
Schuhmacher Krylov, der 1876 seinen neunjahrigen Lehrling fur 15 Rubel bei
einem Handler kaufte und ftir vier Jahre in die Lehre nahm. Der Lehrling w u r d e
regelrecht gefoltert: Der Meister verprtigelte ihn so stark, daB sein ganzer Korper
mit Schrammen und W u n d e n versehen war. Der Meister gab ihm nur ein H e m d
zum Kleiden, fesselte seine FuBe und hangte ihn mit dem K o p f nach unten an einer
Kette auf. Dafur w u r d e er am 4. September 1879 zu 15 M o n a t e n in einer
Strafkompanie bei Entzug seiner Standesrechte verurteilt. D a s war die erste
schwere Strafe gegen einen Meister, der seinen Lehrling miBhandelte .
Die MiBhandlungen wurden durch viele Faktoren ermoglicht. D e m Gesetz nach
hatte der Meister das Recht eines Hausherren iiber die Lehrlinge und Gesellen .
Erstere wurden ihm vollig ausgeliefert. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Mutter
oder der „Handler" sie in die Stadt brachte. Der Unterschied lag nur darin, daB die
Mutter dem Meister fur die Lehre noch zahlte und der „Handler" wie im Fall mit
Krylov v o m Meister das Geld erhielt. Die patriarchalische Lebensweise und die
Mentalitat der niederen und mittleren Schichten, zu denen die Meister gehorten,
ermoglichten solche Behandlungsweisen. Oft konnten die Kinder die
MiBhandlungen nicht mehr ertragen und versuchten durch Flucht, ihrem schweren
Los zu entkommen, sie wurden j e d o c h meistens z u m Meister mit Hilfe der Polizei
oder der Eltern selbst zarrtickgefuhrt. Die Polizei n a h m nur die Eigentumsrechte
des Meisters w a h r und schenkte den MiBhandlungen der Lehrlinge keine
Beachtung, weil solche Vorgehensweise rechtlich legal war. Der Meister, so die
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770
Raport voennogo gubernatora v pravitePstvujuScy Senat ot 8.12.1861, in: RGIA, f. 1341,
op. 107, d. 1389: Po vysocajsemu poveleniju, о vozlozenii na popeeitelej о bednych, nadzora
za polozeniem ucenikov v remeslennych zavedenijach S. Peterburga (1861), hier 1. 1; siehe
auch: О vozlozenii na popeditePstvo о bednych nadzora za polozeniem udenikov v
remeslennych zavedenijach S. Peterburga, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 78 (AugustNovember 1861).
771
V. O. Iordan, Uceniki-remeslenniki, in: Russkaja mysP, kniga4 (1894), S. 1-24, hier S.
3ff.
772
BezzaS&tnost' remeslennych udenikov, o. A., in: Vestnik Evropy, torn 5, kniga 9-10, hier
kniga 10 (Oktober 1879), S. 793
773
4.
Ob ustrojstve remeslennogo soslovija, in: 2MVD, otd. 2,6. 3, kn. 5. 1853, S. 1-40, hier S.
Kollegen, sollte doch dem Lehrling „eine L e h r e " erteilen. Die Art des Betriebes
spielte dabei keine Rolle.
Ein Beispiel dafur liefert das Gerichtsverfahren gegen das Ehepaar F e l ' d m a n in
M o s k a u , die eine Wascherei und eine Werkstatt mit WeiBnaherinnen betrieben.
Der E h e m a n n F e l ' d m a n ging besonders drastisch vor: Er prugelte ein j u n g e s
Madchen
in
der
Werkstatt
zu
Tode.
Zudem
gab
es
mehrere
Selbstvergiftungsversuche unter den j u n g e n Naherinnen. Fluchtige M a d c h e n
wurden mit Hilfe des Polizeirevieraufsehers Korovin zuruckgebracht und in
774
seinem Beisein noch heftiger v e ф r й g e l t . Selbst w e n n es d e m Lehrjungen
gluckte, nach H a u s e zuruckzukommen, blieb der Mutter nichts anderes tibrig, als
den Sohn in die Werkstatt zuruckzubringen, da fast alle Lehrlinge aus a r m e n
775
Familien stammten und nicht ernahrt werden k o n n t e n .
N a c h der U n t e r s u c h u n g v o n 1841 waren es insbesondere Schneider- u n d
Schuhmacherbetriebe,
Zigaretten-
und
Mobelfabriken,
Fabriken
fur
die
Herstellung von Seiden- und Wollwaren sowie BronzegieBereien, die uberwiegend
Lehrlinge statt erwachsener Arbeitnehmer beschaftigten.
In den Werkstatten der Tapezierer, der Gold- und Silberschmiede, der Kurschner,
der Schlosser und Schneider lag das Verhaltnis der Jugendlichen zu den
Volljahrigen bei 9:5. Unter den untersuchten Betrieben, die insgesamt 3776
Beschaftigte hatten, machten die Minderjahrigen einen Anteil v o n 829 oder 22 %
776
der Gesamtzahl a u s . Die Tendenz, erwachsene Arbeitnehmer durch Lehrlinge zu
ersetzen, war nach der Reform v o m 19. Februar 1861 noch starker. D a s hing damit
zusammen, daB der Meister seine Handwerksarbeiter nicht so leicht wie frtiher
beschwichtigen konnte. Die Arbeiter fuhlten sich unabhangiger und driickten ihr
Unverstandnis uber die Behandlungsweise des Meisters durch U n g e h o r s a m aus.
Erst die Gesetze z u m Schutz der Kinderarbeit, die in den 1880er und 1890er
Jahren erlassen wurden, veranderten die Entwicklung auf d e m Arbeitsmarkt
777
zugunsten der L e h r l i n g e . Die Handwerker wollten nichts mit Zivilgerichten und
Fursorgegesellschaften zu tun haben, die in aller Regel die Interessen der
Lehrlinge w a h r n a h m e n . Gleichzeitig war ohne die billige Arbeitskraft
der
Lehrlinge die Rentabilitat der Betriebe in Gefahr.
Infolge der Vielzahl v o n MiBbrauchsfallen an Lehrlingen durch ihre Meister in St.
Petersburg w u r d e 1857 eine K o m m i s s i o n „Fur die Ц Ь е ф г и г ш ^ der
Iordan, Uceniki-remeslenniki, S. 3f.
Ebd.
Raport OznobiSina, in: О merach ulufcsenija, 1. 13.
Iordan, Uceniki-remeslenniki, S. 3, 15.
Handwerksbetriebe" (Komissija dlja osmotra remeslennych zavedenij) einberufen.
Die K o m m i s s i o n uberprufte 1525 Handwerksbetriebe und legte Anfang 1860 einen
Rechenschaftsbericht vor, in d e m ein verbreiteter roher U m g a n g der Meister mit
den Lehrlingen konstatiert w u r d e :
„ D e r Kommissionsbericht bezeugt eine erbarmliche Lage der Lehrlinge
und ihre vollige Schutzlosigkeit der Willkur des Meisters gegenuber.
[...] Viele Meister halten ihre Lehrlinge unter schlechten Bedingungen,
gehen mit ihnen herzlos um. Die Schrankenlosigkeit und Brutalitat der
Meister erreichen manchmal auBerste G r e n z e n " .
778
Die Meister verprugelten die Lehrlinge mit den Fausten und schlugen ihnen mit
verschiedenen Gegenstanden ins Gesicht, zogen sie an den Haaren auf dem B o d e n
und traten sie mit FuBen nieder, w a s nach dem Kommissionsbericht eine
gewohnliche Erscheinung im H a n d w e r k war.
Als die Arbeit der Kommission beendet war, wurden Strafen gegen 44 Meister
verhangt, 14 Meistern wurden die Lehrlinge w e g g e n o m m e n und in andere
Handwerksstatten
vermittelt
und
gegen
vier
Meister
wurden
Untersuchungsverfahren eingeleitet. Die Meister fuhlten sich wahrend des
Verfahrens im Recht. Sie wuBten, wann die Kommission zu ihnen k o m m e n sollte
und versuchten es meistens erst gar nicht, ihren brutalen U m g a n g mit den
Lehrlingen zu vertuschen. ,
Fur die Beseitigung der MiBhandlungen in den Handwerksbetrieben hielt die
K o m m i s s i o n fur notig:
1.
Die Handwerksoberhaupter und die Altesten zu verpflichten, die Lehrlinge
dauernd unter ihrer Aufsicht zu halten.
2.
Die Handwerksverwaltung zu verpflichten, alle Handwerksbetriebe im
Beisein der Medizininspektion zu tiberpriifen.
3.
Die Handwerksverwaltung der Gesellen „wiederherzustellen", die niemals
existierte.
4.
D e n Meistern vorzuschlagen, o b sie damit einverstanden seien, Lehrlinge
o h n e Vertrage aufzunehmen, und
5.
Die Lange des Arbeitstages fur die Lehrlinge sollte maximal zwolf Stunden
betragen, wobei zwei Stunden fur die Erholung gewahrleistet werden
sollten .
779
780
778
Trudy komissii, ucreidennoj dlja peresmotra ustavov fabridnogo i remeslennogo, Teil 1.
St. Petersburg 1863, S. 79f, 304.
779
Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 305; Vgl. Iordan, U6eniki-remeslenniki, S.
9f.
780
Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 305.
Der Generalgouverneur von St. Petersburg, Graf Pavel Nikolaevic Ignat'ev (18541861), bezweifelte den Erfolg der MaBnahmen: „Diese Vorschriften w e r d e n
genauso w e n i g befolgt, wie es bis heute der Fall w a r " . D i e Beauftragung der
Altesten mit der l%erprufung aller Betriebe war w e g e n d e s Zeitfaktors k a u m
realisierbar, weil selbst die Kommission fur die Ц Ь е ф г и г л и ^ ihrer nur 1.525
Betriebe ganze drei Jahre brauchte. Zu j e n e r Zeit gab es in St. Petersburg aber rund
12.000 Handwerksbetriebe, die unter der Leitung der Handwerksverwaltung
standen u n d e t w a 3.000 weitere Betriebe, deren Meister nicht in die Zunfte
eingetreten waren. Die Handwerksverwaltung hatte sehr viel m e h r Zeit benotigt,
u m alle Betriebe zu иЬефгйТеп .
I g n a t ' e v war der M e i n u n g , daB alle MiBstande mit der Zunftordnung
zusammenhingen. Er k a m zu dem SchluB, daB das H a n d w e r k w e g e n fehlender
Freiheit und B e e n g u n g durch die Zunftorganisation konkurrenzunfahig sei. Er
schlug vor, das H a n d w e r k v o n jeglichen „Beschrankungen" zu befreien, u m es zur
Entfaltung k o m m e n zu lassen. Es ist aber zu bezweifeln, daB das H a n d w e r k o h n e
j e d e Organisation in Konkurrenz zur GroBindustrie bestehen konnte. Er betonte,
daB nur die Wiederherstellung der Gewerbefreiheit eine deutliche Verbesserung
der Lage des Handwerkerstandes mit sich b r i n g e . Dies w a r fraglich, weil
Ignat'ev unter der Gewerbefreiheit eine B e w a h r u n g „patriarchaler Lebensweise
verstand, die im Alltag erfolgreich die F o r m der schriftlichen Vertrage
ersetzt[e]" . D i e Praxis bewies das Gegenteil. Eben
diese „patriarchale
L e b e n s w e i s e " war fur die MiBhandlung der Lehrlinge verantwortlich.
Ignat'ev machte die Regierung darauf aufmerksam, daB bisher nur die Arbeit der
Kinder in den Fabriken diskutiert wurde, die Lage der Lehrlinge im H a n d w e r k
dagegen nicht, obwohl sie die gleichen Merkmale aufwies. A u c h im H a n d w e r k war
Kinderarbeit fast kostenlos. A u c h hier erwarben die Kinder bis z u m einen
bestimmten Alter fast keine technischen Kermtnisse und ruinierten ihre
Gesundheit. D e s w e g e n sollten die Bestimmungen, die fur die in der Fabrik
arbeitenden Kinder galten, auch fur die Handwerksbetriebe gesetzlich gtiltig sein.
Dies bedeutete, daB:
781
782
783
784
1.
2.
Die Kinder nicht j u n g e r als 12 Jahre alt sein sollten;
Die Lehrlinge im Alter von 12 bis 18 Jahre nicht lunger als 12 Stunden pro
T a g arbeiten durften;
781
Ebd.
782
Ebd., S. 306.
783
Ebd., S. 307, 60, 139.
3.
Die Nachtarbeit von 20 Uhr bis 5 Uhr fur die Arbeitnehmer, die nicht alter
als 18 Jahre alt waren, verboten sein sollte .
Diese Vorschlage blieben lange Zeit nicht realisiert. Die Aufsicht der Zunftaltesten
ging nie iiber die Steuereinsammlung hinaus. Sie vermieden j e d e Einmischung in
die „inneren Angelegenheiten" des Meisters, um nicht die MiBgunst ihrer Kollegen
zu wecken . Die Kommissionsmitglieder befurchteten auch, daB falls die Altesten
die Meister auffordem wurden, alle Regelungen des Handwerksstatutes streng zu
beachten, die Streitigkeiten nie ein Ende haben wurden. Der Status quo wurde
folglich von beiden Seiten gewahrt. In dieser rechtlichen Situation k o n n t e eine
Verbesserung der Lage der Lehrlinge, deren Aufsicht auf die Polizei ubertragen
worden war, nicht eintreten .
Die Arbeitsschutzgesetze fur die Fabriken galten nicht fur Handwerksbetriebe mit
weniger als 16 Beschaftigten . D e s w e g e n hatten die Gesetze iiber die
Beschrankung der Kinderarbeit v o m 1. Juni 1882 und iiber das Nachtarbeitsverbot
fur Frauen und Jugendliche in der Textilindustrie von 1885 keinen
obligatorischen
Charakter fur die kleineren Handwerksbetriebe . Infolge der Nachsicht der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g blieb die Lage der Lehrlinge im H a n d w e r k unverandert
schwer. Laut den Statistiken des M o s k a u e r stadtischen Rukavisnikov-Asyls
bestand z. B . zwischen 1880 und 1888 die Halfte der minderjahrigen Straftater aus
H a n d w e r k s l e h r l i n g e n , u b e r w i e g e n d aus S c h u h m a c h e r b e t r i e b e n .
Vom
gesundheitlichen Zustand her waren sie fast alle angeschlagen: Den hochsten
Prozentsatz der aus gesundheitlichen Griinden untauglichen Rekruten fur das Heer
stellten ebenfalls die H a n d w e r k e r .
785
786
787
788
789
790
Die schadliche moralische und gesundheitliche Wirkung auf die Lehrlinge in den
Handwerksbetrieben w u r d e wahrend des ersten Handwerkskongresses 1900 von
der technischen Intelligenz und der Arzteschaft mehrmals angeprangert, doch die
Meister reagierten auf alle Kritikversuche auBerst empfindlich und abweisend. Fiir
die Arbeitschutzgesetze zeigten sie keine Sympathien und setzten Resolutionen
durch, die den Arbeitstag von 10 auf 11,5 Stunden verlangerten und die
Wiedereinfuhrung der Nachtarbeit forderten. Als die Frage iiber die B e g r e n z u n g
des Arbeitstages auf acht Stunden wenigstens fur die Minderjahrigen zur
Diskussion gestellt wurde, lieBen die Handwerker den Vorschlag einstimmig
785
Ebd., S. 358f.
786
Iordan, Uceniki-remeslenniki, S. 11.
787
Trudy komissii, Teil 1. St. Petersburg 1863, S. 60.
788
V. Alymov, К voprosu о polozenii truda v remeslennom proizvodstve, in: Narodnoe
chozjajstvo, kniga 6 (November-Dezember 1904), S. 3ff.
789
Puttkamer, Anfange, S. 85-108.
scheitern. Ebenfalls einen heftigen Wortwechsel rief der Vorschlag hervor, den
Lehrlingen die Moglichkeit zu geben, sechs Stunden in der W o c h e die Schule zu
besuchen, wobei der Delegierte Korotovic die allgemeine M e i n u n g z u m Ausdruck
brachte, daB die Meister uberhaupt kein Interesse daran hatten, sich zukunftige
Konkurrenten groBzuziehen. Der Smolensker Zunftalteste Stepanov w a r der
einzige, der die Meister zu dem KompromiB aufforderte, den Schulbesuch doch
zuzulassen und w u r d e dafur von der V e r s a m m l u n g ausgepfiffen .
W a h r e n d des Kongresses fielen praktisch alle Vorschlage der Intelligenz z u m
Arbeitsschutz und zur Schulbildung der Lehrlinge durch. N u r einen Artikel uber
die Abschaffung der Ztichtigung lieBen die H a n d w e r k e r mit der V o r b e d i n g u n g zu,
daB ihnen „die MaBnahmen der H a u s e r z i e h u n g " (mery domasnego
ispravlenija),
zugestanden bleiben sollten, wobei die wohlwollenden Worte des St. Petersburger
Handwerkers V o l k o v uber die Rute als eine der besten Erziehungsmethoden einen
allgemeinen Enthusiasmus und laute Ovationen hervorriefen .
Die so genannten „mery d o m a s c n e g o ispravlenija" wurden v o m Gesetz seit dem
Anfang der Zunfte erlaubt und wurden im Artikel 1377 des neuen
Strafgesetzbuches beschrieben, d e m der ErlaB v o m 15. August 1845 als Vorlage
diente. Unter anderen ErziehungsmaBnahmen hielt es der Gesetzgeber fur moglich,
den Lehrling „nicht genugend ausruhen zu lassen und ihn unzureichend zu
ernahren" (daetsja nedovol'no
uspokoenija
i pisdi). E s gait als legitimes
E r z i e h u n g s m i t t e l , daB d e r M e i s t e r d e m L e h r l i n g „ W u n d e n
und
Korperverletzungen" (pridinjajutsja rany i uved'ja) zutfuen durfte .
Die Reformfeindlichkeit der Meister fand ihren Ausdruck in ihrer auBerst
zuruckhaltenden Stellung zu alien Reformvorstellungen der Intelligenz. Ihre
Vorschlage, die Lehrlinge auBerhalb des Meisterhauses zu verpflegen und sie
parallel zu ihrer Lehre in der Werksatt einzuschulen, setzten das H a n d w e r k s b u r o
(Remeslennoe
bjuro) und die Ftirsorgegesellschaft fur die Lehrlinge bei den
ztinftigen Meistern (PopediteVstvo
о susdestvujusdich
licnym trudom detjach i
podrostkach,
obudajusdichsja
razlichogo roda remeslam и cechovych
masterov
goroda S. Peterburga) in die Realitat um.
791
792
793
D a s H a n d w e r k s b u r o wurde in den 80er Jahren gegrundet u n d Hatte zum Ziel,
Kinder aus armeren Familien im H a n d w e r k auszubilden. Es suchte fur sie den
geeigneten Ausbildungsplatz bei den Handwerksmeistern, betreute sie wahrend der
Ausbildung und bot ihnen eine W o h n u n g zur Ubernachtung. Z u m 1. Januar 1886
gab es im Asyl 71 Kinder, davon 46 M a d c h e n und 25 Jungen. AuBerdem gab es
791
A.P., NaSi remeslenniki, in: Russkoe bogatstvo, Nr. 4 (1900), S. 160-172, hier S. 162; Vgl.
Remeslennoe ucenic estvo, Bd. 3, in: Trudy Vserossijskogo s-ezda po remeslennoj
promySlennosti v S. Peterburge 1900 goda. St. Petersburg 1901.
792
793
A. P., NaSi remeslenniki, S. 163.
A. N. Kremlev, Ob otmene telesnogo nakazanija dlja remeslennych ucenikov, in: Trudy
Vserossijskogo s-ezda, Bd. 3, S. 297ff.
in diesem Jahr 96 neue Antrage iiber die Aufnahme der Kinder. Fur die immer
groBer werdende Zahl von Lehrlingen plante das Handwerksbtiro, ein H e i m zu
eroffhen, dafur fehlte es aber an Geld. Der Appell des Handwerksbiiros an die
„Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker" der Hauptstadt, das Biiro zu
untersttitzen, verhallte ohne eine einzige Spende ungehort .
Ungeachtet dessen hatte das Handwerksbtiro Erfolg, w a s sich in der hohen
Bewerber- und Bewerberinnenzahl ausdriickte. Die stetige Nachfrage nach den
Arbeitsstellen w u r d e dadurch gesichert, daB viele Werkstatten Lehrlinge suchten
und auch viele Eltern ihre Kinder in die Lehre geben wollten. Trotzdem gab es
langere Wartezeiten bei den meisten Bewerbern und Bewerberinnen aufgrund
spezieller Wtinsche ihrer Eltern. Letztere wollten unbedingt, daB ihre Kinder in
den Schneider- bzw. Schlosser- oder Mechanikerhandwerken, den Handwerken,
die am wirtschaftlichen A u f s c h w u n g am meisten beteiligt waren, ihre Ausbildung
bekamen .
794
795
Die Fiirsorgegesellschaft fur die Lehrlinge hatte ahnliche Aufgaben. Sie
bezweckte, die Lehrlinge nur wahrend des Arbeitstages in die Werkstatt zu
schicken. Hier zahlten dagegen die Meister fur ihre Lehrlinge funf bis dreizehn
Rubel im Monat, die allerdings nicht ausreichten, u m den finanziellen Aufwand
der Gesellschaft decken zu konnen. Im Jahr lagen die Kosten pro Lehrling
zwischen 149 und 197 R u b e l * .
Die Gesellschaft war standig auf fremde finanzielle Hilfe angewiesen. Es gab vor
allem drei Institutionen, die ihr einige Geldmitteln zusicherten: das
Innenministerium k a m jahrlich fur funf- bis sechstausend Rubel auf, von denen
allerdings 1906 nur 1.500 Rubel ankamen, das Finanzministerium, das 1 9 0 4 , 1 9 0 6
und 1908 j e w e i l s 5.000 Rubel zahlte, und die Handwerksverwaltung der
Hauptstadt. A m 10. Juni 1909 wurden v o m Kaiser ebenfalls 5.000 Rubel
bewilligt .
7
797
Diese Initiativen waren lobenswert. In Anbetracht der groBen Anzahl der Lehrlinge
in der Stadt hatten sie aber einen geringen Effekt. Die iiberwiegende Mehrheit der
Lehrlinge konnte die Vorteile, die die Gesellschaft anbot, nicht nutzen. Laut der
Studie eines Mitglieds der funften Abteilung der Gesellschaft fur die Forderung
794
Otfet Remeslennogo bjuro za 1886 god. St. Petersburg 1887, S. If., 4.
795
Ebd., S. 7f.
796
Izlozenie dela otdelom torgovli ministerstva torgovli i promySlennosti ot 29.09.1908, in:
RGIA, f. 1278, op. 2, d. 664: Ob otpuske v 1909 godu iz sredstv gosudarstvennogo
kaznacejstva posobija popeditePstvu [...] (30. September 1908 - 17. Juni 1909), hier 1. 8. Vgl.
Tabelle 60 im Tabellenanhang.
797
Izlozenie dela otdelom torgovli ministerstva torgovli i promySlennosti ot 29.09.1908, in:
RGIA, f. 1278, op. 2, d. 664: Ob otpuske v 1909 godu iz sredstv gosudarstvennogo
kaznacejstva posobija pope£itePstvu [...] (30. September 1908 - 17. Juni 1909), hier 1. 8f., 49.
der russischen Industrie und des Handels fur H a u s - und H a n d w e r k s g e w e r b e waren
in den St. Petersburger Handwerksbetrieben 9.400 Lehrlinge im Verhaltnis 7 3 %
798
Lehrjungen zu 2 7 % Lehrmadchen beschaftigt .
Die Handwerksbetriebe konnen, w a s die Bildungsqualitat der Lehrlinge anbelangt,
in drei Gruppen eingeteilt werden. Zur ersten G r u p p e gehorten die Betriebe, die
traditionelle Handwerksbetriebe waren und in denen die Lehrlinge verhaltnismaBig
gute
Ausbildungschancen
hatten.
Silberschmiedehandwerke
bzw.
Das
die
waren
Handwerke
z.
B.
mit
die
Gold-
besonders
und
teuren
Produktionsgegenstanden. In diesen H a n d w e r k e n war die Gefahr groB, daB die
Lehrlinge infolge ihrer Ungeschicklichkeit groBen Schaden anrichten konnten,
w o d u r c h es zu empfindlichen Verlusten g e k o m m e n ware. D e s w e g e n w u r d e n in
solchen Betrieben den Lehrlingen zunachst nur einfachere Arbeiten anvertraut.
W e n i g e r gunstig fur Lehrlinge waren die Handwerksbetriebe, die sich zu
Manufakturen (masterskie-fabriki)
entwickelt hatten, in denen eine groBe Zahl
gleichartiger und ziemlich einfacher Gegenstande hergestellt wurde. Dies waren
Ubergangsbetriebe, die sich allmahlich zu Fabriken entwickelten. Hier fuhrten die
Lehrlinge mit Hilfe einer Maschine oder eines Handwerkszeuges eine einfache und
m o n o t o n e Tatigkeit aus, w a s verhinderte, daB sie den gesamten ArbeitsprozeB
iiberblicken konnten. Uberhaupt nicht geeignet fur die Ausbildung der Lehrlinge
waren Werkstatten, in denen sich lediglich der Z u s a m m e n b a u von vorgefertigten
Teilen vollzog, die von Fabriken zugeliefert wurden. Das waren in der Regel die
auswartigen Betriebseinheiten der Fabriken. Hier wurde der Lehrling zu einem
minderjahrigen Arbeiter, der keine Aussichten hatte, in Zukunft als Geselle
799
eingestellt zu werden, sondern fur immer ein Arbeiter b l i e b .
Zweifellos
waren
die
Meister
nicht
allein
daran
schuld,
daB
die
H a n d w e r k s a u s b i l d u n g zuweilen mangelhaft verlief. Der Unwillen vieler Meister,
Lehrlinge aufzunehmen, wurde auch durch die Lehrlinge bzw. ihre Eltern mit
verursacht, die sich nicht an die Vertragsbedingungen hielten. Uberhaupt hatte die
schriftliche Vereinbarung in den niederen und mittleren sozialen Schichten keine
verbindliche Gultigkeit, und w e n n eine der beteiligten Seiten fur sich keinen
Nutzen mehr sah, loste sie den Vertrag willkurlich auf. Es k a m nicht seiten vor,
daB ein Lehrling nach einer gewissen Zeit, in der er das H a n d w e r k erlernt hatte,
der Vertrag aber noch ein oder zwei Jahre weiter laufen sollte, zu einem anderen
Meister wechselte, w o er fur L o h n weiter arbeitete. Dies w u r d e vor allem von den
798
G. F. Rakeev, Ob ucenicestve u masterov, in: Trudy obScestva dlja sodejstvija russkoj
promySlennosti i torgovle. Zapiski V otdelenija po kustamoj i remeslennoj promySlennosti
1889-1891. St. Petersburg 1892, S. 1.
Rakeev, Ob ucenicestve, S. 5.
Eltern der K i n d e r erstrebt, die dadurch das E i n k o m m e n im Haushalt erhohen
800
konnten .
Die H a n d w e r k s - bzw. Berufsschulen stellten ihrer h o h e n Beitrage w e g e n (bis zu
2 0 0 Silberrubel im Jahr) keine Alternative zu der Ausbildung im
Handwerksbetrieb dar. Hatte m a n 1892 in St. Petersburg fur die 9.000 Lehrlinge
Handwerksschulen gebaut, so hatte dies 2.000.000 Silberrubel im Jahr
verschlungen; aber w e d e r die Regierung, noch die Stadt und schon gar nicht die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g waren imstande, solche S u m m e n aufzutreiben.
Der
Ernteausfall 1890 und 1891 und die Hungersnot unter der breiten M a s s e der
Bevolkerung bereiteten der Regierung groBte Probleme, an anderweitige
Investitionen war nicht zu denken.
Im Unterschied z u m ersten HandwerkskongreB 1900 w u r d e w a h r e n d des zweiten
Kongresses im Januar 1911 ein Durchbruch in den Fragen der Lehrlingsausbildung
im H a n d w e r k erreicht. Jetzt wurde deutlich, welche Entwicklung die H a n d w e r k e r
in diesen elf Jahren g e n o m m e n hatten. O h n e j e d e Debatte verurteilte der KongreB
einstimmig die korperliche Zuchtigung der Lehrlinge und bestimmte, daB
moglichst schnell die allgemeine Schulpflicht und kostenlose Schulbildung
eingefuhrt werden sollten . Allerdings gab es Unstimmigkeiten bei der Festlegung
der Anzahl der Schulstunden. Hier unterschritten die Meister sogar das M i n i m u m
von 18 Schulstunden pro W o c h e , das das Gesetz v o m 15. N o v e m b e r 1906
bestimmte, und verlangten nach zwolf Schulstunden pro W o c h e . Im G r u n d e
g e n o m m e n hatten die Meister recht, da es mit einem zehnstundigen Arbeitstag
hochst unwahrscheinlich war, daB Lehrlinge b z w . jugendliche Arbeiter imstande
waren, effektiv zu lernen. Vorher sollte erst die Lange des Arbeitstages gekurzt
werden mussen, da die Schuler in den Abendklassen nicht lernten, sondern
schliefen .
801
802
803
Der BeschluB der St. Petersburger Stadtduma in den 60er Jahren des 19.
Jahrhunderts, bestimmte S u m m e n fur die Entwicklung der Handwerksausbildung
in der Hauptstadt auszugeben, verhalf einigen privaten Institutionen - wie z. B . der
Handwerksschule n a m e n s Thronfolger Nikolaj - zur Existenz, bewirkte aber fur
die Entstehung des Gesamtsystems der Berufsausbildung wenig. M i t dem zweiten
A u f s c h w u n g der Industrialisierung vor dem Ersten Weltkrieg w a r wieder die
m a n g e l n d e Handwerksausbildung sowie der Mangel an gut ausgebildeten
Fachleuten deutlich zu spuren. D e s w e g e n plante die Stadtduma 1911, ein
Gesamtsystem der Handwerksausbildung entsprechend den Bedurfhissen der
800
Ebd., S. 15f.
801
Ebd., S. 24.
802
A. Malin, Vtoroj vserossijskij remeslennyj s-ezd, in: Vestnik Evropy, kniga 3 (Mfirz 1911),
S. 287-292, hier S. 287, 289.
Hauptstadt zu entwickeln. Die Kommission fur die Volksbildung bei der
Stadtduma rechnete aus, daB fur das vorgesehene Projekt 1.500.000 Rubel u n d fur
die laufenden Kosten jahrlich 130.000 Rubel notig seien. Die Finanzkommission
der D u m a veranlaBte diesbeziiglich eine Beratungsrunde mit fuhrenden Fachleuten
auf diesem Gebiet. E s wurden der Vorsitzende der K o m m i s s i o n fur die
Volksbildung, A. V. Belgardt, ihre Mitglieder S. V. 2danov und N . N . M e d v e d e v ,
der Direktor der Ochtensker Mechanisch-technischen Berufsschule, I. F. Bunin,
der Bezirksinspektor der Industrieschulen des Volksbildungsministeriums, N . G.
Gruzov, der Leiter der Werkstatt der Handwerksschule n a m e n s Thronfolger
Nikolaj, N . B . Zavadskij, und das Mitglied der Gesellschaft fur die Forderung der
russischen Industrie und des Handels, G. F. Rakeev, eingeladen. Die Ergebnisse
der Zusammenkunft waren durftig. Die Kommission k a m lediglich zu dem SchluB,
daB die H a n d w e r k s a u s b i l d u n g in der Stadt u n g e n u g e n d entwickelt sei, w a s
eigentlich schon vor der Zusammenkunft v o n der D u m a festgehalten worden war.
D a s Projekt k a m nicht z u m AbschluB, weil nicht entschieden werden konnte, w a s
genau die Handwerksschulen bezwecken muBten, in welchen Berufen uberhaupt
Bedarf bestand u n d o b leitende Meister (mastera-rukovoditeli)
oder GesellenArbeiter (podmasterj'a-rabo&e)
ausgebildet werden sollten .
Die Forderungen des Handwerkskongresses v o n 1911 waren
richtungsweisend,
v o n der Realitat aber weit entfernt. Wahrend des Kongresses bezeichnete der
Delegierte D . P. N i k o r s k i j , wie schon V. O. Iordan 1894, die Lehre im H a n d w e r k
als eine Qualerei (udenidestvo-mucenidestvo).
Er bemerkte, daB die Lehrlinge zur
Zeit nur als eine kostenlose bzw. billige Arbeitskrafte ausgenutzt w u r d e n u n d sich
die Lehre im H a n d w e r k in reine A u s b e u t u n g der Kinder verwandelt hatte .
804
805
8.3
D i e Rolle d e r H a n d w e r k s v e r w a l t u n g in d e r Berufsausbildung
Eine der Aufgaben der Handwerksverwaltung war es, darauf zu achten, daB die
Meisterkinder rechtzeitig in die Lehre gingen und eine fachgemaBe A u s b i l d u n g
bekamen. Sobald die letzteren das Alter von dreizehn Jahren erreicht hatten und
n o c h nicht von den Eltern in die Lehre geschickt worden waren, w a r die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g dazu berechtigt, die Kinder an einen Betrieb zu vermitteln.
D e s weiteren sollte die Handwerksverwaltung kontrollieren, daB Lehrlinge in den
Werkstatten nicht miBhandelt w u r d e n und eine regelmaBige Ausbildung erhielten.
Dadurch sollte der Zustrom der ausgebildeten Krafte in das H a n d w e r k gesichert
und die Tradition eines handwerklichen Familienbetriebes bewahrt werden. Die
Trudy Vserossijskogo (...) 1911 goda, S. 107ff.
Malin, Vtoroj, S. 288.
806
Praxis zeigte aber, daB eine Koritrolle der Betriebe nicht moglich w a r . Allerdings
ist zu bemerken, daB eine andere Art der Handwerksausbildung zu jener Zeit auch
nicht existierte. D e r Lehrling hatte keine andere Wahl u n d muBte diese Tortur der
Lehrzeit uberstehen, w e n n er den W u n s c h hatte, sich selbstandig zu m a c h e n und
die Laufbahn eines Meisters in der Hauptstadt einzuschlagen.
Zuerst sollten die Kinder mindestens funf Jahre in der Lehre bei einem ziinftigen
Meister bleiben, w o n a c h sie das Gesellendiplom erhielten und danach weitere drei
Jahre als Geselle arbeiten konnten. N a c h dem AbschluB der Ausbildung durfte der
Geselle bei der Zunftverwaltung des j e w e i l i g e n H a n d w e r k s die Meisterprufung
ablegen und danach als Zunftmeister weiterarbeiten und, w e n n moglich, eine
eigene Werkstatt eroffhen. Seit d e m letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anderte
sich die Situation der Ausbildung im H a n d w e r k wesentlich. Mit der Entwicklung
des freien Arbeitsmarktes und der der immer groBer w e r d e n d e n Anzahl der
nichtzunftigen Werkstatten entfiel fur viele Lehrlinge bzw. Gesellen die
Notwendigkeit, die Handwerkslehre im vollen Umfang zu absolvieren und mit d e m
Gesellendiplom abzuschlieBen. Immer mehr Handwerksbetriebe verloren
allmahlich ihren handwerklichen Charakter und entgingen mit ihrer
Kapitalisierung und VergroBerung einerseits u n d der Proletarisierung der
H a n d w e r k e r andererseits den Vorschriften der Handwerksverwaltung. Viele der
Gesellen wollten sich u m j e d e n Preis selbstandig machen, w o d u r c h eine Vielzahl
alleinstehender Meister vorhanden war, die ihre Meisterdiplome leicht b e k o m m e n
konnten u n d inoffiziell Arbeitskrafte ohne Gesellendiplom einstellten, die als
einfache Handwerksarbeiter bezeichnet wurden.
Tabelle 13: A u s g a b e der Meister- und Gesellendiplome 1866. 1867 und 1910
Jahr
Meisterdiplome
Gesellendiplome
Gesamt
1866
560
727
1287
1867
631
784
1415
1910
932
109
1041
Quelle: Otcety S. Peterburgskoj remeslennoj upravy za 1866,1867 i 1910 gg.
Wie aus der Tabelle zu ersehen ist, verminderte sich die Anzahl der ausgegebenen
Gesellendiplome fur die Lehrlinge v o n 784 im Jahre 1867 auf 109 im Jahre 1910
806
4
Abhandlung „Remeslennaja uprava" in: Enciklopediceskij slovar , torn 26, polutom 52. St.
Petersburg 1899, S. 556f.
drastisch. D a g e g e n stieg die Anzahl der ausgegebenen Meisterdiplome von 631 im
Jahre 1867 auf 9 3 2 im Jahre 1910 an.
Die Anzahl der Lehrlinge in St. Petersburg blieb dank der groBeren
Handwerksbetriebe in den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts konstant,
wobei ihre Anzahl in kleineren Betrieben absank.
Tabelle 14: Anzahl der Lehrlinge in den H a n d w e r k s b e t r i e b e n d e r z u n f t i g e n
Meister und mittlere Zahl der Gewerbebetriebe in M o s k a u und St.
Petersburg 1900 und 1910
Beschftftigte in der Werkstatt
Jahr
von 2
bis 4
von 5
bis 15
von 16
bis 25
mehr als 25
Gesamt
Zahl der Lehrlinge
St. Petersburg
1900
10902
3717
594
206
15419
1910
10806
3705
656
283
15450
Moskau:
1900
1910
-
-
-
-
3110
1635
Quelle: Remeslenniki i remeslennoe upravlenie, S. 47.
Im Unterschied zu St. Petersburg verringerte sich die Anzahl der Lehrlinge in
M o s k a u laut den offiziellen Statistiken mit 47,4 % fast u m die Halfte. In der Tat
aber waren in M o s k a u rund 14.000 Lehrlinge beschaftigt, w a s deutlich macht, daB
die Handwerksbetriebe immer m e h r der Kontrolle der Handwerksverwaltung
ausweichen konnten und sich nicht registrieren lieBen.
A u c h die Arbeit der Zunftverwaltungen wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts
kritischer bewertet. So berichtete V. O. Iordan 1894, daB die Meister in M o s k a u
viele H a n d w e r k e r ohne Gesellendiplome einstellten. Dies passierte aus folgenden
Griinden. Einmal im Jahr meldeten sich die Meister bei der Zunftverwaltung und
entrichteten unter anderem die Beitrage fur die erwachsenen Handwerker, die in
ihren Werkstatten beschaftigt wurden. Dabei w u r d e in der Zunftverwaltung nicht
danach gefragt, o b die letzteren ausgebildete Gesellen mit Diplomen seien. N a c h
dem Bedarf bzw. entsprechend der wirtschaftlichen Situation des jeweiligen
Handwerkers konnte die Anzahl der Beschaftigten von Jahr zu Jahr unterschiedlich
sein. Florierte die Werkstatt eines Meisters, verdoppelte er die Anzahl der
Gesellen. Errichtete er im nachsten Jahr bei der Zunftverwaltung fur die doppelte
Anzahl der Gesellen die Steuer, wurde er nicht danach gefragt, w a r u m er derm
plotzlich mehr Gesellen als im letzten Jahr hatte, obwohl keiner v o n ihnen ein
Gesellendiplom v o n der Zunftverwaltung erhalten hatte .
Daruber hinaus begunstigte diese Sachlage die neue administrativ-polizeiliche
O r d n u n g , welche die A u s g a b e v o n Passen an Lehrlinge erlaubte, w a s fruher
unmoglich war, weil die Meister die Passe solange bei sich behielten, bis sie der
M e i n u n g waren, daB die Lehrlinge ihre Ausbildung beenden konnten bzw. sie ihre
Hilfe nicht mehr gebrauchen konnten. Jetzt trug der stadtische Steuereinnehmer
automatisch in den PaB unter der Rubrik „Beschaftigung" die Bezeichnung
„Geselle" ein, falls der Lehrling 17 Jahre alt war. Der Meister muBte pro Geselle
drei Rubel A b g a b e n bezahlen. Das gab dem Lehrling die Moglichkeit, ohne eine
Gesellenprufung bei einem anderen Meister als Geselle angestellt zu werden und
damit eine bezahlte Gesellenstelle zu besetzen .
807
808
Diesen Sachverhalt bestatigte die Handwerksverwaltung selbst, indem sie die
Beschuldigungen der zeitgenossischen Kritiker uber die B e d r a n g u n g der
H a n d w e r k e r durch den obligatorischen Eintritt in die Zunfte mit den Worten
zuriickwies, daB sie grundlos sei:
„Es gibt keine Hindernisse beim Erwerb des Gesellen- bzw.
Meistertitel, da die Bewerber keiner Priifung v o n den Zunftaltesten
unterzogen w e r d e n " .
809
Gleichzeitig
verneinte
die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g
eine
mogliche
Handwerksausbildung auBerhalb des Handwerksbetriebes. Ihrer Meinung nach war
die H a n d w e r k s a u s b i l d u n g an den Berufsschulen nicht ausreichend, da die
Lehrlinge auf j e d e n Fall den Lehrgang in einer Werkstatt absolvieren sollten, um
praktische Erfahrungen sammeln zu konnen. Es ist notig, noch einen wesentlichen
Z u g der Handwerksausbildung bei den ziinftigen Meistern zu erwahnen. A m Ende
des 19. J a h r h u n d e r t s w u r d e v o n den Zeitgenossen u n d v o n der
Handwerksverwaltung selbst auf eine informelle Qualifikationsweise der Lehrlinge
und Gesellen in den Zunften hingewiesen . Die Gesellen bekamen ihre Diplome
810
807
Iordan, Udeniki-remeslenniki, S. 21.
808
V. P. Aleksandrov, К voprosu ob ucenideskich kontraktach i knizkach, in: Trudy
Vserossijskogo s-ezda po remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge 1900 goda. St.
Petersburg 1901, S. 371f.
809
8 , 0
Mnenie S. Peterburgskoj remeslennoj upravy (1897), S. 4.
A. Jadrov, V za§6itu russkich cechov, hrsg. v. St. Petersburger Handwerksverwaltung, St.
Petersburg 1897, S. 3f.; Dokladnaja zapiska komissii, udrezdennoj s celiju izyskanija mer к
uludseniju remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge ot 8 janvarja 1888, S. 5f.
ohne groBe Formalitaten. Dies bezeugt, daB die Zunftregelungen in ihrer Strenge
sichtlich aufgelockert wurden.
Die Lehrlinge b e k a m e n in den meisten Fallen die Gesellendiplome nicht mehr,
obwohl sie weiterhin als Gesellen beschaftigt wurden. 1888 gab es 12.000
Lehrlinge in den Zunften, von denen nur 1.200 Gesellendiplome erhielten. Die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g hatte keinerlei Kontrolle uber die Fluktuation der
Lehrlinge, da die Meister keine Berichterstattung uber die Anzahl der Lehrlinge
vorlegten. D a s Gesellendiplom w u r d e dem Lehrling ohne notige Priifimg v o n der
Handwerksverwaltung ausgehandigt. Dasselbe gait fur die Gesellen, die kein
Meistersttick anfertigen muBten, u m das Meisterdiplom zu erhalten. In beiden
Fallen legten sie bei der Verwaltung ein billigendes Zeugnis (svidetel
'stvo-attestat)
von ihren Meistern vor, was vollig ausreichte. Falls der Lehrling kein Zeugnis von
seinem Meister bei der Verwaltung vorlegte, muBte er eine Priifung beim
Zunftmakler ablegen, w a s „auBerst seiten" g e s c h a h .
811
8.4
Die nichtzunftige H a n d w e r k s a u s b i l d u n g und die Rolle des Staates
Mit der A u s b i l d u n g der Fachkrafte im H a n d w e r k bemuhte sich der Staat, die
A r m e e mit Fachleuten zu versorgen. Darauf zielte der SenatserlaB von 1731, der
unter anderem d e m in diesem Jahr gegrtindeten Kadettenkorps in St. Petersburg
auferlegte, H a n d w e r k e r fur die Armee auszubilden, die aus den Rekruten im Alter
v o n 20 bis 35 Jahren ausgewahlt werden sollten . Ein spaterer ErlaB von 1761 sah
vor, Schuler der Garnisonsschule im Alter v o n 13 bis 15 Jahren wie auch Kinder
der gemeinen Angestellten des Kadettenkorps sowie aus d e m freien Stand des
Kadettenkorps z u m gleichen Zweck aufzunehmen. Die Lehrlinge sollten Schreiben
und Lesen, Mathematik, Geometrie, Malen und die deutsche Sprache lernen. Die
A u s w a h l dieser Facher wurde dadurch bestimmt, daB „der H a n d w e r k e r die
Geometrie beherrschen soil, um die geometrische Proportion der D i n g e zu
bewahren und u m die Ware vergroBern oder verkleinern zu konnen. Das M a l e n
lernen, u m einen Gegenstand malen zu k o n n e n und ihn dann maBstabgetreu
herzustellen. Die deutsche Sprache soil er lernen, weil alle guten Handwerker
Deutsche sind und weil die Veterinarbucher ebenfalls auf Deutsch geschrieben
sind" .
Die ganze Schulzeit bei gleichzeitigem Erlernen des H a n d w e r k s sollte sechs Jahre
lang dauern. N a c h d e m AbschluB wurden alljahrlich etwa 30 j u n g e H a n d w e r k e r
in die A r m e e geschickt. Unter den Absolventen waren u. a. Schmiede, Sattler,
812
813
811
Dokladnaja zapiska, S. 4, 6.
812
Ocerki russkoj kuPtury 18 veka, Bd. 1. Moskau 1985, S. 167.
Pferdegeschirrmeister, Waffenschmiede, Schuhmacher und Schneider. Nach zwolf
Jahren Dienst konnten sie entlassen werden. Sie wurden aber verpflichtet, in die
Zunfte St. Petersburgs, M o s k a u s oder anderer groBer Stadte einzutreten.
Die Ausbildung in einem H a n d w e r k (obucenie „chudozestvam
i
masterstvam")
wurde auch in der K o m m e r z s c h u l e eingefuhrt, die 1772 gegrundet wurde. A m
Ende des 18. Jahrhunderts wurde das H a n d w e r k als eine sichere
Einkommensquelle angesehen. So wurden die Zoglinge des Erziehungshauses
(Vospitatel'nyj
dom) in St. Petersburg im H a n d w e r k ausgebildet, um „dem
Absolventen nach dem AbschluB zu ermoglichen, selbst ein Meister zu werden,
um seine Familie verpflegen zu konnen und u m ihm ein sicheres E i n k o m m e n zu
g e w a h r e n " . D a s H a n d w e r k hatte damals mit einigen A u s n a h m e n , z. B . das BerdWerk, eine Monopolstellung in der Herstellung v o n Konsumgutern inne und daher
von groBer B e d e u t u n g in der Hauptstadt. Der starke Zustrom von L a n d b e w o h n e r n
sicherte eine zusatzliche Nachfrage nach handwerklichen Erzeugnissen.
Es soil nicht die Einstellung zur Kinderarbeit im 18. Jahrhundert vergessen
werden, die in RuBland nachhaltig bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
fortdauerte. Wie es W. Fischer trefflich charakterisierte:
814
„Kinderarbeit gilt im 18. Jahrhundert als ein Segen, weil sie die Kinder
zu nutzlichen Mitgliedern der Gesellschaft macht. Arbeit ist das erste
Mittel, das die Obrigkeiten einsetzten, um die Weisen- und Armenkinder
von der StraBe des Bettels abzubringen. Verwaltungsbeamte, Pfarrherren
und P a d a g o g e n sind sich darin einig, daB, j e fruher der M e n s c h z u m
Arbeiten angehalten wird, er desto weniger in die Gefahr gerat, sich d e m
MuBiggang hinzugeben u n d seinen Mitmenschen zur Last zu fallen.
Jeder, der Gelegenheit zu nutzlichen Arbeit fur Kinder schafft, wird als
Menschenfreund gepriesen" .
815
Viele Meister und Fabrikanten wandten sich daher mit der Bitte an die Regierung,
in ihren Werkstatten Kinder ausbilden zu dtirfen, w a s wiederum fur die Griindung
eines Gewerbebetriebes von N u t z e n war. Die U n t e m e h m e r betonten den
8 . 4
8 . 5
PSZRI l,Bd. 25, Nr. 18804.
W. Fischer, Der Staat und die Anfange der Industrialisierung in Baden 1800-1850. Bd. 1,
Berlin 1962, S. 343f., zitiert nach: Quandt, Kinderarbeit, S. 19. Vgl. uber die Kinderarbeit in
Deutschland: Ursula Aumuller, Industrieschule und Ursprilngliche Akkumulation in
Deutschland. Die Qualifizierung der Arbeitskraft im Ubergang von der feudalen in die
kapitalistische Produktionsweise, in: Hartmann/Nyssen/Waldeyer (Hrsg.), Schule und Staat
im 18. und 19. Jahrhundert, Fraikfurt'Main 1974, S. 9-145; Helmut Christmann,
Bemerkungen zur Kinderarbeit in der wurttembergischen Gewerbeindustrie in der zweiten
Halfte des 19. Jahrhunderts, in: Zur Geschichte der Industrialisierung in den
sudwestdeutschen Stadten, hrsg. v. E. Maschke und J. Sydow, Sigmaringen 1977, S. 40-56; F.
J. Gemmert, Die Entwicklung der altesten kontinentalen Spinnerei, Leipzig 1927, S. 141 f.
erzieherischen Effekt des U n t e m e h m e n s , wobei hier auch die Risikominimierung
durch Kostenreduzierung dank billigerer Kinderarbeit nicht zu ubersehen ist.
Streben des Unternehmers, das Risiko zu minimieren und sich fur die erste Periode
durch billigere Kinderarbeit zu versichern, nicht zu ubersehen ist. So schlug 1817
der Eigentumer zwei Fabriken fur L a m p e n und Silberbeschlage vor, in seine
Betriebe 30 Zoglinge des Erziehungshauses als Lehrlinge aufzunehmen . Mit dem
gleichen W u n s c h wurde 1824 August Jeanneret, der die G r u n d u n g einer
Uhrenfabrik in RuBland plante, beim Finanzminister vorstellig .
Die Handwerksausbildung, die die Zoglinge im Erziehungshaus bekamen, war
nicht breit gefachert. D e n Zoglingen fehlte es an praktischer Erfahrung und
konnten sich daher seiten z u m Meister hocharbeiten. Bestenfalls konnten sie als
Gesellen in einer Werkstatt beschaftigt werden und nach einiger Zeit versuchen,
eine Meisterprufung in der Handwerksverwaltung abzulegen. Es g a b allerdings
noch einen anderen W e g , sich selbstandig zu machen, namlich als freier Meister
zu arbeiten. In diesem Fall muBten die Zoglinge keine Prufung ablegen. Dafur
durften sie keine Gesellen und Lehrlinge beschaftigen, sondern muBten als
alleinstehende Handwerker ihre Arbeit verrichten.
U m den standigen ZufluB an qualifizierten Arbeitern in den staatlichen Betrieben
St. Petersburgs zu sichern, bemuhte sich die Regierung den Ausbildungsweg, der
fur das traditionelle H a n d w e r k typisch war, durch Vorschriften festzulegen. D a s
System der individuellen Ausbildung eines Lehrlings im staatlichen GroBbetrieb
existierte bis zu den Reformen in den 60er Jahren. 1799 wurde die Ausbildung der
Lehrlinge bei e i n e m Meister im Arsenal gesetzlich verankert. Dasselbe gait seit
1806 fur die Admiralitatswerke in Izora, w o ein Meister vier, ein Geselle drei, ein
qualifizierte Arbeiter (podmaster e) erster Klasse zwei und der der zweiten Klasse
einen Lehrling ausbilden sollte. Hier wurden standig 120, spater 180 Lehrlinge
ausgebildet. N a c h dem drei- bis funfjahrigen Lehrgang legten sie eine Prufung ab
und bekamen den Grad eines qualifizierten Arbeiters .
816
817
(
818
Eine Kaderschmiede stellte Arsenal vor, w o seit 1803 die Artillerieschule und seit
1821 die Technische Artillerieschule existierten. Letztere war im Grunde
genommen
eine
Musterhandwerksschule,
in
der
die
traditionellen
Handwerksberufe wie GieBer, Kanonenmeister, Schmied, Schlosser, Dreher,
Tischler, Radmacher, Maler, Lotenmeister, Ziseleur, Radierer und Schnitzer
unterrichtet wurden. AuBerdem bekamen die Lehrlinge Unterricht in Arithmetik,
816
Ob opredelenii na fabriku Bannistrema pitomcev Vospitatel'nogo doma (1817), in: RGIA,
f. 18, op. 2,d. 260,1. 13ff.
817
Po pros'be inostranca 2annereta ob okazanii posobija dlja udreidenija v Rossii fabriki
casov, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 788,1. 4.
818
4
Т. M. Kitanina, Rabo£ie Peterburga v 1800-1861 gg.: promySlennost , formirovanie,
sostav, polozenie raboeich, rabocee dvizenie, Leningrad 1991, S. 180f.
Geometrie mit d e m B e z u g auf Praxis, Metallurgie, Mechanik, Metallverarbeitung,
Algebra, Trigonometrie, technisches Zeichnen und ein Praktikum in den
physischen und chemischen Labors, so daB ihre Ausbildung in qualitativer
8 9
Hinsicht die in den Handwerksbetrieben um ein Vielfaches ubertraf ' .
Seit
1826 existierte
im
St. Petersburger EisenguBwerk
die „Schule
der
GuBeisenkunst", deren Unterrichtsprogramm so k o m p l e x e H a n d w e r k e wie z. B .
M a s c h i n e n b a u beinhaltete, den ein Handwerksmeister in dem Umfang nicht
unterrichten
konnte.
Die
Konstruktion
und
der
Bau
der
Dampf-
bzw.
Arbeitsmaschinen und die Modellherstellung von Dreh- und Drechslerwerkbanken
bedurfte eines sehr hohen Qualifikationsgrades der Meister bzw. der Gesellen, die
oft wahrend eines Praktikums im Ausland ihre Fachkenntnisse vertiefen konnten.
Zu den weiteren Staatsbetrieben, die hochqualifizierte Arbeiter und Meister
ausbildeten, gehorten die Alexandrinische Manufaktur und die
Petergofer
820
Schleiffabrik .
Im 19. Jahrhundert blieben der Bildungssektor und die Initiative der Organisation
der Schulen fast ausschlieBlich in den Handen des Staates, wobei St. Petersburg
eine Stadt war, in der verschiedene Schulprojekte zuerst erprobt wurden, u m dann
in anderen Regionen RuBlands eingesetzt zu werden. Die berufliche Uberlegenheit
der meisten St. Petersburger H a n d w e r k e r gegenuber Handwerkern aus den inneren
Regionen RuBlands resultiert aus diesen stadtischen Ausbildungsangeboten.
N e b e n den Versuchen des Staates, die Ausbildung der Handwerker zu verbessern,
fehlte
es nicht
Oberkaufmann
an privaten
(starsij
Projekten.
Gamburgskij
Manufakturschule (manufakturnoe
udilisde)
So plante
kupec)
1815
Christoph
der
Hamburger
Meyer,
eine
zu eroffhen, in der verschiedene
H a n d w e r k e sowie eine kaufmannische Lehre unterrichtet werden sollten. Seinen
Worten nach hatte die Industrie dadurch hochqualifizierte Fachkrafte b e k o m m e n
konnen, w a s indirekt zur V e r m e h r u n g der Fabrikenzahl hatte fuhren sollen. Er
versuchte die Notwendigkeit dieser Schule mit dem Argument zu begrtinden, daB
RuBland, start Rohstoffe auszufuhren, diese selbst verarbeiten sollte. Als Beispiel
fuhrte er die schlesischen Weber an, die in groBen M e n g e n in RuBland Baumwolle
einkauften, sie verarbeiteten und dann mit betrachtlichen Gewinn als Tucher
8 , 9
820
Ebd., S. 185.
Ebd., S. 185f. Die von Kitanina bezogenen Quellen waren: Materialy po istorii Arsenala:
Istoriceskaja spravka, 1914 RGIA, f. 1296, op. 18, d. 1,1. 5; d. 3,1. 166; G. Gorodkov,
Admiraltejskie Izorskie zavody: kratkij istorideskij opyt, St. Petersburg 1903; V. Rodzevid,
Istorideskoe opisanie S. Peterburgskogo Arsenala za 200 let ego suScestvovanija 1712-1912,
St. Petersburg; RGIA, f. 1365, op. 1, d. 21,1. 25.
wieder nach RuBland einfuhrten. Allerdings hielt der Innenminister das Projekt aus
821
unersichtlichen Griinden fur ungeeignet .
Z e h n Jahre spater, am 10. Februar 1825, reichten die Auslander Delarosier,
Labussier, Ferri und Fuchs dem Finanzminister das Projekt tiber die Eroffhung
einer H a n d w e r k s - und Kunstschule (Skola remesel i iskusstv) in St. Peterburg
ein . Interessant ist zu verfolgen, worin eine vorbildliche Handwerksausbildung
nach den Vorstellungen j e n e r Zeit bestehen sollte. D a s Eintrittsalter der Schuler
sollte zwischen elf und 14 Jahren liegen. Der GroBe nach ware es eine einmalige
Schule fur RuBland gewesen zu sein: Die Gesamtzahl der Schuler sollte 732
betragen, die in mehreren Handwerken, angefangen v o m Schuhmacher, K o c h und
Friseur und bis hin zum Bildhauer und Kunstmaler ausgebildet werden sollten. Der
Lehrgang sollte sich tiber sechs Jahre erstrecken. Im ersten Jahr sollten
Grundschulfacher unterrichtet werden. Zwei weitere Jahre hatten die Schuler
Unterricht in den H a n d w e r k e n und Kunsten bekommen. Die nachsten eineinhalb
Jahre sollten der V e r v o l l k o m m n u n g im H a n d w e r k dienen und die letzten
eineinhalb Jahre d e m Unterricht von Mathematik, Physik, C h e m i e und allgemeiner
Kunsttheorie gewidmet werden. N a c h dem AbschluB der Schule sollten die
Schuler Kleidung sowie zwischen 1.200 und 3.600 Rubel erhalten, um eine eigene
Werkstatt griinden zu k o n n e n .
822
823
D a s Projekt sollte privat finanziert werden, was die Regierung wohlwollend zur
Kenntnis nahm. Dafur waren 100.000 Aktienscheine im Wert v o n 2 4 0 Rubel pro
Aktie oder 24.000.000 Rubel insgesamt vorgesehen. A u c h dieses Projekt wurde
nicht realisiert.
Die E i n w a n d e der Regierung wurden auf folgende Weise formuliert. Es gab
insgesamt vier Fragen, die zu losen waren, j e d o c h zum Teil nicht gelost werden
konnten:
1.
W o findet man so viele gute Meister, die bereit waren, ihr H a n d w e r k zu
verlassen und in der Schule zu unterrichten?
2.
W o findet m a n Raumlichkeiten, die ausreichend Platz bieten?
3.
Wie kontrolliert m a n so groBe Bildungsanstalt?
4.
K o n n t e m a n den Auslandern erlauben, so viel Kapital in RuBland in F o r m
v o n Aktien zu b i n d e n ?
824
821
О predlozenii gamburgskogo kupca Mejera Christofa icredit' v Rossii manufakturnoe
u£ili§ce, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 135,1. 4, 8.
822
Po proektu inostrancev Delarosiera, Labjussera, Ferii i Fuchsa ob ucrezdenii v S.
Peterburge §koly remesel i iskusstv, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 461,1. 1.
823
Ministr finansov v komitet ministrov о predpolagaemom ucrezdenii v S. Peterburge Skoly
remesel i iskusstv, vom Februar 1825, in: Ebd., 1. 12.
Es ist ein Widerspruch nicht zu ubersehen. Einerseits hieB die Regierung, die
Bereitschaft der auslandischen Unternehmer in die russische Industrie zu
investieren, willkommen, andererseits unterband sie jegliche Versuche, diesen
Kapital fur entsprechende Z w e c k e auf privater Ebene fliissig zu machen.
Seit 1836/40 hatten die Lehrlinge, Gesellen und Meister in der Hauptstadt die
Moglichkeit, ihre Fachkenntnisse in den Malschulen zu verbessern. Die erste
offene Sonntagsschule fur Kunst (Risoval 'naja voskresnaja skola) wurde 1836 bei
der technischen Hochschule (Technologiceskij
institut) eroffhet. 1839 wurden in
der Schule 53 Unterrichtsveranstaltungen mit 159 Unterrichtsstunden gegeben. Die
Handwerker bildeten unter den Besuchern die groBte soziale Gruppe. Die Meister
und Gesellen waren Gold- und Silberschmiede, Holzschnitzer, Dreher, Schreiner,
Ikonenmaler, Porzellan- und Hausmaler. Insgesamt gab es 68 H a n d w e r k e r unter
den 170 Besuchern. V o n den anderen Schulern gehorten den Kleinburgern und
Angestellten j e 2 5 , Gesinde und Bauern 20, Kaufleuten und tibrigen zwolf a n .
Die meisten von ihnen waren im Grunde g e n o m m e n Handwerker, da das Gesetz
alien sozialen Schichten auf verschiedene Weise erlaubte, einem H a n d w e r k
nachzugehen. D a s entsprach auch den Absichten der Regierung, welche die
Schulen fur „die Fabrikanten und H a n d w e r k e r " eingerichtet h a t t e .
W e g e n des groBen Andranges von Schulern sah die Regierung sich gezwungen,
weitere Schulen einzurichten. 1840 folgte der oben genannten Einrichtung eine
zweite offene Schule fur Kunst (Risoval 'naja skola dlja vol 'noprichodjasdich).
Sie
w u r d e nach d e m Projekt uber die Sonntagsmalschulen in St. Petersburg und
anderen Stadten, das Staatsrat Kornilij Christianovic Reissig v o m Departement fur
die Manufakturen und den Binnenhandel beim Finanzministerium entworfen hatte,
eingerichtet und am 26. Mai des obengenannten Jahres eroffhet. Die Schule wurde
in demselben stadtbekannten Gebaude auf der Vasilij-Insel untergebracht, w o die
Borse war und seit 1829 regelmaBige Manufakturausstellungen stattfanden. Der
Umfang der Unterrichtsstunden wurde fast verdreifacht u n d die Anzahl der
Schuler war wesentlich hoher als die der technischen Hochschule. 1841 wurden
in dieser Malschule fur Tagesshiiler 143 Unterrichtsveranstaltungen mit 483
Unterrichtsstunden und fur Sonntagsschuler 54 Unterrichtsveranstaltungen mit 216
Unterrichtsstunden veranstaltet. Der Unterricht fand adrei Tagen der W o c h e , am
Sonntag und Mittwoch von 13 bis 15 Uhr und a m Freitag im Winter von 18 bis 20
und im S o m m e r von 20 bis 22 Uhr abends statt . Der Lehrstoff wurde schrittweise
825
826
827
825
О predostavlennom otcete ministru finansov о Risoval'noj voskresnoj §kole pri
Technologiceskom institute, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1882, 5. Januar 1840,1. 1.
826
О S. Peterburgskoj risoval'noj Skole dlja voPnoprichodjaScich (1839-1840), in: RGIA, f.
18, op. 2, d. 1900,1.21.
vertieft und den verschiedenen Handwerksarten angepaBt. Die Schuler bekamen
Unterricht im Malen, Zeichnen und Formen mit T o n und W a c h s . Die Handwerker
waren auch in dieser Schule zahlreich vertreten. Unter 253 Schulern, v o n denen
213 die ganze W o c h e und 40 nur sonntags die Schule besuchten, gab es 89
Handwerker.
Unter
ihnen
waren
Fabrikgesellen,
Lehrlinge,
verschiedene
Handwerker und Gesellen vertreten. Des weiteren besuchten die B e w o h n e r der
landwirtschaftlichen Militarsiedlungen, Schreiber und Graveure (51), Adlige und
Beamte (30), Kleinburger (26), Gesinde und Bauern (22), Kaufleute (18), Maler
828
(12) sowie Kinder der Kirchendiener und Maler (5) die S c h u l e .
Fur die hohe Ausbildungsqualitat dieser Kunstschule spricht die Tatsache, daB hier
die Lehrer fur Schulen in anderen russischen Stadten vorbereitet wurden.
Besonders begabte Schuler bekamen einen zusatzlichen Sonderunterricht und
wohnten beim Lehrer. Dafur zahlte der Staat d e m Lehrer 1000 Rubel pro Jahr. Sie
assistierten dem Lehrer wahrend des Unterrichts und wurden besonders griindlich
in Kunst der Lithographie und Gravur eingefuhrt. Die besten Schuler bekamen
829
Gold- und Silbermedaillen und wurden mit Diplomen ausgezeichnet .
Welche B e d e u t u n g die Regierung diesen Schulen zumaB, laBt sich aus der
Tatsache ersehen, daB hier solch bedeutende Professoren wie der Bildhauer Petr
Karlovic Klodt von Jurgensburg, Wilhelm Haasenberger von der Kunstakademie
sowie der Physiker Boris Semenovic Jakobi (Moritz H e r m a n n von Jacobi)
unterrichteten. Durch die Mitwirkung von Jakobi konnte die Malschule an der
830
Vasilij-Insel u m eine galvanoplastische Abteilung erweitert w e r d e n .
Der A n d r a n g der Schuler war fast doppelt so hoch wie die Aufhahmekapazitat der
beiden Malschulen.
1846 wurden insgesamt 491 Anmeldeformulare vergeben,
wobei nur 225 Schuler einen Platz erhielten. AuBerdem konnten die Handwerker
aus dem Litejnaja-Viertel und von der Ochta beide Schulen w e g e n der Entfernung
nicht besuchen. Der Platzmangel veranlaBte 1846 K. Ch. Reissig, das Projekt einer
dritten Malschule im Litejnaja-Viertel vorzuschlagen. Trotzdem sprach sich der
828
Otcet po Risoval'noj Skole dlja vol'noprichodja&ich za 1841 god, in: RGIA, f. 18, op. 2,
d. 1883,1. 6f.
829
О S. Peterburgskoj risoval'noj Skole dlja vol'noprichodjaScrch (1839-1840), in: RGIA, f.
18, op. 2, d. 1900,1. 8f.
830
M. H. von Jacobi (21.9.1801-10.3.1874) war ein bedeutender Physiker, der 1837-39 die
Galvanoplastik entwickelte und weiter erforschte und einen grofieren elektromagnetischen
Motor baute. Er setzte sich fur die Einfuhrung des metrischen Mafisystems ein.
Finanzminister
gegen dieses Projekt
aus und verlangte
eine
umgehende
831
Erweiterung der vorhandenen Schulen .
Ungeachtet des Erfolges verringerte sich die Anzahl der Schuler um 1850
drastisch, so daB v o n 253 Schulern im Jahre 1841 nur noch 80 im Jahre 1850
iibrigblieben. Die Handwerker blieben auch ab 1850 die am starksten vertretene
soziale G r u p p e und machten unter den Schulern die Halfte aus. Die 42 Schuler
waren Handwerker, unter ihnen acht Gold- und Silberschmiede und BronzegieBer,
sieben Graveure und Holzschnitzer, sieben Ikonenmaler, sieben Maler, drei
Bildhauer, drei Schreiner, drei Stuckarbeiter, zwei Dreher und zwei Schlosser.
Ihnen folgten Bauern und Gesinde mit zehn Schulern, die Kleinburger und
Raznodincy mit neun Schulern, die Kaufleute mit sieben Schulern, funf
Beamtenkinder, zwei v o n der A r m e e und drei v o m A d e l .
D a s Sinken der Schulerzahl in den Malschulen ist wahrscheinlich auf die
Eroffhung der Handwerkslehranstalt in der Hauptstadt (Renteslennoe
ucebnoe
zavedenie) im Jahre 1844 zuruckzufuhren. Die Vorteile der Ausbildung in dieser
Lehranstalt bestanden darin, daB diejenigen Absolventen, die sowohl den
praktischen als auch den theoretischen Kurs erfolgreich beendet hatten, wichtige
Privilegien wie die Befreiung v o m Militardienst u n d der Korperstrafe bekamen.
Sie konnten nicht nur als Meister arbeiten, sondern auch als Angestellte groBeren
Handwerksstatten leiten oder als Lehrer in den Volksschulen unterrichten. Die
tibrigen konnten als Meister oder Gesellen, j e nachdem, w i e erfolgreich sie den
Kurs absolviert hatten, im H a n d w e r k arbeiten. Diese Gruppe der Absolventen
b e k a m die oben genannten Privilegien nachtraglich im Jahre 1859. Die zweite
Lehranstalt in der Hauptstadt, die sich ebenfalls mit der A u s b i l d u n g v o n
Fachleuten fur das H a n d w e r k befaBte, w a r die technische Hochschule
(Technologiceskij
institut). Die Absolventen der Hochschule bekamen nach der
Prtifung den Gesellen- bzw. Meistergrad und wurden v o m Militardienst befreit,
falls sie 150 Rubel dafur aufbrachten .
832
833
Die Zeitschrift „Otecestvennye zapiski" hieB 1848 die Neugriindung einer
Abteilung fur die A u s b i l d u n g j u n g e r M a d c h e n in der Damenschneiderkunst
(Otdelenie dlja obucenija devicportnomu
zenskomu iskusstvu) sowie einer zweiten
Admiralitatsschule (Otdelenie vtoroj Admiraltejskloj
skoly) bei der patriotischen
Frauengesellschaft (ienskoe patrioticeskoe
obsdestvo) auf dem Theaterplatz in St.
831
Delo ob uCrezdenii Voskresnoj risoval'noj Skoly v Litejnoj easti, in: RGIA, f. 18, op. 2, d.
1911,1. 3. S. Tabelle 61 im Tabellenanhang.
832
833
Otcet po Risoval'noj skole za 1850 god, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1892,1. 3.
Postanovlenie IV otdelenija e.i.v. kanceljarii к ministru vnutrennich del ot 10.12.1859, in:
RGIA, f. 18, op. 2, d. 1731: Po otnoseniju stats-sekretarja Gofmana о predostavlenii
nekotorych Pgot masteram i podmaster'jam vypuskaemym iz Remeslennogo ucebnogo
zavedenija i о rasprostranenii nekotorych prav (1859), hier 1. 1.
Petersburg im Jahre 1847 willkommen und rief die D a m e n der Stadt auf, die neuen
Anstalten mit Auftragen zu unterstiitzen. Die Zeitschrift konstatierte, daB sich die
Anzahl wohltatiger Institutionen mit j e d e m T a g vermehrte. In der zweiten
Admiralitatsschule wurden die verwaisten M a d c h e n aus anderen Schulen dieser
Gesellschaft gesammelt, w o sie unter der Leitung einer Aufseherin lebten . 1873
w u r d e diese Bildungsanstalt in eine Handwerksschule umgewidmet und trug seit
1880 d e n N a m e n Alexsanders II. Gleich im Grtindungsjahr b e k a m e n hier 285
auswartige u n d 157 Schtilerinnen in Vollpension Unterricht in verschiedenen
Handwerken. AuBerdem unterhielt die Gesellschaft weitere zwolf private Schulen
in der Hauptstadt, die fruher gegrtindet worden waren. 1836 versuchte die
Gesellschaft uberwiegend den Absatz v o n Konfektionswaren zu organisieren,
w o z u sie einen Laden pachtete. D e r U m s a t z d e s „Lagerplatzes fur die eigene
Produktion" (Sklado&ioe mesto dlja prodazi sobstvennych izdelij) erreichte 1844
bedeutende GroBe u n d betrug 7.592 Rubel aus eigener Produktion u n d 18.713
Rubel aus Waren anderer Hersteller. Allerdings wurde der Lagerplatz spater wegen
der Vielzahl an n e u gegrundeten Laden mit ahnlichem Warenbestand
g e s c h l o s s e n . D a r a u s ist zu ersehen, das das Bekleidungshandwerk fruh die
industrielle u n d groBkaufmannische Konkurrenz spurten, n a c h d e m in St.
Petersburg die Fertigkleidung in groBen M e n g e n aus Polen eingefuhrt worden
w a r . W e n n Institutionen wie die Admiralitatsschulen K o n k u r s gingen, muBte das
auch fur die Handwerker Folgen haben. D i e Ergebnis dieser strukturellen
Veranderungen w a r der U b e r g a n g vieler Einzelhandwerker unter d e n
Schuhmachern u n d Schneidern z u m Verlag. Allerdings hatte diese Entwicklung
nicht nur negative Seiten. W i e spater noch gezeigt werden wird, n a h m das
Schuhmacher- u n d Schneiderhandwerk gegen E n d e des 19. Jahrhunderts eine
rasante Entwicklung, unter anderem durch die V e r w e n d u n g halbmaschinell
produzierter Halbwaren w i e z. B . Sohlenleder. D i e Produktionszeit wurde
verkurzt, die Herstellungskosten gesenkt. D i e hergestellten Gegenstande blieben
in der Anfangszeit der Industrialisierung aufgrund ihrer handwerklichen Qualitat
gegenuber Artikeln aus Massenproduktion konkurrenzfahig.
Die G r u n d u n g der Admiralitatshandwerksschule w a r den D a m e n aus d e m
Hochadel zuzuschreiben, die vor allem der Adelssippe der Golicyns entstammten.
1847 hatte die Grafin K. P. Kleinmichel den Vorsitz inne. Ihr folgten Furstin A .
O. Golicyn (geb. Furstin Scerbatov), Ftirstin M . S. Golicyn, seit 1856 Furstin N .
S. Golicyn (geb. Grafin Apraksin), dann Grafin E. I. Kuselev-Bezborodko u n d seit
1865 Grafin S. N . Borch. U m mit anderen Produzenten konkurrieren zu konnen,
schlug 1847 Grafin Kleinmichel vor, die j u n g e n M a d c h e n in der Schneiderkunst
834
835
836
834
835
4
Smes , in: Ote6estvennye zapiski, t. 59, Nr. 7-8 (1848), S. 51.
K. Beljavskij, 50-letie Remeslennoj Skoly imperatora Aleksandra II imperatorskogo
zenskogo patrioticeskogo obScestva. St. Petersburg 1899, S. 4f.
zu spezialisieren und die Aufmerksamkeit in der handwerklichen Ausbildung auf
das Zuschneiden v o n Damenkleidern zu konzentrieren, w o z u die neue zweite
Admiralitatsschule dienen sollte .
W a h r e n d der Reformen der 1860er Jahre anderten sich wesentlich die
Verhaltensweisen und Orientierungsmuster in der russischen Gesellschaft in
R i c h t u n g einer Liberalisierung. D a s blieb nicht ohne EinfluB auf das L e b e n der
Schule in den Jahren 1860 und 1867. Als 1860 der Leiter der vierten Abteilung der
Kaiserlichen Kanzlei, Prinz P. G. Oldenburg, die Schule besuchte, machte er die
Schulleitung darauf aufmerksam, daB es sirmvoll ware, den Schulerinnen auBer
p r a k t i s c h e n K e n n t n i s s e n in der Schneiderkunst auch eine
bessere
Allgemeinbildung zu vermitteln. Dartiber hinaus erinnerte ihn die unentgeltliche
Sechstagewoche der Schulerinnen an den Frondienst, weshalb er vorschlug, den
Schulerinnen einen bestimmten Prozentsatz v o m verdienten Geld z u k o m m e n zu
lassen.
837
U m mit der Zeit Schritt halten zu konnen und dem Geschmack des Publikums
R e c h n u n g zu tragen, wurden 1867 nach dem Vorschlag von Grafin S. N . Borch die
Kenntnisse der Schulerinnen in der Schnittkunst gezielt verbessert. AuBerdem
sollten sie lernen, Korsetts, Damenhute und andere Kopfbedeckungen herzustellen,
wobei die Schulerinnen zwischen 15 und 2 5 % des erwirtschafteten Geldes
behalten durften . Die Einfuhrung eines Lehrganges in der Schnittkunst - bisher
wurden die Kleider nach einer Vorlage gefertigt - sollte die Kreativitat der
Schulerinnen fordern. Der Schneidermeister R e z a n o v machte noch 1842 den
Innenminister u n d 1847 die Offentlichkeit mit einer Broschtire darauf aufmerksam,
daB die russischen Schneidermeister von den auslandischen abhangig waren, weil
sie der Schnittkunst nicht kundig waren und ihre Produkte nach Pariser
Schablonen verfertigten .
838
839
Entsprechend d e m Zeitgeist w u r d e die zweite Admiralitatsschule 1873 in eine
Handwerksschule mit einem dreijahrigen Ausbildungsgang reorganisiert, wahrend
bis 1898 die Anzahl der sieben im Lehrplan stehenden Handwerksarten allmahlich
auf zwolf erweitert wurde. D a s waren WeiBnaherei und Schnittkunst, die
Schnittkunst fur die Unterwasche, Stickerei, unter anderem Seidenstickerei, die
Schneiderkunst, die Schnittkunst fur die Damenkleider, die Schnittkunst fur die
WeiBnaherinnen, das Stopfen, die Papierblumenherstellung, die Stickereien- und
Hutherstellung. In 50 Jahren entwickelte sich die wohltatige Anstalt fur die j u n g e n
M a d c h e n in St. Petersburg, die anfangs hauptsachlich die M e r k m a l e einer groBen
837
Beljavskij, 50-letie Remeslennoj skoly, S. 13.
838
Ebd., S. 16, 20.
839
RGIA, f. 1287, op. 37, d. 93: Po proektam masterov; Vzgljad na chod portnogo mastersrva
v Rossii. St. Petersburg 1847.
Handwerksstatte trug, zu einer Handwerksschule mit einem ausgearbeiteten
Lehrplan und geregeltem Ablauf der Schulstunden .
Eine groBe B e d e u t u n g in der Handwerksausbildung St. Petersburgs hatte auch die
1865 beim privaten Fursorge- und Handwerksausbildungshaus fur die armeren
Kinder (Dom prizrenija i remeslennogo
obrazovanija
bednych detej) gegrundete
Handwerksberufsschule, die den N a m e n des Tronfolgers Nikolaj
(Remeslennoe
udilisce cesarevica Nikolaja) trug . Die Grundschulbildung besonders unter den
H a n d w e r k e r n der Stadt muBte verbessert werden, das w a r den Verantwortlichen
klar, so beschloB die Stadtduma jahrlich 25.000 Rubel aus d e m Stadthaushalt fur
die Handwerksausbildung auszugeben. U m Kosten beim Bau neuer
Handwerksschulen in der Stadt zu sparen, entschied die Stadtduma, diese S u m m e
in die bereits bestehenden Schulen zu investieren. N a c h Vorschlagen des Rates des
Handwerksausbildungshauses stellte die Stadtduma nach d e m BeschluB v o m 2 1 .
September 1871 dieses Geld zur Verfugung, so daB 1872 neben d e m bestehenden
Handwerksausbildungshaus ein neues Haus fur die Handwerksberufsschule gebaut
w u r d e , wofur v o n den Mitgliedern des Rates 194.000 Rubel gespendet w u r d e n .
Insgesamt wurden fur den Bau des Hauses, das fur etwa 300 Schuler geplant war,
450.000 Rubel verbraucht. D a v o n wurden 5 0 % v o m Fursorge- und
Handwerksausbildungshaus fur die armeren Kinder sowie privaten Personen
gespendet, j e 2 5 % und 1 7 % entfielen auf die Regierung und die Stadtduma . Aber
auch die Frauenausbildung war nicht in Vergessenheit geraten: 1875 wurde beim
Ftirsorgehaus zusatzlich eine Handwerksschule fur Frauen eingerichtet.
Die Schulgebuhr in H o h e v o n 2 5 0 Rubel pro Jahr war im Vergleich zu den
Volksgrundschulen mit 60 bis 100 Rubel recht hoch. Dafur b e k a m e n die Schuler
eine voile A u s b i l d u n g sowohl im theoretischen als auch im praktischen Bereich
eines H a n d w e r k s . In den zwei jeweils fur die Schreiner und Schlosser
vorgesehenen Abteilungen erhielten die Schtiler wahrend des sechsjahrigen
Lehrganges die notigten Kenntnisse in Theorie und Praxis. Anfanglich w u r d e die
Anzahl der Schuler auf 300 festgesetzt. Es waren in der Schule z. B . am 1. Januar
1887 3 2 0 Schuler, v o n denen 242 das Schlosserhandwerk und 78 das Schreinerund Holzschnitzerhandwerk erlernten. V o n 1878 bis 1886 absolvierten 220
840
841
842
843
844
840
Beljavskij, 50-letie, S. 24f., 40, 46.
841
Die Anzahl der Schuler in den Jahren von 1875 bis 1895 ist in der Tabelle 62 im
Tabellenanhang zu finden.
842
Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija bednych detej v S. Peterburge. Otcet po
soderzaniju remeslennogo udiliSca cesarevica Nikolaja za 1886 god. St. Petersburg 1887, S.
12f., 16,21.
843
Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija bednych detej v S. Peterburge. Remeslennoe
udiliSce cesarevida Nikolaja. St. Petersburg 1896, S. 4.
845
Schuler, v o n denen 55 das Meisterdiplom erhielten, die S c h u l e . Unter den
Schulern gab es erstaunlich w e n i g Handwerkerkinder, deren Eltern diese Schule
offenbar nicht akzeptierten. Sie zogen es vor, ihre Kinder im eigenen Haushalt
auszubilden, u m mehr EinfluB auf die Lehre des Kindes ausiiben zu konnen, da sie
fast ausnahmslos eine traditionelle patriarchalische Lehrweise in der Werkstatt fur
unersetzbar hielten. Die wohlhabenden Meister bevorzugten in der Regel eine
nichthandwerkliche Ausbildung ihrer Kinder, um ihnen einen sozialen Aufstieg
auBerhalb des H a n d w e r k s zu ermoglichen: so stammten 1887 nur 4,4 % der
Schuler aus Handwerkerfamilien .
846
D a s metallverarbeitende H a n d w e r k war quantitativ am starksten vertreten. St.
Petersburg war das groBte metallverarbeitende Zentrum RuBlands. Allerdings
absolvierten die Handwerkschule nicht alle, sondern nur ein Zehntel der Schuler.
Die uberwiegende Mehrheit der Schuler brach die Lehre fruhzeitig ab und ging in
die Betriebe. In den Jahren 1875-1895 gab es in der Schlosserabteilung 4083 und
in der Schreinerabteilung 983 Schuler, von denen nur j e 4 7 6 und 102 Schuler den
Lehrgang in vollem Umfang absolviert hatten . V o n 609 Absolventen bekamen
136 den Meister- und 473 den Gesellentitel.
Ende des 19. Jahrhunderts w u r d e immer deutlicher, daB viele v o n Handwerksarten
langsam in der GroBindustrie aufgingen. Schon das Konzept der handwerklichen
Ausbildung legte das nahe: D e n Meistertitel erhielten die Schuler, die zwei Jahre
lang in einer Werksstatt oder einer Fabrik gearbeitet hatten . Z u der Zeit, als eine
Vielzahl v o n Fabriken noch eher vergroBerten Werksstatten glichen, war es
zulassig, dort den Lehrgang zu absolvieren, um das Diplom des
Handwerksmeisters zu erhalten. Der betriebstechnische Unterschied zwischen
Fabriken einerseits und groBeren Werkstatten andererseits war gering: Selbst die
Bezeichnung der Betriebseinheiten in den Fabriken und Werken als „Zunfte"
(cechi) verriet die Herkunft aus dem Handwerk. Der Schwerpunkt verlagerte sich
mit der Zeit immer weiter in Richtung der GroBindustrie. D a s Handwerk verlor in
den 80er und 90er Jahren z u n e h m e n d an Attraktivitat. D a s verriet eine sich
verringernde Anzahl der erteilten Meistertitel: Zwischen 1878 und 1880 waren es
nur elf Schuler. D a n n gab es zwischen 1881 und 1884 mit 71 ausgegebenen
Meisterdiplomen einen Sprung nach oben. Mit dem Anfang der Rezession in der
847
848
845
Ebd., S. 4f.; siehe dazu: Svedenija dlja postupajuS£ich v Remeslennoe ueiliSce cesarevica
Nikolaja. St. Petersburg 1874; Kratkie svedenija о Remeslennom u&iliSce cesarevica
Nikolaja. St. Petersburg 1874.
846
Ebd, S. 6.
847
S. Tabelle 63 im Tabellenanhang.
848
Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija bednych detej v S. Peterburge. Remeslennoe
udiliSce cesarevica Nikolaja. St. Petersburg 1896, S. 13.
Mitte der 80er Jahre fiel ihre Anzahl immer weiter, so daB im Zeitraum 1885-1892
nur 54 und zwischen 1893 und 1895 kein einziges Meisterdiplom erteilt w u r d e .
D a die Unterrichtsfacher in dieser Handwerksschule breit angelegt waren, konnten
die Absolventen in verschiedensten Gebieten der Industrie tatig sein. 300 der
Absolventen, etwa die Halfte, waren in H a n d w e r k oder Industrie tatig und zwar 92
in den Fabriken, 88 als Zeichner oder technische Zeichner, 24 als Betriebsleiter
oder Lehrer, 19 in den Werkstatten, 17 als Elektriker, zehn in den Telegraf- und
Telefongesellschaften. N u r sieben hatten eigene Handwerksbetriebe, jeweils sechs
waren mit Dampfmaschinen beschaftigt und in den Eisenbahnwerkstatten tatig.
Die weiteren Absolventen waren nicht auf technischem Gebiet beschaftigt. So
wurden 6 8 , das waren 1 1 % der Absolventen, im Schreib- und R e c h n u n g s w e s e n ,
64 oder 1 0 % im Militar tatig .
Die Absolventen der Handwerksschule des Thronfolgers Nikolaj hatten gute
Chancen, eine gutbezahlte Arbeit zu finden. Die Absolventen, die in den 80er und
90er Jahren den SchulabschluB machten, fanden Stellen, die mit 1.200 bis 1.800
Rubel Jahresgehalt dotiert waren. Ein Vergleich sei hier genannt: Arbeiter in
metallverarbeitenden Betrieben erhielten den hochsten L o h n unter den Arbeitern
St. Petersburgs; er betrug 250 bis 350 Rubel im Jahr .
849
850
851
Das hohe Ausbildungsniveau der Schule verschaffte ihr in der St. Petersburger
Gesellschaft ein hohes Ansehen. Selbst das Volksbildungsministerium bildete hier
seit 1894 Handwerkslehrer fur die niederen Handwerksschulen RuBlands a u s .
852
8.5
Die Kaiserliche Russische Technische Gesellschaft und die technische
Ausbildung
Die Fachausbildung in der Industrie und im H a n d w e r k war eines der zentralen
Problemfelder der 1866 gegrtindeten Kaiserlichen Russischen Technischen
Gesellschaft (IRTO). In der Gesellschaft bestand eine Kommission, die sich mit
den Fragen technischer Ausbildung befaBte .
Bisher b e k a m e n die Manufakturen u n d Fabriken ihre qualifizierten Arbeiter aus
den Reihen der H a n d w e r k e r . D a aber das H a n d w e r k sich selbst mit vielen
853
854
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Ebd., S. 13.
850
Ebd., S. 13f.
851
Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija, S. 28f.
852
Ebd., S. 15.
853
V. A. Karelin, Russkoe techniceskoe ob§6estvo i problema podgotovki kvalificirovannych
fabridno-zavodskich raboeich v Rossii (1866-1890), avtoreferat dissertacii, Leningrad 1985.
Problemen in der Lehrlingsausbildung konfrontiert sah und die Zunfte ihrer
Aufgabe, eine Vielzahl v o n Arbeitern auf d e m neuesten technischen Stand in dem
Umfang qualifiziert auszubilden, der v o n der GroBindustrie gefordert wurde, nicht
n a c h k o m m e n k o n n t e n , wurde die Initiative der K o m m i s s i o n in Form von
Griindung der Abend- und Sonntagsschulen fur Arbeiter v o n den Industriellen
begriiBt und unterstutzt.
In den Diskussion iiber die technische Ausbildung in RuBland rezipierte die
K o m m i s s i o n die Entwicklung in West- und N o r d e u r o p a . So fand am 4. Januar
1880 in der K o m m i s s i o n eine Besprechung iiber die Handwerksausbildung in den
Grundschulen der skandinavischen Staaten start. Ein angesehenes Mitglied der
Gesellschaft, Ingenieur Evgenij Nikolaevic A n d r e e v , wies darauf hin, daB,
„wenn die Ziinfte nicht da sind, m a n g e z w u n g e n wird, die Handwerksausbildung
zu organisieren" . N a c h Ansicht der Kommissionsmitglieder sollte der
Handwerksunterricht in den Grundschulen RuBlands verstarkt gefordert werden.
Dieser konnte aber ohne dafur speziell ausgebildete Fachkrafte nicht verbessert
werden. Die unvorbereiteten Volksschullehrer konnten nichts fur die
Handwerksausbildung tun. D e s w e g e n organisierte die I R T O am 2 8 . Dezember
1880 einen H a n d w e r k s w o c h e n k u r s fur Lehrer von Volksgrundschulen (пасЫ 'nye
narodnye udilisca), der bis z u m 3. Januar des nachsten Jahres dauerte. W a h r e n d
seiner BegriiBungsrede betonte E. N . Andreev die B e d e u t u n g der
Handwerksausbildung auBerhalb der Betriebe:
855
856
857
„Es gibt Handwerker, die gute Meister sind, und doch selten haben sie
geniigend Fachkenntnisse und -fertigkeiten, u m ihren Schulern alle
Details ihrer Kunst erklaren zu konnen. Sie besitzen fast nie den
padagogischen Takt, sind im U m g a n g mit den Lehrlingen ubermaBig
streng und grob oder inkonsequent in der Vermittlung der
Fachkenntnisse" .
858
Die 27 Zuhorer wurden in folgende zehn Gruppen aufgeteilt: holzverarbeitende
Handwerke
(Schreiner,
Holzschnitzer,
Korbflechter,
Fassbinder),
metallverarbeitende H a n d w e r k e (Dreher, Schlosser, Schmiede, Blechner),
lederverarbeitendes H a n d w e r k der Pferdegeschirrmacher und B u c h b i n d e r .
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855
Siehe dazu: Puttkamer, Anfange, S. 85-108.
856
E. N. Andreev, Rabota maloltnich v Rossii i v Zapadnoj Evrope. St. Petersburg 1884.
857
Remeslennye kursy dlja narodnych ueitelej pri imperatorskom russkom techniceskom
obs£estve 1880-1881. St. Petersburg 1881, S. 1.
858
Ebd., S. 6.
Die I R T O organisierte zwei Tagungen tiber die Berufsausbildung im Handwerk.
G. F . R a k e e v u n d I. M . Radeckij hielten die ausfuhrlichen Vortrage iiber die
Lage der Lehrlinge im Handwerk. D a s Bild, das sie malten, war erschreckend. So
berichtete Radeckij wahrend der zweiten T a g u n g :
860
„Das aus der Familie gerissene [...] und in der Werkstatt eines
Handwerkers geknechtete Kind tritt in ,die L e h r e ' ein, indem seine
,Erziehung' in vollem Umfang den Gesellen, der Frau des Meisters, der
Kochin und alien Hausbewohnern uberlassen wird, die mit ihm nach
,eigener Art' (po-svoemu) umgehen. [...] Die ersten zwei, drei oder sogar
bis zu vier Jahre fuhrt der ,Lehrling' verschiedene Aufgaben der
letzteren aus, die nichts mit der Lehre zu tun haben: tragt den Hausmtill
hinaus, macht in den Wohnraumen sauber, versorgt die kleinen Kinder,
holt V o d k a und macht andere Einkaufe fur den Meister und die
Gesellen, macht die Kleidung und das Schuhwerk sauber und versucht
alien zu gefallen. [...] W e n n ihm das nicht gelingt, wird er verpriigelt:
Der Meister versetzt ihm die GenickstoBe, reiBt an den Ohren, zieht an
seinem Haarschopf, versetzt ihm FuBstoBe [...]. D e s weiteren wird er
systematisch mit Gtirtel, Seil, Stock u. a. Gegenstanden verpriigelt. [...]
Die Gesellen sind fur die Lehrlinge unmittelbare Vorgesetzte und
dienen ihnen in allem als Vorbild. Ungeachtet der haufig unertraglichen
MiBhandlungen, ahmen die Lehrlinge die Verhaltensweise der Gesellen
ganzlich nach u n d werden am Ende ihrer Lehre genauso g r a u s a m " .
861
In den elf Jahren ihrer Tatigkeit von 1868 bis 1879 erzielte die Kommission fur die
technische A u s b i l d u n g bei der I R T O einige positive Ergebnisse. In der Hauptstadt
wurden eine Reihe v o n Sonntags- und Abendschulen fur Arbeiter eroffhet, wobei
anzumerken
ist, daB die Kommissionsmitglieder
unter
Arbeitern
sowohl
Fabrikarbeiter als auch Beschaftigte aus Handwerksbetrieben verstanden. Die
Aufgabe dieser Schulen war es, Arbeitern und ihren K i n d e m eine elementare
Schulbildung zu erteilen. Die Schulen der Gesellschaft wurden v o n den Arbeitern
im Laufe der Jahre erstaunlich regelmaBig besucht, obwohl sie durch die
Ganztagsarbeit sehr ermudet waren. Der W u n s c h der Arbeiter nach beruflichem
Aufstieg brachte den Bildungseinrichtungen lebhaften Zulauf: Die neun Schulen
860
Rakeev war unter anderem der stellvertretende Vorsitzender der Fursorgegesellschaft der
kaiserlichen Geselleschaft der Menschenliebe (imp. Celovekoljubivoe obScestvo).
und funf Klassen w u r d e n im Durchschnitt v o n 520 Arbeiterkindern u n d 340
862
Arbeitern oder 860 Personen insgesamt besucht .
FuBend auf diesem Erfolg ofrhete die I R T O 1879 eine Handwerksschule fur
Mechaniker (Remeslennoe
udilisde po mechaniceskomu
delu) und eine weitere
Handwerksschule fur die Metall- und Holzverarbeitung (Remeslennoe
obrabotke
uciliscepo
metalla i dereva). D a s Schulprogramm war so konzipiert, daB es sowohl
theoretischen als auch praktischen Unterricht beinhaltete, so daB die Schuler den
gesamten Produktionsprozess, also alle Herstellungsphasen eines Produktes,
nachvollziehen konnten. Sie sollten im Stande sein, selbstandig
ein Produkt nach
Entwurf anfertigen zu konnen. Dies entsprach den Forderungen der Industrie nach
effizienter Arbeit: Der Arbeiter sollte ohne standige Aufsicht des Meisters
863
produktiv, rational und prazise am ProduktionsprozeB teilnehmen k o n n e n .
A u c h spater widmete die I R T O ihre Aufmerksarnkeit der Handwerksausbildung.
Sie stand im Zentrum auf dem von ihr organisierten ersten KongreB der
Teilnehmer der technischen Berufsausbildung
1889/90. Die Vortrage
von
bekannten Personlichkeiten auf diesem Gebiet wie M . M . Rejnke, G. F. Rakeev
und V. G. Jarockij dienten als Grundlage fur die Arbeit der neu besetzten standigen
K o m m i s s i o n fur die Ausbildung im Handwerk, die 1892 v o n Ja. T. Michajlovskij
und 1893-96 von P. N . Isakov gefiihrt wurde, wobei in der K o m m i s s i o n auch die
Altesten der St. Petersburger Ziinfte vertreten waren. Die K o m m i s s i o n stellte fest,
daB die Klassen und verschiedene Kurse im R a h m e n der Grundschulprogramme
fur die Handwerkslehrlinge eine sinnvolle Erganzung fur die praktische Lehre in
der Werkstatt sein konnen, diese aber nicht vollig ersetzen konnen. Deswegen
sollte m a n mit aller Anstrengung in den Werkstatten selbst die Arbeitsbedingungen
der Lehrlinge verbessem, u m eine weitere Ausbildung der Fachkrafte
zu
864
gewahrleisten .
8.6
Die privaten Ausbildungsanstalten im H a n d w e r k
A u c h im privaten Bereich w u r d e n eine Vielzahl v o n Einzelschritten im R a h m e n
des Aufbaus der Berufsausbildung im H a n d w e r k unternommen. So bestatigte das
Innenministerium a m 5. Mai 1897 das Statut v o m „Handwerklichen Kinderheim
in St. Petersburg" (Remeslennyj detskijprijut
v S. Peterburge). In das Kinderheim
862
Ob-jasnitePnaja zapiska к proektu polozenija о remeslennom u£ili§ce po mechaniceskomu
delu, udrezdennmu IRTO. [St. Petersburg 1879], S. I.
863
Ebd., S. III.
wurden verwaiste M a d c h e n zwischen sechs und zehn Jahren aufgenommen, die
sowohl eine allgemeine Bildung als auch eine Ausbildung in den Berufen der
Zuschneiderin, Schneiderin, Modistin, Weifinaherin und Korsettmacherin
bekamen. Spezielle Facher wie R e c h n u n g s w e s e n und W a r e n k u n d e sollten fur die
betriebswirtschaftliche Ausbildung sorgen. Unter den Fremdsprachen war - in
Anbetracht ihrer D o m i n a n z in der Schneiderkunst - Franzosisch obligatorisch,
damit die Modezeitschriften aus Paris gelesen werden konnten. N a c h
SchulabschluB im Waisenheim erhielten die Absolventinnen ein Zertifikat mit dem
Gesellinnentitel . Eine vergleichbare Bildungsanstalt wurde 1907 von S o f j a
Michajlovna Timofeeva unter dem N a m e n „Werkstatt und Asyl fur minderjahrige
Kinder" (Remeslennaja
masterskaja
i Ocag dlja maloletnich detej) gegrundet,
wobei nur Meister mit Diplom v o n der Handwerksverwaltung berechtigt waren,
dort zu unterrichten .
1905 griindeten A. I. Brjukker und S. K. ArchangePskij die Gesellschaft „St.
Petersburger handwerkliches Ausbildungs- und E r z i e h u n g s h a u s " (Obsdestvo S.
Peterburgskogo
remeslennogo udebno-vospitatel
^nogo doma - PRUVD), die grofie
Erfolge in der Handwerksausbildung erzielte. D a s P r o g r a m m der Gesellschaft war
fur die damalige Zeit sehr breit angelegt:
1.
A u s b i l d u n g der Zoglinge im R a h m e n einer allgemeinbildenden Schule.
2.
Erlernen eines Handwerksberufes im R a h m e n einer Berufsschule.
3.
Betriebswirtschaftslehre.
4.
M u s i s c h e B i l d u n g im Volkshaus.
5.
Vervollstandigung der theoretischen Berufskenntnisse in der Werkstatt der
Gesellschaft.
D a s k o m p l e x e P r o g r a m m des P R U V D sollte alle Lebensbedurfhisse eines
H a n d w e r k e r s umfassen und d e m Zogling eine allgemeine und professionelle
Ausbildung ermoglichen. Im Alter von sechs bis zwolf Jahren erhielten die
Zoglinge ihre Allgemeinbildung; im Alter von zwolf bis 18 Jahren folgte dann die
berufliche Ausbildung. Fur Schuler, die ihre Fachkenntnisse vertiefen wollten, gab
es einen Kurs, der zwei bis drei Jahre dauerte. Der Absolvent bekam entsprechend
seiner Leistung ein Gesellen- oder Meisterdiplom. In das P R U V D konnten Kinder
aller sozialen Schichten aufgenommen werden, allerdings sorgte der Jahresbetrag
in H o h e v o n 150 Rubel dafur, daB nur wohlhabende Eltern die Moglichkeit hatten,
ihre Kinder in die Schule zu g e b e n .
865
866
867
865
Ustav remeslennogo detskogo prijuta v S. Peterburge. [St. Petersburg 1897], S. 3ff.
866
Ustav Remeslennoj masterskoj i Ocaga dlja maloletnich detej v S. Peterburge. St.
Petersburg 1907. S. 3.
867
ObScestvo S. Peterburgskogo ucebno-vospitatePnogo doma, nachodjaScegosja v vedenii
popeditel'stva о domach trudoljubija i rabotnych domach, sostojaSCich pod pokrovitePstvom
e.i.v. gosudaryni imperatricy Aleksandry Fedorovny. St. Petersburg 1905, S.
Das
Schulprogramm
fur
die
allgemeine
Ausbildung
fur
die
sechs-
bis
zwolfjahrigen Schuler beinhaltete folgende Facher: Religionsunterricht, Russisch,
Arithmetik, Geometrie, Geschichte, allgemeine und russische
Geographie,
Zoologie, Botanik, Mineralogie, Physik, Schonschreiben, Malen, Zeichnen,
Handarbeit, M u s i k , gemeinschaftliche Spiele, D e u t s c h und Franzosisch. D a s
Ausbildungsprogramm Шг die zwolf- bis 18-jahrigen Schuler beinhaltete sowohl
allgemeine als auch berufsbezogene Facher: Religionsunterricht,
Russisch,
Arithmetik u n d R e c h n u n g s w e s e n , Geometrie, Physik, Holztechnologie in der
Schreinerabteilung, Metalltechnologie in der Schlosserabteilung, Schonschreiben,
Malen, geometrisches Zeichnen, technisches Zeichnen, Gymnastik, Gesang- und
Musikunterricht, Deutsch und Franzosisch.
D a s Schulprogramm beinhaltete die meisten Handwerksarten im metall- und
holzverarbeitetenden Bereich und einige spezielle Handwerksbereiche. In die erste
G r u p p e gehorten z. B . die der Schlosser und Dreher, in die zweite die Blechner,
Drahtzieher und Metallprager. Die dritte Gruppe umfaBte die H a n d w e r k e der
Schreiner, Mobelmeister, Modellschreiner, Drechsler und der Holzschnitzer. In die
vierte
und
funfte
Gruppen
gehorten
spezielle
elektrotechnische
und
galvanoplastische Handwerke, sowie auch Lackieren, Malen auf Eisen, Glas und
Holz, die Photographie auf Porzellan, Glas und Papier. Insgesamt gab es im
Schulprogramm 16 Handwerksarten. Jede Handwerksart wurde nach einem
S o n d e ф r o g r a m m unterrichtet. Die Werkstatt des P R U V D war uberdurchschnittlich
ausgestattet. Hier wurden optische, physische, chemische, mechanische und
technische Vorrichtungen und Apparate, Gleichstromgeneratoren und das Zubehor
fur Beleuchtungsvorrichtungen, isolierter Draht, verschiedene Leiter, elektrische
Klingeln und Telefonapparate hergestellt. In der Schreinerwerkstatt fertigten die
Schuler alle Arten v o n Mobel, Musikinstrumente wie Balalaikas und D o m r e n ,
Holzschnitzereien und Drechsler-Modellarbeiten an. In der Kunstwerkstatt wurden
Bilder fur die Projektionslampen gefertigt, VergroBerungen von Fotos, Fotos auf
Porzellan, Holzmalereien, Malereien auf Metall und Glas hergestellt
und
Vergoldungen, Beschichtungen mit Silber und Nickel sowie Lackierarbeiten
durchgefuhrt. D a s P R U V D n a h m Auftrage fur die Herstellung kompletter
Werkstatten fur verschiedenste Handwerksbranchen an. Die oben aufgezahlte
Produktpalette zeugt von einem hohen Ausbildungsniveau der Schuler. Es war ein
Beispiel einer m o d e r n e n und zukunftsorientierten Berufsschule, die ihre Zoglinge
durchaus gut auf die Anforderungen des Berufsalltags vorbereitete. Hier fehlte es
den
Schulern neben
den praktischen
Fertigkeiten
nicht an
theoretischen
Kenntnissen: W a r e n k u n d e , Buchhaltung und biirgerliches Recht gehorten genauso
868
in den Unterricht wie Materiallehre und T e c h n o l o g i e .
8.7
Staatliche MaBnahmen z u m Aufbau der Berufsschulen in RuBland und
St. Petersburg
Mit der beginnenden Industrialisierung in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts
riickte das Problem der technischen Ausbildung mit besonderer Scharfe in den
Vordergrund. Z u der Zeit gehorten zu den Gewerbeausbildungsstatten in RuBland
nur das St. Petersburger Technologische Institut, die M o s k a u e r Stroganovsche
technische Malschule und die Handwerksschule auf der Halbinsel K a m c a t k a .
A u f die mangelhafte und ungenugende Berufsausbildung in RuBland wurde unter
anderem 1863 von der Stackelbergschen K o m m i s s i o n und mehreren Angestellten
des Staatsapparates hingewiesen, die vorschlugen, Industrieschulen zu eroffhen .
Die Probleme in der Handwerks- bzw. Gewerbeausbildung bedrohten die Existenz
des H a n d w e r k s . Die Meister konnten die Ausbildung der Lehrlinge nicht mehr
gewahrleisten und verzichteten auf sie. Die Regierung versuchte dieser Tendenz
entgegenzuwirken, indem sie einen gesetzlichen R a h m e n fur die Griindung des
Berufsschulwesens in RuBland schuf. Der erste Schritt in dieser Richtung war der
ErlaB v o m 2 7 . A u g u s t 1869, der es erlaubte, Klassen zum Erlernen „nutzlicher
H a n d w e r k e " in den Schulen des Volksbildungsministeriums zu organisieren. In
den zehn Jahren bis 1878 gab es in ganz RuBland 1068 Schuler in 51
Volksgrundschulen, die ein H a n d w e r k erlernten. Die Schuler w u r d e n uberwiegend
im Schreiner- 4 0 % und Schuhmacherhandwerk 3 0 % ausgebildet. Zusatzlich
wurden die Ausbildungen im N a h - und Strickhandwerk sowie im Buchbinden
angeboten .
869
870
871
In den 1880er und 1890er Jahren folgten weitere Schritte im Aufbau der
Handwerksausbildung
in R u B l a n d .
Die
Verordnung
iiber
die
Handwerksberufsschulen (promyslennye bzw. remeslennye ucilisda) v o m 7. M a r z
1888 schuf die Grundlage fur konkretere Gesetze in dieser Richtung. Laut der
V e r o r d n u n g bezweckten die Handwerksberufsschulen die Ausbildung des
mannlichen Teils der Bevolkerung in technischen und handwerklichen Berufen.
Ein Jahr spater, am 26. Juni 1889, wurden dann die Lehrplane und am 27.
September das Statut der Handwerksberufsschulen herausgegeben, in denen die
868
ObScestvo S. Peterburgskogo ucebno-vospitatePnogo doma, S. 20f.
869
Trudy komissii, ucrezdennoj dlja peresmotra ustavov fabricnogo i remeslennogo, Teil 1.
St. Petersburg 1863, S. 218.
870
Remeslennik izdannyj drugom Remeslennika. St. Petersburg 1863, S. 4If.
Facher Religionslehre, Russisch, Arithmetik und R e c h n u n g s w e s e n , Geometrie,
allgemeine Physik, Holz- und Metalltechnologie, Schonschreiben, Malen,
geometrisches u n d technisches Zeichnen, Gesangsunterricht und praktische
U b u n g e n in den Werkstatten vorgesehen waren. Die V e r o r d n u n g von 1888
betonte, daB die Ausbildung die Kreativitat und die Fahigkeiten bei den Schulern
fordern sollte. D i e Handwerksberufsschulen sollten die Schuler zur
vernunftigen
Arbeit erziehen, w o z u die entsprechenden Schulfacher am besten geeignet seien .
Aufgrund dieser Gesetzgebung wurden in RuBland im Schuljahr 1889/1890 eine
Reihe von Berufsschulen erofrhet, in denen die am haufigsten gefragten
Handwerksarten in der Metall- und Bauindustrie ( 4 5 % der Schuler) sowie im
Schlosser- und Schreinerhandwerk ( 2 8 % der Schuler) unterrichtet wurden.
D a g e g e n Schuhmacher und Sclmeider waren im Hausgewerbe weit verbreitet, so
daB kein groBer Bedarf an der schlichten Ausbildung dieser Berufsgruppen
bestand. Ihr Anteil betrug daher nur 4 % bzw. 0 , 1 5 % . Die hohe Fluktuation der
Lehrlinge war in den Berufsschulen fur die erste Zeit typisch. Bis zu 7 0 % der
Schuler schieden im ersten Schuljahr aus. Der Grund dafur war die schlechte
materielle Situation der Familien, welche die Schulgebiihr nicht bezahlen konnten.
Die ubrigen Familien, die bereit waren, zwei oder drei Jahre lang in die
Berufsausbildung ihrer Kinder zu investieren, gaben ebenfalls haufig auf, weil die
Kinder moglichst fruh Geld verdienen sollten. Es war die traditionelle Ansicht, daB
mit 14 bis 15 Jahren ein Junge bereits alt g e n u g sei, u m erwerbstatig zu werden.
D e s w e g e n schickten die Eltern die Schulabbrecher bzw. Kinder ohne Schulbesuch
in die Werkstatt, wobei die Meister solche Lehrlinge, die im H a n d w e r k bereits
Wissen u n d Fahigkeiten erworben hatten, gerne a u m a h m e n .
Eine weitere Stufe im System der Handwerksausbildung bildeten die Schulen der
Handwerkslehrlinge (skoly
remeslennych
ucenikov),
die keinen groBen
Unterschied im Lehrplan zu den oben erwahnten Schulen aufwiesen und deren
Schuler mit d e m Gesellendiplom abgingen. A m 20. Dezember 1893 folgte eine
weitere Verordnung, die diesen Schulen erlaubte, den Gesellen ab ihrem 2 1 .
Lebensjahr Meisterdiplome auszuhandigen. D a s waren die Absolventen der
Schulen der Handwerkslehrlinge, die nach einem dreij antigen Lehrgang in einer
Fabrik oder Werkstatt und einer Prufung das Meisterdiplom erhielten, w a s das
M o n o p o l der Handwerksverwaltung weiter beschnitt . Mit Blick auf England
empfahl das Volksbildungsministerium 1895 den Inspektoren der Schulbezirke
872
873
874
875
872
Remeslennye udiliSca. Skoly remeslennych udenikov. St. Petersburg 1909, S. 5, 21, 43-67.
873
1. A. Antonov, Opyt sistematiieskogo obozrenija materialov к izuceniju sovremennogo
sostojanija srednego i nizsego techniceskogo i remeslennogo obrazovanija. St. Petersburg
1889, S. 480.
874
Ebd., S. 489f.
(popeciteV
ucebnogo
okruga),
die S o n n t a g s - u n d A b e n d k u r s e
fur
Handwerkstechnologie, Malen, Zeichnen sowie andere spezielle Facher zu
ofmen .
Die Fortschritte in der Ausbildungssituation konnten in der zweiten
Handwerksausstellung in St. Petersburg 1899 besichtigt werden. AuBer den
Exponaten aus den Werkstatten der Handwerker konnte man hier auch Werkstucke
begutachten, die v o n Lehrlingen verschiedenster Handwerksausbildungsanstalten
angefertigt w o r d e n w a r e n .
Die Berufsschulpolitik der Regierung trug Frtichte. 1904 unterstanden dem
Volksbildungsministerium 2 4 9 Berufsbildungseinrichtungen, die in vier
Kategorien eingeteilt waren:
1.
Berufsschulen nach dem Statut von 1889.
2.
Allgemeinbildende Schulen fur die Lehrlinge im Handwerk.
3.
Elementarberufsschulen.
4.
Berufsschulen mit Sonderstatuten .
V o n 249 Berufsbildungseinrichtungen erstatteten 1904 nur 96 Bericht an den
dritten Kongress russischer Funktionare fur technische Berufsbildung in RuBland
(tretij s-ezd russkich dejatelej po technideskomu
i renteslennomu
obrazovaniju).
Diese Berufsbildungsanstalten waren meistens nicht groB: 2 7 % bildeten in nur
einem H a n d w e r k aus, 4 7 % hatten zwei, 19% drei und 7 % mehrere Handwerksarten
auf dem Lehrplan, 8 2 % der Anstalten boten die Ausbildung z u m Schlosser, 6 2 %
eine Lehre z u m Schreiner an. Die Ausbildungszeit in den Berufsbildungsanstalten
876
877
878
876
1. Kel'berin, О merach к razvitiju remeslennoj promySlennosti. Kiev 1902, S. 38.
877
Remeslennoe u£ili§6e cesarevida Nikolaja und Remeslennye klassy imperatora Aleksandra
III beim Dom prizrenija i remeslennogo obrazovanija, Prakticeskaja skola zenskich rukodelij
M. P. Argamakovoj, Remeslennoe udiliSce und Putilovskaja ucebnaja masterskaja beim
IRTO, Aleksandrovskaja Skola und Voskresnye risovaPnye klassy der Handwerksverwaltung,
Techniceskaja artillerijskaja Skola, Masterskie S. Peterburgskogo u6iliS6a gluchonemych,
Skola ekonomideskogo obScestva oflcerov gvardejskogo korpusa, Skola pri kartograficeskom
zavedenii Il'ina, Pervaja professional' naja Skola A.I. Korobovoj, Professional'naja Skola M.
A. Korobovoj, Chudozestvenno-remeslennye kursy L. A. Stram, sowie die in der Kompetenz
der Ftirsorgegesellschaft verschiedene Arbeitsgemeinschaften (Rabotnye doma und Doma
trudoljubija) stehenden: Dom trudoljubija dlja muzein, Dom trudoljubija dlja obrazovannych
muz£in, Dom trudoljubija dlja obrazovannych zenSdin; Peterburgskoe stoliCnoe
popeditel'stvo о domach trudoljubija, Dom trudoljubija dlja mal'dikov-podrostkov iz
Galernoj gavani, Prijut Vjazemskogo doma trudoljubija, S. Peterburgskij Ol'ginskij detskij
prijut trudoljubija, S. Peterburgskoe obScestvo pooScrenija zenskogo chudozestvennoremeslennogo truda, zehn Bildungsanstalten fur die Behinderten sowie S. Peterburgskoe
ispravitel'noe arestantskoe otdelenie und S. Peterburgskaja tjur'ma, in: UkazateP S.
Peterburgskoj remeslennoj vystavki 1899 goda. St. Petersburg 1899, S. 55-71.
878
Sovremennoe sostojanie remeslennych udebnych zavedenij po dannym 3-go s^ezda
russkich dejatelej po technideskomu i professional'nomu obrazovaniju v Rossii (Dezember
1903-Januar 1904), hrsg. v. IRTO. St. Petersburg 1904, S. 1.
879
betrug zwischen drei u n d funf Jahren . In den genannten Anstalten stand eine
Kapazitat v o n 8.154 Schulplatzen zur Verfugung, die j e d o c h nur zu 8 5 , 1 % (6.942
Schuler) ausgelastet war. Die meisten Schuler in den Stadten k a m e n aus der
Schicht der Kleinburger wahrend die landlichen Schulen hauptsachlich von
Bauernkindern besucht w u r d e n .
880
St. Petersburg als groBtes industrielles Zentrum RuBlands stand auf dem ersten
Platz der Anzahl der Berufsbildungseinrichtungen im technischen und
handwerklichen Bereich. U m ein Beispiel zu nennen: Zu den Ausbildungsanstalten
der vierten Kategorie gehorte in St. Petersburg die 1903 gegriindete Gesellschaft
zur Forderung der Handwerksausbildung der armeren Bevolkerung
(Obscestvo
rasprostranenija
remeslennogo
obrazovanija
sredi bednogo naselenija). In die
Ausbildungsanstalten der Gese llschaft konnten die Kinder aufgenommen werden,
die auch keine Grundschulbildung hatten . Die neu gegriindete Gesellschaft
w u c h s stetig: Im ersten Jahr nach der G r u n d u n g der Gesellschaft hatte sie 311
Mitglieder, a m 2 6 . Februar 1906 wurden 4 2 6 u n d am 1 1 . Februar 1907 492
Mitglieder registriert, wobei fast alle soziale Schichten vertreten w a r e n :
Ingenieure, Handwerker, Kaufleute, Kleinburger, Ehrenbiirger, Auslander,
Priestergattinen und hohere Staatsbeamten wie der Generaladjutant Ivan
Aleksandrovic Fullon oder der Staatsrat Jakov Vasil'evic K r i v c o v .
In den Griindungstagen dieser Gesellschaft wurde ihr zunachst eine bescheidene
Hilfe v o m Antonievsker bzw. Sampsonievsker Volkschor (Antonievskij
Hi
Sampsonievskij
narodnyj chor) zuteil, der ein Konzert zugunsten der Gesellschaft
gab. Die nachste sptirbare Hilfe k a m von Innenminister V. K. Pleve, der veranlaBt
hatte, daB der Kaiser 3.000 Rubel fur die Gesellschaft bewilligte, u n d auch eine
Spende der Familie des Industriellen Ё. L. Nobel konnte verzeichnet werden.
AuBerdem gelang es dem Gesellschaftsrat, eine S p e n d e n s a m m l u n g in H o h e von
13.000 Rubel zu organisieren. Anton Putvinskij, der Vorsitzende der Gesellschaft,
widmete seine Aufinerksamkeit zunachst der mangelhaften Frauenbildung, was die
G r u n d u n g der Ersten Handwerksschule fur Frauen (Pervaja Remeslennaja
skola
dlja zensdin) in St. Petersburg zur Folge hatte. Der Vorsitzende hatte noch mit
Vorurteilen unter der Bevolkerung zu kampfen, aber er bestand auf der
Notwendigkeit einer nicht nur praktischen, sondern auch umfassenden Ausbildung
in natur- und geisteswissenschaftlichen Fachern gerade fur Frauen. Die Anzahl der
881
882
879
Ebd., S. 5.
880
Ebd., S.6,31.
881
Ustav ObScestva rasprostranenija remeslennogo obrazovanija sredi bednogo naselenija. V
pamjat 200-letija Peterburga. St. Petersburg 1906, S. 3f.
4
882
Otcet ObScestva rasprostranenija remeslennogo obrazovanija sredi bednogo naselenija za
1905 god. St. Petersburg 1906, S. 5ft.
Schulerinnen w u c h s von 80 im Jahre 1906 auf 136 im Jahre 1908. Daher war die
Kapazitat der Schule schnell erschopft .
Im Jahre 1914 unterstanden dem Handels- und Wirtschaftsministerium
(ministerstvo
torgovli
i promyslennosti)
allein in St. Petersburg neun
Berufsbildungsanstalten . 1912 grtindete der Verbund der Juweliere, Handler,
Gold- und Silberschmiede (Obsdestvo juvelirov,
zolotych i serebrjanych
del
masterov
i torgovcev)
die Gesellschaft zur Forderung der Ausbildung im
Kunsthandwerk (Obsdestvo
rasprostranenija
chudozestvenno-remeslennogo
obrazovanija).
Eine Vielzahl von Ausbildungswerkstatten und -kursen im Bereich
des Schmiedehandwerks folgten .
Die handwerklichen Berufsschulen und die Schulen fur Handwerkslehrlinge
erteilten ihren Schulern im Unterschied zu den Handwerksbetrieben eine
u m f a s s e n d e t h e o r e t i s c h e u n d p r a k t i s c h e B e r u f s a u s b i l d u n g , die die
Handwerksmeister sich nicht leisten konnten. Die Schuler erhielten das Gesellenbzw. Meisterdiplom und dadurch die Moglichkeit, ihr H a n d w e r k im vollen
Umfang ausuben zu konnen, ohne dabei die moglichen Behinderungen durch die
Handwerksverwaltung erdulden zu mussen.
883
884
885
883
Doklad inspektora u6ili§ca Avdija Ivanovica Skovorodova. [St. Petersburg 1908], S. Iff.;
III-j otdet о dejatel'nosti ObScestva rasprostranenija remeslennogo obrazovanija sredi
bednogo naselenija za 1906 god. St. Petersburg 1907, S. Vff.
884
Spisok remeslennych i techniceskich udebnych zavedenij vedomstva ministerstva torgovli
i promySlennosti. Pg. 1914, S. 26, 30, 32, 36, 38. Unter ihnen: Der Handwerkskurs der SpasoPreobrazenskij-Fursorgegesellschaft (Remeslennye udebnye kursy Spaso-Preobra&nskogo
blagotvoritel 'nogo obsdestvo), die Petrograder Zeichnerschule von P. I. Mezerid
(Petrogradskaja Skola derteinikov P.I. Meierida), der Petrograder technische Kurs von V. P.
Panov (Petrogradskie technideskie kursy V. P. Panova), der Petrograder Handwerkstechnische Kurs vom Technologie-Ingenieur I. A. Gavrilov (Petrogradskie remeslennotechniceskie kursy inzener-technologa I. A. Gavrilov), die Lehrwerkstatt von N. P. L'vov
(Remeslennaja udebnqja masterskaja N. P. L 'vov), die stadtische Handwerksschule fur
Frauen namens V. A. Krylov (Zenskaja gorodskqja remeslennaja Skola imeni V. A. Krylova),
der Erste Petrograder polytechnische Kurs von M. A. Summer (Pervye Petrogradskie
Politechnideskie kursy M. A. Summera). Die Petrograder Professoren- und
Dozentengenossenschaft (TovariSdestvo professorov i prepodavatelej) zeichnete sich durch
die Organisation mehrerer Handwerkslehranstalten aus. Sie organisierte den Polytechnischen
Zeichnerkurs (Petrogradskie politechnideskie kursy tovarisdestva professorov i
prepodavatelej), den Kurs fur die Webergesellen und den Kurs fllr die Elektrotechniker und
Elektromonteure.
885
Ustav ObSdestva rasprostranenija chudozestvenno-remeslennogo obrazovanija. [St.
Petersburg 1912], S. 3f.
9.
M o n o p o l und K o n k u r r e n z im H a n d w e r k
W a h r e n d d e s e r s t e n D r i t t e l s d e s 19. J a h r h u n d e r t s , a l s m i t d e r b r e i t e n
Angebotspalette im Konsumgutersektor der hauptstadtische M a r k t gesattigt
w u r d e , n a h m die Konkurrenz sowohl zwischen den zunftigen als auch zwischen
den zunftigen und zunftfreien Handwerkern immer scharfere Formen an, weshalb
die Zunfte immer ofter v o n ihren Monopolrechten Gebrauch machten. Dies
envies sich in der Regel als eine belastende Beschrankung fur viele Handwerker.
Es ist zu fragen, inwieweit die Zunfte ihr Monopolrecht durchsetzen konnten, ob
ihnen z. B . die B e s c h r a n k u n g der Meisterzahl oder das Verbot der A u s u b u n g des
H a n d w e r k s gelang. D e s weiteren stellt sich die Frage, wie sich die Konkurrenz
der zunftfreien H a n d w e r k e r auf die Lage des Zunfthandwerks auswirkte und
w e l c h e Mittel z u r Steigerung seiner Wettbewerbsfahigkeit z u r V e r f u g u n g
standen.
9.1
Monopol
9.1.1 Die Zunfte und die zunftfreien H a n d w e r k e r
Ein H a n d w e r k s m o n o p o l bestand in RuBland vor der Einfuhrung der Zunfte nicht.
A b e r auch nach ihrer Einfuhrung war es relativ begrenzt. W a r u m konnte in
RuBland kein Zunftmonopol durchgesetzt werden? Dafur w a r vor allem das
bauerliche bzw. landliche Handwerk verantwortlich, das keinerlei
Beschrankungen auf d e m Land hatte und der groBte Konsumgtiterhersteller bis
zur Jahrhundertwende 1900 blieb. Eine Vielzahl von bauerlichen Kleinhandlern
drangten in die groBen Stadte, u m dort ihre Waren zu verkaufen. D a s waren z. B .
Haushaltsprodukte w i e Topfe, Bratpfannen, Glaser, Becher, Kellen, Loffel,
Messer, Leuchten, Ketten, Schlosser, Schlussel, Kleider und Schuhwerk sowie
Halbwaren u n d Rohmaterialien wie W a c h s , Felle, Leder, Borsten, Horner,
Pferdehaar u n d Eisen. E s fehlte auch nicht an Arbeitswerkzeugen wie N e t z e n ,
A m b o s s e n , Axten, Schabmessern, Spaten oder auch Waffen wie Pistolen und
Gewehre .
886
Im 18. Jahrhundert erfuhr der bauerliche Handel in den beiden Hauptstadten
wesentliche Beschrankungen, nach denen praktisch nur Lebensmittel, Rohstoffe
und halbfertige Produkte zum Verkauf auf dem hauptstadtischen Markt
angeboten werden durften. AuBer den bauerlichen H a n d l e m gab es noch andere
Bevolkerungsgruppen, die das M o n o p o l der Zunfte beschrankten. D a s waren die
Kleinburger, Kaufleute und Posadleute. Von den letzteren gab es in St. Petersburg
886
S. I. Sakovid, Torgovlja melocnymi tovarami v Moskve v konce XVII veka, in: Istoriceskie
zapiski, Bd. 20 (1946), S. 131; E. I. Zaozerskaja, К voprosu о zarozdenii kapitalistideskich
otnosenij v melkoj promySlennosti Rossii XVIII veka, in: Voprosy istorii, Nr. 6 (1949), S. 80.
im Jahre 1786 3.934. Sie standen 2.539 Zunfthandwerkern gegenuber. Bei
genauer Betrachtung waren es meistens die Kleinhandler und Heimarbeiter, die
nicht in den Zunften organisiert waren. Sie waren in der Regel im Textilgewerbe
tatig, das fruh aus dem H a n d w e r k ausschied und auch in kleinen Formen ihrem
ProduktionsprozeB und der Arbeitsteilung nach eher den Fabriken als den
Werkstatten ahnelte. Die groBte gewerbliche Gruppe unter den nichtzunftigen
Handwerkern machten aber die bauerlichen Handwerker aus. Allerdings konnten
d i e s e H a n d w e r k e r nicht i m m e r ungestraft die M o n o p o l r e c h t e der Zunfte
verletzen.
D i e M o n o p o l i s i e r u n g b e s t i m m t e r Z u n f t h a n d w e r k e verlief unterschiedlich.
Spezielle Handwerksarten wie Uhrenmacher, M e c h a n i k e r , M a s c h i n e n b a u e r ,
Klavierbauer, Optiker, Konditoren und andere, die v o m A u s l a n d importiert
wurden, befanden sich mit A u s n a h m e von Hofhandwerkern fast ausschlieBlich in
den Handen der Zunfthandwerker. Anders war es beim traditionellen H a n d w e r k
bestellt, das seit altersher in RuBland etabliert war. Die Lebensmittelindustrie war
h a u p t s a c h l i c h in d e n H a n d e n d e r B a u e r n . B e r u f l i c h e T a t i g k e i t e n w i e
WeiBbrotbacker, Piroggenbacker, L e b k u c h e n b a c k e r , Mtiller, K o c h e ,
Speisewirtschaftler, Fischer, Buttermacher, Metzger und andere wurden
ausschlieBlich von Handwerkern bauerlicher Herkunft ausgeubt . Die Ausnahme
machten die deutschen Backer, die eine Monopolstellung besonders in den
1830er Jahren erreichen konnten. Auf dem zweiten Platz nach dem
nahrungsherstellenden Gewerbe stand das Bauhandwerk (Zimmermann,
Schreiner, Steinmetz, Steinschleifer, Maurer, Stuckarbeiter und andere), das
meistens von den bauerlichen Artelsarbeitern erledigt wurde. In diesen Bereichen
konnten also die Zunfthandwerker wegen historischer Gegebenheiten bzw. w e g e n
s c h o n friiher a u s g e a r b e i t e t e r F o r m e n v o n A r b e i t s g e m e i n s c h a f t e n k e i n
vollstandiges M o n o p o l einfuhren.
887
Intention des Gesetzgebers war es, das Kleinhandwerkstum zu schutzen. Die
Zunfte k a m e n so mit gultigen G e w e r b e g e s e t z e n in K o n f l i k t . AuBer den
Zunftstatuten bzw. dem Handwerksstatut gab es noch ungeschriebenen Regeln,
die dem Ethos des Zunftwesens und damit dem Monopolprinzip, entsprachen.
D i e s e m Monopolstreben der Zunfte wird im folgenden nachgegangen.
E i n e F u l l e v o n a r c h i v a r i s c h e n A k t e n s t u c k e n k o n n e n als B e l e g e fur die
Monopolbestrebungen der St. Petersburger Zunfte herangezogen werden. A u s der
Vielzahl einzelner Konflikte zwischen den Meistern und Zunften kristallisiert
sich eine allgemeine Situation heraus, die von den komplizierten Verflechtungen
zwischen den standischen und privaten Interessen zeugt. Im folgenden werden
d i e s e I n t e r e s s e n s p h a r e n s o w i e d e r s t a a t l i c h e EinfluB a u s v e r s c h i e d e n e n
Blickwinkeln heraus betrachtet, w a s zu einem differenzierteren Bild der Situation
des H a n d w e r k s beitragen soli.
D i e H a n d w e r k s v e r w a l t u n g b e o b a c h t e t e a r g w o h n i s c h d i e A k t i v i t a t e n der
Oderki russkoj kuPtury ХУШ veka, Tl. 1. Moskau 1985, S. 158.
zunftfreien H a n d w e r k e r u n d versuchte bei jeder Gelegenheit, Druck auf sie
auszuttben. In der zweiten H&lfte des 18. Jahrhunderts unterstutzte z. B . der
Stadtmagistrat die russische Zunftverwaltung in ihren Bestrebungen und z w a n g
die auslandischen H a n d w e r k e r in die Zunfte als standige Meister einzutreten. Der
ErlaB v o m 2 2 . J a n u a r 1782 u n t e r s a g t e schlieBlich d e m M a g i s t r a t d i e s e
P r a k t i k e n . Einen anderen Beleg fur den Versuch, den Zunftzwang einzufuhren,
stellt der Vorfall v o n 1786 dar: D a s Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte
forderte den Magistrat auf, nicht zuzulassen, daB die auslandischen Handwerker
in die russischen Zunfte eintraten. Sie sollten seinem W u n s c h nach ausschlieBlich
in den deutschen Zunften Mitglieder sein. Diesmal kam der Stadtmagistrat der
Forderung nicht entgegen. Er bezog sich auf das Handwerksstatut von 1785, das
den auslandischen Handwerkern das Recht einraumte, auch in die russischen
Zunfte eintreten zu diirfen .
Die H a n d w e r k e r konnten in ihrem Gewerbe auf unterschiedliche Weise behindert
werden, wobei die deutschen Zunfte hier besonders eifrig waren, weil die meisten
auslandischen Meister mit der Zunfttradition vertraut waren. Dabei schloB sich
die russische Handwerksverwaltung ihren Monopolbestrebungen ausnahmslos an.
So suchte 1816 der Burstenhersteller Karl Forster aus Zittau bei Innenminister
Osip Petrovic K o z o d a v l e v Schutz vor der deutschen Zunftverwaltung, die ihn
zwar in die Zunft aufhahm, ihn aber danach in der A u s u b u n g seines H a n d w e r k s
behinderte, wobei die russische Handwerksverwaltung der deutschen Beistand
leistete: Sie drohte Forster ebenfalls seine Waren zu konfiszieren und seine
Werkstatt durch die Polizei schlieBen zu lassen. Das Handwerksoberhaupt der
deutschen Zunfte, Gunter, erteilte ihm eine einjahrige Erlaubnis, die aber nicht
verlangert w u r d e . Die Vergabe des Erlaubnis des Handwerksoberhaupts war
widerrechtlich, weil allein durch die Zunftaufhahme eines Meisters die Austibung
seines H a n d w e r k s garantiert wurde. Gunter miBbrauchte dies als ein Instrument,
um das M o n o p o l zu starken. Zumal der Saat nicht immer die Seite der Zunfte
einnahm, um durch die B e g r e n z u n g der Meisterzahl, den Absatz des
Z u n f t h a n d w e r k s zu sichern. Die Zunfte selbst sollten versuchen, mit ihrer
wirtschaftlichen Situation fertig zu werden und aus ihren Zunftrechten fur sich
das Beste zu machen.
888
889
890
So hatte der Fall in der Stecherzunft im Jahre 1828 mit der Beschrankung der
888
PSZ RI 1, Bd. 21, Nr. 15331 (22. Januar 1782): О neprinuidenii inostrannych masterov, v S.
Peterburge poselivSichsja, zapisyvat'sja v cechi vecno, S. 387.
889
Zurnal Komiteta ministrov po zapiske glavnokomandujuScego v Peterburge о podatjach s
inostrannych remeslennikov, nachodja$6ichsja v vedenii Remeslennoj upravy rossijskich cechov
ot 4.08.1816, in: RGIA, f. 1263, op. 1, d. 98,1. If.
890
Otnosenie m.v.d. O. P. Kozodavleva к glavnokomandujuScemu S. Peterburga Sergeju
Kuzmicu Vjazmitinovu ot 18 aprelja 1816; prosenie к m.v.d. Kozodavlevu ot Sdetocnogo
mastera Ferstera ot 16 ijunja 1816, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 166,1. 9, 1 If.
Tatigkeit der A p o t h e k e r zu tun. Sie druckten Etiketten fur die Arzneimittel mit
der Erlaubnis des Generalgouverneurs auf einer gemeinnutzigen Druckmaschine
selbst, wodurch sie den Meistern der Stecherzunft Schaden zufugten. Der St.
Petersburger Generalgouverneur schrieb diesbeztiglich dem Finanzminister:
„Die pharmazeutische Gesellschaft hat keine Stecherwerkstatt. Die
Aufstellung der Druckmaschinen von dieser Gesellschaft widerspricht
nicht der O r d n u n g , weil das D r u c k h a n d w e r k den Stechern nicht
angehort" .
891
D o c h diese Stellungnahme widersprach der Realitat. Die Druckbretter fur die
Apotheker w u r d e n letztendlich doch von den Stechern angefertigt, und das
D r u c k h a n d w e r k gehorte tatsachlich zu ihrem Arbeitsbereich. D e r Meister der
deutschen Zunft Avgust FerdinandoviC §mit berichtete dem Finanzminister, daB
die Stecher betrachtliche Verluste durch das selbstandige Drucken der Apotheker
h i n n e h m e n muBten u n d bat diese P r a k t i k e n zu verbieten. U n g e a c h t e t der
schlechten wirtschaftlichen Situation der Stecher, w u r d e die Nebenbeschaftigung
der Apotheker nicht unterbunden.
Im Fall von Joseph Bozetti, seit 1845 kaiserlicher Hoflieferant fur Schokolade,
n a h m die deutsche Konditorenzunft im g l e i c h e n Jahr in der Frage seiner
Zunftaufhahme eine strikt abweisende Stellung ein. Er beabsichtigte nicht seine
Werkstatt zu vergroBern, trotzdem wurde ihm die Konditorenzunftmitgliedschaft
verwehrt. A n seiner Kunstfertigkeit zweifelte niemand, im Gegenteil - die
Z u r u c k h a l t u n g d e r Z u n f t h a n d w e r k e r laBt s i c h d a m i t e r k l a r e n , daB sie
wahrscheinlich einen zusatzlichen Konkurrenten furchteten. Die Nichtaufhahme
Bozettis lieB ihnen immer eine Moglichkeit offen, ihm sein H a n d w e r k zu
verbieten. Die Zunftverwaltung rechtfertigte ihre A b s a g e an Bozetti damit, daB
sie keine gesonderte Schokolademeisterzunft habe. Daran wollte aber Bozetti
nicht glauben, da er von vier Schokolademeistern (Osip Cikorij, Osip Rinal'delli,
Gidelli und Markvarti) im Gebaude der deutschen evangelisch-lutherischen St.
Peter-Kirche am Nevskij Prospekt, w o er seine W o h n u n g und Werkstatt hatte,
wuBte, die im Gegensatz zu ihm die Zunftzeugnisse von der Konditorenzunft
b e k o m m e n hatten. A u c h sein kurz zuvor verstorbener Onkel Grigorij Bozetti, bei
dem sein Neffe Joseph Bozetti seit funf Jahren gearbeitet und schlieBlich seine
W e r k s t a t t g e e r b t hatte, w a r Meister der K o n d i t o r e n z u n f t u n d hatte seine
W e r k s t a t t in St. P e t e r s b u r g seit ca. 1 8 1 5 . T r o t z a l l e d e m u n d t r o t z d e r
Befurwortung seiner Aufhahme durch den Innenminister wurde er nicht in die
Zunft aufgenommen. Die Absichten der Zunft w u r d e n in der Antwort des
891
Otnosenie S. Peterburgskogo general-gubematora ministru finansov ot 23 janvarja 1829, in:
RGIA, f. 18, op. 2, d. 579: Po pros'be gravernogo obScestva sostoja§6ego v nemeckom
remeslennom ceche, о zapreScenii farmacevtideskomu obScestvu zanimat'sja prigotovleniem
gravernych i pecatnych rabot (1828), hier 1. 3, 5.
Zunftaltesten an den G e n e r a l g o u v e r n e u r v o n St. Petersburg im Juni 1847
deutlich. Er b e z o g sich rein formell auf den Paragraph 416 des Handwerksstatutes
u n d bekraftigte, daB Bozetti auch „ o h n e Meisterzeugnis sein H a n d w e r k o h n e
Hilfe v o n Gesellen und Lehrlingen ausuben k o n n e " . Diese Ausfuhrung des
Zunftaltesten w a r e verstandlich, wenn Bozetti sich v o m Zunfteintritt befreien
wollte, da aber hier das Gegenteil der Fall war, scheint diese Antwort ein
zynisches „ U n v e r s t a n d n i s " zu sein, das sich auf eine formelle Interpretation des
Gesetzes stutzen wollte.
892
Wahrend die deutsche Konditorenzunft mit alien Mitteln versuchte, die Anzahl
der Zunftmeister zu begrenzen, z w a n g die russische Handwerksverwaltung
riicksichtslos
die H a n d w e r k e r in die Zunft. D a s Gegenteil zu Bozetti stellte der
Fall des St. Petersburger Kleinburgers Jakov Ivanovic Sokolovskij dar, den die
russische Handwerksverwaltung am 19. Mai 1833 zum Zunfteintritt zwang. Seit
1800 stellte Sokolovskij alleine in seinem Haus im Karetnaja-Viertel Schokolade
her. D a s durfte er auch, da nach dem Gesetz die Posadleute bzw. die mescane,
denen er angehorte, nur die Steuer fur die Kleinburger zahlten und dadurch alle
Rechte in der H a n d w e r k s a u s u b u n g kleineren Umfanges hatten. Die Stadtduma,
die die Forderung der Konditorenzunft unterstiitzte, sollte sich in ihrer Forderung
einschranken und den Direktiven des Geschaftsfuhrers des Manufaktur- und
Innenhandelsdepartements ( D M V T ) (Departament
torgovli)
manufaktur
i
vnutrennej
89
Druzinin g e h o r c h e n ' .
D i e B i l d u n g der Ziinfte als Mittel der M o n o p o l b e s t r e b u n g der zunftigen
Handwerker konnte auf verschiedene Weise erfolgen. Einerseits gliederte die
r u s s i s c h e b z w . die auslandische H a n d w e r k s v e r w a l t u n g w e i t e r e v e r w a n d t e
Handwerksformen
in i h r e n B e r e i c h e i n . A n d e r e r s e i t s b e a u f t r a g t e
das
Finanzministerium bzw. das D M V T aus fiskalischen Griinden die Stadtduma
damit, bestimmte Zunfte zu bilden. Ein geeignetes Beispiel dafur liefert die
E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e der Weberzunft, die spater p a r a d o x e r w e i s e in die
Silberschmiede- u n d Posamentiererzunft eingegliedert wurde. Die G r u n d u n g der
Weberzunft vollzog sich zwischen 1825 und 1841. Der indirekte Ausloser der
Entstehung dieser Zunft war die Gildenreform v o m 14.11.1824, nach der alle
892
Prosenie Bozetti m.v.d. Perovskomu ot 8.02.1846 und ot 3.05.1848; Dokladnaja zapiska
voennogo general-gubernatora ministru vnutrennich del о dozvolenii Bozetti proizvodit'
sokolad ot 30.06.1847, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 400 (Februar 1846-Juli 1847): Po proseniju
avstrijskogo poddannogo, vladePca Sokoladnoj fabriki I. Bozetti о prinjatii ego v Peterburgskij
Sokoladnyj cech, hier 11. 1, 4f., 11.
893
Po pros'be S. Peterburgskogo meSdanina Sokolovskogo ob osvoboidenii giPdejskich
povinnostej po proizvodstvu na domasnem zavedenii Sokolada, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 849,
1. If.
Gewerbetreibenden die Handelsbescheinigungen im Kassenamt kaufen sollten,
wobei die Bescheinigungsklasse und dementsprechend die Beitragshohe v o m
Umfang des Betriebes und seiner Produktion abhing.
Fur die auslandischen Weber Cristian Riecke, Wilhelm Kress und Nieburg w u r d e
die Zunftbildung z u m Verhangnis. Als sie z u m Kassenamt (kazennaja
palata)
gingen, um die Handelsbescheinigungen zu b e k o m m e n , w u r d e von ihnen die
Erlaubnis fur ihre Betriebe v o m D M V T verlangt, die sie nicht hatten, weil sie,
m a n c h e von ihnen jahrzehntelang, als freie Handwerker arbeiteten. Als im
Kassenamt diese Sachlage geprtift wurde, kamen die Beamten zu dem SchluB,
daB w e n n d i e h a u p t s t a d t i s c h e n W e b e r k e i n e Z u n f t b i l d e t e n , sie k e i n
W e b e r h a n d w e r k betreiben durften. D e m Gesetz nach durften die auslandischen
Kaufleute keine Fabriken und Werkstatten unterhalten und die auslandischen
Handwerker sollten in die deutschen als standige bzw. in die russischen Zunfte
als zeitweilige
oder als standige Meister,
falls sie die
russische
Staatsangehorigkeit erworben hatten, eintreten. Sie konnten v o m Zunfteintritt nur
befreit werden, w e n n ihre Werkstatt als Fabrik v o m D M V T anerkannt w u r d e .
894
Andernfalls w u r d e ihnen die gewerbliche Tatigkeit untersagt . Uber diese Frage
hat letztendlich Finanzminister E. F. Kankrin selbst entschieden und verfugte, die
Weberzunft zu griinden.
Bisher w o h n t e n die auslandischen W e b e r in der H a u p t s t a d t aufgrund der
Bescheinigungen der Auslandsabteilung des AdreBkontor (adresnaja
kontordf .
D a s W e b e r h a n d w e r k benotigte Platz und die Meister richteten ihre Werkstatten
in d e n a n g e m i e t e t e n W o h n u n g e n oft im A d m i r a l i t a t s v i e r t e l ein, w o d i e
iiberwiegende M e h r h e i t auslandischer Meister w o h n t e . So hatte z. B . der
Litzenhersteller Karl Zinserling sein H a n d w e r k in der Hauptstadt seit 32 Jahren
betrieben und insgesamt rund 200 Lehrlinge ausgebildet, die zuweilen selbst als
Meister oder Gesellen in anderen Werkstatten gearbeitet h a t t e n . Bisher hatte es
niemand gekiimmert, o b sie uberhaupt Steuern gezahlt hatten. A u f diese Weise
k o n n t e n die W e b e r jahrzehntelang steuerfrei arbeiten, w a s im Ausland bekannt
wurde und viele auslandische Meister dazu veranlaBte, in der Hauptstadt ansassig
95
896
894
Po proseniju zdeSnich tkackich masterov i vydace im vidov na polucenie svidetePstv dlja
svobodnogo proizvodstva rabot na ich neboPSich zavedenijach i ob ucrezdenii inostrannogo
cecha, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471,1. 4, 6, 12, 18.
895
Im AdreBkontor bekamen die zugereisten bauerlichen und auslandischen Handwerker ihre
Wohnerlaubnisse.
896
Ebd., 1. 19: ProSenie ot soderiatelja tesemocnogo zavedenija Karla Cinzerlinga ministru
finansov E. F. Kankrinu ot 22.06.1826; Vgl. bei Ivanova, Deutsche Handwerker, S. 28If.
zu werden. D a b e i spielte die Werbetatigkeit der russischen R e g i e r u n g im
Ausland, unter anderem in Sachsen und Bayern, eine groBe R o l l e .
Voriibergehend w u r d e n die auslandischen W e b e r in Anbetracht ihrer geringen
Anzahl und des kleinen Umfanges ihrer Betriebe v o n der Zunftbildung befreit.
Viele v o n ihnen erhielten Bescheinigungen v o m Wirtschaftsdepartement, die
dahingehend interpretiert werden konnten, daB es sich bei ihren Werkstatten um
Fabriken handelte. D a s D M V T akzeptierte, daB viele von ihnen keine Fabriken,
sondern „ H e i m g e w e r b e " (domasnie rukodelijd)
betrieben .
D e r G r u n d dafur, weshalb das D M V T dies zulieB, war die Aussicht, daB der
Meister seine Werkstatt in der naheren Zukunft zu einer Fabrik ausbauen wurde.
Der Meister hingegen nutzte diesen Umstand, um Steuern zu sparen, die er
andernfalls in der Zunft hatte entrichten mtissen.
V o n 1827 bis 1837 w u r d e n v o m D M V T i n s g e s a m t 22 B e s c h e i n i g u n g e n
a u s g e g e b e n . A m 12. Januar 1837 w i e s der Finanzminister erneut den St.
Petersburger Generalgouverneur an, die Bildung der Weberzunft voranzutreiben.
Es dauerte dann n o c h drei Jahre, bis die Zunft endlich gegriindet wurde. 1840 gab
es in St. Petersburg 68 russische und auslandische Meister bzw. Fabrikanten, die
Weberbetriebe v o n unterschiedlicher GroBe hatten. Die Meister selbst gehorten
verschiedenen sozialen Schichten an. Es gab unter ihnen 17 Zunftmeister, die in
v e r s c h i e d e n e n Z u n f t e n b e r e i t s M i t g l i e d e r w a r e n u n d v o n n u n an in die
Weberzunft iibertreten sollten, sowie 27 Auslander, acht Kaufleute, sieben
Kleinburger, 16 Bauern und Dienstleute. Dabei lassen sich einige Vergleiche
b e z u g l i c h der E n t w i c k l u n g d e s W e b e r h a n d w e r k s ziehen. So k o n n t e n die
auslandischen Meister Traugott Wilhelm B o h m e und Wilhelm Kress, beide aus
Sachsen, und Michael Limbrunner aus Bayern zwischen 1827 und 1840 ihre
Betriebe wesentlich v e r g r o B e m .
Im Verzeichnis der Weberzunft gab es auch solche Betriebe, die mit einer
Werkstatt w e n i g g e m e i n s a m hatten, d.h. eigentlich Fabriken waren. D a z u
gehorten z. B . die Gesellschaft der Tullfabrik (Obsdestvo tjulevoj fabriki), deren
Gesellschafter Ivan Bonenblust, EhrenbUrger und Kaufmann der ersten Gilde,
Ivan Segen, auslandischer Kaufmann und der Schweizer A d o l f Ganzenbach
waren. Diese Tullfabrik war mit 22 metallenen Webmaschinen und 26
Webstuhlen ausgestattet und beschaftigte 48 Arbeiter. Eine andere Fabrik gehorte
dem Kaufmann der zweiten Gilde Ferdinand Zimmermann. Sie war mit 58
897
898
899
897
4
Vgl. О predlozenii rossijskogo vice-konsula v Ljubeke Sletcera snabiat rossijskie fabriki
vsjakogo zvanija masterami, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 244; Erik Amburger, Die Anwerbung
auslandischer Fachkrufte Шг die Wirtschaft Russlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert.
Wiesbaden 1968.
898
OtnoSenie ministra finansov Kankrina к voennomu general-gubematoru ot 15.3.1827, in:
Ebd., 1. 42.
Webstuhlen und zwei M a s c h i n e n bestuckt und bot drei Meistern, 40 Arbeitern
und 20 Lehrlingen Arbeit. A u c h die Kattunfabrik des Manufakturrats Fedor
Bitepaz mit 39 W e b s t u h l e n und zwei Schleifmaschinen sowie einer
Dampfmaschine soli hier erwahnt werden. In seiner Fabrik wurden zwolf Arbeiter
und 20 Lehrlinge beschaftigt. Der gewahlte Zunftalteste der Weberzunft Friedrich
Rudert selbst hatte eher eine kleine Fabrik, die mit 27 Webstuhlen ausgestattet
war und in der 14 Arbeiter und 27 Lehrlinge beschaftigt wurden. Im allgemeinen
wurden aber Weberwerkstatten mit funf bis zehn Beschaftigten in kleinen
W o h n u n g e n eingerichtet .
Wie ersichtlich ist, ging die Initiative fur die Griindung dieser Zunft v o m
Finanzminister Kankrin aus, der daran AnstoB nahm, daB die meisten W e b e r der
Stadt, mit A u s n a h m e der Kaufleute, keine Steuern zahlten. Es standen also
eindeutig fiskalische Motive im Vordergrund. Die Griindung vollzog sich auf
folgende Weise. D e r Generalgouverneur von St. Petersburg wandte sich an das
Handwerksoberhaupt der deutschen Zunfte und verfugte iiber die Griindung der
Weberzunft. Die U m s e t z u n g des Befehls durch das Handwerksoberhaupt envies
sich als problematisch. Die Handwerksverwaltung der deutschen Zunfte sollte
zuerst das organisatorische Problem iiberwinden, alle Meister in der allgemeinen
Zunftversammlung zusammenzubringen. Die Mehrzahl der W e b e r folgte dieser
Einberufung nicht. Es erschienen nur 19 Weber. AuBerdem beklagte sich der
Zunftalteste Rudert, daB die meisten Weber mit groBeren Werkstatten bzw.
F a b r i k e n a u B e r h a l b d e r S t a d t g r e n z e w o h n t e n , w o d u r c h sie v o n d e r
Zunftmitgliedschaft befreit wurden, ihre Waren aber ebenfalls in der Stadt
absetzten. D e s w e g e n befanden sie sich im Vergleich mit den stadtischen W e b e m
in einer vorteilhaften Stellung. V o n einem Zunftmonopol konnte hier uberhaupt
keine Rede sein, weil, wie oben erwahnt, das Weberhandwerk in der ersten Halfte
des 19. Jahrhunderts durch starke Umstrukturierungen und durch U m w a n d l u n g
eines Teils der Betriebe in Fabriken gepragt war. Die Weber, die ihr H a n d w e r k
in kleinerem Umfang betrieben, losten ihre Werkstatten auf und gingen anderen
Beschaftigungen nach. So wurden die armeren Stadtweber, die der Konkurrenz
ausgesetzt waren und durch zusatzliche Zunftabgaben noch mehr belastet wurden,
in noch groBere A r m u t g e s t u r z t .
900
901
Die Bestrebung nach einer Abgrenzung von den anderen Handwerksarten und die
MaBnahmen zur B e g r e n z u n g der nichtziinftigen Handwerker zeichneten sich
n i c h t n u r in d e n o b e n e r w a h n t e n Z u n f t e n a b , s o n d e r n a u c h in d e r
Speiseherstellerzunft. 1831 beklagte sie sich beim Handwerksoberhaupt, daB „die
900
Vedomost' tkackim zavedenijam, su§6estvuju§dim v S. Peterburge. Podana ot voennogo
general-gubernatora к ministru finansov (1840), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 471,1. 103.
901
Zapiska tkackogo mastera Ruderta, in: Ebd., 1. 106.
Kellner, K o c h e und Kochinnen in der Stadt ihrem H a n d w e r k nachgingen, ohne
s i c h in d i e e n t s p r e c h e n d e
Zunft
einzuschreiben"
9 0 2
.
Sie baten
Handwerksoberhaupt, den MiBbrauch zu beseitigen. Der bertihmte
das
St.
Petersburger Dachdecker Petr Teluskin wurde ebenfalls 1831 v o n einer anderen
Zunft bezichtigt, in seiner Werkstatt Arbeiter zu beschaftigen, ohne der Zunft
903
anzugehoren .
Wie die verschiedenen, vorwiegend deutschen Zunfte versuchten, das M o n o p o l
auf das Z u n f t h a n d w e r k durchzusetzen, soil an einigen Beispielen erlautert
werden. Insgesamt ereigneten sich die meisten Streitfalle zwischen den Zunften
und verschiedenen Handwerkern u m die alleinige Ausiibung des jeweiligen
H a n d w e r k s in der zweiten Halfte der 20er bis Ende der 50er Jahre des 19.
Jahrhunderts.
So baten im Fruhjahr 1826 die Stecher der deutschen Zunft und im Fruhjahr 1828
die Klavierbaumeister der russisch-deutschen Zunft den Finanzminister u m die
Beschrankung der Apotheker und der nicht einer Zunft
angehorenden
Klaviermeister und -stimmer in ihrer Tatigkeit. Die Klavierbauer baten, die
Anzahl der Meister in der Hauptstadt auf 45 zu verringern und den nichtzunftigen
Meistern das H a n d w e r k zu verbieten. Sie w i e s e n auf drei Ursachen ihrer
schweren Lage hin. Erstens gab es in der Hauptstadt eine Uberzahl an zunftigen
Klavierbauern, die den anderen zunftigen Meistern die Arbeit wegnahmen.
Zweitens gab es nichtzunftige Klavierbauer, die verbotenerweise Gesellen und
Lehrlinge beschaftigten. Drittens storten die Klavierstimmer das H a n d w e r k der
K l a v i e r b a u e r , die
Musikinstrumente nicht nur stimmten, sondern auch
reparierten, w a s nur d e m zunftigen Meister vorbehalten war. K a n k r i n war
dagegen, die Meisteranzahl zu verringern. Z w a r untersttitzte er die Forderung der
Ziinfte, das Zunfthandwerk den nichtzunftigen H a n d w e r k e r n zu verbieten,
befurwortete aber die Aufhahme aller Meister in die Ziinfte, w a s die interne
Konkurrenz noch mehr verscharfen sollte. Dadurch v e r s c h w a m m e n die Grenzen
904
des Zunftmonopols bis zur U n k e n n t l i c h k e i t .
Im September 1843 erteilte der Innenminister dem Zunftaltesten der deutschen
Musikinstrumentenbauerzunft Schroder und seinem Stellvertreter Schaf einen
902
Ocerki istorii Leningrada, S. 33f.
903
Im Herbst 1831 wurde er dadurch beruhmt, daB er Reparaturarbeiten an der Domspitze der
Peter- und Paulus Kirche durchfiihrte, ohne dabei ein Baugeriist zu benutzen.
904
Ot ministra finansov Kankrina к S. Peterburgskomu general-gubernatoru ot 1 aprelja 1826
goda, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 489: Po proseniju starSin russkogo i nemeckogo
instrumental nogo cecha о zapre§£enii licam ne prinadlezaScim к cechu zanimat sja ich
remeslom (1826), hier 1. 2.
4
4
s t r e n g e n V e r w e i s , n a c h d e m sie sich seit 1840 w e i g e r t e n , „ d e n
besten
905
Klavierbauer der H a u p t s t a d t " , den Englander Lichtental, ungeachtet seiner
wiederholten Beitrittsantrage, in die Zunft aufzunehmen. Der Grund dafur war,
daB Lichtental kein Zunftzeugnis besaB, da zu dieser Zeit in England schon
Gewerbefreiheit
h e r r s c h t e , Z u n f t e also g a r n i c h t m e h r e x i s t i e r t e n .
Die
Meisterpatente, die Lichtental v o m englischen Prinz Albert bzw. v o m belgischen
K o n i g als Hoflieferant des e n g l i s c h e n u n d b e l g i s c h e n H o f e s
ausgestellt
b e k o m m e n hatte, halfen ihm nicht weiter. Einige Meister der Zunft verweigerten
die Aufhahme. Die A n w e i s u n g des Staatsrates und des Leiters der K o m m i s s i o n
fur die Verbesserung der Steuereinnahmen der Hauptstadt, Smirnov, Lichtental
innerhalb zweier M o n a t e aufzunehmen, wurde v o m Zunftaltesten ignoriert. N a c h
d e m Verlauf v o n zwei M o n a t e n w a n d sich Smirnov an das Handwerksoberhaupt
der deutschen Zunfte mit dem Vorschlag, dem Zunftaltesten der genannten Zunft
die zweiwochige Frist zu gewahren, n a c h d e m er der K o m m i s s i o n uber die
erfolgte Aufhahme Bericht erstatten sollte. A u c h das Handwerksoberhaupt lieB
den Vorschlag Smirnovs unbeantwortet.
Solch eine beispiellose Eigenwilligkeit ware z. B . im damaligen PreuBen nicht
906
denkbar g e w e s e n . D a s heiBt, daB wahrend sich von einer Seite die erdruckende
vor allem steuerliche Last des russischen Staates und seine
feindliche
Gegenuberstellung jeder AuBerung der freien unternehmerischen Initiative dauern
spuren lieB, v o n anderer Seite w e n n nicht die rechtlichen dann doch bestimmte
„ F r e i r a u m e " b e s t e h e n s o l l t e n , die die E n t f a l t u n g d e s
Unternehmertums
begunstigten. Diese Sichtweise kann einige sich widersprecheden Gegebenheiten
der russischen Geschichte zusammenzubringen helfen. Einerseits sollen diese
Freiraume aufgespurt werden, wodurch es moglich wird, die konstatierten
G e g e b e n h e i t e n in d e r r u s s i s c h e n G e s c h i c h t e , d i e b e i i h r e r
Beruhrung
unvermeidlich in einen Widerspruch geraten, besser zu erklaren. Andererseits
sollen wir im A u g e behalten, daB es „nur tendenziell der Fall war", daB sich in
RuBland
„des
19. J a h r h u n d e r t s tatsachlich
politische
und
soziale
Rahmenbedingungen entwickelt [hatten], die dem dortigen Unternehmertum nicht
n u r die C h a n c e zu sozialer E m a n z i p a t i o n u n d politischer M i t b e s t i m m u n g
905
Ministr vnutrennich del Perovskij S. Peterburgskomu voennomu general-gubernatoru ot 30
sentjabrja 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 137: Po proseniju starSin nemecko-muzykaPnoinstrumental 'nogo cecha о nepraviPnom domogatePstve anglijskogo poddannogo Lichtentalja
v prinjatii ego v skazannyj cech, hier 1. 8ff.
906
Vgl. Kocka, Stand, S. 26; Bergmann, Handwerk, S. 46ff.
geboten, sondern v o r allem auch den benotigten o k o n o m i s c h e n F r e i r a u m
907
geschaffen h a t t e n " .
Smirnov wies richtig darauf hin, daB die deutsche Musikinstrumentenbauerzunft
ein M o n o p o l in der Stadt einrichtete, die A u m a h m e neuer Meister verweigerte
u n d durch die Unterdriickung der zunftfreien Meister bekannt war. Es gab Falle,
in d e n e n die M u s i k i n s t r u m e n t e n b a u m e i s t e r w a h r e n d der Prufung
falsche
Bauplane von der zunftigen Pruftmgskommission erhielten, nach denen sie nur
untaugliche Instrumente bauen konnten und dadurch die Prufung nicht bestanden.
Die Folge fur sie w a r das Verbot der Ausiibung des H a n d w e r k s , da, wie Smirnov
ebenfalls bemerkte, kein Meister in der Stadt mit A u s n a h m e der Meister, die
keine Gesellen und Lehrlinge beschaftigten, zunftfrei arbeiten durfte. Lichtental
w u r d e schlieBlich nach einem strengen Verweis seitens des Innenministers in die
908
Zunft a u f g e n o m m e n . Er w a r so erfolgreich, daB seine Werkstatt 1862 30
„Arbeiter" hatte und im Jahr 110 Klaviere fur 54.560 Rubel oder umgerechnet
4 9 6 Rubel j e Instrument b a u t e
909
.
A u c h in der deutschen Schneiderzunft laBt sich ein Beispiel finden. D e m Pariser
Schneidermeister S e r v ' e wurde die A n e r k e n n u n g verweigert, ungeachtet dessen,
daB d i e P a r i s e r M o d e fur d i e St. P e t e r s b u r g e r S c h n e i d e r
richtungsweisend
stilistisch
war. Sein Problem war derselben Natur wie das der Meister aus
910
England: Es gab dort keine Ziinfte, die entsprechende Meisterdiplome erteilten .
D a s Verhaltnis zwischen der Kommission unter der Leitung Smirnovs und den
Zunften war ambivalent. E s gab Falle der scharfen Konfrontation mit den Zunften
aber auch enge Zusammenarbeit, j e nachdem, was die Zunfte gerade bezweckten.
907
Klaus Heller, Industrielles Untemehmertum in RuBland vor 1917: Politische, okonomische
und soziale Rahmenbedingungen, in: Bernd Heidenreich, Klaus Heller, Martin Hoffmann
(Hrsg.), RuBlands unternehmerische Vergangenheit: Ein Wegweiser in die Zukunft? (Giessener
Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europaischen Ostens Bd. 219), Berlin
1996, S. 9-29, hier S. 15f.; Ruckman, The Moscow Business Elite; J. Rieber, Merchants and
Entrepreneurs im Imperial Russia. Chapel Hill 1982.
908
Ministr vnutrennich del Perovskij S. Peterburgskomu voennomu general-gubernatoru ot 30
sentjabrja 1843 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 137,1. 12f.
909
910
Statisticeskie svedenija о fabrikach i zavodach v S. Peterburge za 1862g., SPb. 1863, S. 3.
Ob-jasnitel'naja zapiska i otnoseme voennogo general-gubernatora к m.v.d ot 18.11.1846, in:
RGIA, f. 1287, op. 37, d. 451: Po otnosenijufrancuzskogopoverennogo v delach grafa Renvalja
о zatrudnenijach, pricmjaemych francuzskomu poddannomu Serv'e peterburgskoj remeslennoj
upravoj v priznanii ego masterom portnogo remesla (17. November 1846-5. Februar 1847), hier
1. 4, 6.
So lud 1843 das Handwerksoberhaupt der d e u t s c h e n Zunfte den Inhaber einer
S c h r e i n e r w e r k s t a t t , v o n der B e c k , u n d d e n I n h a b e r einer W e r k s t a t t zur
Herstellung v o n Streichholzern, Lejce, m e h r e r e M a l e ein, in die deutsche
Schreinerzunft einzutreten, obwohl sie es offensichtlich vermeiden wollten.
Sowohl das Handwerksoberhaupt als auch Staatsrat Smirnov bestanden diesmal
911
darauf . Uberhaupt bemerkte Baron Julij Fedorovie Korf noch 1840, daB es in
St. Petersburg eine ziemlich groBe Zahl auslandischer Meister gab, die keiner
Zunft angehorten. Ungeachtet dessen betrieben sie ihre Werkstatten in der
Hauptstadt auf G r u n d einer schriftlichen Erlaubnis des Handwerksoberhauptes
Dietmar, so konnte er sie vollig willkurlich besteuern.
Die Zunfte in St. Petersburg erlebten zwischen den 30er und den 50er Jahren des
19. Jahrhunderts eine Aufschwungphase, in der sie ihre Monopolrechte besonders
konsequent durchsetzten. W i e sie ihre Anspriiche geltend machten, ist aus
mehreren D o k u m e n t e n ersichtlich, wobei auch fur die bekannten Meister keine
A u s n a h m e n gemacht wurden. Der auslandische Uhrenmacher Bernhard Florian
k o n n t e bei d e r H a n d w e r k s v e r w a l t u n g h o h e A u s z e i c h n u n g e n
von
der
Allrussischen Okonomischen Gesellschaft vorweisen und erhielt fur seine Uhren
wahrend der Manufakturausstellung v o m Finanzminister eine Pramie, mit der er
1850 eine Werkstatt griinden konnte. Das half ihm j e d o c h wenig, als er seinen
Eintritt in die Uhrenbauerzunft beantragte. Er beschwerte sich am 2 5 . Februar
1850 beim D M V T , daB die Handwerksverwaltung von ihm ein Meisterstiick
vorzuweisen verlangte, dessen Kosten so hoch fur ihn waren, daB es seinen
K o n k u r s bedeutet hatte. E r sollte fur die Herstellung des Meisterstiicks drei
M o n a t e v e r w e n d e n , alle Auftrage liegen lassen und damit seine Einkiinfte
streichen. AuBerdem sollte er sich in die dritte Kaufinannsgilde einschreiben, weil
er einen kapitalintensiven Betrieb hatte, in dem mit Geratschaften fur 10.000
Silberrubeln gearbeitet wurde u n d in dem er mit sechs Facharbeitern innerhalb
und vier auBerhalb der Werkstatt in einem Jahr fur 4.000 Silberrubel Uhren
912
herstellte . Florian sollte durch die aufwendige Priifung zu Grunde gerichtet
werden, um seine Gewerbetatigkeit zu verhindern.
Erwahnenswert ist auch der Fall des Kaufmanns der zweiten Gilde §6ankin, den
911
Po zapiske statskogo sovetnikaN. Smirnova о nejavke inostrannych masterov, in: RGIA, f.
1287, op. 37, d. 141,1. 1.
912
Po pros'be inostranca Floriana о predostavlenii emu Pgot ot plateza giPdejskich povinnostej
po ustrojstvu dasovogo zavedenija (1850), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1424,1. 6, 8, 13, 19.
der Alteste der GUrtlerzunft, Stepan Praslov, regelrecht verfolgte, wofur dieser
v o m Generalgouverneur v o n St. Petersburg fur eine kurze Zeit sogar verhaftet
wurde. Im Januar 1850 beantragte Sdankin bei der Handwerksverwaltung seine
Aufhahme als zeitweiliger Meister in die russische Sattlerzunft. Praslov schickte
zunachst zwei Zunftmeister zur Uberprtifung seiner Werkstatt, wobei der eine
ihm berichtete, daB §£ankin sein H a n d w e r k verstehe, der andere aber, daB er kein
Meistersttick vorweisen k o n n e . D a s zweite M a i ging Praslov personlich mit
einem vereidigten Meister z u Sdankin, traf ihn aber nicht zu H a u s e an. Wie es aus
den Archivdokumenten hervorgeht, bestand zwischen Praslov u n d Scankin eine
Feindschaft, wobei ersterer alle Mittel darauf verwendete, die Werkstatt v o n
§6ankin zu schlieBen und ihm seine Gewerbetatigkeit zu verbieten. Praslov
argumentierte
damit,
daB die B e l e g s c h a f t
in W e r k s t a t t
nicht der
Betriebshierarchie einer Werkstatt entsprach. Einer der Beschaftigten, die alle
bauerlichen Standes waren, w u r d e namlich in seiner Adressenbescheinigung
(adresnyj
bilet)
als einfacher Arbeiter (cernorabocy)
bezeichnet. Einfache
Arbeiter durften offiziell nicht im H a n d w e r k beschaftigt werden, in der Praxis
j e d o c h w a r dies g a n g u n d g a b e
913
.
Die Politik der Regierung bezweckte einerseits die Organisation der Wirtschaft,
andererseits die U n t e r b i n d u n g der unangemessenen M o n o p o l a n s p r u c h e der
Zunfte, die a u f d e m ersten u n d zweiten HandwerkerkongreB ihre Interessen
deutlich machten. A u f dem ersten HandwerkerkongreB in St. Petersburg im Jahre
1900 schlugen die St. Petersburger Zunfthandwerker genau w i e 1859 vor, die
Einfuhr fertiger Kleidung in die Hauptstadt zu verbieten, weil „die Schneider in
der Provinz w e g e n niedriger Herstellungskosten gefahrliche Konkurrenten" fur
die stadtischen seien. D e s weiteren wollten die Handwerksverwaltungen einiger
Provinzstadte die Besteuerung der Landhandwerker einfuhren, w a s sie ebenfalls
914
nicht durchsetzen k o n n t e n . So versuchten z. B . die Zunftverwaltungen u n d die
Stadtdumen der Stadte B o l c h o v u n d Serpejsk d e s Orlovsker u n d Kaluzsker
G o u v e r n e m e n t s in d e n J a h r e n z w i s c h e n
1 8 8 5 u n d 1 8 9 2 d i e Pflasterer,
Erdarbeiter, Zimmerer, Maurer, Steinschleifer u n d Stuckarbeiter zu besteuern,
915
w o g e g e n sich die Leiter des Finanz- u n d Innenministeriums a u s s p r a c h e n .
9 . 3
Po ukazu pravitePstvujiScego Seiiata о prekraScenii dela po zalobe starsmy Sornogo cecha
Praslova ob arestovanii ego pri remeslennoj uprave (1852-1854), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1449,
1. l,23f., 26f.
9 . 4
915
A.P., NaSi remeslenniki, in: RB 1900, Nr. 4, S. 160-172, hier S. 165.
4
Po voprosu v prave li gorodskaja duma i remeslennye obScestva vzimat s mostov§£ikov,
zemlekopov, plotnikov, kamenSdikov, kamenotesov i Stukaturov [...] ot zapiski v cech, osobyj
sbor v dochod gorodskoj i remeslennoj kazny, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d. 2265,1. If.
A u f d e m zweiten HandwerkerkongreB in St. Petersburg im Jahre 1911 gingen die
Zunfthandwerker in ihren Forderungen noch weiter und verlangten, den Z u g a n g
in das H a n d w e r k s g e w e r b e all denjenigen zu verbieten, die nicht d e m Stand der
Z u n f t h a n d w e r k e r angehorten, u n d diese R e g e l u n g fur g a n z RuBland o h n e
A u s n a h m e fur gultig zu e r k l a r e n . Die Einfuhrung des Zunftmonopols in
RuBland sollte zur Existenzsicherung des Zunfthandwerks beitragen.
In St. P e t e r s b u r g w u r d e n i n f o l g e der A n s p r u c h s e r h e b u n g d e r
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g d i e H a n d l e r , die fertige K l e i d u n g verkauften und
sogenannte Stuckwarenverkaufer (stuMki) den Zunftregelungen unterworfen und
mit einer Sondersteuer belegt. Mehreren Konditorenmeistern, welchen nicht
genugend Kapital zur Verfugung stand, wurde es so unmoglich gemacht, ihre
eigenen Konditoreien zu griinden. Sie sollten statt dessen als Konditoren bei
Backereien arbeiten. Diese Konditoren konnten dort alle notigen Werkzeuge
b e n u t z e n , w a r e n n i c h t d a z u g e z w u n g e n , die G e s e l l e n u n d L e h r l i n g e zu
unterhalten und konnten in den Kramerhandelsstuben alle benotigten Rohstoffe
einkaufen. Die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g half solchen Meistern nicht, sondern
verfolgte sie und sturzte sie durch das Verbot ihrer Tatigkeit in die A r m u t .
In diesem Z u s a m m e n h a n g sei an die Worte von Enne zu erinnern, der das
Problem der Existenz vieler nichtzunftigen Handwerkern mit den
Monopolbestrebungen der Zunfte verband:
916
917
„ M a n wird j e d o c h k a u m fehlgehen, w e n n m a n das P r o b l e m des
, A m t s s t o r e r s ' als P a r a l l e l e r s c h e i n u n g zur E r s c h w e r u n g des
Zunfteintritts und des Meisterwerdens a n s i e h t " .
918
9.1.2 Die M o n o p o l k a m p f e zwischen den Zunften
Damit sei das von den Zunften angestrebte Monopolrecht auf die Ausiibung des
Zunfthandwerks in der russischen Hauptstadt geklart. Die Monopolbestrebungen
der Zunfte wurden nicht nur in der Begrenzung des nichtzunftigen H a n d w e r k s
sondern auch in den Auseinandersetzungen der Zunfte untereinander deutlich.
Ende der 1820er Jahre ftihrten z. B . die Streitigkeiten zwischen der Backerzunft,
der Wyborger WeiBbrotbackerzunft, der Pralinen- und Lebkuchenzunft und der
Konditorenzunft dazu, dass 1830 der St. Petersburger Generalgouverneur Graf
Essen ein Untersuchungsverfahren einleitete, indem die Stadtduma klaren sollte,
916
B. Bogdanov, Itogi remeslennogo s-ezda. In: Nasa zarja (1911), Nr. 2 (Februar), S 62-75, hier
S. 71.
9 . 7
Trudy komissii, a. 1, S. 79.
welche Waren die Meister der Lebkuchen- und Pralinenmacherzunft und welche
nur die Konditorenzunft herstellen d u r f t e .
Die Konditoren beschwerten sich namlich, daB die ersteren Pralinen herstellten,
w a s angeblich nur den Konditoren zustand. Zuerst verbot die Stadtduma den
Meistern der Lebkuchen- und Pralinenmacherzunft die Herstellung der Pralinen,
n a c h d e m die Polizei bei funf Meistern Pralinen konfisziert hatte und nach einer
Prtifung gesundheitsschadigende Zutaten festgestellt worden waren. Die Meister
der o b e n g e n a n n t e n Zunft fanden sich mit d i e s e m V e r b o t nicht ab und
beschwerten sich beim Senat, der wiederum verfugte, diese Angelegenheit noch
einmal durch das erste Departement des Stadtmagistrats iiberprtifen zu lassen.
D a s erste Departement stellte fest, dass die Lebkuchen- und Pralinenmacherzunft
schon vor 1785 gegrundet wurde, wobei es 1789 in dieser Zunft dreizehn Meister,
57 Gesellen und 61 Lehrlinge gab. Die Konditorenzunft hatte sich 1804 v o n der
ersten abgetrennt und existierte seitdem selbstandig, wobei sie hauptsachlich
deutsche u n d andere westeuropaische Konditoren v e r s a m m e l t e , die fruher
Mitglieder der russischen Zunft waren.. Als die deutsche Konditorenzunft schon
einige Zeit bestand, fing sie an, ihre Anspriiche geltend zu machen.
Somit w u r d e zuerst der Ursprung der Konditorenzunft geklart. Im weiteren
V e r l a u f d e r U n t e r s u c h u n g s t e l l t e s i c h h e r a u s , d a s s d i e A n s p r i i c h e der
Konditorenzunft unbegrtindet waren, da in der Stadt durch die Preispolitik und
territoriale Verteilung der Betriebe beider Zunfte sowie durch die Absatzstrategie
u n d v e r s c h i e d e n e s o z i a l e K u n d e n g r u p p e n seit a l t e r s h e r e i n e nattirliche
V e r m e i d u n g einer moglichen Konkurrenz zustande g e k o m m e n war bzw. die
Monopolrechte auf nattirliche Weise geschtitzt waren. Die Konditoren hatten ihre
Geschafte bzw. Kaffeehauser in der Stadtmitte und verkauften die Pralinen oder
Tortchen fur zweieinhalb bis sechs Papierrubel j e Pfund an die wohlhabende
Kundschaft. Die Meister der Lebkuchen- und Pralinenmacherzunft boten dagegen
ihre Pralinen fur nicht mehr als 1,2 Papierrubel j e Pfund in den abgelegenen
Stadtbezirken oder dort an, w o uberwiegend die bauerliche und werktatige
B e v o l k e r u n g w o h n t e z. B . in den dritten Admiralitats-, Litejner-, Kazaner-,
M o s k a u e r - o d e r S p a s s k e r - S t a d t v i e r t e l n . D i e s e Artikel w a r e n t r a d i t i o n e l l e
StiBigkeiten der Volksktiche, einfache Pralinen aus Zucker und Honig ohne
Ftillung, L e b - und Pfefferkuchen mit Honig oder M o h n und a h n l i c h e s .
U m einen KompromiB zwischen den beiden Ztinften zu erreichen, schlug die
Regierung vor, den N a m e n der Lebkuchen. U n d Pralinenmacherzunft zu andern
und sie von n u n an nur noch „Lebkuchenzunft" zu nennen. Der Versuch der
919
920
919
Raport kolezskogo sovetnika Starikova ministru vnutrennich del ot 15.03.1844, in: RGIA, f.
1287, op. 37, d. 95: Po zapiske о vospreScenii bulocnikam i pekarjam belogo chleba v S.
Peterburge proizvodit* torgovlju konditerskimi izdelijami (31.10.1842-16.2.1846), hier 1. 53-56.
920
ProSenie konfektnych masterov Akakija Stachieva, Micheja Jakovleva, Egora Moiseeva i
Petra Michajlova ministru vnutrennich del Perovskomu ot 18.12.1844, in: Ebd., 1. 73.
russischen Meister, eine eigene Konditorenzunft zu griinden, in der nur die
Meister russisch-orthodoxen Glaubens sein sollten, scheiterte an der Unwilligkeit
der deutschen Konditorenzunft und wurde mit dem SenatserlaB 1839 beendet. Die
Meister dieser Zunft sollten laut dem SenatserlaB o h n e Prufung in die deutsche
K o n d i t o r e n z u n f t a u f g e n o m m e n w e r d e n , d o c h die A u f n a h m e verlief nicht
reibungslos und erfolgte erst nach einem langjahrigen Rechtsstreit. Es bedurfte
zweier Senatserlasse, den v o m 2 8 . N o v e m b e r 1841 und den v o m 2 3 . August
1844, die ausdriicklich die Aufnahme der russischen Meister forderten. D o c h der
Zunftalteste und seine Stellvertreter fanden sich damit nicht ab und reichten 1845
z u m dritten Mai bei der Gouvernementsverwaltung ein Gesuch uber die angeblich
n i c h t k o r r e k t d u r c h g e f t i h r t e P r u f u n g der r u s s i s c h e n M e i s t e r e i n . D i e
Gouvernementsverwaltung stellte sich auf die Seite des Zunftaltesten und erst der
dritte SenatserlaB v o m 2 5 . Juli 1846 loste diese Frage endgultig. Die russischen
Pralinenmeister sollten gegebenenfalls der russisch-deutschen Konditorenzunft
beitreten .
Der Senat erklarte die Vorgehensweise der Konditorenzunft, die die Anzahl der
Meister begrenzen sollte und dadurch das M o n o p o l auf das Konditorenhandwerk
informell einzufuhren versuchte, als unzulassig und verwies wiederholt darauf,
daB d i e K o n d i t o r e n z u n f t d e n M e i s t e r n d e r g e s c h l o s s e n e n r u s s i s c h e n
Konditorenzunft keine Hindernisse in den W e g legen durfte. Die bestehende
Konditorenzunft, in der die auslandischen Meister die Oberhand behielten und w o
augenscheinlich eine klare nationale Trennlinie mit einer starken Farbung durch
das andere Glaubensbekenntnis verlief, folgte den Senatserlassen nicht 1839: im
Gegenteil erreichte sie die SchlieBung der russischen Konditorenzunft .
A u c h ihr g e r i n g e s h a n d w e r k l i c h e s K o n n e n m a c h t e e s d e n r u s s i s c h e n
Konditormeistern u n m o g l i c h in eine der B a c k e r oder Konditorenziinfte zu
gelangen. Sie stellten einfachere Waren der „zweiten Sorte" fur die niederen
Schichten der Bevolkerung her, w a s sie auch selbst betonten: Kenntnisse in der
Destination aller benotigten Ole und Essenzen, im Malen, in der Mythologie,
Allegorie, Geschichte, Bildhauerei, Modellschnitzkunst der Figuren und des
H o c h - und Flachreliefs u n d in der C h e m i e hatten sie sich aufgrund der
Ausbildungssituation nicht angeeignet.
W e m gegenuber die Konditorenzunft die Monopolanspriiche eigentlich hatte
9 2 1
922
923
921
Prosenie rossijskogo konditerskogo cecha masterov Aleksandra Ivanova, Ivana Nikitina,
Alekseja Abramova, Prokofija Afanas'eva, Kuz'my Ivanova i Tarasa Vorob'eva m.v.d.
Perovskomu ot 4.10.1845, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 369: Po ukazam Senata о dostavlenii
zakljucenija, sleduet li pri&slit' к Peterburgskomu konditerskomu cechu tech masterov, kotorye
sostojali v unidtozennom russko-konditerskom cechu (Oktober 1845 - Juli 1846), hier 1. 3.
922
Prosenie masterov russkogo i nemeckogo konditerskogo cecha ministru vnutrennich del
Perovskomu ot 13.07.1844, und Kopijaukaza Senata ot 23.08.1844, in: Ebd., 11. 61, 70f.
923
Ukaz Senata ot 25.07.1846, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 369: Po ukazam, hier 1. 1 Iff.
geltend m a c h e n mtissen, waren die Kaufleute, die ein unbegrenztes Recht hatten,
Kaffeehauser zu unterhalten u n d Konditorenmeister u n d -gesellen zu
beschaftigen. Die Backer stellten ebenfalls Konditorengesellen ein, mit deren
Hilfe sie verschiedene Konditoreiwaren wie Schokolade, Torten und anderes
herstellten. G e g e n MonopolverstoBe wurde auch mit Razzien vorgegangen. So
w u r d e die Polizei am 19. Dezember 1844 in den zentralen dritten und vierten
Admiralitatsvierteln sowie am 30. Januar 1845 im Litejner- und wieder im dritten
A d m i r a l i t a t s v i e r t e l i n s g e s a m t s i e b e n B a c k e r n fundig, d i e m i t Hilfe der
Konditorengesellen Konditorenwaren herstellten und das, n a c h d e m vorher alle
der Zunft zugehorigen Backer eine verbindliche Verzichtserklarung auf die
H e r s t e l l u n g d e s K o n d i t o r e n s o r t i m e n t s u n t e r s c h r i e b e n h a t t e n . In d i e s e n
Backereien w u r d e n v o n der Polizei alle Konditorenwaren b e s c h l a g n a h m t .
Bis z u m Fruhling des nachsten Jahres 1845 erreichte die Verfolgung der Backer
der Stadt seitens der Konditorenzunft ein solches AusmaB, daB zum 8. M a r z
dieses Jahres 27 Backermeister mit Strafen belegt und ihre N a m e n in Zeitungen
veroffentlicht wurden. E s ging hier eigentlich um das Warensortiment, das die
hauptstadtischen Backer seit 50 Jahren ungestort parallel zu der Lebkuchenzunft
herstellten .
924
925
Der langwierige Streit zwischen den beiden Zunften laBt sich teilweise durch die
Stellung der Zunftobrigkeit erklaren, in der personliche A b n e i g u n g e n u n d
MiBstimmungen eine groBe Rolle spielten. Welche unkonventionelle Formen die
Streitigkeiten zwischen den Zunften einnehmen konnten, zeigt das Beispiel des
ehemaligen Konditorenzunftakesten Tobias Branger, der in den 30er und 40er
Jahren des 19. Jahrhunderts an den Streitfragen zwischen seiner Zunft und den
Backern aktiv teilnahm. 1850 hatte er seinen Betrieb aufgegeben und eine
Okonomstelle im St. Petersburger Burger-Klub inne, mischte sich aber kraftig in
die Angelegenheiten der Zunfte ein: „Sein HaB auf die Backer" veranlaBte ihn
926
dazu, Unruhe in der Nudelherstellerzunft gegen die Backerzunft zu stiften .
Baron K o r f charakterisierte 1842 das Verhalten der hauptstadtischen deutschen
Zunfte als eindeutig monopolistisch. Das sollten folgende Indizien belegen:
924
Spravka ot janvarja 1845 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 95: Po zapiske, hier 1. 84.
925
Prosenie IogannaNikolaevi6a Smidta ministru vnutrennich del Perovskomu ot 8.03.1845, in:
Ebd., I. 95.
926
Prosenie masteric makaronnogo cecha к m.v.d. ot 28.04.1850; Donesenie ot 6inovnika
osobych porucenij kolezskogo sovemika Grota к m.v.d. ot 16.05.1850; Prosenie T. Branzera к
upravljajusemu m.v.d. Sergeju Stepanovidu Lanskomu ot 24.07.1851, in: RGIA, f. 1287, op. 37,
d. 846: Po proseniju masteric makaronnogo peterburgskogo makaronnogo cecha Eleny
Michajlovny Petrovoj i Evdokii Kubovoj о zapre&enii bulocnikam prigotovljat' makarony (1.
Mai 1850 - 7. September 1851), hier 11. If., 4ff., lOf.
1.
Die Zunfte verlangten von den neuen Meistern Eintrittsgelder in H o h e von
100 bis 4 0 0 Rubel, obwohl sie hochstens 10 Rubel verlangen durften.
2.
In den Zunften wurde kompromiBlos gepruft, o b die Fahigkeiten und
Produktionsmoglichkeiten des Bewerbers alien russischen Gesetzen und
daruber hinaus denen eines Meisters in Westeuropa entsprachen.
3.
Durch die Forderung eines nur mit hochster Aufwand herzustellenden
Meisterstucks, wurden die Meister in den finanziellen Ruin getrieben.
4.
Die Uberprtifung des Meisterstticks wurde rigorosen Bestimmungen
unterworfen.
5.
Die Vielzahl von langwierigen Prozessen zwischen einzelnen Ztinften und
Meistern stellte ein Hindernis in der Entwicklung des H a n d w e r k s d a r .
D e m Bericht Korfs zufolge gab es in St. Petersburg eine Vielzahl von Meistern,
die nie eine Chance hatten, in die Zunft eintreten zu konnen.
Die rigorose V o r g e h e n s w e i s e der Konditorenzunft fuhrte dazu, daB sie anfangs
eine genaue Sachbeschreibung der zur Herstellung erlaubten Waren und der dazu
benotigten Ingredienzien seitens des ersten Departements des Stadtmagistrats
noch am 24. Januar 1838 aufgestellt bekamen, u m „zwischen der Backer- und
Konditorenzunft die Einigkeit und das Einvernehmen zu b e w a h r e n " .
AuBer der strengen A b g r e n z u n g des Produktsortiments der Konditorenzunft v o n
den anderen Ztinften erreichte diese Zunft, daB die Anzahl der Kaffeehauser in St.
Petersburg v o m Innenminister festgelegt wurde. So kam es, daB in nur zwei
J a h r e n zu d e n im M a r z 1844 v o r h a n d e n e n 2 0 K a f f e e h a u s e r n , die d e n
Z u n f t h a n d w e r k e r n a n g e h o r t e n , n u n weitere 26 h i n z u k a m e n . N a c h d e m die
Besitzer der 20 Kaffeehauser, unter denen es funf Kaffee-Restaurants gegeben
hatte, sich beschwert und darauf bestanden hatten, daB die tibrigen 36 Konditoren
der Hauptstadt ebenfalls Gewerbescheine fur die Kaffeehauser aufhehmen sollten,
begrenzte die Regierung die zulassige Zahl der Kaffeehauser entsprechend der
Gesamtzahl der Konditoren auf 5 6 .
927
928
929
Die korporative Verhaltensweise, die fur St. Petersburger Ziinfte so typisch war,
driickte sich in einem Prazedenzfall aus, in dem die von der Konditorenzunft
geplagte Backerzunft in den 1830er und 1840er Jahren ein generelles Verbot fur
die Eroffnung n e u e r Backereien in der Stadt mit d e m Einverstandnis des
Stadtmagistrats verhangte. Es wurden nur die Meister in die Zunft aufgenommen,
die eine schon bestehende alte Backerei aufkauften. Sie b e k a m e n dafur v o n der
Handwerksverwaltung die Anmeldezeugnisse, eine Art der Gewerbeerlaubnis, die
927
Raport barona Korfa ministru vnutrennich del ot 10.10.1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92,
1. 17-27, hierl. 24f.
928
Po ukazu lgo departamenta magistrata ot 24.011838, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 95: Po
zapiske, hier 1. 30f.
929
Raport kolezskogo sovetnika Starikova, 1. 58 und ProSenie soderzatelej kofejnych domov
Perovskomu ot fevralja 1846 g., 1. 102, in: Ebd.
so hohen Wert hatte, daB sie Шг 12.000 Papierrubel verkauft wurde. Sie galten in
der Hauptstadt als feste Wertpapiere und w u r d e n sogar verpfandet. Ungeachtet
des Verbotes dieser Zeugnisse v o m Innenministerium w u r d e deren Verkauf
weiter praktiziert. Z. B . wurde a m 2 5 . N o v e m b e r 1844 in „S. Peterburgskie
v e d o m o s t i " ein Inserat von der Auktionskammer veroffentlicht, laut der das erste
Departement der gemischten K a m m e r fur die offentliche O r d n u n g (uprava
hlagocmijd) zum 1. Dezember d. J. uber eine Auktion zweier „Gewerbescheine"
verfugte. Die Gewerbescheine gehorten diesmal den deutschen Backern Gletscher
und GroBe, die mit d e m Verkauf ihre Schulden begleichen wollten. Der Staatsrat
N . Smirnov bemerkte diesbeztiglich in seinem Bericht an den Generalgouverneur,
daB auf der Auktion Gewerbescheine dargeboten wurden, die dem Gesetz nach
keine Gultigkeit hatten und fur den Kaufer unbrauchbar seien. Smirnov schlug
vor, diese Gewerbescheine abzuschaffen, u m das M o n o p o l der Backerzunft
endlich zu beseitigen, und so wurden sie dann am 3 . N o v e m b e r 1845 mit einem
SenatserlaB fur nichtig e r k l a r t blieben aber doch noch einige Zeit im Verkehr,
w o d u r c h d i e B a c k e r z u n f t fur d i e s e Z e i t p e r i o d e als g e s c h l o s s e n e Zunft
charakterisiert w e r d e n k a n n .
930
D i e Zunfte v e r s u c h t e n sich a u c h in die P r e i s p o l i t i k d e r R e g i e r u n g im
Lebensmittelbereich einzumischen. So beschloB die russisch-deutsche
Backerzunft 1839 den fixierten Preis fur Zwieback von einer auf zwei K o p e k e n
zu erhohen, wobei der Stadtmagistrat diesen BeschluB auch genehmigt hatte. Die
Meister versuchten, ihren BeschluB damit zu begriinden, daB die Brotpreise in St.
Petersburg zu der Zeit im Vergleich mit denen fur Zwieback viel hoher waren.
Die Backerzunfte verstieBen auf zweierlei Weise gegen das Gesetz: einerseits
durften die Zunftversammlungen ohne die Erlaubnis des Standesoberhaupts nicht
d u r c h g e f u h r t w e r d e n u n d a n d e r e r s e i t s h a t t e n n i c h t d i e Z u n f t e u n d der
Stadtmagistrat uber die Preiserhohung von Lebensmittel zu entscheiden, sondern
die S t a d t d u m a . D e r BeschluB der B a c k e r z u n f t e w u r d e sofort seitens der
Gouvernementsverwaltung und des Generalgouverneurs Graf Essen auBer Kraft
gesetzt u n d der Z w i e b a c k in Anbetracht seiner Wichtigkeit fur die Ernahrung der
unteren Schichten der Bevolkerung wieder fur den alten Preis von einer K o p e k e
fur das Stuck a n g e b o t e n . D a s Wirtschaftsdepartement des Finanzministeriums
kommentierte das Geschehen wie folgt:
931
„Die vorgeschlagene Preiserhohung fur den Zwieback hatte sich auf die
930
Donesenie S. Peterburgskomu general-gubernatoru о prodaze s publicnogo torga svidetePstv
na bulocnye ot 27.11Л 844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 231: Po doneseniju statskogo sovetnika
Smirnova, о sdelannom 1-m departamentom upravy blagoeinija rasporjazenii к prodaze s
publicnogo torga svidetePstv na bulocnye v Peterburge, 1. 1-16; Raport barona Korfa ministru
vnutrennich del ot 10.10.1842, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 92,1. 25.
931
Dieser Vorfall wurde im Theaterstuck „Die Backerei oder St. Petersburger Deutsche" von P.
A. Karatygin (1805-1879) wiedergegeben, s. hinzu: Karatygin, Vodevili, Moskau 1937, S. 93.
w e n i g w o h l h a b e n d e n S c h i c h t e n d e r B e v o l k e r u n g , in d e n e n der
Zwieback gleichermaBen wie das Weizenbrot als ein wichtiges Element
auf dem Speiseplan steht, besonders einschrankend a u s g e w i r k t " .
932
Resumierend laBt sich sagen, daB die Entfachung der Machtkampfe zwischen den
Zunften auf die Zeit vor den „GroBen R e f o r m e n " der 60er Jahre des 19.
Jahrhunderts fiel, als das H a n d w e r k sich besonders entfalten konnte. Das war eine
Zeitperiode, in der die GroBindustrie noch keine groBe Konkurrenz fur das
traditionelle H a n d w e r k darstellte und die Zunfte eine vortibergehende Blutezeit
erfuhren.
9.1.3 Z u r Definition des M o n o p o l r e c h t s in der russischen G e s e t z g e b u n g
Es m a g paradox erscheinen, daB die Zunfte hochst unterschiedlich auf die
zunftfreien Handwerker reagierten und ihnen entweder erlaubten, ihr H a n d w e r k
a u s z u u b e n o d e r a u c h nicht. D e r G r u n d dafur liegt in der Spezifik d e s
Monopolrechtes der Zunfte in RuBland bzw. in der Rezeption des Monopolrechts
durch die Zunfte. Sie verstanden namlich ihr Monopolrecht der Betreibung
bestimmter Handwerksarten in der Stadt nicht im Sinne eines generellen Verbotes
des zunftfreien H a n d w e r k s , sondern in dem Sinne, daB nur ausgewahlte Meister
den A n s p r u c h a u f die Z u n f t z u g e h o r i g k e i t e r h e b e n k o n n t e n , die u b r i g e n
H a n d w e r k e r aber zunftfrei arbeiten konnten. Die Zunfte lieBen die Masse der
zunftfreien Handwerker in R u h e , solange diese nicht die Absatznischen des
Zunfthandwerks besetzten.
A u B e r d e m lieB d e r G e s e t z g e b e r 1 7 8 5 m i t d e m P a r a g r a p h 4 1 6 d e s
Handwerksstatutes, der am meisten fur Verwirrung und Fehlinterpretationen
sorgte, ein begrenztes M o n o p o l r e c h t zu, indem die Erdarbeiter, Pflasterer,
Maurer, Steinmetze, Zimmerer, Stuckarbeiter und alle, die ihr H a n d w e r k zur
Erfullung ihrer alltaglichen Lebensbedurfnisse alleine betrieben, vom
Zunfteintritt befreit wurden. Die Zunftverwaltung hatte diesen Paragraphen so
interpretiert, daB auch die armen Meister, die Werkstatten o h n e Lehrlinge und
Gesellen unterhielten und nicht imstande waren, die Zunftabgaben zu zahlen,
v o m Zunftbeitritt befreit waren. D a s fuhrte dazu, daB viele H a n d w e r k e r nicht in
den Zunften eingeschrieben waren, die eigentlich in die Zunft gehorten. Daruber
hinaus richteten viele von ihnen in ihren Werkstatten Laden ein und warben mit
Aushangeschildern in der Stadt die Kundschaft um, w a s nur den zunftigen
Meistern vorbehalten war. Sie zahlten keine Staats- und Standesabgaben und
wurden dadurch im Vergleich mit den Zunfthandwerkern begunstigt. D a s gait
allerdings nur fur arme Meister. W e n n sie das H a n d w e r k in einem groBerem
932
О poddinenii cechov i remeslennych uprav S. Peterburgskoj gorodskoj dume (ijuP 1842), in:
RGIA, f. 1287, op. 37, d. 79,1. Iff.
Umfang mit Hilfe v o n Gesellen und Lehrlingen betreiben wollten, durften sie es
nicht zunftfrei tun.
D a g e g e n betonte Smirnov 1843, daB eine solche Interpretation des Paragraphen
4 1 6 durch die Zunftverwaltung verfehlt ware. Das Gesetz v o n 1785 meine
namlich, so Smirnov, daB nur den „Tagel6hnern" und „Arbeitern" die Ausiibung
der zunftigen Handwerksarten erlaubt ware. Der Gesetzgeber h o b tatsachlich nur
auf die Arbeiter und Tagelohner und nicht die Handwerksmeister selbst ab. Sonst
hatte die Mehrheit der Uhrenmeister, Graveure, Dreher, Gold- und
S i l b e r s c h m i e d e w i e a u c h a n d e r e Meister, die m e i s t e n s allein, also o h n e
Beschaftigte, arbeiteten, das Recht, aus der Zunft auszutreten. AuBerdem nutzten
weniger w o h l h a b e n d e Schuhmacher und Schneider diese Gesetzesinterpretation
aus, indem sie z u m Verlagshandwerk iibergingen, das in St. Petersburg in den
40er Jahren des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet war: Sie verrichteten die Arbeit
nicht selbst, sondern verteilten die Auftrage unter den allein arbeitenden, auch
nicht der Zunft angehorenden, Meistern und Gesellen der S t a d t .
Der Paragraph 416 befreite auch die Fabrikanten und Kaufleute v o m Zunftbeitritt
befreite. Sie durften eine unbegrenzte Zahl von Fabriken bzw. Werkstatten
betreiben und verschiedenen Formen des Zunfthandwerks n a c h g e h e n . E s ware
nicht so verhangnisvoll fur die Zunfte gewesen, w e n n auch die Zunftmeister nicht
davon Gebrauch gemacht hatten. AuBerdem zahlte mancher Kaufmann bzw.
Fabrikant weniger A b g a b e n als ein Zunftmeister. Jeder Fabrikant sollte sich
n a m l i c h in eine k a u f m a n n i s c h e G i l d e e i n s c h r e i b e n u n d d e m e n t s p r e c h e n d
Gildeabgaben zahlen. Ein Fabrikant der dritten Gilde z. B . zahlte 97 Rubel im
Jahr. Derjenige Zunftmeister, der mehr als 16 Arbeitnehmer hatte, sollte sich
ebenfalls in die dritte Gilde einschreiben und das doppelte an die Ziinfte und
Gilden zahlen. Z u solchen Meistern gehorten auch diejenigen, die ein komplexes
H a n d w e r k betrieben, wie z. B . die Wagenbauer, die Gesellen aus mehreren
Handwerksarten (Schmiede, Karosseriebauer, Wagentapezierer, Wagenmaler,
Radermacher und Schreiner) beschaftigten. In die kaufmannische Gilde sollten
auch Juweliere, Galanteriemeister, Gold- und Silberschmiede, Modistinnen,
Damenkopfbedeckungs- und Damenkleiderherstellerinnen, die Mobelmeister und
Kiirschner eintreten, die teuere Werkstoffe verwendeten. Sie muBten dadurch eine
doppelte Steuerbelastung ertragen.
933
934
Eine fehlende Abgrenzung zwischen verschiedenen Standen und
Gewerbegruppen verhinderte, daB das Monopolrecht der Zunfthandwerker zur
Geltung kam: Kleinburger und Kaufleute konnten gleichzeitig H a n d w e r k und
Handel betreiben. Seit der Gildenreform 1824 konnten auch die Bauern mit den
Gewerbescheinen des funften Grades fur 4 0 Rubel zunftfrei eine standige
933
Po zapiske statskogo sovetnika N. Smimova, s predstavleniem zamecanij na svod
remeslennych postanovlenij ot 17.12.1843, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 172, hier 1. 2,44 - 49.
934
PSZ RI 1, Bd. 39, Nr. 30115 (14.11.1824), S. 589f.
Werkstatt unterhalten diirfen. Die zugereisten Handwerker aus anderen Stadten
durften, falls sie in die jeweiligen Stande tibertraten, ebenfalls ihr H a n d w e r k
zunftfrei b e t r e i b e n .
AuBerdem sorgte der ErlaB v o m 5. Februar 1830 fur eine weitere Verbreitung des
n i c h t z u n f t i g e n H a n d w e r k s , da er die o b l i g a t o r i s c h e K e n n z e i c h n u n g d e r
H a n d w e r k s waren bzw. der Waren der Zunftmeister abschaffte, wodurch der
Handwerksverwaltung ein wichtiges Kontrollmittel g e n o m m e n w u r d e .
Ungeachtet dieser Einschrankungen des Zunftmonopols, hatten die Zunfte einige
wirkungsvolle Mechanismen, mit deren Hilfe sie die bedingte Gewerbefreiheit
e i n s c h r a n k e n k o n n t e n . D e r G e s e t z g e b e r g i n g einen K o m p r o m i B mit d e m
Zunfthandwerk ein, indem er das Institut der zeitweiligen H a n d w e r k e r einfuhrte,
w o v o n die Zunfte oft Gebrauch machten. Diese zusatzliche Regelung, die mit
dem SenatserlaB v o m 6. Februar 1 7 9 6 bestatigt wurde, erlaubte den standigen
H a n d w e r k e r n , d i e b a u e r l i c h e n H a n d w e r k e r in d i e Z u n f t e z e i t w e i l i g
e i n z u s c h r e i b e n u n d b e i i h n e n z u s a t z l i c h e S t e u e r n fur d i e Z u n f t - u n d
H a n d w e r k s k a s s e e i n z u t r e i b e n , w o d u r c h sie i h r e s o z i a l e n I n s t i t u t i o n e n
mitflnanzieren konnten. Anfang des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts ubertraf
die Anzahl der zeitweiligen Handwerker sogar die der standigen. D a d u r c h
konnten die Zunfte oft ihr Monopolrecht auf die Austibung des H a n d w e r k s
geltend machen. Daruber hinaus wurden seit 1827 auch die personlich geadelten
S t a d t b t i r g e r v e r p f l i c h t e t , in d i e Z u n f t e i n z u t r e t e n , f a l l s s i e in i h r e n
Handwerksstatten Zunfthandwerk austibten.
935
936
937
Durch die Verpflichtung der Handwerker in die Zunfte einzutreten einerseits und
durch die erheblichen Schwierigkeiten beim Zunfteintritt andererseits konnten die
Zunfte indirekt die Zahl der Zunftmeister begrenzen. D e r Paragraph 502 des
Handwerksstatutes legte beispielweise den Eintrittsbeitrag auf drei Silberrubel
fest. Die Wirklichkeit sah anders aus. 1843 wurden j e nach der Zunft 30 bis 170
Silberrubel als Eintrittsgeld verlangt, w a s viele Meister daran hinderte, ihre
eigene Werkstatt zu griinden, weil sie nicht imstande waren, einen so hohen
Beitrag aufzubringen. Nach Ansicht der meisten Meister ware ein Beitrag von 50
Silberrubeln angemessen g e w e s e n , was trotzdem fur die meisten auBer Zunft
stehenden Meister zuviel war.
N e b e n den Zunften gab es noch andere „ M o n o p o l i s t e n " - die Kaufleute, die in
drei Gilden organisiert waren und ihr exekutives Organ in der Handelsdeputation
(torgovaja deputacija)
der Stadtduma hatten. Seit der Gildenreform v o m 14.
N o v e m b e r 1824 k o n n t e n sie die H a n d w e r k e r dazu z w i n g e n , in die Gilde
938
Vgl. Hildermeier, Burgertum, S. 234-246.
Pazitnov, Problema, S. 103.
PSZ RI 1, Nr. 17438, Bd. 23, S. 865ff.
Po zapiske [...] Smirnova (wie FuBnote 902), 1. 77f.
einzutreten, w e n n die Werkstatt mehr als 16 Arbeitnehmer hatte, oder der
V e r k a u f d e r h e r g e s t e l l t e n W a r e n in e i n e m groBerem U m f a n g stattfand.
H a n d w e r k e r n blieb nicht anders ubrig, wollten sie sich den Beschrankungen der
Zunfte nicht unterwerfen, als Gildenabgaben zu zahlen, w a s ihre wirtschaftliche
Lage schwachte.
Laut dem SenatserlaB v o m 3 . N o v e m b e r 1832 (PSZ RI 2, Nr. 61478) sollte z. B .
die Kaufmannsdeputation in der Stadt alle H a n d e l s - u n d Industriebetriebe
aufzahlen, u m der Staatskasse genauere Steuerkalkulationen zu e r m o g l i c h e n .
Dies fuhrte aber gleichzeitig zur Unterdriickung vieler sowohl zunftiger als auch
zunftfreier H a n d w e r k e r , die von der Deputation aufgefordert w u r d e n ,
Gildenabgaben zu zahlen, die oft willkurlich festgesetzt wurden. Als Beispiele
seien hier Samuel Brunst, der Meister der deutschen Schneiderzunft, und der
Klavierbauer Heinrich Bricks g e n a n n t . Brunst sollte nach der M e i n u n g der
H a n d e l s d e p u t a t i o n in d i e k a u f m a n n i s c h e G i l d e eintreten, w e i l er Stoffe
verarbeitete, die ihrer Ansicht nach viel wert waren. Bricks betrieb seine
Werkstatt schon seit 28 Jahren und zahlte die Zunftabgaben ordnungsgemaB. Er
schrieb in seiner Bittschrift, daB er nur dreizehn Beschaftigte gehabt und uber
kein Kapital verfugt hatte. Die beiden Handwerker wurden v o m Gildeneintritt
befreit.
A m 2 7 . M a r z 1833 beschwerte sich der Kleinburger Grigorij Petrov beim
Manufaktur- und Innenhandelsdepartement ( D M V T ) , daB die Stadtduma ihn dazu
z w a n g , G i l d e n a b g a b e n z u z a h l e n , o b w o h l er s c h o n D o p p e l a b g a b e n als
Kleinburger und als Zunftmeister entrichtete. Petrov hatte seine Werkstatt in einer
D r e i z i m m e r w o h n u n g eingerichtet, in der auch der Meister mit seiner Familie
wohnte. Der wahrscheinlichste Grund, w a r u m Petrov Schwierigkeiten mit der
Handwelsdeputation hatte, war, daB er seine Werkstatt als eine „Knopffabrik" bei
d e m Departement angemeldet h a t t e .
Die restriktive Haltung der Zunfte sowohl gegentiber der zunftigen als auch der
zunftfreien Handwerker hatte negative Auswirkungen fur die Meister, die sich mit
dem Rahmen, der v o n den Zunften vorgegeben war, nicht begntigen wollten und
ihre Werkstatten und wirtschaftliche Aktivitaten nicht nur im St. Petersburger
Wirtschaftsraum, sondern auch in M o s k a u ausweiten wollten. D a s war der Fall
bei einigen auslandischen Backermeistern in St. Petersburg, die zeitweilig in die
Zunfte in M o s k a u eintraten und dort ebenfalls Niederlassungen eroffheten. Eine
g e w i s s e Z e i t k o n n t e n sie a u f s o l c h e W e i s e in b e i d e n H a u p t s t a d t e n ihre
939
940
941
939
4
Po pros be portnogo mastera Bmnsta ob okazanii za§6ity ot pritesnenij torgovoj deputacii
(1833), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 850,1. 3.
9 4 0
Ebd., 1. If., sowie d. 846: Po pros'be klavikordnogo mastera Genricha Briksa ob
osvobozdenii ot gil'dejskich povinnostej (1833-1836).
941
Po pros'be S. Peterburgskogo me§6anina Grigorija Petrova о Pgote v plateze giPdejskich
povinnostej po soderzaniju pugovicnogo zavedenija, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 835.
Backereien fuhren. Dies blieb aber nur solange unbemerkt, bis diese Backer bei
der St. Petersburger Backerzunft ihre Mitgliedschaft beantragten. Es war fast
selbstverstandlich, daB die Zunft die Tatigkeit der Meister „unter die L u p e " n a h m
und herausfand, daB sie auch in der alten Hauptstadt tatig waren, w o z u sie kein
Recht hatten. Die auslandischen Meister, die dem Kleinburgerstand zugezahlt
wurden, durften ihre Werkstatt nur in einer Stadt h a b e n .
Uber die monopolistischen Bestrebungen der Handwerksverwaltungen in den
beiden russischen Hauptstadten berichtete 1859 die M o s k a u e r Abteilung des
Manufakturrats:
942
„ D i e H a n d w e r k s v e r w a l t u n g e n v e r s u c h t e n , alle k l e i n i n d u s t r i e l l e n
Fabriken und Werke, die genau wie die groBen Industriebetriebe unter
dem Begriff einer handwerklichen Werkstatt unmoglich
zusammenzufassen waren, unter ihre Gewalt zu bringen (...) E s ist auch
notig, eine auBerst klar ausgepragte A b n e i g u n g von Kleinindustriellen
gegen die Zunfte zur Kenntnis zu nehmen. Keiner von ihnen zahlt sich
zu den H a n d w e r k e r n . Sie alle b e z w e c k e n eine a l l m a h l i c h e
VergroBerung ihrer Betriebe in Fabriken. Deswegen befurchtet j e d e r
v o n i h n e n , daB w e n n er e i n m a l d e r Z u n f t b e i t r e t e n w i r d , e r
unuberwindliche Schwierigkeiten beim Austritt aus der Zunft erleiden
wird. Die Zunftverwaltungen haben darin nach Artikel 107, 109 und
123 a u c h R e c h t u n d setzen es mit Erfolg d u r c h . U n t e r d i e s e n
Bedingungen kann den Gewerbetreibenden nur eine Bescheinigung
v o m D M V T uber seine Fabrikrechte Schutz gegen die Anspriiche der
Zunfte g e w a h r e n " .
943
W i e der Fall v o n Ignatij K a r l o v b e z e u g t , w a r e n d i e B e f u r c h t u n g e n der
H a n d w e r k e r nicht unbegrundet. Als Karlov aus der Zunft austreten wollte,
verlangte die Handwerksverwaltung von ihm 100 Silberrubel, w a s im Jahre 1850
rund 3 5 0 P a p i e r r u b e l a u s m a c h t e . F u r d i e s e S u m m e k o n n t e m a n eine
D r e i z i m m e r w o h n u n g in St. Petersburg fur ein Jahr anmieten.
Die Zunfte verwandelten sich mit der Zeit in V e r b a n d e mit einer heterogenen
Z u s a m m e n s e t z u n g , denen auch Personen angehorten, die in keinem Verhaltnis
z u m H a n d w e r k s t a n d e n , ihre S t a n d e s p r i v i l e g i e n u n d R e c h t e aber eifrig
v e r t e i d i g t e n . 1860 g e h o r t e n laut d e m B e r i c h t der St. P e t e r s b u r g e r
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g 12.653 Personen beiderlei Geschlechts d e m Stand der
944
9 4 2
Po otnoseniju ministra vnutrennich del о sobljudenii ustanovlennogo porjadka
predostavlenija remeslennikam zvanija masterov (1859), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1724.
943
944
Trudy komissii, Cast' 1, S. 57.
Po proseniju Ignatija Karlova ob uvol'nenii ego iz obScestva dlja postuplenija v Bogoslovskij
Ceremeneckij monastyr' (30.09.1850-26.10.1851), in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 911.
standigen H a n d w e r k e r an, v o n denen nur 2.800 Personen tatsachlich einem
Handwerk nachgingen. Die ubrigen 10.000 kamen aus alien
Bevolkerungsschichten. Das waren freigelassene Bauern, Zoglinge des
Erziehungshauses, ehemalige Geistliche, aus dem Handel ausgestiegene
Kaufleute, auBerstadtische Kleinburger und andere. Es w a r moglich, in der
Schneiderzunft einen Juwelier und in der Feldarztezunft einen Schmied zu finden,
da Zunftmitgliedschaften auch v o n Vatern und GroBvatern ubertragen werden
k o n n t e n . In der Stadt bildete sich auf der Basis einer Zunftorganisation eine
hauptstadtisch-standische Gemeinschaft, die mittels gewisser Monopolrechte
ihren Wohlstand und ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern suchte.
D a z u sollte auch die Erweiterung der Monopolrechte dienen. Beispielsweise
versuchte die St. Petersburger Handwerksverwaltung im Jahre 1853 eine Zunft
der Drucker und Lithographen zu griinden, w a s ihr auch gelang. 1858 miBgliickte
aber ihr Versuch, auch die Photographen in die Zunft zu zwingen. 1859 versuchte
die Handwerksverwaltung vergeblich sowohl die Gemiisegartner, von denen es in
St. Petersburg etliche H u n d e r t e g a b , als auch die Sack-, Bastmatten- und
Bastsackehandler in den Zunften zu organisieren. Eine Zeitlang gab es in St.
Petersburg sogar die Idee, eine Musikmacherzunft zu organisieren, die j e d o c h
nicht verwirklicht w u r d e . A n d e r s w a r es in C h e r s o n , w o tatsachlich eine
Musikmacherzunft gegriindet wurde, welche 15 Meister und zwolf Gesellen
zahlte .
945
946
Im Laufe der 1850er Jahre erhohten die Zunfte ihre Anstrengungen, das zunftfreie
H a n d w e r k sowie L a n d h a n d w e r k zu beeinflussen bzw. es zu kontrollieren. Die
Zunfthandwerker einer Stadt, ihr N a m e wurde leider in der Quelle nicht erwahnt,
stellten 1859 beim Innenministerium den Antrag auf Besteuerung der
Landhandwerker in den umliegenden Dorfem sowie der Arbeiter in den Fabriken
und Werken, n a c h d e m beide v o m Zunfteintritt 1857 befreit wurden. Der Antrag
wurde abgelehnt, obwohl die 2'unfthandwerker ihre Griinde dafur hatten. Ihren
Worten nach konnten die Landhandwerker kostengiinstiger produzieren und ihre
W a r e n in der Stadt verkaufen, sie zahlten j e d o c h k e i n e A b g a b e n an die
Zunftverwaltung und schadigten durch ihre g e w e r b l i c h e Tatigkeit die
Zunfthandwerker .
947
D a s SelbstbewuBtsein der Zunfte in St. Petersburg in der ersten Halfte des 19.
Jahrhunderts bis in die 60er Jahre ist dadurch zu erklaren, daB sie Unterstutzung
von der R e g i e r u n g bekamen, was letztere nicht daran hinderte, die
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g in besonders spektakularen Fallen in ihre Grenzen zu
verweisen. So stellte der Prasident der A k a d e m i e der Wissenschaften Dmitrij
Ebd., S. 76.
Trudy komissii, 6. 1, S. 77.
Po delam soslovij, in: 2MVD (Ma; 1859), c. 36, S. 80f.
Nikolaevic Bludov fest, daB sich die Handwerkskunst in den Kreisstadten auf
sehr niedrigem Niveau befand, was der strikten Verhaltensweise der
hauptstadtischen Verwaltung eine Erklarung gab. W e n n der Gesetzgeber n u n den
Meistern, die ihren Titel in der Provinz erworben hatten, erlauben wurde, sich
u b e r a l l n i e d e r z u l a s s e n , k o n n t e d a s d e r Q u a l i t a t d e r H a n d w e r k s k u n s t in
allgemeinen schaden. Das Gleiche gait naturlich auch, w e n n m a n die „guten"
Meister in ihrer Niederlassungsfreiheit e i n s c h r a n k t e . D a aber der Unterschied
zwischen dem H a n d w e r k in den Hauptstadten und dem in der Provinz tatsachlich
sehr groB war, war die Einfuhrung der vereinfachten Handwerksverwaltung in
den kleineren Stadten b e r e c h t i g t . Die B e w e r t u n g B l u d o v s , daB sich das
H a n d w e r k „in RuBland in einer solchen schwierigen Lage befindet, daB das nicht
nur nach einer partiellen Erleichterung, sondern nach einer Unterstutzung mit
alien Mitteln v e r l a n g t " , spiegelt sich in der konsequenten Einschrankung des
zunftfreien Zunfthandwerks durch die Verwaltung wider.
In den 1860er und 1870er Jahren erfolgte eine wesentliche B e s c h r a n k u n g der
Zunfte in ihren Monopolbestrebungen. Die Liberalisierung der Wirtschaft trug
dazu bei, daB sich auch innerhalb der St. Petersburger Zunfte die Einstellung der
Mitglieder zu bestimmten Restriktionen veranderte. So sprach sich im Jahre 1871
sowohl die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g als auch die Stadtduma fur die Abschaffung
einer Regel aus, daB ein Meister nur eine Werkstatt unterhalten durfte, die v o m
H a n d w e r k s s t a t u t in die Instruktion iiber die n e u e S e l b s t v e r w a l t u n g in St.
P e t e r s b u r g im J a h r e 1846 u b e r n o m m e n w u r d e . Sie g l a u b t e n , d a m i t „die
Rahmenbedingungen fur die Entwicklung des H a n d w e r k s zu v e r b e s s e r n " . W e n
es einem Handwerksmeister erlaubt ware, mehrere Werkstatten zu unterhalten.
Die Handwerksverwaltung betonte, daB die B e s c h r a n k u n g Werkstattenzahl die
Entwicklung des H a n d w e r k s store und der neuen Ordnung iiber die Besteuerung
des Kleinhandels nicht entspreche. Diese besagte namlich, daB die Meister der
zweiten und dritten Gilde jeweils maximal zehn b z w . vier Werkstatten besitzen
durften. Diese V e r o r d n u n g b e k a m mit der Vorschrift des St. Petersburger
Gouverneurs v o m 15. D e z e m b e r 1871 ihre Rechtskraft, nach der auch ein
Meister, der einen Handelsschein bei der Handwerksverwaltung erhielt, bis zu
vier Werkstatten unterhalten durfte.
948
949
950
951
Im Z u s a m m e n h a n g mit dem Monopolrecht der Zunfte in St. Petersburg stellt sich
nun die Frage, o b dieses Monopolrecht, mit dem in Westeuropa oder allgemeiner,
948
Trudy komissii, 5. 1,S. 36.
949
Ebd., S. 38,4If.
950
Ebd., S.41.
951
RGIA, f. 1287, op. 38, d. 1393: Po vozbuzdennomu nacaPnikom S. Peterburgskoj gubernii
voprosu о torn, какое 6islo masterskich mozet byt' otkryvaemo remeslennym masterom v
zdesnej stolice (1871-1872), hier 1. 4f.
ob die Zunfte in RuBland mit denen in Westeuropa zu verglichen werden konnen.
D e s weiteren ist zu untersuchen, wie die Zunfte in RuBland v o n den Zeitgenossen
rezipiert wurden. A m E n d e des 19. Jahrhunderts erhoben sich nur wenige
Stimmen, die auch die positiven organisatorischen Seiten der Zunfte betonten.
Mit wenigen A u s n a h m e n stimmten die Gelehrten- und Regierungskreise sowie
die Offentlichkeit fur die Abschaffung der Zunfte, wobei insbesondere ihre
restriktive Haltung kritisiert w u r d e . 1897 beschrieb A. Jadrov die S t i m m u n g
gegenuber den Zunften:
952
„Die Befurwortung der m s s i s c h e n Zunfte ist zur Zeit eine auBerst
undankbare Aufgabe. [...] E s ist g e g e n die Vorurteile der meisten
Gelehrten und der Offentlichkeit zu kampfen, die sagen, daB unsere
Zunftordnung ,eine Kopie des Zunftstatutes mittelalterlicher deutscher
Stadte' sei. [...] Ihrer M e i n u n g nach sei eine weitere Existenz der
Zunfte, theoretisch gesehen, nicht nur sinnlos, sondern sogar
schadlich" .
953
Es ist berechtigt, die Besonderheiten der russischen Zunftordnung hervorzuheben,
u m zu zeigen, daB es unmoglich ist, die Entwicklungen in Westeuropa auf die
russischen Verhaltnisse zu ubertragen, wie es in der zweiten Halfte des 19.
Jahrhunderts in RuBland der Fall war. Besonders deutlich k a m die negative
Einstellung zu d e n Zunften in d e m Bericht v o n S t a c k e l b e r g (1859) zum
Ausdruck, der sich ausnahmslos an den westeuropaischen Mustern orientierte,
w a s er in seinem H a u p t w e r k uber die „Zunfte und Gewerbefreiheit in E u r o p a " zu
begriinden s u c h t e .
Wie Jadrov zurecht unterstrich, sei das Monopolrecht der Zunfte in RuBland nicht
mit dem in Westeuropa zu vergleichen. Seit d e m 18. Jahrhundert gab es das
exklusive M o n o p o l r e c h t in Westeuropa nicht mehr. In RuBland war das fehlende
exklusive M o n o p o l r e c h t besonders deutlich. N a c h der Einfuhrung der Zunfte in
der Zeit Peters I. und besonders Katharinas II. wurden die Monopolrechte immer
relativiert. So wiederholte z. B . das neue Handwerksstatut von 1850, daB niemand
954
952
Vgl.: M. Kittary, NeskoPko slov о moskovskich cechach, in: Babst, Mysli, hier S. 31-52,
besonders 47f.; V. O. Iordan, О neobchodimosti reformy soslovno-remeslennogo
samoupravlenija, in: Russkaja mysl (ijun 1887), kn. 6, S. 79-91; Dokladnaja zapiska komissii,
uhrezdennoj s celiju izyskanija mer к uludseniju remeslennoj promySlennosti v S. Peterburge ot
8 janvarja 1888; A.P., NaSi remeslenniki, in: RB (1900) Nr. 4, S. 160-172; Bogdanov, Itogi, S.
62-75.
4
953
954
4
Jadrov, V zaSditu, S. Illf.
A. F. Stackelberg, Cechovoe ustrojstvo i svoboda promySlennosti v Evrope, in: Trudy
komissii.
9 5 5
seine P r o d u k t e v e r k a u f e n durfte, w e n n er k e i n Z u n f t m i t g l i e d w a r . In
Wirklichkeit verkauften auch die Kleinburger ihre Waren, u n d die Kaufleute
o r g a n i s i e r t e n in St. P e t e r s b u r g d e n V e r t r i e b d e r b a u e r l i c h e n , zu H a u s e
hergestellten P r o d u k t e . Letztere durften ebenfalls ohne B e g r e n z u n g e n
Werkstatten unterhalten. Die Lehrlinge konnten nicht nur in den Werkstatten ihre
H a n d w e r k s d i p l o m e erhalten, s o n d e r n seit 1844 a u c h in den t e c h n i s c h e n
Fachschulen. Die Regel, nach der jeder, der ein H a n d w e r k betreiben wollte, sich
in die Zunft einschreiben muBte, interpretierte der regierende Senat nicht als
M o n o p o l a u f d a s H a n d w e r k s o n d e r n als f o r m e l l e R e g e l u n g , u m a l i e n
Handwerkern den Zunfteintritt zu ermoglichen, falls die Zunfte sie aus Furcht vor
Konkurrenz nicht eintreten lieBen .
W a s die russischen Zunfte fur die russischen H a n d w e r k e r sein konnten und
teilweise auch waren, ist im ersten Satz von Stackelberg zu lesen, den er in B e z u g
auf w e s t e u r o p a i s c h e Zunfte im fruhen Mittelalter schrieb. Die Zunfte, so
Stackelberg, waren im Mittelalter eine
956
„Schule der burgerlichen Demokratie, Selbstverwaltung und politischer
Bildung. [...] Als sie aber die Marktbannrechte bzw. den M a r k t z w a n g ,
E h e z w a n g und die Meisterstucke einfuhrten u n d die zunftfreien
Handwerker anfingen zu verfolgen, verloren sie nach und nach ihre
positiven I n h a l t e " .
957
G e r a d e im 19. J a h r h u n d e r t l e r n t e n d i e r u s s i s c h e n Z u n f t h a n d w e r k e r , in
offentlichen Institutionen zu verkehren. Die Selbstverwaltung ermoglichte ihre
soziale Artikulation. Die Zunfte in RuBland hatten nie die Macht, u m ein
Zunftmonopol etablieren zu konnen, obwohl sie immer danach gestrebt haben.
AuBerdem sorgte die russische G e s e t z g e b u n g und die wirtschaftlichen
R a h m e n b e d i n g u n g e n fur ein begrenztes Zunftmonopol in den russischen Stadten.
Dies blieb der Regierung nicht verborgen. Im Februar 1850 berichtete der
Minister des Inneren dem Finanzminister, daB die Kontrolle der Zunftregelungen
seitens der Zunftaltesten durch die „hieBige Obrigkeit" der Hauptstadt behindert
werde. Es kann daher nicht verwundern, w e n n selbst das D M V T des
I n n e n m i n i s t e r i u m s in St. P e t e r s b u r g einer Vielzahl der K l e i n b u r g e r , die
Werkstatten hatten, die Erlaubnis fur den Betrieb der Fabriken e r t e i l t e .
Selbst die St. Petersburger Handwerksverwaltung unterstrich in ihrem Bericht
958
955
Ob ustrojstve remeslennogo soslovija, in: 2MVD, 1853, otdelenie 2, c\ 3, kn. 5, S. 1-40, hier
S. If.
956
Jadrov, V zaSditu, S. Xllf.
9 5 7
Ebd., S. rXff.
von 1897, daB v o n einem Zunftmonopol keine Rede mehr sein kann:
„Es gibt keine Abgeschlossenheit der Zunfte [...] Jahrlich werden
Hunderte aus verschiedenen sozialen Schichten als standige Meister
aufgenommen. [...] Fur die Aufhahme als zeitweilige Zunfthandwerker
bestehen keine Beschrankungen: Die Kandidaten brauchen dafur keine
Bescheinigungen
und nicht die Z u s t i m m u n g
der
Deputiertenversammlung. O b w o h l naturlich die neu aufgenommenen
H a n d w e r k e r eine K o n k u r r e n z fur die Zunftmitglieder darstellen,
versuchten die Zunfte nie diese Konkurrenz abzuschaffen. Das beweist
d i e T a t s a c h e , daB j a h r l i c h b i s zu e i n e m T a u s e n d z e i t w e i l i g e
H a n d w e r k e r u n d Handwerkerinnen aufgenommen werden und daB im
Laufe der letzten Jahrzehnte keine einzige Absage in der Eroffhung
einer Werkstatt zustande g e k o m m e n w a r " .
959
Es ist zu beriicksichtigen, daB der oben angefuhrte Ausschnitt aus der M e i n u n g
der Handwerksverwaltung eine Antwort auf das Projekt der nachstfolgenden
Regierungskommission uber die Reform der Gewerbegesetzgebung darstellt, die
u n t e r a n d e r e m b e a b s i c h t i g t e , d e n o b l i g a t o r i s c h e n Eintritt in die Z u n f t e
abzuschaffen. E s kann a n g e n o m m e n werden, daB die Handwerksverwaltung aus
Selbstrechtfertigungsgriinden b e h a u p t e t e , daB sie keine H i n d e r n i s s e b e i m
Zunfteintritt in den W e g stellte. W e n n die B e h a u p t u n g der Handwerksverwaltung
auch nur ein Teil der Wahrheit ist, wie die Statistiken in ihren Jahresberichten
uber die Anzahl der Zunfteintritte belegen, so ist ein wesentlicher Wandel in der
Verhaltensweise der Verwaltung festzustellen.
1 883 lehnte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g den Vorschlag
der
Deputiertenversammlung ab, die zeitweiligen und standigen Zunfthandwerker
rechtlich gleichzustellen, wobei alle Deputierten, die diesen Antrag stellten,
standige Meister waren. Die augenscheinliche Widerspruchlichkeit, einerseits der
A n t r a g d e r D e p u t i e r t e n u n d die m a s s e n h a f t e A u f n a h m e der zeitweiligen
H a n d w e r k e r in die Zunfte, andererseits die ablehnende Stellung der Verwaltung
und die Vorschlage der Zunfthandwerker auf den beiden Handwerkerkongressen
in St. Petersburg in den Jahren 1900 und 1911, in RuBland ein vollstandiges
Z u n f t m o n o p o l einzufuhren, laBt sich durch die E n t w i c k l u n g s d y n a m i k der
Ereignisse erklaren, die im Kapitel uber die Selbstverwaltung der Handwerker
deutlich gemacht wurde. Die Situation hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts
wesentlich verandert und war rnit der Sachlage in den 1830-50er Jahren, als die
Z u n f t e in St. P e t e r s b u r g ihre M o n o p o l r e c h t e a k t i v v e r t e i d i g t e n , n i c h t
vergleichbar. E s w a r ein schwieriger ProzeB der Herausbildung einer neuen
Mnenie St. Peterburgskoj remeslennoj upravy (1897), S. 5.
Mentalitat, eines neuen Organisationsprinzips des Gewerbes und der A n p a s s u n g
an die neuen soziookonomischen Verhaltnisse, die sich in RuBland mit der
Abschafftmg der Leibeigenschaft, den btirgerlichen Reformen der 1860er Jahre
und dem Beginn der Industrialisierung besonders intensiv vollzog.
9.2
Konkurrenz
9.2.1
Zunftige H a n d w e r k e r
B e v o r die K o n k u r r e n z z w i s c h e n d e m H a n d w e r k u n d d e r
GroBindustrie
thematisiert wird, ist zu klaren, warm und wie intensiv die Industrialisierung in
RuBland verlief. A u c h interessiert die Frage, welche Handwerksarten besonders
der Konkurrenz der GroBindustrie ausgesetzt waren. Die Analyse fordert eine
branchenbezogene Betrachtungsweise, da die Intensitat der Konkurrenz z u m Teil
d a d u r c h bedingt war, daB die GroBindustrie nicht gleichermaBen in alien
G e w e r b e b r a n c h e n e x p a n d i e r t e . D i e k o n s u m o r i e n t i e r t e n H a n d w e r k s formen
konnten z. B . bis zur Jahrhundertwende ihre dominierende Position behalten. Der
Konkurrenz waren vor allem das textil- und metallverarbeitende H a n d w e r k und
das Maschinen- und Transportmittelbau-Handwerk ausgesetzt.
Seit der Einfuhrung der Gewerbefreiheit in PreuBen und Sachsen am 15. Oktober
1 8 6 1 , d i e z e i t l i c h mit d e r A u f h e b u n g d e r L e i b e i g e n s c h a f t
in R u B l a n d
zusammenfiel, waren sowohl in Deutschland als auch in RuBland immer mehr
Stimmen zu horen, die den Untergang des H a n d w e r k s prophezeiten. Diese
Stimmung verstarkte sich nochmals, als am 2 1 . Juli 1869 in den Staaten des
Norddeutschen B u n d e s die Gewerbefreiheit rechtskraftig und zwei Jahre spater
(1871) reichsweit ubernommen w u r d e
9 6 0
. Anfang des 20. Jahrhunderts
prognostizierte W. Sombart, daB der Kapitalismus an die Stelle des H a n d w e r k s
treten w u r d e
960
961
961
.
Georges, Handwerk, S. 9If.
Vgl. Hubert Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im
regionalen IndustrialisierungsprozeB Deutschlands im 19. Jahrhundert. Koln, Wien 1988
(Mitteldeutsche Forschungen, hrsg. v. Reinhold Olesch, Roderich Schmid, Ludwig Erich
Schmitt, Bd. 94), S. 361; W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert und am
Anfang des 20. Jahrhunderts, Berlin 1923, S. 280; s. auch: Heinrich Kaufhold, Das Handwerk
zwischen Anpassung und Verdrangung. In: H. Pohl (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Probleme der
Hochindustrialisierung (1879-1914), Paderborn 1979, S. 103-141, hier S. 104ff.; Karl Biicher,
Der Niedergang des Handwerks. In: ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft. 1. Sammlung.
12. und 13. Aufl. Tubingen 1919, S. 199-228.
Die Stimmen gegen die pauschale negative B e w e r t u n g der Perspektiven im
H a n d w e r k waren zuerst unter den Handwerkern zu horen. So widmete Grigorij
Aleksandrovic Belkovskij seinen Vortrag auf d e m ersten HandwerkerkongreB
1900 der Lage des H a n d w e r k s . Er war der M e i n u n g , daB das H a n d w e r k nur tiefe
Umstrukturierungen u n d Anpassungsprozesse durchlief und keinesfalls auf dem
R u c k z u g vor der GroBindustrie w a r
962
.
In den 1930er und vor allem in den 1950er Jahren, als sich in Deutschland die
neue historische Hilfsdiszipliri „Handwerksgeschichte" etablierte, entwickelte
sich eine neue Sicht auf das Handwerk, seine Geschichte u n d Zukunft. Hatten
sich zuvor fur das H a n d w e r k Synonyme wie „Ruckstandigkeit" etabliert oder
wurden ihm Adjektive wie „vergangenheitsgewandt" zugefugt, so erfuhr es durch
die Geschichtswissenschaft wieder eine A u f w e r t u n g , denn „alle Lander [sind]
zur einen oder anderen Zeit zumindest wirtschaftlich ,ruckstandig' im Vergleich
zu a n d e r e n g e w e s e n " . Es h a n d e l t sich u m P h a s e n v e r s c h i e b u n g e n ,
wahrendderen die industrielle „Ruckstandigkeit [..] zu spaterer Uberlegenheit
fuhren" k a n n . Z u dieser Aufwertung trug die Tatsache bei, daB auch die
Definition v o n ,,Fortschritt" an Eindeutigkeit verloren h a t t e .
Mit der Zeit bewies das H a n d w e r k eine unerwartete Anpassungsfahigkeit an die
d u r c h die i n d u s t r i e l l e R e v o l u t i o n r a s a n t v e r a n d e r t e A r b e i t s w e l t . F u r die
Geschichtswissenschaft gait es nun, die M e c h a n i s m e n zu erforschen, die das
H a n d w e r k entwickelte, u m konkurrenzfahig zu bleiben.
963
9 6 4
965
DaB der ProzeB der V e r d r a n g u n g bzw. des verstarkten Wettbewerbs zwischen der
GroBindustrie und d e m H a n d w e r k besonders intensiv in St. Petersburg verlief, ist
durch die sehr h o h e Produktivitat der St. Petersburger Industrie zu erklaren, die
im Vergleich z u m M o s k a u e r Industriegebiet 151,6%, zu Vladimir 1 7 5 , 3 % und
d e n u b r i g e n 34 I n d u s t r i e b r a n c h e n G e s a m t r u B l a n d s 1 8 5 , 4 % b e t r u g . 1877
produzierte ein Arbeiter in St. Petersburg durchschnittlich Waren fur 1.499
962
G.A. Belkovskij, Sovremennyj charakter remeslennoj promySlennosti i posrednideskoe
priiskanie raboty, как odna iz mer vosposoblenija, in: Trudy vserossijskogo s-ezda po
remeslennoj promySlennosti v S. Petersburge 1900, Bd. 2, SPb. 1900, S. 250-255.
963
Manfred Hildermeier, Zwischen Burgertum und Adel: Unternehmer im Zarenreich, in: „...
das einzige Land in Europa, das eine grofle Zukunft vor sich hat." Deutsche Unternehmen und
Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frtihen 20. Jahrhundert, hrsg. v. Dittmar
Dahlmann und Carmen Scheide, Essen 1998, S. 89; Walther Kirchner, Uber das deutsche
Unternehmertum und die 6konomische Europaisierung RuBlands, S. 49-64, hier S. 50. S. zum
Begriff der Rtickstandigkeit: Kirchner, Deutsche Industrie, S. 3-5; Alexander Gerschenkron,
Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge 1862; Olga Crisp, Studies in the
Russian Economy before 1914, London 1976.
964
Kirchner, Deutsche Industrie, S. 5.
Rubel, in M o s k a u fur 1.056 Rubel und in Vladimir fur 650 Rubel. Allerdings
lagen die Werte in Estland mit 2.118 Rubeln noch h o h e r .
Zwischen der GroBindustrie und d e m H a n d w e r k k o n n e n im Z u s a m m e n h a n g mit
der wirtschaftlichen Entwicklung des St. Petersburger Wirtschaftsraumes keine
klaren Grenzen gezogen werden. D a s H a n d w e r k hatte aber a m wirtschaftlichen
W a c h s t u m einen betrachtlichen Anteil. Die Expansion der GroBindustriebetriebe
in St. P e t e r s b u r g seit d e n 1870er J a h r e n w u r d e g e r a d e d u r c h die h o c h
entwickelten und spezialisierten Handwerksbetriebe moglich.
N e b e n der GroBindustrie traten die GroB- und Kleinhandler, die durch regen
Handel mit dem Ausland billigere Produkte aus Westeuropa importierten, mit
d e m H a n d w e r k verstarkt in Konkurrenz. A u c h aus d e m Inneren RuBlands drang
durch die vermehrte Zufuhr von Waren der Heimwerkerindustrie ein neuer
Handelsstrom in den St. Petersburger Wirtschaftsraum. St. Petersburg war der
groBte Handelsumschlagplatz RuBlands. Die N a h e z u m Ausland und die gute
M e e r e s v e r b i n d u n g zu den groBen Hafenstadten Europas an Ost- und N o r d s e e
verhalfen dazu. Die Handler hatten in St. Petersburg einen groBen Absatzmarkt,
d i e E i n w o h n e r z a h l b e t r u g 1869 6 6 7 . 2 0 7 . Im V e r h a l t n i s H a n d l e r zu d e n
Produzenten stand St. Petersburg nach L o n d o n und Berlin an dritter Stelle: es
k a m e n in den oben g e n a n n t e n Stadten jeweils vier bzw. sieben Handler, in St.
Petersburg drei Handler auf einen Produzenten. Trotzdem machten sie d e m
H a n d w e r k starke Konkurrenz. 1867 gab es in St. Petersburg 6.488 Handler mit
21.617 Beschaftigten. AuBer dieser Handler gab es 482 weitere, die ihre Waren in
den H a n d e l s s t u b e n und 6.178 v o n den ubertragbaren Brettern verkauften.
Insgesamt gab es also 34.765 Handler und Beschaftigten bei i h n e n .
D i e A n g e b o t e des GroB- und Kleinhandels, die meistens aus bauerlichem
H a n d w e r k stammten, unterschieden sich qualitativ v o n den P r o d u k t e n der
H a n d w e r k s m e i s t e r , die d u r c h ihren h o h e n Q u a l i f i k a t i o n s g r a d der starken
Konkurrenz standhalten konnten.
966
967
In dieser Hinsicht spielte die Handelspolitik des Staates gerade fur das St.
Petersburger H a n d w e r k eine wichtige Rolle: die Hauptstadt gait als wichtiger
Handelsumschlagsplatz fur RuBland. Hier war der Handwerker der unmittelbaren
Konkurrenz der mittel- und westeuropaischen Lander ausgesetzt. Als Beispiel
sollen hier die Schwierigkeiten der Drechslerzunft im Jahre 1835 erwahnt
w e r d e n . D i e St. P e t e r s b u r g e r D r e c h s l e r b e s c h w e r t e n sich b e i m
AuBenhandelsdepartement uber die massenhafte Einfuhr von Rohrstocken und
forderten, daB der Einfuhrzoll von eineinhalb auf sechs Silberrubel pro Pfund zu
erhohen. Die starke Konkurrenz wird im Vergleich der Importzahlen v o n St.
Petersburg sowie der restlichen Gebiete RuBlands deutlich:
966
967
Korol'cuk, Ob osobennostjach, S. 144.
Ju. Ё. Janson, Naselenie Peterburga i ego ekonomideskij i social'nyj sostav, in: Vestnik
Evropy, torn 5, kniga 9-10, 1875, S. 637.
Tabelle 15:
Einfuhr von Rohrstocken. 1832 bis 1834. in Papierrubel
Jahr
St. Petersburg
restliche Gebiete
1832
6750
298
1833
8470
1562
1834
12060
1428
Summe
27280
3288
Quelle: Po otnoseniju departamenta vnesnej torgovli s preprovozdeniem pros'by tokarej ob
izmenenii tarimoj stat'i о trostjach, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 889,1. 1.
Aufgrund der massenhaften Einfuhr von Rohrstocken aus d e m Ausland sank die
N a c h f r a g e bei den St. P e t e r s b u r g e r D r e c h s l e r n d r a s t i s c h . D a s
AuBenhandelsdepartement wies die B e s c h w e r d e der Drechsler zuriick, die
Einfuhr v o n R o h r s t o c k e n set nicht erheblich und beeintrachtige nicht die
wirtschaftliche Lage der Meister. Dennoch, die Beschwerde der Drechsler gibt
einen Hinweis auf ihre instabile Lage. Ein ahnlicher Vorfall ereignete sich 1845
im Z u s a m m e n h a n g mit der Manufakturausstellung in St. Petersburg. Jetzt
ersuchten die zunftigen Waffenschmiede den Finanzminister Fedor Pavlovic
Vroncenko, die Einfuhr v o n Waffen aus KongreBpolen als Ausstellungstiicke fur
d i e M a n u f a k t u r a u s s t e l l u n g e n z u u n t e r b i n d e n . S c h o n fur d i e v o r h e r i g e
A u s s t e l l u n g in M o s k a u waren etwa 100 E x e m p l a r e fur ein Waffenmodell
eingefuhrt und nach der Ausstellung durch Kommissionare weiter verkauft
w o r d e n . D i e p o l n i s c h e n Waffenschmiede profitierten b e s o n d e r s v o n ihrer
g e o g r a p h i s c h e n L a g e und bauten die Waffen aus Mittel- u n d W e s t e u r o p a
importierten Teilen zusammen, die sie dann nach RuBland zu niedrigen Preisen,
als Ausstellungsstticke deklariert, einfuhrten. Sie waren auch dadurch begunstigt,
daB ihre Waren nach d e m Zolltarif von 1838 mit 12 K o p e k e n statt ublichen 5,8
Silberrubeln p r o Pfund belegt w u r d e n . Darunter litten nicht nur russische
Waffenschmiede, sondern auch der Warschauer Waffenschmied Kollet, einziger
Produzent in KongreBpolen, in dessen Werkstatt keine auslandischen Teile
v e r w e n d e t w u r d e n . V e r g e b l i c h bemiihte er sich im Juli 1844 d u r c h den
ministerialen Staatssekretar von Polen beim Finanzminister eine zollfreie und von
den Manufakturausstellungen unabhangige Einfuhr fur seine Waffenprodukte
nach RuBland zu erreichen. Seine Bitte blieb ihm verwehrt, w a s beweist, daB die
russischen Waffenschmiede gut von der auslandischen Konkurrenz geschtitzt
wurden .
968
968
Prosenie ot starSin i tovariSdej S. Peterburgskich remeslennych rossijskogo i nemeckogo
cechov i masterov к tomu i drugomu prinadleza§£ich, in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1220: Po pros'be
starSin i masterov S. Peterburgskogo oruzejnogo cecha о vospre§cenii znaditePnogo privoza iz
Carstva PoPskogo ognestrePnogo oruiija dlja predstavlenija na vystavki (1845-1846), 1. 4.
D i e St. P e t e r s b u r g e r W a f f e n s c h m i e d e forderten S c h u t z v o r k e h r u n g e n , die
erlaubten, auch die Anzahl der Waffen, die als Ausstellungsstucke eingefuhrt
wurden, zu reduzieren:
1.
2.
Es sollte nur ein Ausstellungsstuck pro Waffenmodell eingefuhrt werden.
Es
sollte
den
Waffenschmiedezunftexperten
erlaubt
werden,
zu
uberprufen, o b die auslandischen Waffen in den Laden v o m russischen
969
Zoll versiegelt waren oder n i c h t .
Als M e c h a n i s m u s , den Markt zumindest teilweise regulieren zu konnen, diente
die Reduktion der Einfuhr bestimmter Waren oder die E r h o h u n g der Zolle. Die
Zunfte ersuchten die zustandigen Behorden immer wieder, von diesen
MaBnahmen Gebrauch zu machen, u m so die Konkurrenz zu schwachen.
Hier k o m m t die marktkontrollierende Funktion der Zunfte z u m Ausdruck, die
ihre Existenzgrundlage sichern wollten. O b w o h l es nur u m die Waffen ging, die
zur A u s s t e l l u n g g e b r a c h t w u r d e n , alarmierte die Zunft u n v e r z u g l i c h d a s
AuBenhandelsdepartement, da sie negative Auswirkungen durch den starkeren
V e r k a u f der Ausstellungsstucke auf ihr H a n d w e r k befurchtete. D i e
tibrige
Waffeneinfuhr aus Polen wurde ganz verboten, ein Hinweis dafur, daB die
russischen Waffenschmiede zu dieser Zeit gut genug durch Einfuhrverbote und
Zolle geschutzt wurden.
Konkurrenz fand aber auch auf anderer Ebene start. Einerseits gab es eine
Konkurrenz innerhalb der Zunft, andererseits auch zwischen den Meistern
verschiedener Zunfte. Ein Beispiel fur die Konkurrenz zwischen den Meistern
verschiedener Zunfte ist der Fall des Meisters der Schuhmacherzunft Heinrich
E m m e r m a n n . U m seine Kenntnisse uber die Lackierung von Leder zu verbessern,
ging er 1836 fur einige Zeit nach Altona. Dort fand er einen gewissen Meister
Koch, der mit ihm nach St. Petersburg ging. A m 1. Oktober 1836 schlossen beide
in Anwesenheit eines Zunftmaklers einen Zusammenarbeitsvertrag, der drei Jahre
gelten sollte. Der Vertrag verpflichtete
Koch, sein Wissen um
die
L a c k b e h a n d l u n g nicht weiterzugeben. Doch es dauerte nicht lange, bis Koch nach
nur einem M o n a t E m m e r m a n n wieder verlieB. Ein gewisser Schuhmacher Butz
(er nannte sich auch Arens) tiberredete Koch, in seiner Werkstatt zu arbeiten. A m
Lackgeheimnis waren die Meister sehr interessiert, so u m w a r b e n sie K o c h
standig. Im M a r z 1838 war K o c h bei einem anderen Lederer, Christian Gobel
beschaftigt, der seit 20 Jahren in St. Petersburg tatig war. Z u j e n e r Zeit gab es nur
die Saffian- und Wildledererzunft, in der Gobel j e d o c h nicht Mitglied war. Gobel
hatte bessere C h a n c e n in der K o n k u r r e n z mit E m m e r m a n n , weil er keine
Zunftabgaben zahlte und sich mit einem anderen ebenfalls zunftfreien Meister,
969
Ebd., Iff.
F r i e d r i c h B a l t r u s c h z u s a m m e n g e t a n hatte, u m die L e d e r s t u c k e
gunstiger
970
herstellen zu к б п п е п .
U m das Geheimnis des Lederlacks zu wahren und sich vor der Konkurrenz besser
zu schutzen, erwarb E m m e r m a n n beim D M V T ein funfjahriges Patent bzw. das
Privileg fur 1000 Assignatenrubel, funf Jahre lang exklusiv Lederstucke mit
j e n e m Lackverfahren bearbeiten und verkaufen zu durfen. 1838 beschwerte er
sich dann beim D M V T uber die Verletzung seiner Patentrechte durch die Lederer
Gobel u n d Baltrusch. Z u der Zeit hatte E m m e r m a n n etwa 2.000 lackierte
L e d e r s t u c k e , die er k a u m verkaufen konnte. E m m e r m a n n verarbeitete die
Lederstucke nur weiter, die er fur teures Geld in der Fabrik kaufen muBte. Im
Unterschied zu ihm gerbten Gobel und Baltrusch die Leder selbst, w a s ihre
P r o d u k t e billiger m a c h t e . N a c h einer U n t e r s u c h u n g verbot Finanzminister
Kankrin den nichtzunftigen M e i s t e r n G o b e l u n d B a l t r u s c h die lackierten
Lederstucke herzustellen, da sie nicht Mitglied in der Lackiererzunft w a r e n .
Erst 1842 konnte Emmermann seine Privilegien auch rechtlich durchsetzen, ein
Jahr vor A b l a u f seines P a t e n t r e c h t e s .
A u f besonders starke Schwierigkeiten stieBen die hauptstadtischen Uhrmacher,
die u m die Mitte des 19. Jahrhunderts fast vollstandig v o n auslandischen
Lieferanten a b h i n g e n . T a s c h e n u h r e n w u r d e n z. B . ausschlieBlich aus d e m
A u s l a n d e i n g e f u h r t , W a n d u h r e n h i n g e g e n als E i n z e l t e i l e , d i e v o n d e n
Uhrmachern z u s a m m e n g e b a u t werden muBten. Dies lag an der unterschiedlichen
Verzollung von fertigen Uhren und Uhrwerken bzw. Einzelteilen fur die Uhren:
fur fertige Uhren w u r d e n 2,6 Silberrubel pro Pfund und fur Einzelteile bzw.
Uhrwerke nur acht Silberkopeken pro Pfund berechnet. Das ergab fur komplette
Wanduhren, die z w i s c h e n drei und funf Pfund wogen, einen Zoll zwischen acht
und 13 Silberrubel, eine vergleichbare Uhr in Einzelteilen w u r d e mit etwa 30 bis
40 Silberkopeken v e r z o l l t .
Die hauptstadtischen Uhrmacher waren nicht imstande, komplette Uhren so billig
herzustellen und so beschrankten sie ihre Tatigkeit auf die Reparatur von alten
Uhren oder bauten sie aus fertigen Teilen zusammen. Dadurch konnten die
971
972
973
970
Prosenie v DMVT ot sapoinogoraasteraGejnricha Emmermana ot 1 maja 1837, in: RGIA,
f. 18, op. 2, d. 939: Po pros'be sapoznogo cecha mastera Emmermana о vydace privilegii na
sposob prigotovlenija lakirovannych koi (1837-1842), hier 1. 1.
971
Predpisanie s. peterburgskomu oberpolicmejsteru ot direktora DMVT Jakova Aleksandrovica
Druzinina ot 30.1.1838; Dokladnaja zapiska ot 24.3.1838; OtnoSenie к Ja. A. Druzininu (o.A.)
ot 29.6.1838, in: Ebd., 11. 30, 53 und 55.
972
973
Ebd., 1. 134,136.
Dokladnaja zapiska ot starost russkogo i inostrannogo Casovych cechov K. Siracha i J.
Winterhaltera (sentjabr' 1850), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1438: Po otnoseniju departamenta
vneSnej torgovli ob opredelenii poSliny na vnutrennie pribory 6asov (1850), hier 1. 5f.
Uhrmacherlehrlinge und -gesellen nicht in vollem Umfang das U h r e n h a n d w e r k
erlernen. Eine ahnliche E n t w i c k l u n g war auch in Westeuropa festzustellen. Mit
A u s n a h m e einiger Stadte in der Schweiz, Frankreich und im Schwarzwald
wurden auch dort die Uhren in Fabriken hergestellt. N u r bei wenigen Uhrmachern
in St. Petersburg wie z. B . bei Tolstoj und N o s o v wurden noch teuere goldene
Taschenuhren fur 2 0 0 bis 1.000 Silberrubel pro Stuck komplett hergestellt .
Allerdings gingen die M e i n u n g e n der Uhrmacher bei einer Befragung zur H o h e
der Verzollung von eingefuhrten Uhrwerken weit auseinander. Sieben
Uhrmacher, darunter sechs russische und ein auslandischer, sprachen sich fur eine
E r h o h u n g der Z o l l g e b t i h r e n a u s , u m das e i g e n e H a n d w e r k zu s c h u t z e n .
Zifferblatter, Uhrzeiger und insbesondere Springfedern sollten aber
a u s g e n o m m e n werden, da sie zu jener Zeit in RuBland noch nicht hergestellt
wurden. Z e h n U h r m a c h e r , darunter sechs auslandische u n d vier russische,
pladierten ftir eine niedrige Verzollung, da sie der M e i n u n g waren, daB die
Kapazitat des U h r e n h a n d w e r k s in RuBland nicht ausreichte, u m die Nachfrage zu
stillen. Sie k o n n t e n sich mit Hilfe d e s A u B e n h a n d e l s d e p a r t e m e n t s a u c h
durchsetzen, so daB die niedrige Zollgebtihr beibehalten w u r d e .
A n diesen oben aufgefuhrten Beispielen wird deutlich, in welch h o h e m MaBe das
St. Petersburger H a n d w e r k v o m westeuropaischen Markt abhing. Aber auch
z w i s c h e n d e n Z u n f t h a n d w e r k e r n g a b es m a n c h m a l e i n e n u n e r b i t t l i c h e n
Wettbewerb. So schrieben die Teigwarenmacher d e m Innenminister 1850:
974
975
„ W e n n die Backer, die auch ohnehin zu den Wohlhabendsten gehoren,
das Recht b e k o m m e n , Teigwaren (makarony) herzustellen, werden wir
nicht mehr fahig sein, mit ihnen konkurrieren zu k o n n e n und gehen
infolge dieses Wettbewerbs z u g r u n d e " .
976
U m die Mitte des 19. Jahrhunderts war der St. Petersburger M a r k t bereits so
gesattigt, daB es k a u m noch Freiraum fur sich neu niederlassende Meister gab.
D i e in Z u s a m m e n h a n g m i t d e m v e r s t a r k t e n W e t t b e w e r b s c h w i e r i g e
wirtschaftliche L a g e veranlaflte viele Handwerker aus St. Petersburg ins Innere
RuBlands umzusiedeln. A m 2 0 . Juli 1844 b a t e n 50 deutsche Meister der
russischen Zunfte bei Innenminister L.A. Perovskij u m Erlaubnis, aus St.
Petersburg nach K a z a n oder in andere russische Stadte ins Innere RuBlands
auswandern zu durfen. Der G r u n d fur diese Fluktuation war die V e r m e h r u n g der
Handwerkeranzahl in der Hauptstadt. Dadurch sanken die Warenpreise und es
974
Otnosenie ministerstva finansov к moskovskomu otdeleniju manufakturnogo soveta ot 27
fevralja 1851 g., in: Ebd., 1. 16ff.
975
976
Ebd., 1. 18f.
ProSenie к ministru vnutrennich del Perovskomu ot masterov makaronnogo cecha ot 28
apreljal850,1. If.
gab nicht genug Arbeit. D e n Kindern der Handwerker fehlte die Perspektive, eine
Lehrstelle bei einem Meister zu finden, da Gesellen u m diese Zeit im UberfluB
vorhanden waren. Kazan war als groBte Stadtunter den ubrigen
Gouvernementsstadten, mit seiner evangelisch-lutherischen Kirche, der
Universitat und einer Vielzahl von Lehranstalten ein attraktives Ziel fur die
Umsiedler. In K a z a n mangelte es zudem an qualifizierten H a n d w e r k e r n und die
L e b e n s h a l t u n g s k o s t e n w a r e n g e r i n g e r als in St. P e t e r s b u r g . Als groBter
Handelszentrum a m groBen Wolgaer H a n d w e l s w e g zwischen Sibirien und dem
Europaischen RuBland gelegen, war die Stadt mit dem groB mit d e m Orenburger
Gebiet, Astrachan , Saratov, Simbirsk sowie mit den nordrussischen Stadten wie
P e r m und Vjatka verbunden. Durch die Umsiedlung dieser Handwerker nach
Kazan ergaben sich Vorteile fur die St. Petersburger Handwerker, denn die
Nachfrage wurde dadurch groBer. AuBerdem stellte dies eine Erleichterung fur
die Handwerkergesellschaft dar, von der „lastigen Aufgabe befreit zu sein, die
Steuern v o n den armeren Meistern e i n z u t r e i b e n .
4
4
44
977
Einerseits spiegelt das Gesuch der deutschen Meister die verschlechterte Lage des
H a n d w e r k s u m die Mitte des 19. Jahrhunderts wider. Probleme verursachte die
erhohte Konkurrenz durch die zunftfreien Meister und vor allem durch die immer
groBere A n z a h l der Staatsbetriebe, die ihre W a r e n zu niedrigeren Preisen
verkaufen konnten, weil sie nicht g e z w u n g e n waren, in den Verkaufspreis
Mietskosten, Materialkosten und Steuerabgaben in den Endpreis einzukalkulieren
und billigere Arbeitskrafte hatten. So beschwerten sich die Schneider, Dreher,
W u r s t m a c h e r und andere Handwerker wegen einer neu eingefuhrten Steuer, die
in F o r m eines bestimmten Prozentsatzes von der Miete abgezogen wurde.
Andererseits b e w e i s e n die stark a n w a c h s e n d e n H a n d w e r k e r z a h l e n sowohl
innerhalb als auch auBerhalb der Zunfte, daB das H a n d w e r k sich auch weiterhin
b e h a u p t e n k o n n t e . G e r a d e w e g e n s e i n e s h o h e n N i v e a u s k o n n t e es d e n
K u n d e n s t a m m fur sich gewinnen bzw. seinen Absatzmarkt sichern. D e n n o c h
vollzog sich infolge der wirtschaftlichen Umstrukturierungen auch im H a n d w e r k
ein Wandel. N a c h d e m Gesetz v o m 14. N o v e m b e r 1824 (Gildenreform)
wurde
den K a u f l e u t e n aller drei G i l d e n erlaubt, die Z u n f t h a n d w e r k e o h n e eine
B e g r e n z u n g der Arbeitoehmerzahl zu bertreiben. Seit dieser Zeit verbreitete sich
in der Hauptstadt das Verlagshandwerk in besonders h o h e m MaBe. Kaufleute
richteten neben ihren Laden groBe Werkstatten ein und erhielten Auftrage,
w o d u r c h sie den Zunftmeistem die Arbeit w e g n a h m e n . Die Kaufleute vergaben
die Auftrage anderen Handwerkern und Zunftmeistem auBerhalb ihrer Werkstatt.
977
ProSenie masterov iz nemcev S. Peterburgskogo russkogo cecha к ministru vnutrennich del
L. A. Perovskomu ot 20.07.1844, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 903: Po proseniju masterov iz
nemcev S. Peterburgskogo remeslennogo cecha о dozvolenii im pereselit'sja v Kazan' i drugie
goroda (20.07.1844 - 20.09.1850), hier 1. 3ff.
978
Sie bedeuteten fur die H a n d w e r k e r eine „vernichtende K o n k u r r e n z "
und
beraubten sie ihrer E x i s t e n z g r u n d l a g e . Diese K o n k u r r e n z z w a n g auch die
Zunftmeister, fremde Waren zu verkaufen und zum V e r l a g s h a n d w e r k
uberzugehen, um im Wettbewerb tiberleben zu konnen. Dabei fiel bei den
Meistern der Anteil v o n Eigenherstellung und Kommissionswaren entsprechend
ihrer wirtschaftlichen Lage und der GroBe ihrer Werkstatte unterschiedlich aus.
Z u r Beschrankung des Wettbewerbs zwischen den Zunfthandwerkern wurden in
d e n 1 8 5 0 e r J a h r e n fur d i e w i c h t i g s t e n Z u n f t e S o n d e r s t a t u t e n b e i m
W i r t s c h a f t s d e p a r t e m e n t d e s Innenministeriums ausgearbeitet, in d e n e n die
Handwerksarten genauestens abgegrenzt wurden, „um j e d e r Gewerbegruppe die
alleinige Ausiibung ihres Spezialgewerbes garantieren zu k o n n e n " . Ein anderes
Mittel, die Konkurrenz zu dampfen, war der Versuch der Handwerksverwaltung,
die Einfuhrung von technischen Neuerungen zu unterbinden. Der St. Petersburger
Kaufmann Ivan Pallizen und sein Partner der Backermeister Eduard Donnerberg
versuchten z. B . 1850, eine zweite Backerei in St. Petersburg mit einem neuen
modernisierten Ofen zu eroffhen. Pallizen lieB zu diesem Z w e c k seine Erfindung
beim Wirtschaftsdepartement patentieren und erhielt ein M o n o p o l fur funf Jahre.
Die Handwerksverwaltung verbot D o n n e n b e r g aufgrund neuer Vorschriften der
deutschen und russischen Backerzunft (obrjady), die 1850 verabschiedet wurden,
eine zweite Backerei aufzumachen, um das Gleichgewicht im Backergewerbe
nicht noch mehr zu g e f a h r d e n .
979
980
A u c h auflerhalb der Zunft g a b es fur die Zunftmeister viele Konkurrenten so z. B .
im Farberhandwerk. 1873 baten die Meister der Farberzunft Gesselgrep, Remizov
und andere, den zunftfreien Handwerkern und Kleinburgern die Einrichtung von
den Auftragsannahmestellen in der Innenstadt zu verbieten. Z u dieser Zeit
wurden noch alle Farbereien, laut Gesetz uber die zugelassenen Standorte fur
Industriebetriebe der Hauptstadt v o m 22. September 1833 und den Verordnungen
d e s G e n e r a l g o u v e r n e u r s , v o m S t a d t z e n t r u m in die B e z i r k e a m Stadtrand
v e r l a g e r t . U m den K u n d e n s t a m m nicht zu verlieren, waren die Meister dazu
g e z w u n g e n , in der Innenstadt Annahmestellen einzurichten, u m die Auftrage der
K u n d e n e n t g e g e n n e h m e n zu konnen. Dadurch verlor der Meister z u n e h m e n d
981
978
Fesenko, NaSi remeslenniki, S. 20.
979
Ennen, Zunfte, S.31.
980
Prosenie Pallizena m.v.d. Perovskomu ot 14 ijulja 1850 g.; Prosenie Eduarda Donnerberga ot
19 maja 1850 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 892: О razresenii peterburgskomu 3 giPdii kupcu
Ivanu Pallizenu ustraivat' v gorodach Rossii pekarni dlja pecenija chlebov v osobo ustroennych
privilegirovannych peeach, hier 1. 3f., 5.
981
Donesenie voennogo general-gubernatora ministru vnutrennich del ot 29 oktjabrja 1843 g,
in:f. 1287, op. 37, d. 43 (6.10.41-3.6.45), hier 1. 27f.
seine Stellung als leitender F a c h m a n n bzw. mitwirkender Produktionsteilnehmer
im H e r s t e l l u n g s p r o z e B u n d w a r u b e r w i e g e n d im V e r t r i e b t a t i g b z w . m i t
Buroarbeit beschaftigt .
Betroffen w a r e n hauptsachlich Kleinburger, die das G e w e r b e in kleinerem
U m f a n g betreiben durften u n d dafur G e w e r b e s c h e i n e v o n der S t a d t d u m a
bekamen. Sie erofmeten Annahmestellen, in die nur Auftrage fur die Farbung
e i n g i n g e n und vermittelten sie an die H a n d w e r k s s t a t t e n weiter. Die
A u s w i r k u n g e n w a r e n weniger negativ gewesen, w e n n diese Kleinunternehmer
sich an die Zunftmeister gewandt hatten. In den meisten Fallen wurden die
Auftrage direkt an die Gesellen - vorbei am Zunftmeister - weitergegeben. W e n n
uberhaupt, erfuhr der Meister nur zufallig von den Bestellungen. Diese Art der
Auftragsverteilung w a r fur die Meister ausgesprochen schadlich, weil sie durch
Schwarzarbeit ihrer Gesellen bzw. ihrer Lohnarbeiter erhebliche Materialverluste
erlitten. In Anbetracht dessen, daB die Annahmestellen meistens von armeren
Stadtbewohnern gefuhrt wurden, die keine Mittel hatten, eigene Werkstatten zu
griinden, lieB das Innenministerium sie gewahren, u m sie nicht in vollige A r m u t
zu sturzen u n d u m das M o n o p o l einiger reicher Handwerker zu unterbinden.
Die zunftigen und auBerhalb der Zunft stehenden H a n d w e r k e r konkurrierten
miteinander, erganzten sich aber auch gegenseitig. Die Zunfthandwerker in St.
Petersburg hatten einen wesentlich hoheren Qualifikationsgrad, so daB es zu einer
Arbeitsteilung k a m , die sich auch in einer Aufteilung nach Handwerkszweigen
b e m e r k b a r m a c h t e . D a s B a u h a n d w e r k w u r d e fast n u r v o n b a u e r l i c h e n
Handwerkern ausgeubt, das mechanische H a n d w e r k dagegen fast ausschlieBlich
von stadtischen Handwerkern.
982
9.2.2
Nichtziinftige H a n d w e r k e r
E s g a b in der Hauptstadt eine Mehrzahl von Handwerkern, die ihr Gewerbe
auBerhalb der Zunfte betrieben. V o r allem bauerliche Handwerker, aber auch die
eigentlichen Stadtbtirger, die Kleinburger und Kaufleute wurden zu
Konkurrenten, aber auch u m Reservoir an Arbeitskraften fur das Zunfthandwerk.
D e r ErlaB v o m 8. A u g u s t 1762., nach dem die Bauern einjahrige Passe erhielten,
die ihnen erlaubten, in den Stadten zu arbeiten, scheint nicht der erste Versuch
der Arbeitgeber zu sein, bauerliche Saisonarbeit zu regeln. Schon nach dem ErlaB
von 1704 erhielten die in M o s k a u arbeitenden bauerlichen Saisonarbeiter bzw.
982
Ot upravljajuScego ministerstvom vnutrennich del stats-sekretarja knjazja Lobanova к
upravljajuScemu ministerstvom finansov ot 11 ijulja 1873 goda, in: RGIA, f. 1287, op. 38, d.
1527: Po chodatajstvu S. Peterburgskich masterov krasiPnogo cecha Gesselrepa, Remizova i
drugich о nedozvolenii licam, neimejuSCim sobstvennych krasil'nych zavedenij, soderzat'
priemnye dlja okraski materij, bez vzjatija kupeceskich dokumentov i bez zapiski, po vyderzanii
nadlezaScego ekzamena, v krasiPnyj cech v zdesnej stolice, 1. 6f.
H a n d w e r k e r Bescheinigungen, die ihnen einen einjahrigen Aufenthalt in der Stadt
e r m o g l i c h t e n . Im 19. Jahrhundert wurden die Erwerbsmoglichkeiten fur die
Bauern in den Stadten weiter verbessert. Mit d e m Gesetz v o m 2 2 . August 1826
w u r d e n neben den einjahrigen auch halbjahrige Passe sowie dreimonatige
Bescheinigungen eingefuhrt, die den Bauern erlaubten, fur kurze Zeiten nach St.
Petersburg zu k o m m e n . Im Juli 1831 gab es dann eine zusatzliche Regelung uber
eine Verlangerung der Passe, wodurch fur die Bauern eine Moglichkeit gegeben
w a r , in St. P e t e r s b u r g auch o h n e saisonale U n t e r b r e c h u n g e n arbeiten zu
konnen .
In welchen Grenzen betrieb der bauerliche H a n d w e r k e r sein Gewerbe in der
Stadt? Die Antwort auf diese Frage gibt der Kommissionsvorsitzende Stackelberg
am Vorabend der Bauernbefreiung 1861. Seinen Worten nach durfte m a n in der
Stadt solange zunftfrei arbeiten, bis das G e w e r b e eine betrachtliche GroBe
erreicht hatte. U b e r die genaue GroBe der Werkstatt wurde allerdings nichts
gesagt. D a s s o g e n a n n t e H e i m g e w e r b e (domasnee
zavedenie)
w a r fur die
Kleinburger und Adligen ohne einen Zunfteintritt erlaubt. D a s auBerhalb der
Stadt liegende H a n d w e r k hatte uberhaupt keine Begrenzungen und war frei. In
der Stadt selbst war der EinfluB der Zunfte begrenzt, weshalb j e d e r ohne Gesellen
und Lehrlinge fur sein „taglich Brot" ein Gewerbe betreiben durfte. In kleinerem
Umfang durften also alle das H a n d w e r k b e t r e i b e n .
Die Zunfte sahen dieses Problem anders: mit d e m ErlaB des ersten Departements
des Stadtmagistrats v o m 31.08.1843 erreichte die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g der
russischen Zunfte, daB die leibeigenen Bauern ohne schriftliche Erlaubnis des
Gutsherren zur G r u n d u n g eines Betriebes nicht in die Zunfte aufgenommen
werden durften, was im Grunde g e n o m m e n eine bloBe Formalitat war, die Bauern
aber in ihrer Gewerbetatigkeit erheblich b e s c h r a n k t e . Dieser Fall laBt sich
eindeutig als ein Versuch erklaren, die bauerliche Konkurrenz einzuschranken.
Die Zunfte versuchten immer wieder Druck auf den hauptstadtischen
Arbeitsmarkt auszuuben, u m ihre wirtschaftliche Lage zu sichern und erhohte
K o n k u r r e n z durch zunftfreie Meister und vor allem durch eine immer groBere
Anzahl v o n Staatsbetrieben einzudammen.
983
984
985
986
Die GroBindustrie in St. Petersburg warb Arbeitskrafte nicht nur beim H a n d w e r k
sondern auch in der Landwirtschaft. Im 19. Jahrhundert machten die Bauern 9 0 %
983
Vgl. Unterkapitel 2.1 und Kitanina, Rabo&e, S. 16.
984
Ebd., S. 116.
985
Trudy komissii, cast 1, S. 177.
986
4
Zapiska statskogo sovetnika Smirnova ot 23 ijunja 1844 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 100,
1.46.
987
der Belegschaft in der St. Petersburger Industrie a u s . Eine schwach entwickelte
Landwirtschaft im St. Petersburger G o u v e r n e m e n t forderte die auswartige
Saisonarbeit der L a n d b e v o l k e r u n g in e i n e m b e s o n d e r e n MaBe. N a c h den
B e r e c h n u n g e n v o n L. V. V y s k o e k o v w a r 1/6 der G e s a m t b e v o l k e r u n g des
G o u v e r n e m e n t s saisonal in St. Petersburg beschaftigt, ein Prozentsatz, der in
anderen Bezirken bei etwa 1 0 % l a g . Charakteristisch war aber auch, daB die
Saisonarbeiter des G o u v e r n e m e n t s nicht im Gewerbe, wie es in den zentralen
Regionen RuBlands der Fall war, sondern uberwiegend im Handels-, Transportund Dienstleistungsbereich tatig waren. Die hochentwickelte hauptstadtische
Industrie und das H a n d w e r k hatten einen h e m m e n d e n EinfluB auf die Entfaltung
der gewerblichen Tatigkeit der Landbevolkerung in den naheliegenden Regionen
von St. Petersburg: D a s textil- und metallverarbeitende Gewerbe blieb meistens
in seinem „Urzustand" konserviert, d.h. unterentwickelt und bedeutete so fur das
St. Petersburger H a n d w e r k keine ernsthafte Konkurrenz. D a s L a n d h a n d w e r k
erfullte seine Rolle als Rohstof flieferant bzw. Zulieferer v o n halbfertigen Waren
b e s o n d e r s fur d i e S c h u h m a c h e r - , S c h n e i d e r - u n d S c h r e i n e r - u n d
metallverarbeitende B e t r i e b e .
988
989
M i t d e m E i s e n b a h n a n s c h l u B v o n St. P e t e r s b u r g seit der M i t t e d e s 19.
Jahrhunderts w u c h s fur Arbeiter und Handwerker die Attraktivitat der Stadt noch
in groBerem MaBe und schloB die umliegenden Archangelsker, Olonecker,
Vologoder, Novgoroder, Jaroslavler und Kostromaer Gouvernements im Radius
von rund 1000 k m ein. Dabei belief sich der Anteil der bauerlichen Saisonarbeiter
aus d e m russischen N o r d e n auf 4 6 % . Im Sommer waren im StraBenbau und in der
Bauindustrie unter anderem als M a u r e r , Ofensetzer, M a l e r und Z i m m e r e r
beschaftigt, die in d e n A r t e l s o r g a n i s i e r t w u r d e n . I m W i n t e r w a r e n es
uberwiegend die Handwerker, die als ungelernte Arbeiter bzw. Gesellen in den
990
Werkstatten Arbeit f a n d e n . In St. Petersburg waren 1881 39.620 Saisonarbeiter
991
aus den umliegenden Gouvernements beschaftigt . Es sei angemerkt, daB w e g e n
der
987
Spezifik
der
bauerlichen
Arbeiter
oder
Handwerker
die
Kitanina, Rabo&e, S. 13.
988
L.V. Vyskockov, Vlijanie Peterburga na chozjajstvo i byt gosudarstvennych krest'jan
Peterburgskoj gubernii v pervoj polovine 19 veka, in: N.V. Juchneva (Hrsg.), Staryj Peterburg:
istoriko-etnograficeskie issledovanija. Leningrad 1982, S. 135.
989
Vgl. K. N. Serbina, Krest'janskaja zelezodelatePnaja promySlennost' Severo-Zapada Rossii
XVI-pervoj poloviny XIX v, Leningrad 1971, S. 63, 87, 94, 100f.; Kitanina, Rabodie, S. 86f.
990
Vgl. Kitanina, Rabodie, S. 80ff.; L. V. Vyskockov, Ob etnideskom sostave sePskogo
naselenija Severo-Zapada Rossii (vtoraja polovina XVIII-XDC v.). In: N. V. Juchneva (Hrsg.),
Peterburg i gubernija. Istoriko-etnografideskie issledovanija. Leningrad 1989, S. 113-131.
Arbeitskraftefluktuation sehr hoch war, was die wirtschaftliche Lage der Meister
in m a n c h e n Perioden betrachtlich destabilisierte .
992
Die Ursachen fur den Fortgang der Bauern waren unter anderem der M a n g e l an
Boden, diverse MiBernten und das Fehlen v o n Zugvieh. Die Arbeit in der Stadt
bot also vor allem materielle Vorteile. Besonders hoch wurde die Saisonarbeit in
St. Petersburg bezahlt, w a s sich in den h o h e r e n G e l d z i n s a b g a b e n an den
Grundherren der bauerlichen H a n d w e r k e r niederschlug. D a s trug dazu bei, daB z.
B . im Jahre 1861 der Geldzins der Bauern an den Grundherren die Steuerabgaben
an den Staat in St. Petersburg u m das drei- bis vierfache und im St. Petersburger
G o u v e r n e m e n t mit 11,31 gegen 1,87 Rubel u m das sechsfache u b e r s t i e g . Zur
E r h o h u n g der Mobilitat der Bauern, die die kurzfristigen Stadtaufenthalte erst
ermoglichte, trug die Bauernbefreiung 1861 bei. Schon am E n d e der 1850er Jahre
g a b es in St. Petersburg rund 2 5 0 . 0 0 0 Beschaftigte im G e w e r b e u n d im
Dienstleistungsbereich, von denen rund 150.000 das ganze Jahr und etwa 100.000
saisonal tatig waren. D a v o n waren rund 150.000 im G e w e r b e , in Fabriken,
W e r k e n und Werkstatten beschaftigt .
In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts diente der Mariinskaja-Platz an der
Blauen Briicke a m Mojka-FluB als Sammelplatz fur die bauerlichen Handwerker.
Hier wurden die Artels der Maurer, Stuckarbeiter und Ofensetzer aus Jaroslavl',
Sagearbeiter aus Vologda, Kupferschmiede und Messingarbeiter aus Olonec,
Schreiner, Zimmerleute und Maler aus Galic, Lederer aus C u c h l o m a und andere
H a n d w e r k e r von Auftragnehmern (podrjadtik)
vor allem aus der B a u b r a n c h e
unter Vertrag g e n o m m e n . In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts befand
sich der Sammelplatz am Obzornyj r j a d auf dem Nikol'skij-Markt:
993
994
995
996
„Der Handel wird hier iiberwiegend im S o m m e r getrieben, w e n n aus
d e m I n n e r e n R u B l a n d s hier d a s A r b e i t s v o l k zu Z e h n t a u s e n d e n
992
Vgl. Т. M. Kitanina, RoP krest'janstva v formirovanii promySlennych raboeich SanktPeterburga v period genezisa kapitalizma, in: Severo-Zapad v agramoj istorii Rossii.
Kaliningrad 1994, S. 58; dies., Rabocee soslovie i pravitel'stvennaja politika v pervoj polovine
ХГХ v., in: Mavrodinskie 6tenija. St. Petersburg 1994, S. 161.
993
N. M. Druzinin, Konflikt mezdu proizvoditePnymi silami i feodaPnymi otnosenijami
nakanune reformy 1861 g., in: VI (1954) 7, S. 71, aus: Kitanina, Rabo£ie, S. 121.
994
I. D. KovaPfcenko, Ob osobennostjach raboty po najmu pomeS&C'ich krest'jan Rossii v
pervoj polovine XEX veka, in: Genezis kapitalizma v promySlennosti i sel'skom chozjajstve.
Moskau 1965, S. 396f., in: Kitanina, Rabodie , S. 120.
995
9 9 6
A. P. Basuckij, Panorama Sankt Peterburga, 6. 2. St. Petersburg 1834, S. 72.
Wortlich ubersetzt „gefruBige Reihe". Der Platz, wo man billig essen konnte. Das Essen
wurde in den groBen Kesseln zubereitet. Als Zutaten wurden Eingeweide und Reste aus
Fleischern verwandt.
hinstrumt: Maurer, Stuckarbeiter, Zimmerleute, Maler, Dachdecker und
andere. Schon am Anfang des Fruhlings sind die Zuge der
N i k o l a e v s k e r - E i s e n b a h n l i n i e mit Saisonarbeitern voll besetzt. Im
Herbst bringen die Zuge dann die Saisonarbeiter zum halben Preis
wieder aufs L a n d zuruck' .
9 9 7
E s ist zu bemerken, daB das gesetzlich zugelassene zunftfreie Handwerk, das
parallel zu den Zunften bestand, am meisten fur „die Unterentwicklung des
Zunftwesens", besonders in den kleineren Stadten, verantwortlich war. D e s w e g e n
versuchten die Zunfte der bauerlichen Konkurrenz entgegenzutreten, indem sie ab
den 1820er Jahren immer neue Gewerbearten in die Zunfte integrierten. 1874
waren in den acht Zunften der Hauptstadt 119 Gewerbearten vereinigt. Die
B e t r i e b s a m k e i t d e r P e t e r s b u r g e r Z u n f t e t r u g d a z u b e i , daB sie v i e l e
Gewerbetreibende wie z. B . Gartner oder Kellner unter sich vereinten, die mit
d e m H a n d w e r k bzw. typischen Stadthandwerk w e n i g oder uberhaupt nichts zu
tun hatten.
Als einschlagiges Beispiel dafur kann das Korbflechterhandwerk dienen, das rein
landlicher Herkunft war und mit der Zeit „verstadtert" wurde. Die Korbflechterei
erreichte in der Hauptstadt eine betrachtliche GroBe, war in einer Zunft vertreten
u n d fand groBe V e r b r e i t u n g als H e i m g e w e r b e in der U m g e b u n g v o n St.
Petersburg. Der zentrale Ort fur den Korbhandel war der Heumarkt am SennajaPlatz, w o sich die groBen Korbflechtwerkstatten befanden, die vermutlich von
den Zunftmeistem betrieben wurden. Eine solche Werkstatt stellte jahrlich bis zu
500.000 Korbe her, nach denen groBe Nachfrage bestand und mit denen im Jahr
bis zu 100.000 Rubel des gesamtstadtischen Umsatzes erzielt wurde. Fur den
GroBhandler kosteten z. B . 100 Gemusekorbchen nur 0,8 R u b e l . Des weiteren
vereinigten die Zunfte Gewerbearten aus dem Dienstleistungsbereich und der
Kunst wie z. B . die Kunstmaler, Wascher und Wascherinnen, Bodenbohner,
Kellner und Gartner.
998
Trotzdem blieb eine betrachtliche Zahl der H a n d w e r k e r auBerhalb der Zunfte. Es
ist z. B . das Tischler-Artel zu erwahnen, das in den 1850er Jahren v o n M e l ' n i k o v
gegrundet wurde. M e P n i k o v stiftete der Artelskasse 1000 Silberrubel ein und die
anderen Meister verschiedene Wertgegenstande. Die Anzahl der Artelsmitglieder,
die von den drei Altesten geleitet wurden, war nicht begrenzt. Ihre Waren wurden
im „Laden der russischen E r z e u g n i s s e " zum Verkauf a n g e b o t e n . Der schon
999
A. Bachtijarov, Obs^estevnno-fiziologi6eskie ocerki. St. Petersburg 1888, S. 205f.
Ebd., S. 201.
1000
erwahnte O c h t a - B e z i r k
stellte z. B . ein Gewerbegebiet der Stadt dar, in d e m
fast ausschlieBlich holzverarbeitende Werkstatten angesiedelt waren: „Ochta ist
eine groBe Werkstatt. Sie ist hauptstadtische Schreinerei, Drechslerei und
H o l z s c h n i t z e r e i " . In Ochta wurden unter anderem teure Mobel, Spielzeuge,
bemalte Ostereier und Holzschnitzereien hergestellt. 1820 g a b es dort 742
Handwerker, die auf den staatlichen Werften im Schiffsbau von Zeit zu Zeit
beschaftigt wurden und in den Jahren 1811 bis 1825 74 Schiffe bauten. Z u m
Vergleich waren allein in Ochta 1820 391 Schreiner und in der russischen Zunft
der Hauptstadt 1825 352 Schreiner v o r h a n d e n . D e s weiteren g a b es in Ochta
2 0 7 Z i m m e r l e u t e , 7 7 H o l z v e r g o l d e r , 2 9 S c h i f f s b a u m e i s t e r fur d i e
Scharenkreuzer, sieben Holzschnitzer, vier Schmiede, zwei Drechsler und j e
einen Versilberer und S c h u h m a c h e r . Im Laufe der Zeit bauten viele der
ansassigen H a n d w e r k e r Werkstatten auf, die, wie aus einer Berichterstattung der
Polizei von 1845 hervorgeht, zwei Arten v o n Beschaftigten hatten: die einen
stammten nicht aus Ochta und wurden kurzzeitig bzw. saisonal beschaftigt, die
anderen waren aus Ochta selbst. E s handelte sich dabei meistens um kleinere
Werkstatten, in denen ein bis zwei Facharbeiter beschaftigt wurden. Es gab etwa
zehn Werkstatten groBeren Umfangs, die im Polizeibericht mit denen der freien
Zunftmeister verglichen w u r d e n . Insgesamt w u r d e n u m die Mitte d e s 19.
Jahrhunderts in den Ochtensker Werkstatten 180 H a n d w e r k e r und rund 100
Lehrlinge beschaftigt . Dabei stieg die Gesamtzahl der Ochtensker Meister von
742 im Jahre 1820 auf 945 im Jahre 1846, wobei das W a c h s t u m ausschlieBlich
bei den spezialisierten H a n d w e r k e n zu konstatieren ist. So wurden jetzt 522 statt
391 Schreiner, 2 6 7 statt 77 Holzvergolder und 149 statt sieben Holzschnitzer
g e z a h l t , ein H i n w e i s a u f die E x p a n s i o n d e s K u n s t m o b e l m a r k t e s in der
Hauptstadt. Die Anzahl der Zimmerleute dagegen reduzierte sich auf n u l l .
M a n c h e Familien bauten im Laufe der Generationen Unternehmen auf, um deren
Erfolg sie ein M e i s t e r d e r S c h r e i n e r z u n f t b e n e i d e n k o n n t e . Ein s o l c h e s
Unternehmen erschuf die H a n d w e r k e r d y n a s t i e Tarasov im Laufe von zwei
Jahrhunderten. Tarasov arbeitete sich bis z u m Hoflieferanten hoch. Besonders
1001
1002
1003
1004
1005
1000
Zur Geschichte von Ochta s.: B. Mansurov, Ochtenskie Admiraltejskie poselenija.
Istoriceskoe opisanie, 6. 1-3, St. Petersburg 1856.
1001
Kustarnye promysly v Ozernoj oblasti (Kustamyj trud. 1912, Nr. 18, S. 2, 15-30.
September), aus: V. N. Tamovskij, Melkaja promySlennost' Rossii v konce 19 - nacale 20 v.
Moskau 1995, S. 39; Mansurov, Ochtenskie, б. 1, S. 96,153f.
1002
S. RGIA, f. 18, op. 2, d. 435,1. 1 ff.: Das Verzeichnis der Moskauer Handwerksverwaltung.
1003
Mansurov, Ochtenskie, б. 1, S. 154, 167, 170.
,004
Ebd., a. 2, S. 185ff.
eintraglich waren die Auftrage nach dem B r a n d des Winterpalastes im Jahre
1837, als S e m e n Tarasov mit der Wiederherstellung des d u r c h das F e u e r
v e r n i c h t e t e n k o s t b a r e n P a r k e t t s d e s P a l a s t e s b e a u f t r a g t w u r d e . F u r die
Kunstfertigkeit v o n Tarasov, der spater zum Hofparkettmeister e m a n n t wurde,
spricht die Tatsache, daB er das Parkett analog zu verbliebenen Fragmenten
restaurierte. In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts stiegen die Tarasovs zu
den groBten I m m o b i l i e n i n h a b e r n der Hauptstadt auf und genossen groBtes
offentliches Ansehen. Die spateren Generationen wendeten sich v o m H a n d w e r k
ab. Sie wurden geadelt und erhielten eine Hochschulausbildung an der St.
Petersburger Universitat oder an den technischen Hochschulen und sollten spater
zu den reichsten U n t e m e h m e m Petersburgs gehoren. D a s war ein typischer W e g
einer erfolgreichen Familie, seien es Kaufleute oder H a n d w e r k e r gewesen. Eine
b e s o n d e r s g l a n z v o l l e Karriere m a c h t e n die Gebriider Nikolaj u n d Sergej
Alekseevid Tarasov. Nikolaj, ausgebildeter Bauingenieur, w u r d e in den 90er
Jahren z u m Vorsitzenden der St. Petersburger Kreditgesellschaft mit einem
Jahresgehalt v o n 60.000 Rubeln gewahlt. Sein Bruder wurde mehrere Male zum
Stellvertreter des Hauptstadtoberhaupts gewahlt und war Vorstandsmitglied einer
Bank .
1006
N e b e n Semen Tarasov waren in Ochta weitere Unternehmer wie Ivan Baev und
Fedor Alekseev besonders erfolgreich. Sie fuhrten groBe Auftragsarbeiten im
Schreinerhandwerk durch. E s gab eine klare Differenzierung nach sozialen und
beruflichen Gesichtspunkten: die Ochtensker Gewerbetreibenden bildeten vier
verschiedene Gruppen. Eine erste kleine Gruppe bildeten die oben erwahnten
Meister, die groBe Auftragsarbeiten v o m Staat, d e m H o f oder von Privatkunden
erhielten und diese mit Hilfe der anderen Ochtensker Schreiner durchfuhrten. Es
ist anzunehmen, daB sie in Form einer Artel organisiert waren und daB die
Meister anfangs im ArbeitsprozeB mitwirkten, sich mit der Zeit aber mehr und
mehr organisatorischen Fragen widmeten und so allmahlich Aufgaben eines
m o d e r n e n U n t e r n e h m e r s i i b e m a h m e n . Z u r z w e i t e n G r u p p e , die von einer
Mittelschicht gebildet wurde, zahlten die Meister, die Werkstatten besaBen. V o n
965 H a n d w e r k e r n betrieben in Ochta u m die Mitte des 19. Jahrhunderts 177 eine
Werkstatt: es gab 102 Schreinereien, 29 Holzschnitzereien, drei Drechslereien, 27
Holzvergolderwerkstatten, sieben Bootsbauer und je eine Schmiede,
Malerwerkstatte und ein Versilbereratelier. Die iibrigen 788 H a n d w e r k e r bildeten
die dritte Gruppe u n d verdingten sich in den oben erwahnten Werkstatten. Diese
H a n d w e r k e r k o n n e n als Lohnarbeiter bezeichnet werden, da sie keine eigene
Werkstatt griindeten, sondern sich mit einem gelegentlichen Verdienst abfinden
muBten. Zuletzt g a b es noch eine vierte Gruppe, die sich von der dritten fast nur
durch die Herkunft unterschied: die Handwerker bzw. Lohnarbeiter und Lehrlinge
aus der Hauptstadt oder d e m St. Petersburger Gouvernement, die vertraglich
g e b u n d e n arbeiteten. Selbst die Ochtensker Meister bezeichneten die
Arbeitnehmer, die in ihren Werkstatten bzw. Heimwerken beschaftigt waren, als
Lohnarbeiter (podensdiki) und nicht mehr als Gesellen, ein erster Hinweis darauf,
daB sich Handwerksbetriebe immer m e h r zu U n t e r n e h m e n e n t w i c k e l t e n .
V o n den 177 H a n d w e r k e r n mit eigenen Werkstatten arbeiteten 77 alleine oder mit
Hilfe der Familienangehorigen. Die ubrigen 100 Meister stellten 4 9 4 H a n d w e r k e r
ein, die im G r u n d e g e n o m m e n Lohnarbeiter waren, davon 150 z u g e w a n d e r t e und
344 aus Ochta. 9 4 Meister stellten einen bis acht, die ubrigen sechs 10 bis 50
Arbeitnehmer e i n . Interessant ist, daB in Ochta auch 17 Zunftmeister ansassig
waren. Unter ihnen waren Vertreter verschiedener Stande, z. B . Evsej Nagibin,
K a u f m a n n d r i t t e r G i l d e u n d M e i s t e r im G o l d s c h l a g e r - , S c h r e i n e r - u n d
Holzschnitzerhandwerk, drei auslandische Backer, zwei Kleinburger, die als
Schreiner und Haarverarbeiter tatig waren, neun Staatsbauern, zwei okonomische
und zwei leibeigene B a u e r n
. O c h t a h a t t e a l s o , eine r e c h t h e t e r o g e n e
Gewerbestruktur, da es hier sowohl die Werkstatten der zunftigen und zunftfreien
Meister, als auch die der H e i m w e r k e r und die der Artels gab.
A m Anfang des 20. Jahrhunderts w a r die Differenzierung innerhalb des Arbeitsund Produktionsprozesses in O c h t a weit vorangeschritten. D e m Vertrieb nach
kann m a n von einem Verlagshandwerk sprechen, da die Mehrheit der Meister die
Auftrage von den stadtischen Meistern erhielt und fur sie Produkte anfertigte. Die
Qualitat etwa der Schreinerarbeiten genugte hochsten Anspruchen. Es war j e d e m
St. Petersburger bekannt, daB die beruhmtesten deutschen Mobelmeister der
Stadt Tur und G a m b s
in ihren Laden auch die Mobel aus Ochta verkauften.
D a s w a r ein gewinntrachtiges Geschaft, denn die fur funf bis sechs Rubel
eingekauften M o b e l w u r d e n fur 25 Rubel w e i t e r v e r k a u f t .
A m Anfang des 2 0 . Jahrhunderts w a r es nicht nur fur St. Petersburg, sondern
auch fur andere Stadte wie N o v g o r o d , Pleskau, Rybinsk, Rjazan' und andere
typisch, daB auBerhalb der Stadtgrenzen eine Vielzahl von H a n d w e r k e r ansassig
waren, die als L a n d h a n d w e r k e r die Zunftabgaben nicht zu zahlen brauchten, ihre
W a r e n aber ausschlieBlich in der Stadt verkauften. Dies erinnert sehr an die
H a n d w e r k e r s l o b o d e n u m die groBen russischen Stadte im 15. bis 17. Jahrhundert.
D a s Gesetz zielte genau auf diese H a n d w e r k e r g r u p p e ab, als im Artikel 493 des
1007
1008
1 0 0 9
1 0 1 0
1011
1007
Vgl., Otnosenija ot peterburgskogo voennogo general-gubernatora i ot upravljajuScego
morskim ministerstvom ot 31 oktjabrja 1845 i ot 22 ijunja 1847, in: RGIA, f. 1287, op. 37, d.
381: Mogut li Ochtenskie poseljane (...).
1008
Mansurov, Ochtenskie, c. 3, S. 90f.
1009
Ebd., S. 106ff.
1010
Т. E. Veretenko, К voprosu о dejatePnosti masterskoj Genricha Gambsa (po dokumentam
CGIA). In: Problemy razvitija russkogo iskusstva. Vyp. XVII, tematiceskij sbornik naucnych
trudov, hrsg. v. I. A. Bartenev. L. 1984, S. 68-75.
Handwerksstatutes v o n 1842 e m e u t wiederholt wurde, daB die Handwerker nicht
auBerhalb der Stadtgrenzen arbeiten durften, „damit sie nicht aus der Stadt in die
Vororte ausweichen und sich dadurch d e m EinfluB bzw. der Kontrolle der
Handwerkszunfte entziehen und keine Zunft- bzw. Staatsabgaben z a h l e n " . Die
zunftfreien H a n d w e r k e r waren besonders im Hausbau zahlreich vertreten: die
Zimmerleute, Schreiner und Maurer bildeten Artels und erhielten groBe Auftrage.
Letztere
tibernahmen
auch die Malerarbeiten und renovierten die
Hausfassaden .
Ein Beispiel fur diese Entwicklung geben die B a u h a n d w e r k e r aus Gali£ und dem
Galifcsker Bezirk, das im Kostromsker G o u v e r n e m e n t etwa 700 km von St.
Petersburg entfernt lag. Fast die ganze mannliche Bevolkerung dieser Gegend
ging im Fruhling nach St. Petersburg und kam im Spatherbst zurtick, wobei sie
nicht m e h r der heimischen Landwirtschaft nachgingen, sondern ihren Boden von
a n d e r e n B a u e r n , d e n „ d o m o l e g i " (Zuhause-liegen-gebliebene),
gegen
Entlohnung bestellen lieBen. Die Bauern, die zuhause blieben, nannten die
Handwerker, die nach St. Petersburg gingen, „ b e s k o b y l ' n i k i " (die
Pferdelosen\
„farsovye
oder ,,fortuny" .
Wie gesagt, gingen die Saisonarbeiter aus Galid uberwiegend dem B a u h a n d w e r k
als Maler und Zimmerleute aber auch als Schreiner, Ofensetzer, Dachdecker nach.
Die L a n d f l u c h t w u r d e d u r c h den B o d e n m a n g e l u n d das unterentwickelte
Gewerbe bedingt. Die Leibeigenen bzw. Staatsbauern leisteten keinen Frondienst,
sondern gaben d e n groBten Teil ihres E i n k o m m e n s den G e l d z i n s bei den
G r u n d h e r r e n b z w . b e i m S t a a t a b . D a d u r c h w a r e n sie g e z w u n g e n , z u m
Geldverdienen in die Stadte zu gehen. Solovev vermutet zurecht, daB die
historischen Wurzeln dieser Tradition bis zur Zeit Peters I. reichen, als v o m
russischen N o r d e n massenhaft Rekrutierungen von Handwerkern und einfachen
Arbeitern fur den B a u von St. Petersburg stattfanden. Die Berufe wurden von
Generation zu Generation weitergegeben, so daB sich bei diesen Handwerkern
eine besondere Mentalitat auspragte. Sie verabscheuten die landwirtschaftliche
1012
1013
u1014
10[5
1012
Otnosenie upravljajuScego Morskim ministerstvom к ministru vnutrennich del ot 22 ijunja
1847 g., in: RGIA, f. 1287, op. 37, d. 381: Mogut li Ochtenskie poseljane (...), 1. 11.
1013
Fesenko, Na5i remeslermiki, S. 3.
1014
Das Adjektiv „farsovye" wird von Farce abgeleitet und ist von der Bedeutung her dem Verb
„farsit'" ahnlich. Das bedeutet etwa: sich auff&llig gut kleiden bzw. wie die Studter gekleidet zu
sein.
1015
Das Adjektiv „fartovye" wird von Fortuna abgeleitet. In der romischen Mythologie gilt
Fortuna als die Schicksals- bzw. GlQcksgottin. „Fartovye" also bedeutete etwa: das eigene
Schicksal bzw. Gluck erproben. Es war eine eigentUmliche Erscheinung sowohl in St.
Petersburg als auch in Gali£, was A.N. Solov'ev veranlaBte, eine Studie tiber diese
Saisonarbeiter von St. Petersburg anzufertigen: A.N. Solov'ev, PiterSdiki-galidane,
etnograficeskij ocerk, GaliC 1923.
1 0 1 6
Arbeit und grenzten sich klar von den Bauern, die ihre Felder bestellten, a b .
Die Beschreibung der Saisonarbeiter aus Galic ist insofern wichtig, weil sie ein
typisches Bild v o n den B a u e r n in der H a u p t s t a d t liefert. Die bauerlichen
Handwerker bildeten eine heterogene Gruppe, die eine klare Gliederungsstruktur
erkennen laBt. A n der Spitze dieser Pyramide standen die Auftragnehmer, die die
Artels leiteten. Jedes Artel wurde in kleinere Einheiten aufgeteilt, die v o n den
Poliers gefuhrt w u r d e n . I h n e n folgten die „ g u t e n " oder „ n i c h t t r i n k e n d e n "
(nep'juscie) Meister, die ubrigen Meister, die Gesellen und die Lehrlinge. Sie alle
wurden v o m Auftragnehmer streng gehalten, da er das Ziel verfolgte, die Arbeiter
abhangig, d.h. zu Schuldnern zu m a c h e n .
D a s schwerste L o s trugen die Lehrlinge. Ein Lehrlingsjunge w u r d e von den
Eltern fur dreieinhalb Jahre, meist vier S o m m e r und drei Winterlang, beim
A u f t r a g s n e h m e r in die L e h r e g e g e b e n . W a h r e n d d e s W i n t e r s , w e n n die
Bauarbeiten stillagen, g a b dann der Auftragnehmer den Lehrling an einen
anderen H a n d w e r k e r bzw. Zunftmeister in die Lehre ab, um ihn nicht verkostigen
zu miissen. Im ersten Sommer arbeiteten sie als Gehilfen, im zweiten bekamen sie
einfache Aufgaben und muBten besonders „ d r e c k i g e " Arbeit erledigen und im
dritten S o m m e r w u r d e n sie als Gesellen bzw. Vorarbeiter mit einfacheren
Aufgaben beschaftigt, wodurch der Auftragnehmer sparen k o n n t e , weil ein
Geselle nur etwa 3 0 0 Rubel pro Saison kostete. Der Geselle verdiente eineinhalb
b i s z w e i R u b e l , d e r M e i s t e r h i n g e g e n b i s zu drei R u b e l a m T a g
.
Auftragnehmer konnten bis zu mehrere tausend Arbeiter beschaftigen u n d
entwickelten sich so zu B a u u n t e r n e h m e n , die alle B a u h a n d w e r k e im Artel
vereinigten. Die erfolgreichsten unter ihnen wohnten in der Hauptstadt, hatten
eigene Hauser, n a h m e n an wohltatigen Gesellschaften teil und wurden z. B . durch
die Ehrenburgerschaft zu Stadtburgern gemacht. Typisch fur ihr Verhalten war,
daB sie ihre K i n d e r nicht in i h r e m H a n d w e r k a u s b i l d e n lieBen, s o n d e r n
versuchten, ihnen eine Hochschulbildung zu ermoglichen, u m ihnen dadurch
A u f s t i e g s c h a n c e n im Z i v i l - u n d M i l i t a r d i e n s t o d e r a l s I n g e n i e u r e u n d
Rechtsanwalte zu v e r s c h a f f e n .
1017
1 0 1 8
1019
Z u m SchluB dieses Kapitels soil noch eine Frage erortert werden: Wie laBt sich
die auf den ersten Blick widerspruchliche Tatsache erklaren, dafl einerseits die
Zunfte so erfolgreich tatig w a r e n , die „ V e r z u n f t u n g " der G e w e r b e rasch
fortschritt und andererseits so viele Handwerker zunftfrei arbeiten konnten. Z. B .
gab es am Nikol'skij-Markt eine groBe Anzahl von
StraBenschuhmachern.
10.6
10.7
Ebd., S. If.
Im weiteren werden sie der Einfachheit halber als „Arbeiter" genannt, weil ihrer Lage nach
waren sie auch Arbeiter und wurden rein formell nach der Handwerksordnung aufgeteilt.
Betrachtet m a n ihre Tatigkeit genauer, stellt m a n fest, daB es sich hier im Grunde
g e n o m m e n nicht u m Z u n f t h a n d w e r k " handelt, sondern u m eine Tatigkeit, die
sich v o m traditionellen H a n d w e r k zur Dienstleistung hin entwickelt hat. Die
StraBenschuhmacher reparierten alten Schuhe, die sie direkt v o n K u n d e n auf der
StraBe bekamen oder sie erwarben sie bei Kramern, u m sie zu reparieren und
w e i t e r z u v e r k a u f e n . Sie waren keine ernstzunehmende Konkurrenz fur die
Zunftschuhmacher, sie ging von den Schuhfabriken aus.
D a s N e b e n e i n a n d e r verschiedener Gewerbeformen konnte nicht vollstandig
abgeschafft werden, weil der St. Petersburger Markt sehr schnell w u c h s , wodurch
standige Umstnikturierungen und Umschichtungen stattfanden. So verdoppelte
sich die Bevolkerung der Hauptstadt in der Zeit zwischen 1800 und 1834 von
220.000 auf rund 440.000 und zwischen 1834 und 1881 von 440.000 auf etwa
880.000. Dieser Trend ging weiter, so daB 1910 in der Stadt rund 2 Mill.
M e n s c h e n lebten. Diese Entwicklungsdynamik der Stadtbevolkerung war nicht
nur fur St. Petersburg, sondern auch fur Stadte wie Berlin, Paris und Wien
typisch .
1020
1021
9.2.3
B a u e r l i c h e s H e i m g e w e r b e im St. P e t e r s b u r g e r u n d s e i n e n
benachbarten G o u v e r n e m e n t s : G e w e r b e im Spannungsfeld von Stadt
und L a n d
Bis zu den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bedeutete das landliche H a n d w e r k in
A n b e t r a c h t der entfernten L a g e ZentralruBlands v o n St. P e t e r s b u r g k e i n e
Konkurrenz zum stadtischen Handwerk. Die Lage anderte sich sprunghaft in den
60er Jahren, als St. Petersburg durch den B a u der Eisenbahnlinien mit dem
Zentralrussischen M a r k t verbunden wurde. Die viel betonte Bedeutung des
bauerlichen G e w e r b e s fur die Entwicklung der russischen Wirtschaft ist k a u m zu
tiberschatzen. D e n n o c h ist die Vernachlassigung der Geschichte des stadtischen
H a n d w e r k s im 19. Jahrhundert nicht berechtigt. Die Tatsache, daB das Gewerbe
auf d e m Land v o m V o l u m e n her viel groBer als in der Stadt war, laBt noch nicht
den SchluB zu, daB die Rolle des stadtischen H a n d w e r k s u n b e d e u t e n d war. Im
Gegenteil. A u c h in Westeuropa bestand dieses Spannungsfeld z w i s c h e n dem
l a n d l i c h e n u n d s t a d t i s c h e n H a n d w e r k , dessen Intensitat v o n Zeit z u Zeit
unterschiedlich war. So pladierten die Hafher u m 1590 in Ostschwaben dafur,
„ d i e f r e m d e n H e r s t e l l e r , die h a u f e n w e i s e a u s B a y e r n s t r o m t e n , b e s s e r
abzuschirmen" .
1022
Bachtiarov, Obs^estvenno-fiziologiceskie ocerki, S. 207f.
B. R., Mitchell, European Historical Statistics 1750-1975, Alphen aan den Rijn 1980, S. 71.
KieBling, Stadt, S. 685, 688.
Im Unterschied zu Berlin, w o die H a n d w e r k e r K o n s u m g u t e r nicht nur fur den
stadtischen Markt, sondern auch fur die Ausfuhr herstellten, produzierten die St.
P e t e r s b u r g e r H a n d w e r k e r ihre W a r e n fast a u s s c h l i e B l i c h fur die e i g e n e
Stadtbevolkerung, wobei der Mehrbedarf z u m groBten Teil durch Einfuhren aus
ZentralruBland gedeckt w u r d e :
1023
„Ein bedeutender Teil der B e v o l k e r u n g w u r d e mit Kleidung
Schuhwerk versorgt, die im industriellen Gurtel ZentralruBlands
d e n L a n d h a n d w e r k e r n h e r g e s t e l l t w o r d e n w a r e n u n d in
Schuhwerkhandelsstuben, in den Laden mit der fertigen K l e i d u n g
v o n StraBenhandlern verkauft w u r d e n " .
und
von
den
oder
1024
N u r wenige Produkte wie z. B . Handschuhe, Hute oder auch Handarbeiten fur
D a m e n b e k l e i d u n g wurden aus St. Petersburg ausgefuhrt, wobei diese Artikel
auch v o m Ausland nach St. Petersburg importiert wurden.
1912 waren Biiros und Laden fur Heimgewerbeprodukte in St. Petersburg sehr
z a h l r e i c h v e r t r e t e n . U n t e r 1140 s o l c h e r V e r k a u f s s t e l l e n w a r e n 4 0 7 auf
Holzerzeugnisse, 29 auf Erzeugnisse aus Bast und Flechtgerte, 142 auf Produkte
aus Faser, 370 aus Leder, 34 aus Wolle und Borste, 122 aus Metall und 36 waren
auf andere Erzeugnisse des bauerlichen Gewerbes spezialisiert . Uberhaupt war
St. Petersburg eines der groBten Handelszentren RuBlands. Hier gab es 1856
zwolf Markte und 5818 standige Handelsbetriebe v o n Kramerstuben bis hin zu
den Modegeschaften a m Nevskij P r o s p e k t . Wie aus dem Verzeichnis deutlich
wird, wurden in diesen Verkaufsstellen der Heimgewerbe uberwiegend Rohstoffe
oder halbfertige Produkte verkauft, die v o m St. Petersburger Gewerbe bzw.
1025
1026
1023
Vgl. I. A. Gan, О nastoja§6em byte me§6an Saratovskoj gubernii. St. Petersburg 1860, S.
29f., aus: Ryndzjunskij, Gorodskoe grazdanstvo, S. 7; Janson, Naselenie Peterburga (...) 1869,
S. 630.
1024
Janson, Naselenie, S. 630.
1025
Die Laden des Handelshauses „Gusev i Panov", der Gesellschaft fur die Verbesserung der
Volksarbeit „Kustarnyj trud" (Obwestvo uluh+enia narodnogo truda „Kustarnyj trud), der
Gesellschaft fur die Hilfe der Heimarbeit in St. Petersburg (Obwestvo pomowi ruhnomu trudu
v Sankt-Peterburge), Der Pavlover Heimgewerbeartel (Pavlovskaa* kustamaa" artel/), Chr.
RosmeSa (Xr. Rosme+), Russischer Importgenossenschaft (Russkoe importnoe tovariwestvo),
von I. S. Ryzenkov, St. Petersburger Heimarbeitwarenlager (S.-Peterburgskij kustamyj sklad),
St. Petersburger Gesellschaft der Stummen und Tauben (S.-Peterburgskoe obwestvo
gluxonemyx), von I. N. Sirotkin, von I. F. Sysoev, des Asyls von Blinden zur Erinnerung an
Doktor Blessig (Ube<iwe slepyx v pamSt/ doktora Blessiga) und von Graf Suvalov, aus: Ves'
Peterburg 1912, in: Tarnovskij, Melkaja, S.31.
1026
B. N. Mironov, Vnutrennij rynok Rossii vo vtoroj polovine XVIII- pervoj polovine XIX
veka. Leningrad 1981, S. 58, 188, aus: Kitanina, Rabo&e, S. 87.
H a n d w e r k weiterverarbeitet wurden. Dagegen gait M o s k a u als groBter Markt fur
die Fertigprodukte der H e i m g e w e r b e in R u B l a n d .
Im St. Petersburger G o u v e r n e m e n t lebten zwischen 1897-1903 779.000, in St.
Petersburg hingegen rund 1,25 Mill. Menschen. D i e Zahl der Beschaftigten
betrug im St. Petersburger G o u v e r n e m e n t in verarbeitenden Branchen fur Holz
19.414, Faser 3.341, Leder 3.860, Mineralien 772, Metall 2.927 und
verschiedenes 5.779. Insgesamt waren es 36.093 H e i m a r b e i t e r . Eine andere
Quelle gibt an, daB im St. Petersburger Gouvernement zwischen 1899 u n d 1901
2 1 . 8 5 5 H e i m - u n d H a n d w e r k e r in d e n sieben o b e n g e n a n n t e n B e r e i c h e n
beschaftigt oder der 2 8 % der mannlichen Bevolkerung im arbeitsfahigen Alter
beschaftigt waren. Weiteren 3 9 , 1 % gingen nur teilweise der Arbeit in der
Landwirtschaft n a c h u n d verdienten d i e a n d e r e Halfte ihres E i n k o m m e n s
ebenfalls mit Heimarbeit. D i e restlichen 3 2 , 9 % wurden ausschlieBlich in der
Landwirtschaft b e s c h a f t i g t . So schrieb der K e n n e r d e r St. Petersburger
Verhaltnisse A . Bachtijarov im Jahre 1888, daB das
1027
1028
1029
„ganze St. Petersburger Gouvernement v o n St. Petersburg abhangig ist
und v o n seinen rund 5 0 0 . 0 0 0
Einwohnern ,ernahrt' wird. Im St.
Petersburger Bezirk sind viele Fabriken vorhanden. In d e n Bezirken
N o v o l a d o z s k e r , Slisselburger u n d C a r s k o s e l ' s k e r s i n d s o w o h l
Schiffahrt, Steinbruch, Kalksteinforderung als auch Stroh-, Brennholzund Baumaterialbeschafrung angesiedelt. D e r Gemuse- und Obstanbau
ist in d e n Bezirken Carskosel'sker, St. Petersburger u n d Petershofer
verbreitet. D i e Bevolkerung in d e n Bezirken Slisserburg u n d Petershof
ist im F u h r m a n n g e w e r b e , Schiffbau, in d e r M u l l - u n d
Exkrementenabfuhr beschaftigt, oder geht der Milchwirtschaft, d e m
Pilz- u n d Beerensammeln n a c h " .
1030
1031
Im Petersburger G o u v e r n e m e n t waren folgende Gewerbearten vertreten. A m
zahlreichsten w a r d a s holzverarbeitende Gewerbe mit 6 9 1 4 Beschaftigten. Ihm
folgten die G e w e r b e fur Faserverarbeitung (5871), Lederverarbeitung (3271),
M i n e r a l i e n f o r d e r u n g ( 2 2 8 2 ) , M e t a l l v e r a r b e i t u n g ( 1 7 8 2 ) . A u f die a n d e r e n
Gewerbe kamen insgesamt nur 1626 B e s c h a f t i g t e . Diese Heim- u n d
1032
7
Tarnovskij, Melkaja, S. 32
* Ebd., S. 26f.
19
Kustarnye promysly S. Peterburgskoj gubernii, St. Petersburg 1902, S. 2ff.
0
In diesem Jahr gab es in St. Petersburg etwa 900.000 Bevolkerung.
1
A. Bachtijarov, Ob§destevnno-fiziologi6eskie ocerki, St. Petersburg 1888, S. 214ff.
2
Kustarnye promysly, S. 6.
Handwerker verkauften ihre Produkte meistens in der naheren U m g e b u n g und
hatten auf d e m St. P e t e r s b u r g e r M a r k t eine nur maflige B e d e u t u n g . D e n
wichtigsten Platz unter den Gewerbetreibenden n a h m die Korbflechterei mit 1350
Beschaftigten ein. Dieses H a n d w e r k w a r b e s o n d e r s in den G d o v s k e r u n d
Petershofer Bezirken verbreitet. Ein Teil ihrer Produktion wurde vor Ort von den
Sommergasten gekauft, der andere Teil in groBen M e n g e n von den Kaufleuten
v o m hauptstadtischen Markt am S e n n a j a - P l a t z .
A u c h Naherinnen, Schmiede und Topfer fertigten einen Teil ihrer Produkte fur
den St. Petersburger Markt an. Die 121 WeiBnaherinnen des CarskosePsker
Bezirks beherrschten ihr H a n d w e r k so gut, daB ihre Waren von den groBen L a d e n
in St. Petersburg aufgekauft wurden. Die 105 Schmiede der Rozdestvensker und
Izorsker Kreise des CarskosePsker Bezirks fertigten Hufeisen fur den Verkauf in
St. Petersburg. D a s Schuhmacher-, Schlosser- und Karrenbauhandwerk, die
Lederverarbeitung und andere Gewerbearten hatten begrenzte regionale
B e d e u t u n g und waren in erster Linie fur die Befriedigung des Eigenbedarfes der
Landbevolkerung b e s t i m m t .
Das H e i m g e w e r b e des St. Petersburger Gouvernements, das sich am stadtischen
Markt orientierte, befand sich in volliger Abhangigkeit von den GroBhandlem
und Fabriken. Die Korbmacherinnen, Weberinnen und Hulsenherstellerinnen
v e r l o r e n ihre Selbstandigkeit. Sie b e k a m e n d a s A r b e i t s m a t e r i a l v o n den
GroBherstellern und wurden zu Lohnarbeiterinnen im Verlagshandwerk. Im
allgemeinen stellte das Gewerbe des St. Petersburger Gouvernement keine Gefahr
fur das St. Petersburger H a n d w e r k dar, das auf viel hoherem N i v e a u stand.
In anderen Gouvernements um St. Petersburg stellte sich das G e w e r b e ebenfalls
auf die Bedurfhisse der Hauptstadt ein. Im O l o n e c k e r Gouvernement war die
S t r o h h u t e h e r s t e l l u n g am St. P e t e r s b u r g e r M a r k t o r i e n t i e r t
. Die
holzverarbeitenden Handwerker und Topfer waren sowohl im Olonecker als auch
in den N o v g o r o d e r u n d Pleskauer G o u v e r n e m e n t s zahlreich vertreten. Ihr
technisches und qualitatives Niveau war aber so niedrig, daB sie sich mit ihren
Produkten auf dem St. Petersburger Markt nicht behaupten konnten, da auch die
E i n k a u f e r der H a u p t s t a d t a n s p r u c h s v o l l w a r e n . D a s h o l z v e r a r b e i t e n d e
G e w e r b e hatte sich auf H o l z s c h n i t z e r e i e n u n d Dreharbeiten spezialisiert,
Techniken, die Geschick und Geschmack verlangten. In den o b e n erwahnten
Gouvernements beschaftigten sich die Handwerker dagegen uberwiegend im
Zimmerer- und Bottcherhandwerk, stellten Holzgeschirr, Holzschaufeln, Karren
und primitive FluBbarken her, wobei diese Waren meistens fur Eigenbedarf und
1033
1034
1 0 3 5
1 0 3 6
1033
Ebd.
1034
Ebd., S. 9ff.
1037
fur den lokalen M a r k t gefertigt w u r d e n . D e s w e g e n konnten die bauerlichen
H a n d w e r k e r aus den benachbarten Gouvernements mit ihren Produkten am
Apraksin-Markt, wo hauptsachlich gut verarbeitete und anspruchsvolle
Holzerzeugnisse der H a n d w e r k e r aus Ochta verkauft wurden, dem Stadthandwerk
k e i n e K o n k u r r e n z bieten. In An b etr ach t der A b s a t z s c h w i e r i g k e i t e n in St.
P e t e r s b u r g e n t w i c k e l t e sich a l l m a h l i c h ein zahlreiches h o l z v e r a r b e i t e n d e s
H e i m g e w e r b e am R a n d e der nord-westlichen Region, wobei die Handler sich an
anderen M a r k t e n in entgegengesetzter Richtung v o n St. Petersburg orientieren
muBten .
1038
A u c h die H e i m w e r k e r aus d e m Tverskaer Gouvernement orientierten sich am St.
Petersburger Markt. Die Nagler waren A b n e h m e r von Metallresten aus den
groBen St. Petersburger Putilov- und Alexandrinischen M e t a l l w e r k e n . Hier
entwickelte sich das M a s s e n h a n d w e r k der Schuhmacher mit Zentrum in Kimry.
D i e J u w e l i e r e in d e n Dorfern K r a s n o e und S i d o r o v s k o e im K o s t r o m s k e r
G o u v e r n e m e n t w u r d e n mit Gold und Silber aus St. Petersburg und M o s k a u
beliefert . Die Hornwaren- und Schatullenherstellung entwickelte sich im NordOsten von St. Petersburg im Vologoder Gouvernement, von w o H o r n k a m m e und
A p o t h e k e n z u b e h o r auch nach St. Petersburg verkauft w u r d e n . Das Pavlover
Artel der Messerschmiede, das 1890 gegrundet wurde, stellte jahrlich Waren fur
50.000 Rubel her u n d hatte sein zentrales L a g e r in St. P e t e r s b u r g . Die
wirtschaftlichen B i n d u n g e n 2:wischen St. Petersburg und d e n u m l i e g e n d e n
Regionen bestanden also in beiden Richtungen.
1039
1040
1041
In alien o b e n g e n a n n t e n H a n d w e r k s b e r e i c h e n w a r die A b h a n g i g k e i t der
Heimarbeiter v o n d e n GroBhandlern, die sie mit den Werkstoffen belieferten, sehr
groB. Die GroBhandler bzw. Auftragnehmer hielten ganze H e i m g e w e r b e unter
ihrer Kontrolle und hielten die Heimarbeiter als Schuldner in A b h a n g i g k e i t .
Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich die Heimwerker allmahlich der Kontrolle
der GroBhandler entziehen, da sie z u n e h m e n d Regierungsauftrage erhielten.
Die traditionelle weit verbreitete Heimarbeit entwickelte sich auf dem Land mit
der Entstehung eines gesamtrussischen Binnenmarktes, die mit d e m intensiven
Eisenbahnbau in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts wesentlich beschleunigt
wurde, zu einem wichtigen Lieferanten sowohl v o n Rohstoffen u n d halbfertigen
Waren als auch v o n fertigen Waren, die besonders in St. Petersburg durch die
1042
Ebd., S. 40,42f.
Ebd., S. 46.
Ebd., S. 74f.
Ebd., S.61.
Ebd., S. 82f.
Ebd., S. 48, 50,61,70, 74f.
V e r m i t t l u n g s k o n t o r e n w e i t e r v e r k a u f t w u r d e n . F u r die W i c h t i g k e i t d i e s e s
G e w e r b e s spricht auch die Tatsache, daB seit 1892 in St. Petersburg ein
„Heimarbeitmuseum" auf Initiative des Landwirtschafts- und
Staatsguterministeriums hin errichtet w u r d e .
St. Petersburger M a r k t w a r so groB, daB hier nicht nur die P r o d u k t e des
H e i m g e w e r b e s des St. Petersburger G o u v e r n e m e n t s , sondern auch die Produkte
aus benachbarten Gebieten umgesetzt werden konnten. U m St. Petersburg hatte
sich kein groBer Gewerbebezirk entwickelt, dafur w a r die Produktpalette des
H e i m g e w e r b e s im St. Petersburger Gouvernement verglichen mit den anderen
vielfaltiger .
1043
1044
9.3
Zusarnmenfassung
Die Zunfte v o n St. Petersburg konnten w e g e n der Spezifik der russischen
Gewerbegesetzgebung kein uneingeschranktes Zunftmonopol einfuhren bzw.
durchsetzen, obwohl es viele Versuche gab, EinfluB auf den Arbeitsmarkt zu
nehmen, z. B . in der Begrenzung von Produktionssegmenten und Werkstatten.
D e r a r t i g e Eingriffe der Zunfte in die Stadtwirtschaft w u r d e n seitens der
Stadtduma oder des Generalgouverneurs v o n St. Petersburg unterbunden.
Die augenscheinliche Widerspruchlichkeit der Zunftpolitik wird z. B . dann
offenbar, wenn von Fall zu Fall unterschiedlich uber die Zulassung der Bewerber
in die Zunfte entschieden wurde. Die Selbstverwaltung entschied nach eigener
MaBgabe und beeinfluBte auf diese Weise die Wettbewerbssituation. Diese
Praktiken der Handwerksverwaltung wurden v o n den Angestellten des Finanzund Innenministeriums scharf kritisiert:
„Es ist dem Bericht zu entnehmen, daB die Aufnahme der Meister in
die Zunfte vollig willkurlich stattfand. Manchmal wurden die Kaufleute
wie alle anderen Meister geprtift, ein andermal w u r d e n sie o h n e
Prufung nur mit der V o r b e d i n g u n g , die Zunftabgaben zu zahlen,
aufgenommen oder sie wurden dazu gezwungen, einen Zunftmeister fur
die fachgemaBe Lehre des N a c h w u c h s e s e i n z u s t e l l e n " .
1045
Immer wieder gerieten Handwerksverwaltung und Obrigkeit miteinander in
Konflikt. Z. B . erlaubte die Gildenreform v o n 1824 alien Kaufleuten, dem
Zunfthandwerk n a c h z u g e h e n u n d sich dafur in die Zunfte
einzuschreiben.
I. Kel'berin, О merach к razvitiju remeslennoj promySlennosti, Kiev 1902, S. 38.
Ebd., S. 38f.
Zitiert nach Pazitnov, Problema, S. 107f.
Ungeachtet dessen bedurfte es 1848 des Beschlusses der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g ,
der den Kaufleuten aller drei Gilden erlaubte, in die Zunfte einzutreten.
D i e K o n f l i k t e z w i s c h e n der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g u n d d e n
zunftlosen
H a n d w e r k e r n g a b es solange, wie die Zunfte existierten u n d die industrielle
Produktion auf die Fabriken und W e r k e einerseits, sowie auf die Werkstatten
andererseits verteilt war. E s w a r unmoglich, eine klare Grenze zwischen diesen
beiden Formen
von Industriebetrieben
z u Ziehen, w e s h a l b
in
der
H a n d w e r k s v e r w a l t u n g und in D M V T immer einzeln uber die Zugehorigkeit des
Betriebes z u m j e w e i l i g e n Teil der Industrie entschieden w u r d e .
In der Regel aber waren die meisten Betriebe, die v o m Manufakturdepartement
Privilegien erhielten, nichts anderes als Werkstatten. D a s lag daran, daB sich die
M e h r h e i t der GroBindustriebetriebe aus den fruheren Werkstatten
Handwerksmeister
entwickelt
hatten.
Deswegen
ist
in
der
den
Genehmigungspraktiken v o n D M V T kein Widerspruch festzustellen, wenn es die
Werkstatten als Fabriken anerkannte. D M V T versuchte vorauszusehen, o b der
Betrieb g e n u g e n d Entwicklungspotential hatte, u m sich spater zu einer Fabrik
bzw. einem groBeren Werk zu entwickeln. D e s w e g e n w u r d e mit
den
Genehmigungsverfahren oft MiBbrauch betrieben, weil es fur einen Meister bzw.
Unternehmer vorteilhaft war, seine Werkstatt bei D M V T anzumelden, da er dann
drei Jahre oder langer keine Steuer-, Zunft- u n d G i l d e n a b g a b e n bezahlen
muBte
1046
.
Es wird verstandlich, w a r u m D M V T die Eroffhung der Werkstatte mit dem Status
einer Fabrik erlaubte und umgekehrt, w a r u m die H a n d w e r k s v e r w a l t u n g die
eigentlichen Fabriken weiterhin in den Zunften fuhrte. D a s Zusammenspiel
verschiedener wirtschaftlicher Faktoren, das der H a n d w e r k s v e r w a l t u n g immer
m e h r Spielraum raubte, fuhrte dazu, daB sie ihre M o n o p o l r e c h t e nur begrenzt
geltend m a c h e n bzw. durchsetzen konnte.
A m E n d e des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts laBt sich eine stark korporative
V e r h a l t e n s w e i s e der Zunftmeister g e g e n u b e r d e n zunftfreien
Handwerkern
feststellen. Die Zunftmeister betrachteten ihre Zunftzugehorigkeit als ein Privileg,
das sie vor der K o n k u r r e n z schiitzen sollte, und beobachteten aufmerksam nicht
nur die zunftfreien, sondern auch diejenigen Handwerker, die in die Zunft
aufgenommen w e r d e n sollten, w i e z. B . die bekannten K u c k u c k s u h r e n b a u e r aus
dem Schwarzwald, die seit etwa 1828 in St. Petersburg tatig waren. Sie hatten
schon mehrmals ihre Aufhahme in die deutsche Zunft der Uhrenmeister beantragt.
Ihre Aufhahmeantrage w a r e n aber immer wieder mit dem G r u n d abgelehnt
worden, daB sie ihre U h r e n in holzernen Gehausen u n d nicht in Uhrgehausen aus
Metall anfertigten und demzufolge ihr H a n d w e r k im strengen Sinne des Wortes
nicht d e m U h r e n h a n d w e r k angehore, w a s 1843 als eine B e g r u n d u n g fur ihre
Nichtaufhahme in die Uhrmacherzunft aufgefuhrt w u r d e
1047
.
Es lassen sich Parallelen zum deutschen H a n d w e r k ziehen. Fast
alle
g r u n d s a t z l i c h e n Z u n f t r e g e l u n g e n d e r d e u t s c h e n Z u n f t e w u r d e n mit d e m
Zunftstatut Katarinas II. ubernommen. A u c h die Verhaltensmuster u n d die
Stellung des Zunftsystems im staatlichen und gesellschaftlichen System waren
den deutschen angeglichen. So gab es auch die Unterscheidung nach h o m o g e n e n
bzw. reinen und heterogenen bzw. gemischten Zunften in beiden Landern. Falls
es in einer Stadt unterbesetzte Zunfte oder Zunfte mit ahnlichen Gewerbearten
gab, wurden sie oft in einer Zunft vereinigt, um die Verwaltungskosten zu senken
und eine bessere Gewerbekontrolle zu e r m o g l i c h e n
1048
. D e s weiteren war auch im
Westen das Zunftmonopol auf das H a n d w e r k nicht allumfassend. Der bertichtigte
P a r a g r a p h im H a n d w e r k s s t a t u t , d e r in d e n r u s s i s c h e n S t a d t e n die
freie
Handwerksarbeit auBerhalb der Zunfte im kleineren Umfang erlaubte, wurde, wie
es der A h n l i c h k e i t w e g e n zu v e r m u t e n ist, sicher den
westeuropaischen
Stadtrechten entnommen:
„Eine andere Art der Konkurrenz durch AuBenstehende erwachst vielen
Zunften aus d e m im Mittelalter weit verbreiteten ,Recht auf freie
Hausarbeiten . Danach bleibt es grundsatzlich den stadtischen Burgern
uberlassen, selbst oder mit Hilfe ihrer F a m i l i e n a n g e h o r i g e n alles
anzufertigen, wozu ihre Geschicklichkeit ausreicht. Erhohte B e d e u t u n g
k o m m t d e m Recht der Eigenproduktion naturlich dann zu, w e n n eine
Arbeit von groBeren Bevolkerungskreisen beherrscht und ausgefuhrt
werden kann. So verstehen sich in den Stadten beispielweise relativ
viele Burger auf die Kunst des W e b e n s und S p i r m e n s " .
4
1049
D a s Recht auf freie Hausarbeit gait also nicht nur fur die Kleinburger und
P o s a d b e w o h n e r in St. Petersburg, sondern auch in westeuropaischen Stadten,
1047
Raport komissii, naznacennoj dlja izyskanij po sboru kazennych podatej s inostrannych
remeslennikov v S. Peterburge ministru vnutrennich del, vom 5. Juli 1843, in: RGIA, f. 1287,
op. 37, d. 144: Po doneseniju komissii (...) о pripiske SvarzvaPdskich masterov derevjannych
6asov к su§6esrvuju§cemu v Peterburge casovomu cechu i о razresenii im remontirovat* stennye
easy, hier 1. Iff.
1048
Ebd., S. 29f.; Vgl. Josef Ruch, Die alten Zunfte der Stadt Waldshut. Radolfzell 1954, S.
24f.; Andreas von Moos, Zunfte und Regiment. Zur Zunftverfassung Zurichs im ausgehenden
18. Jahrhundert. Zurich 1995. S. 8f.
indem dem Burger die Hausarbeit fur den eigenen Bedarf gestattet wurde. Jedoch
durften d i e P r o d u k t e n i c h t z u m V e r k a u f h e r g e s t e l l t w e r d e n , d a m i t d e n
Zunftmeistem kein Schaden entstand.
Die Vergleiche zwischen d e m deutschen und St. Petersburger H a n d w e r k zeigen,
daB Phanomene wie Wettbewerb und Zunftmonopol, die in den deutschen Stadten
das L e b e n des H a n d w e r k s bestimmten, auch in St. Petersburg vorhanden waren
u n d daB die Zunfte in den beiden Landern mit ahnlichen Problemen konfrontiert
waren. Hier soli durch das Aufsteigen von Parallelen zum deutschen H a n d w e r k
versucht werden, das Geschehen in St. Petersburg etwas besser zu verstehen bzw.
scharfere Konturen im Gesamtbild des russischen H a n d w e r k s zu gewinnen.
Im G e g e n t e i l zu den V e r s u c h e n , die r u s s i s c h e G e s c h i c h t e aus d e m
gesamteuropaischen Kontext auszusondern, konnen einige Vergleiche helfen, die
russische Geschichte in die gesamteuropaische Geschichte zu integrieren. Dies
heiBt nicht, daB die russische bzw. osteuropaische Geschichte als Teildisziplin der
gesamteuropaischen Geschichte keine Existenzberechtigung als Sonderdisziplin
besitzt, nur w u r d e in den letzten Jahrzehnten zu oft versucht, diese strikt
abzusondern. D a d u r c h w u r d e manchmal die historische Perspektive getrubt und
gesamteuropaische Z u s a m m e n h a n g e verwischt. E s darf also nicht darum gehen,
die russische Geschichte u m j e d e n Preis abzusondern, sondern viel mehr darum,
ihre Identitat im g e s a m t e u r o p a i s c h e n Kontext zu r e p r o d u z i e r e n . Es sei
beispielweise im Z u s a m m e n h a n g mit den Akten des zivilen U n g e h o r s a m s , die
o b e n beschrieben wurden, daran erinnert, daB im U m g a n g mit bestimmten
traditionellen Formeln des historisch-wissenschaftlichen Instrumentariums wie z.
B . der Tatsache der erdruckenden Rolle des russischen Staates in der Entwicklung
des Unternehmertums, Vorsicht geboten ist. Die Versuche, durch diese Rolle des
russischen Staates mehrere P h a n o m e n e in der russischen Geschichte erklaren zu
wollen, besitzen keine universelle Erklarungskraft u n d konnen zu stereotypischen
Urteilen verfuhren.
D e r W e t t b e w e r b v e r l i e f in v e r s c h i e d e n e n w i r t s c h a f t l i c h e n B r a n c h e n
unterschiedlich. In B e z u g auf das St. Petersburger H a n d w e r k laBt sich die
Unterteilung der beiden Wettbewerbsphasen v o n Ennen ubernehmen:
1050
„Eine VorstoBphase, in der ein Wettbewerber zur G e w i n n u n g eines
Vorteils gegeniiber seinen K o n k u r r e n t e n vorstoBt, und eine
nachfolgende Verfolgungsphase zur Verringerung des V o r s p r u n g s " .
1051
D a in St. Petersburg deutsche und russische Zunfte vorhanden waren, verlief der
Wettbewerb zwischen den beiden Institutionen bis zum spaten 19. Jahrhundert
nach gleichem Muster: In der VorstoBphase befanden sich fast ohne A u s n a h m e n
Vgl. Hildermeier, Osteuropaische Geschichte, S. 254ff.
Ebd., S. 27.
d i e a u s l a n d i s c h e n H a n d w e r k e r , in der V e r f o l g u n g s p h a s e d i e r u s s i s c h e n
Handwerker. V o n daher war innovativer Wettbewerb mit einigen A u s n a h m e n
H o h e i t s g e b i e t der A u s l a n d e r und imitatorischer W e t t b e w e r b d a s L o s der
russischen Handwerker.
Unter den negativen Nebeneffekten der Konkurrenz war die langsame
V e r b r e i t u n g der I n n o v a t i o n e n im H a n d w e r k . D i e M e i s t e r v e r s u c h t e n die
„Geheimnisse" ihrer Handwerkskunst ftir sich zu b e h a l t e n .
1052
1052
О predprinimaemom kolezskim sovetnikom Rejnbotom sostavlenii techniceskogo slovarja
(1842), in: RGIA, f. 18, op. 2, d. 1097,1. 1.
10.
Die wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s
Bei der Untersuchung der wirtschaftlichen Lage des St. Petersburger H a n d w e r k s
im 19. Jahrhundert ist das T h e m a der Industrialisierung nicht w e g z u d e n k e n , weil
sie am starksten den Wandel im Handwerk mitgepragt hatte. Der in der deutschen
Historiographie allgemein gebrauchliche Begriff des „alten H a n d w e r k s " wird
hier nur begrenzt verwendet, weil ihm im Z u s a m m e n h a n g mit d e m H a n d w e r k in
RuBland eine etwas andere Bedeutung zukommt. Auch der Begriff des
"traditionellen russischen H a n d w e r k s " kann in B e z u g auf St. Petersburg nur mit
Vorsicht b e h a n d e l t w e r d e n , weil d a n k der Spezifik der Hauptstadt, seiner
Entstehungsgeschichte, seiner sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur und
seiner geographischen Lage, sich das H a n d w e r k hier in einer besonderen Lage
befand.
Trotz der Unterschiede zwischen d e m H a n d w e r k im Westen, dem L a n d h a n d w e r k
in RuBland u n d d e m Stadthandwerk in St. Petersburg ist festzuhalten, daB fur alle
H a n d w e r k s a r t e n die Industrialisierung der ProzeB war, der am starksten und
nachhaltigsten auf das H a n d w e r k und alle andere Bereiche der Gesellschaft
einwirkte.
B e s o n d e r s seit der Mitte des 19. Jahrhunderts w u r d e das St. Petersburger
H a n d w e r k durch die Industrialisierung zunehmend aufgespalten: die Struktur des
Handwerksbetriebes, die Betriebshierarchie und der ProduktionsprozeB wurden
nach und nach verandert; die Gruppe der Meister w u r d e in zwei ungleiche
G r u p p e n geteilt, in erfolgreiche Handwerker, die ihren Betrieb modernisierten
und vergroBerten, und in Handwerker, die zu allein produzierenden Handwerkern
oder beschaftigten Lohnarbeitem wurden. Fur die letzteren bestand allerdings die
Moglichkeit, in der Fabrik eine Meisterstelle zu b e k o m m e n , die in der Regel hoch
bezahlt w u r d e . In d i e s e m Fall bedeutete es fur einen H a n d w e r k e r keinen
Statusverlust, da diese Art v o n Mobilitat horizontal ausgerichtet war. Der
Vertrieb, das Verhaltnis zum Kunden anderte sich ebenfalls,
durch
GroBabnehmer und die Vermittl ung der Zwischenhandler wurde diese Beziehung
a n o n y m i s i e r t . U b e r h a u p t a n d e r t e sich die S t e l l u n g d e s M e i s t e r s u n d d e s
Handwerksbetriebes im gesamtwirtschaftlichen System der H a u p t s t a d t .
H i e r muB g e k l a r t w e r d e n , w i e sich der L e b e n s s t a n d a r d , d i e P r e i s - u n d
Lohnverhaltnisse der Handwerker veranderten und wie sich wirtschaftliche Lage
des Handwerks verandert hat. N a c h K.H. Kaufhold lassen sich vier Schwerpunkte
1053
1053
Vgl. Engelhardt (Hrsg.), Handwerker in der Industrialisierung, s. unter anderem S. 18, 29,
37-208; H.-J. Gerhard, Quantitative und Qualitative Aspekte von Handwerkereinkommen in
nordwestdeutschen Stadten von der Mitte des 18. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: ebd.,
S. 51-77; Joseph Ehmer, Okonomischer und sozialer Strukturwandel im Wiener Handwerk von der industriellen Revolution zur Hochindustrialisierung, ebd., S. 78-104; Polarisierung und
Verlag; Schuhmacher, Schneider und Schreiner in Dusseldorf 1816-1861, ebd. S. 127-145.
d e r V e r a n d e r u n g h e r v o r h e b e n : D a s E i n k o m m e n , die H a n d w e r k e r z a h l e n ,
W a n d l u n g e n der Betriebsweise u n d Einflusse der Wirtschafts- und vor allem
Gewerbepolitik .
1054
10.1
Die allgemeine wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r
Die Gewerbereformen des Gesetzgebers, die Wirtschaftspolitik der Regierung
und die gtinstige geographische Lage St. Petersburgs - die relative N a h e zu den
westeuropaischen Markten - spielten fur das St. Petersburger H a n d w e r k eine
wichtige Rolle. Alle Veranderungen in den obengenannten Bereichen bekam es
als erstes zu spuren.
Die wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r in St. Petersburg begann sich seit d e m
Anfang des 19. Jahrhunderts w e g e n der z u n e h m e n d e n Geldentwertung immer
m e h r zu destabilisieren. Als Katharina II. in Anbetracht hoher Verschuldung des
Staates anfing, das Papiergeld zu emittieren (in der Zeit von 1768 bis 1799
w u r d e n 21 Mill. Papierrubel gedruckt), beschleunigte sich der Geldwertverlust
wesentlich und das Verhaltnis des Papiergeldes zur Edelmetallwahrung sank auf
6 5 , 5 % . Die Napoleonischen Kriege und die damit verbundenen enormen
Kriegsausgaben lieBen den russischen Staat noch m e h r verschulden. N a c h dem
Krieg entwertete sich Papiergeld durch weitere Emissionen, so daB sein Wert
w e i t e r a u f 2 0 % s a n k . E i n e s o h o h e I n f l a t i o n v e r a n l a B t e d e n S t a a t zu
GegenmaBnahmen, so daB von 1817 - 1822 mit Hilfe von Anleihen 230 Mill.
Rubel Papiergeld eingezogen w u r d e n . Nicht von ungefahr fallt die h o h e
Steuerverschuldung der Zunfthandwerker in diese Zeit.
1 0 5 5
1056
Durch die allgemeine Verteuerung der Rohstoffe, der benotigten
A r b e i t s m a t e r i a l i e n , d e r L e b e n s m i t t e l u n d einer E r h o h u n g der L o h n e d e s
Arbeitspersonals w u r d e die Handwerkswirtschaft dermaBen geschwacht, daB
viele Handwerker am Existenzminimum lebten. Eine Zahl aus d e m Jahr 1814 sei
genannt: N u r j e d e r Hundertste Handwerker der deutschen Zunfte konnte als
wohlhabend gelten. Im Einzelnen verteilten sich die auslandischen Meister im
Jahre 1816 auf folgende Gruppen. V o n den 800 auslandischen Meistern hatten
etwa drei Viertel ein V e r m o g e n zwischen 800 und 1000 Rubel. Die
Pauschalsteuer lag bei 600 Rubel. Ftir die meisten Handwerker war dieser Beitrag
1054
Kaufhold, Einfuhrung, in: Engelhardt (Hrsg.), Handwerker, hier S. 37f.
1055
Vgl. J. de Bloch, Les Finances de la Russie au XIX siecle. Historique et statistique, Bd. 1,
Paris 1899, S. HOff.; Hildermeier, Burgertum, S. 183f.; Kaskarov, Deneznoe obraS6enie v
Rossii. Istoriko-statisticeskoe issledovanie, Bd. 1. St. Petersburg 1898, S. 24ff.; Mieck,
Europaische, S. 759f.; A. P. Pogrebenskij, Ocerki istorii finansov dorevoljucionnoj Rossii (XIXXX w.). Moskau 1954, S. 2Iff.
1056
Mieck, Europaische, S. 760.
zu hoch, sie w u r d e n in den Ruin getrieben. N u r 2 0 0 Meister waren in der Lage,
diesen Steuerbeitrag ohne Beeintrachtigung ihrer E x i s t e n z z u z a h l e n .
AuBerdem war fiir die verschlechterte wirtschaftliche Lage der H a n d w e r k e r eine
immer groBer werdende Anzahl von zunftfreien Handwerkern verantwortlich, die
ihre Dienste giinstiger anbieten k o n n t e n .
Die Staatsauftrage erschwerten betrachtlich das Leben der Zunfthandwerker, da
sie regelmaBig dazu verpflichtet wurden, die A r m e e mit verschiedenen Waren zu
beliefern. Sie erhielten z. B . im Jahre 1816 den Staatsauftrag, Armeeuniformen zu
nahen. E s sollten 320 Uniformen fur die Jager (2,80 Rubel j e Uniform), 600 fur
die Musketiere (2,40 Rubel j e Stuck) und 9 0 0 Paar Stiefel fur 1 Rubel pro Paar
hergestellt werden, zu einem Preis, der k a u m die Unkosten deckte. D e s w e g e n
b e k a m e n die Meister einen ZuschuB aus der Kasse der Handwerksverwaltung,
eine K a s s e , die v o n den deutschen Handwerkern durch ihre Beitrage gefullt
w o r d e n war. Die Jageruniform w u r d e mit 2,95, die Musketiereuniform mit 2,85
und die Stiefel mit 1.50 Rubel bezuschuBt. Die Staatsauftrage fur die Belieferung
der A r m e e m i t K l e i d u n g w i e d e r h o l t e n sich regelmaBig, w o r a u f sich die
H a n d w e r k e r d e r S c h n e i d e r - u n d Schuhmacherzunfte im J a h r e 1830 b e i m
Handwerksoberhaupt beschwerten, da mit diesen Auftragen nichts zu verdienen
war. Sie m a c h t e n z u d e m d e n V o r s c h l a g , den Auftrag den a u s l a n d i s c h e n
H a n d w e r k e r n zu e r t e i l e n .
1 0 5 7
1058
1059
Zwischen 1823 und 1843 verzeichnete das St. Petersburger H a n d w e r k infolge der
stabilen Finanzpolitik der Regierung ein hohes Wachstum. Die Einfuhrung des
Silberrubels 1839 wirkte sich ebenfalls g u n s t i g a u f die E n t w i c k l u n g des
Geldmarktes aus.
D e r W o h l s t a n d der H a n d w e r k e r laBt sich mittels ihrer A n t e i l s unter den
Hauseigentumern nicht definitiv zu ermitteln, weil die H a n d w e r k e r zu alien
moglichen sozialen Schichten (Kleinburger, Bauer, Kaufleute und Adeligen)
gehoren konnten.
Die ersten zwei Quellen, die zur Untersuchung dieser Frage herangezogen
w e r d e n , stammen aus den Jahren 1804 und 1 8 0 9 . Die erste Quelle ist eine
offizielle E r h e b u n g uber die Hauseigentumer der Hauptstadt und die zweite das
erste St. Petersburger AdreBbuch. Allerdings sind die unten vorgefuhrten Zahlen
1060
1057
Prosenie remeslennogo golovy ministru finansov ot 25 ijulja 1816 g., in: RGIA.f. 571, op.
3, d. 337,1. 83.
1058
Predstavlenie departamentu raznych podatej i sborov ot S. Peterburgskoj remeslennoj
upravy, in: RGIA, f. 571, op. 3, d. 337: О podati s inostrannych remeslennikov v stolicach, 1.
29f.
1059
1060
Ocerki istorii Leningrada, Bd. 1, S. 41.
TabeP о ocenke domov, St. Petersburg 1804, aus: Ivanova, Deutsche Handwerker, S. 295ff.;
Sanktpeterburgskaja adresnaja kniga na 1809 god, St. Petersburg [1809].
ein A u s z u g aus diesen E r h e b u n g e n , der nur die deutschen Eigentumer v o n
Immobilien b z w . Handwerkern betrifft, w a s wiederum nur einen Bruchteil der
G e s a m t z a h l der d e u t s c h e n H a n d w e r k e r a u s m a c h t . D i e Z u g e h o r i g k e i t z u r
deutschen N a t i o n a l i t y kann nur durch den Familiennamen bestimmt werden, es
tauchen dabei aber immer wieder Zweifelsfalle auf.
Z w i s c h e n 1804 u n d 1809 blieb die Anzahl der Hauseigentumer unter den
deutschen Handwerkern mit 169 bzw. 161 etwa konstant. D e n groBten Anteil im
Jahre 1804 hatten die Backer und Schneider mit jeweils 19 Eigentumern. Ihnen
folgten die Sattler (16), Tischler (15), Schmiede (14), W a g e n b a u e r (9) und
andere. Die Verteilung im Jahre 1809 sah wie folgt aus: 15 Backer, 19 Schneider,
15 Sattler, 17 Tischler, 18 S c h m i e d e , 12 Wagenbauer, 15 Schlosser und andere.
Es ist selbstverstandlich, daB hier nur ein Bruchteil u n d nicht alle deutschen
Handwerker, wie N . I . Ivanova falschlicherweise meint, aufgezahlt worden waren,
weil nicht alle v o n ihnen Hauseigentumer w a r e n . Die uberwiegende Mehrheit
der deutschen H a n d w e r k e r w o h n t e und arbeitete in angemieteten W o h n u n g e n .
W e n n wir annehmen, daB die deutschen H a n d w e r k e r unter den auslandischen
Zunftmeistem mehr als die Halfte ausmachten, so sollten in der Hauptstadt zu
j e n e r Zeit etwa 500 deutsche Meister gelebt haben. Ihre Anzahl muB aber noch
h o h e r gewesen sein, w e n n wir in Betracht ziehen, daB in der Hauptstadt rund
20.000 D e u t s c h e n lebten, die meistens Handwerker und Kaufleute w a r e n . Es
w a r a u c h n i c h t s e l b s t v e r s t a n d l i c h , daB a l l e d e u t s c h e n H a n d w e r k e r
Zunfthandwerker w a r e n . Im Gegenteil die Mehrheit der deutschen Handwerker
stand auBerhalb der Zunft. Insgesamt gab es 1809 rund 600 deutschstammige
Hauseigentumer, das waren 8 , 3 % aller Hausbesitzer der Hauptstadt. Die groBten
Gruppen unter den deutschen Eigentumern stellten H a n d w e r k e r (161), Beamten
(146), Kaufleute (121), Militars (75) und Hofangestellte (20). A u c h fur die
spateren Zeitabschnitte m a c h t I v a n o v a inkorrekte Vergleiche bezuglich der
A n z a h l der d e u t s c h e n H a n d w e r k e r , z. B . fur das Jahr 1849, da si