Henrik Ibsen DIE WILDENTE (Vildanden) Schauspiel in fünf Akten Aus dem Norwegischen von Bernhard Schulze Durchgesehene Fassung 1997 1 © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 1997 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. 2F1 PERSONEN Werle, Großkaufmann und Bergwerksbesitzer Gregers, sein Sohn Der alte Ekdal* Hjalmar Ekdal*, sein Sohn, Fotograf Gina, Hjalmars Frau Hedwig, ihre vierzehnjährige Tochter Frau Sörby*, Hausdame bei Werle Relling, Mediziner Molvik*, Theologe Graaberg*, Buchhalter bei Werle Pettersen, Diener bei Werle Jensen, Lohndiener Ein schwammiger Herr Ein glatzköpfiger Herr Ein kurzsichtiger Herr Sechs weitere Herren } Werles Festgäste Mehrere Lohndiener ORT DER HANDLUNG Eine kleinere norwegische Stadt um 1880. Der erste Akt spielt bei Großkaufmann Werle, die weiteren Akte spielen in Hjalmar Ekdals fotografischem Atelier. * Aussprache: Eekdal, Jalmar, Ssörbü, Mulwik, Groberg. 3 ERSTER AKT Im Haus des Großkaufmanns Werle. Komfortabel eingerichtetes Arbeitszimmer. Bücherschränke und Polstermöbel. Mitten im Raum Schreibtisch mit Papieren und Mappen. Brennende Lampen mit grünen Schirmen, die ein gedämpftes Licht geben. In der Hinterwand eine offene Flügeltür, durch die ein großes, elegantes Zimmer sichtbar wird, das im hellen Licht von Lampen und Wandleuchtern liegt. Im Arbeitszimmer, auf der rechten Seite, eine kleine Tapetentür. Links vorn ein Kamin mit glühenden Kohlen. Links hinten eine Tür zum Speisesaal. Pettersen in Livree, und Jensen im schwarzen Anzug, legen im Arbeitszimmer letzte Hand an. Im hinteren Zimmer weitere Lohndiener, die ordnen und noch mehr Lichter anzünden. Vom Speisesaal her Stimmengewirr und Gelächter. Man hört, wie an ein Glas geschlagen wird, worauf Stille eintritt und ein Trinkspruch ausgebracht wird. Bravorufe und dann wieder Stimmengewirr. Pettersen (Zündet eine Lampe auf dem Kamin an und stülpt den Schirm darüber.) Na, hören Sie bloß, Jensen: nun ist der Alte aufgestanden und hält einen langen Prost auf Frau Sörby. Jensen (Rückt einen Lehnstuhl.) Die Leute sagen, daß die beiden was miteinander haben. Ist da eigentlich was dran? Pettersen Weiß der Deiwel. Jensen Er ist wohl früher n doller Bock gewesen? Pettersen Kann sein. Jensen Das Festessen heute ist ja wohl dem Sohn zu Ehren? Pettersen Ja. Der junge Herr ist gestern angekommen. Jensen Habe nie gewußt, daß der Alte n Sohn hat. Pettersen Aber gewiß doch hat er n Sohn. Aber der hat sich die ganze Zeit oben in den Bergen verkrochen, wo der Alte das Werk hat. All die Jahre, wo ich hier in Stellung bin, ist er nicht hier gewesen. Ein Lohndiener (In der Tür zum hinteren Zimmer.) Sie, Pettersen. Da ist son oller Knacker – Pettersen (Murmelt.) Deiwel noch mal, ausgerechnet jetzt! (Der alte Ekdal wird rechts im hinteren Zimmer sichtbar. Er hat einen fadenscheinigen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und Fausthandschuhe an. In der Hand hält er einen Stock und eine Pelzmütze, unter dem Arm ein Bündel in Packpapier. Rotbraune schmutzige Perücke und kleiner brauner Knebelbart.) 5 Pettersen (Geht ihm entgegen.) Gott verdamm mich – was wollen Sie denn hier? Ekdal (In der Tür.) Muß unbedingt ins Büro, Pettersen! Pettersen Das Büro ist schon eine Stunde zu. Ekdal Hat man mir unten schon gesagt, mein Lieber. Aber der Graaberg arbeitet noch drin. Seien Sie so gut, Pettersen, und lassen Sie mich durch das Türchen hinein! (Zeigt auf die Tapetentür.) Bin doch schon öfter hier durchgegangen. Pettersen Na meinetwegen. (Öffnet die Tür.) Aber daß Sie mir nachher den richtigen Ausgang benutzen! Wir haben nämlich Gäste! Ekdal Weiß ich – hm! Danke, lieber Pettersen! Alter Freund! Danke schön! (Murmelt leise.) Blödmann! (Er verschwindet durch die Tapetentür, die Pettersen hinter ihm schließt.) Jensen Arbeitet der auch im Büro? Pettersen Nee, das ist bloß einer, der zu Haus Schreibarbeiten macht, wenn die Aushilfe brauchen. Aber das ist mal ein feiner Pinkel gewesen, der olle Ekdal! Jensen Ja, son bißchen merkt man ihm das noch an. Pettersen Freilich, der ist Leutnant gewesen, müssen Sie wissen! Jensen Donnerwetter! Leutnant? Pettersen Aber gewiß doch! Aber dann legt er sich auf den Holzhandel oder so was Ähnliches. Es heißt: er hat den Chef damals in Schwulitäten gebracht. Die beiden hatten nämlich das Bergwerk zusammen, verstehen Sie. Ja, ich kenne den alten Ekdal gut! Wir trinken ab und zu n Schnaps und ne Pulle Bier zusammen bei der Eriksen. Jensen Der hats doch wohl nicht so dicke zum Spendieren? Pettersen Gott, Jensen, Sie können sich doch denken, daß i c h spendieren muß! Ich sage immer: man soll sich nicht lumpen lassen bei Leuten, die mal bessere Tage gesehen haben. Jensen Hat er Bankrott gemacht? Pettersen Nee, viel schlimmer. Gefängnis hat er gekriegt. 6 Jensen Gefängnis? Pettersen Oder wars sogar Zuchthaus – (Horcht.) Pst, nun stehen sie vom Tisch auf! (Die Tür vom Speisesaal wird durch Diener geöffnet. Frau Sörby kommt im Gespräch mit zwei Herren heraus. Grüppchenweise folgt die ganze Tischgesellschaft, darunter Werle. Zuletzt kommen Hjalmar und Gregers.) Frau Sörby (Im Vorbeigehen.) Pettersen, lassen Sie den Kaffee im Musiksalon servieren! Pettersen Sehr wohl, Frau Sörby. (Sie geht mit den beiden Herren in das hintere Zimmer und von dort rechts ab. Pettersen und Jensen gehen denselben Weg ab.) Ein schwammiger Herr (Zu einem glatzköpfigen.) Puh – dieses Diner – das war ein schweres Stück Arbeit! Der glatzköpfige Herr Oh, mit etwas gutem Willen kann man in drei Stunden unwahrscheinlich viel leisten! Der schwammige Herr Ja, aber hinterher, hinterher, mein lieber Kammerherr! Ein dritter Herr Ich höre, im Musiksalon soll es Mokka und Likör geben. Der schwammige Herr Bravo! Dann spielt uns vielleicht Frau Sörby etwas vor. Der Glatzköpfige (Leise.) Wenn nur Frau Sörby nicht bald auf uns pfeift! Der schwammige Herr Werle Aber ganz und gar nicht! Berta läßt ihre alten Freunde nicht im Stich! (Sie lachen und gehen ins hintere Zimmer.) (Leise und verstimmt.) Gregers, hoffentlich hat es niemand bemerkt! Gregers (Blickt ihn an.) Was? Werle Du hast es auch nicht bemerkt? Gregers Was sollte ich bemerkt haben? 7 Werle Wir waren dreizehn bei Tisch. Gregers So? Waren wir dreizehn? Werle (Mit einem Blick auf Hjalmar.) Wir sind gewöhnlich zwölf. (Zu den übrigen.) Haben Sie die Güte, meine Herren . . . (Er und die übrigen, mit Ausnahme von Hjalmar und Gregers, gehen durch das hintere Zimmer nach rechts.) Hjalmar (Der die Unterhaltung gehört hat.) Du hättest mich nicht einladen sollen, Gregers! Gregers Was! Die Gesellschaft ist doch wohl mir zu Ehren arrangiert! Und da sollte ich meinen einzigen und besten Freund nicht einladen dürfen? Hjalmar Ich glaube nicht, daß es deinem Vater paßt. Sonst komme ich ja nie in dieses Haus. Gregers Das habe ich gehört. Aber ich mußte dich gleich sehen und sprechen, denn ich reise sicher bald zurück. – Ja, wir zwei alten Schulkameraden, wir sind freilich ziemlich auseinandergekommen! Sechzehn, siebzehn Jahre sinds wohl her, daß wir uns nicht gesehen haben. Hjalmar So lange? Gregers Ja, tatsächlich. – Na, wie gehts dir denn? Du siehst gut aus. Bist schon ein wenig füllig und schwer geworden! Hjalmar Na, das ist wohl ein bißchen übertrieben! Aber ich sehe natürlich etwas männlicher aus als damals. Gregers Das stimmt. Dein Äußeres hat nicht gelitten. Hjalmar (In düsterem Ton.) Aber das Innere, mein Lieber! Da sieht es anders aus, das kannst du mir glauben! Du weißt doch, wie alles über mir und den Meinen zusammengestürzt ist, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Gregers (Leiser.) Wie gehts deinem Vater jetzt? Hjalmar Sprechen wir nicht davon! Mein armer unglücklicher Vater lebt natürlich bei mir. Er hat ja sonst niemand. Doch darüber spreche ich nicht gern, wie du verstehen wirst. – Sag mir lieber, wie es dir ergangen ist da oben im Werk. 8 Gregers Herrlich einsam wars – ich hatte viel Zeit, über so manches nachzudenken. – Komm, wir wollen es uns gemütlich machen! (Er setzt sich in einen Sessel am Kamin und nötigt Hjalmar in den danebenstehenden.) Hjalmar (Weich.) Gregers, ich danke dir, daß du mich trotz allem an Gregers (Erstaunt.) Wie bist du nur darauf gekommen, ich hätte etwas Hjalmar In den ersten Jahren war es doch so. Gregers In welchen ersten Jahren? Hjalmar Nach dem großen Unglück. Und das war auch ganz natürlich. Um Haaresbreite – und dein Vater wäre mit hineingerissen worden in diese – diese schreckliche Geschichte! Gregers Und deshalb sollte ich etwas gegen dich gehabt haben? Wer hat dir so was eingeredet? Hjalmar Ich weiß, daß es so war, Gregers. Dein Vater hat es mir selbst gesagt. Gregers (Stutzt.) Mein Vater selbst! Ach so! Hm. – Deshalb hast du nie Hjalmar Ja, deshalb. Gregers Nicht einmal in der Zeit, als du Fotograf wurdest. Hjalmar Dein Vater sagte, es wäre sinnlos, an dich zu schreiben. Gregers (Blickt vor sich hin.) Nun, vielleicht hatte er recht. – Doch sag mir, Hjalmar (Mit einem leichten Seufzer.) Ach ja, gewiß, es geht mir nicht Gregers (Erschüttert.) Ja, ja – natürlich – ja, ja – Hjalmar Selbstverständlich konnte ich nicht daran denken, weiter zu studieren. Uns war ja nichts geblieben. Im Gegenteil, Schulden. Hauptsächlich bei deinem Vater, glaube ich . . . deines Vaters Tisch geladen hast. gegen dich? etwas von dir hören lassen? Nicht eine Silbe? Hjalmar, bist du einigermaßen zufrieden in deinem Beruf? schlecht. Zunächst war mir ja alles fremd, das wirst du verstehen. Es waren ja immerhin ganz andere Verhältnisse. Aber auch alles andere war ja völlig verändert. Die Katastrophe, die über Vater hereingebrochen war, die schreckliche Schande – 9
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