Flüchtlingskinder in der Schule

FOKUS
SCHULLEITUNG
„Jedes Kind braucht
einen Lehrer und einen Bleistift.“
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Malala Yousafzai
Flüchtlingskinder in der Schule
Aufgaben, erste Handlungsschritte und die Verantwortung
der Schulleitung
STEFAN HEIMANN
Der Strom der Flüchtlinge aus den Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten, aus den Hunger- und Elendszonen der
Welt wird auch in den nächsten Jahren anhalten und
größer werden. Die allermeisten dieser Menschen haben nur ihr nacktes Leben gerettet und sind mittellos.
Zu ihnen gehören Tausende und Abertausende von
Kindern und Jugendlichen – allein oder mit überlebenden Angehörigen. Viele von ihnen sind verängstigt, traumatisiert, krank und hungrig.
Sie kommen in unsere Schulen, sie werden unsere
Schülerinnen und Schüler, für die wir Verantwortung
übernehmen müssen.
Diese Verantwortung tragen Kollegien gemeinsam
mit den Eltern, die Letztverantwortung liegt bei den
Schulleitungen.
In welchen Situationen und vor welchen Aufgaben
stehen Schulleitungen dabei und was können erste wichtige Informationen, Schritte und Maßnahmen sein?
1. Im Schulsekretariat stehen vier Kinder zur
Anmeldung, zwei mit ihren Eltern und zwei
mit einem Vertreter des Jugendamtes, der
erklärt, dass die Eltern mit ihren Kindern aus
Syrien kämen und die zwei anderen Kinder
allein und im Mittelmeer gerettet worden
seien; für sie bestelle die Stadt einen Vormund. Alle sprächen Arabisch, vielleicht auch
Kurdisch, er wisse dies nicht genau.
– Flüchtlingskinder kommen zumeist nicht bei Schuljahresbeginn zur Anmeldung; mit ihnen ist zu allen
Zeiten eines Schuljahres zu rechnen. Wenn sie zwischen
sechs und 17 Jahren alt sind, sind sie in Deutschland
schulpflichtig. Allerdings ist es häufig schwierig, das
Alter dieser Kinder zu ermitteln.
– Ähnlich schwierig ist die Feststellung und Anerkennung
von Schulleistungen und Abschlüssen dieser Schülerinnen und Schüler – wegen der Sprachprobleme und
wegen der in der Regel fehlenden Bescheinigungen
und Zertifikate. Gleichwohl muss hier nach Maßgabe
des Möglichen recherchiert werden; für die Anerkennung von Abschlüssen aus den Herkunftsländern ist
die Schulaufsicht zuständig.
– Sprechen die Ankömmlinge weder Deutsch noch Englisch oder Französisch und ist keine entsprechend
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sprachkundige Lehrkraft im Kollegium oder ein Dolmetscher in der Kommune oder im Schulamt erreichbar,
können gegebenenfalls Schülerinnen oder Schüler mit
Migrationshintergrund und einschlägigen muttersprachlichen Kompetenzen hinzugezogen werden.
– In jedem Fall werden Flüchtlingskinder die Heterogenität der Schülerschaft vergrößern und der Kompetenzen der Lehrkräfte zu individueller Diagnostik und
Förderung verstärkt bedürfen.
2. Voraussichtlich werden den Kommunen in der
allernächsten Zeit Flüchtlinge in größerer Zahl
aus verschiedenen Ländern zugewiesen. Ebenso
ist mit einer größeren Anzahl von Kindern und
Jugendlichen zu rechnen, die von den Schulen
der Stadt aufgenommen werden müssen.
– Die Schulleitung sollte nach Möglichkeit nicht warten, bis erste Flüchtlingskinder zur Aufnahme in der
Schule erscheinen. Besser sollte sie – je nach Schulform und -größe – möglichst zeitnah die Steuergruppe für das Schulprogramm sowie alle Jahrgangs- und
Stufenleitungen einladen, um gemeinsam einen Handlungsplan zu entwerfen, wie die Schule die Integration/
Inklusion (!) der kommenden Flüchtlingskinder leisten kann und sollte.
– Zugleich sollten das Kollegium und die Elternschaft
im Rahmen von Lehrer- und Schulkonferenzen über
die absehbaren Entwicklungen informiert und einbezogen
werden. Die Integration/Inklusion der Flüchtlingskinder gilt es dabei als pädagogische und humanitäre
gemeinsame Aufgabe darzustellen, die nicht zuletzt
auch in gesellschaftlicher und bildungspolitischer
Verantwortung liegt.
– Vor diesen Sitzungen sollte sich die Schulleitung bei
der Kommune und bei der zuständigen Schulaufsicht
um Informationen über Ankunftszeiten und Anzahl der
Flüchtlinge bemühen sowie über deren beabsichtigte
Unterbringung, die Konsequenzen für die Verteilung
auf die entsprechend zuständigen Schulbezirke haben
wird.
3. Im Rahmen einer schulinternen Lehrerfortbildung zur Inklusion ist dem Kollegium der
„Inklusionsindex“ (vgl. z. B. Boban/Hinz 2014,
S. 12 ff.) vorgestellt worden und hat Akzeptanz gefunden. Die Schulleitung regt an, die
pädagogische Arbeit mit den Flüchtlingskindern ebenfalls an diesem Index zu orientieren und ihn nicht „nur“ auf Schülerinnen
und Schüler mit Behinderungen zu beziehen.
Inklusion in diesem Sinne nimmt alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer individuellen Besonderheiten ernst.
„Flüchtlingskinder gehören in der inklusiven
Schule dazu – wie alle anderen auch“, erklärt
die Schulleitung.
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– Wenn die Schule zur Unterstützung und Beratung
des ganzen Kollegiums ein Inklusionsteam eingerichtet
hat, könnte/sollte dieses Team die Schulleitung, das
Kollegium und die Elternschaft über die drei großen
Handlungsfelder der schulischen Inklusion informieren,
in die alle einbezogen sind:
• inklusive Schulkulturen;
• inklusive Schulstrukturen und
• inklusive pädagogische Praktiken.
– Dieses Konzept inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung sollte auch der Rahmen der pädagogischen
Arbeit mit den Flüchtlingskindern sein.
4. Die Schulleitung führt aus, dass die neuen
Aufgaben und Herausforderungen, die mit
dem Kommen von Flüchtlingskindern verbunden sind, von schulexternen Einrichtungen
zwingend unterstützt werden müssen. Es ist
ja nicht damit getan, diese Kinder den Schulklassen altersgerecht zuzuweisen; das Kollegium braucht – gerade auch im inklusiven
Rahmen – Beratung und intensive Unterstützung. Welche Institutionen sind hier zuständig
und anzusprechen und wer übernimmt diese
Ansprachen im Auftrag der Schulleitung?
a) Die Unterstützungs- und Fortbildungsbedürfnisse
sollten geklärt werden:
Schulamt/Schulaufsicht ist zuständig und verantwortlich für die Einrichtung von Sprachkursen „Deutsch
als Fremdsprache“: anfragen und beantragen
– Wer hilft bei Sprachproblemen mit neu ankommenden Flüchtlingskindern?
– Verfügt die Kommune über Dolmetscher?
– Haben Schulamt und Schulaufsicht entsprechend
sprachkompetente Lehrkräfte, die bei der Kommunikation zur Anmeldung, zur Herkunft, zum
Wohnort, zum Schulbesuch usw. helfen können?
– Und wie sind diese gegebenenfalls erreichbar?
– Welche Leistungen werden durch kommunale Integrationseinrichtungen, Jugendämter, Gesundheitsämter, ärztliche Notdienste und Schulpsychologische Dienste erbracht und wie sind
diese unaufwendig erreichbar (Kontaktanschriften, Dienstwege und Sprechzeiten)?
– Welche Einrichtung bietet Fortbildung und Beratung für das Kollegium und die Fachkonferenzen
im Hinblick auf die Belange und Erfordernisse im
Umgang mit Flüchtlingskindern?
Berücksichtigung dieser Fortbildungswünsche in
der schulischen Fortbildungsplanung.
b) Diese Recherchen sollten arbeitsteilig von der Schulleitung, der Steuergruppe, von Jahrgangs- und Stufenleitungen vereinbart, durchgeführt und bei der Schulleitung zu weiteren Entscheidungen gesammelt
werden.
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5. Jede Schule verfügt mit der Professionalität
ihrer Lehrkräfte und ihrer Schulleitung(en)
über vielfache Erfahrungen und Kompetenzen
im Umgang mit neuen Herausforderungen
und Aufgaben. Kollegiumsintern sollten darum auf jeden Fall für die Arbeit mit Flüchtlingskindern bereits vorhandene Ressourcen
geklärt und genutzt werden.
– Bei der Ersteinrichtung von Sprachkursen „Deutsch
als Fremdsprache“ macht es Sinn, die Arbeit der Fachkonferenzen Fremdsprachen (Englisch, Französisch, Spanisch) einzubeziehen.
– Gibt es Kollegiumsmitglieder mit spezifischen Beratungs- und Förderkompetenzen (Förderlehrkräfte, zertifizierte Weiterbildungen usw.)?
– Hat die Schule Erfahrungen mit Patenmodellen, in denen beispielsweise ältere Schülerinnen und Schüler
für jüngere Schulanfängerinnen und -anfänger Patenschaften übernehmen? Sind Konzept und Erfahrungen übertragbar auf die Situation mit Flüchtlingskindern?
– Absehbar werden Beratung und Betreuung der Familien von Flüchtlingskindern sinnvoll bzw. erforderlich
sein, die Schülerinnen und Schüler der eigenen Schule
sind. Gibt es im Kollegium spezifische Erfahrungen
und Kompetenzen in der Zusammenarbeit mit den
Eltern besonders belasteter Kinder? Gibt es in der Elternschaft und im Umfeld der Schule gegebenenfalls
erfahrene und motivierte Mütter und Väter sowie
„ehrenamtliche Großeltern“ für die Betreuung und
Unterstützung von Flüchtlingsfamilien?
6. Im Rahmen inklusiver Schulkulturen, inklusiv-interner Strukturen und inklusiver pädagogischer Praxis sollten sich Schulen mit der
Ankunft von Flüchtlingskindern um die entsprechende Fortschreibung ihres Schulleitbildes und ihres Schulprogramms bemühen.
– Das Schulleitbild als Darstellung des pädagogischen
Ethos einer Schule, ihres Geistes beziehungsweise
ihres Selbstverständnisses sollte dabei nicht „exklusiv“ auf die Flüchtlingskinder fokussieren, sondern
sie in die eigene inklusive Willkommenskultur einbeziehen.
– Das Schulleitbild ist keine Präambel oder unverbindliche Sammlung guter Absichten, sondern Ausdruck
des ernsthaften und verbindlichen Bemühens einer Schule
um die erklärten Werte und Ziele.
– Das Schulprogramm gilt es im Hinblick auf die Arbeit mit Flüchtlingskindern zu ergänzen, zu differenzieren und fortzuschreiben. Dabei enthält das Schulprogramm definierte Maßnahmen und Vorhaben, deren
Einlösung intern und extern evaluierbar ist.
– Die Weiterentwicklung des Leitbildes der Schule und
des Schulprogramms sollte einer Steuergruppe im
Auftrag des Kollegiums und der Schulleitung übertragen werden.
7. Vor und nach der Ankunft von Flüchtlingskindern in der Schule sollten sich Lehrerkonferenzen, Schulelternbeiratssitzungen
und Schulkonferenzen empathisch und solidarisch mit der Frage nach dem Ergehen der
Flüchtlingsschülerinnen und -schüler, ihren
Lern- und Leistungsentwicklungen und gegebenenfalls ihren besonderen Problemen
und Unterstützungserfordernissen befassen.
– Die Schulleitung, die Steuergruppe sowie Jahrgangsund Stufenleitungen sollten sich gemeinsam um die
Vorbereitung, Planung und Durchführung bzw. Beratung dieser Konferenzen bemühen und sich für ein
Klima von Empathie und Willkommenskultur engagieren.
– Dabei sollen die Flüchtlingskinder nicht als „exklusive Problemgruppe“ gesehen und behandelt werden,
sondern als eine „inklusive Schülergruppe“, der eine
besondere Achtsamkeit und Fürsorglichkeit gilt – nicht
zulasten aller anderen Schülerinnen und Schüler.
– Grundsätzlich sollte in kritischen Situationen mit
traumatisierten, kranken Flüchtlingskindern externe
fachliche Hilfe gerufen werden. Hier tut sich ein neues Aktionsfeld für die Schulsozialarbeit auf.
8. Gleichwohl: PEGIDA-nahe Haltungen finden
sich auch im Schulbereich – im Folgenden
einige authentische Wortmeldungen.
– „Alle paar Jahre eine neue Flüchtlingsschwemme! Darauf kann das System nicht reagieren. Wenn wir extra für
Flüchtlingskinder noch besondere Lehrer einstellen, sind
die hinterher nicht mehr zu gebrauchen.“
Dies ist eine ignorante Abwehrargumentation gegenüber dem Elend der Menschen in den weltweiten
Flüchtlingsströmen. Die PEGIDA-nahe Haltung „das
Boot ist voll“ wird hier auf Schulen ausgeweitet und
auf die Zeit nach den Flüchtlingen („hinterher“) spekuliert.
– „Die können doch zuerst in ganz normale Klassen in ihren Wohnvierteln gehen, bis irgendwo ein Deutschkurs
anfängt. Dann wissen sie wenigstens schon, wohin sie
später zurückkommen.“
Dies käme einer Verteilung der Flüchtlingskinder in
die Schulen einer Stadt nach Kosten- und Ersparnisgesichtspunkten gleich. Wichtig wäre, dass Kommunen, die Flüchtlinge und ihre Kinder aufnehmen,
an geeigneten Schulen Sprachlernzentren bilden –
zum Erwerb der deutschen Sprache als Schul- und
Unterrichtssprache durch entsprechend qualifizierte Lehrkräfte, möglichst mit Migrationshintergrund,
um den Kindern so schnell wie möglich Unterricht
in deutschen Regelklassen zu ermöglichen.
■
Literatur
Boban, Ines/Hinz, Andreas (2014): Der Index für Inklusion. Eine Hilfe
für die inklusive Entwicklung der inklusiver werdenden Schulen. In:
Lernende Schule, H. 67, S. 12–15
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