Nach sexuellen Übergriffen auf Frauen Selbstverteidigung boomt

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Nach sexuellen Übergriffen auf Frauen Selbstverteidigung
boomt auch auf den Fildern
Von Fatma Tetik 31. Januar 2016 - 12:30 Uhr
Kampfsport-Kurse liegen nach den sexuellen Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht hoch im Kurs.
Selbstverteidigungstrainer in Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen verzeichnen eine stark gestiegene
Nachfrage.
Entschlossenheit ist bei der Abwehr wichtig, sagt Thorsten Boßdorf.Foto: Fatma Tetik
Filder - Die sexuellen Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht haben viele Frauen verängstigt.
Pfefferspray und Schreckschusswaffen haben Hochkonjunktur, Kurse für Selbstverteidigung boomen im ganzen
Land. Auch Kampfsportschulen auf den Fildern verzeichnen eine gestiegene Nachfrage.
„Seit Neujahr haben wir deutlich mehr Interessenten“, bestätigt der Inhaber der Modern School of Wing Chun in
Bonlanden, Thorsten Boßdorf. Auch die DVT Kampfkunstakademie Kung Fu Filderstadt von Lambros Stogios
meldet eine „extreme Steigerung“. „Früher kamen nur vereinzelt ein paar Frauen in die Kurse, seit den Vorfällen
in Köln sind es 20 Frauen mehr“, berichtet der Kampfsportlehrer. Die VHS Filderstadt bietet zudem
Mütter/Töchter-Kurse mit der erfahrenen Trainerin Renate Rommel an. Gemischtgeschlechtliche
Selbstverteidigung für Frauen und Männer vom 16. Lebensjahr an gibt es in der ATK Leinfelden. In den CrashKursen wollen die Betreiber in möglichst kurzer Zeit einfache, aber effektive Methoden vermitteln, sich gegen
Angreifer zu wehren.
Sechstägiger Kurs
Prinzipiell gliedern sich die Kurse aller Anbieter in zwei Bereiche: in die Selbstbehauptung und die
Selbstverteidigung. Wir haben exemplarisch eine Trainingseinheit in der „Modern School of Wing Chun“ besucht
und uns mit den Trainer Thorsten Boßdorf und Andreas Böhm unterhalten.
Im ersten Schritt des sechstägigen Kurses lernen die Frauen ein sicheres und starkes Auftreten, schärfen ihr
Gespür für Gefahrensituationen, die es zu meiden gilt, und üben sich in verbaler Verteidigung. „Täter suchen sich
vermeintlich schwache Opfer“, sagt Andreas Böhm. Setze sich eine Frau aber bereits sprachlich heftig zur Wehr,
überfordere das einen Angreifer und schlage ihn meist in die Flucht.
Böhm ist nicht nur Trainer für Selbstverteidigung und Wing Chun, sondern auch seit 25 Jahren im Dienst der
Polizei und dort unter anderem Ausbilder für Zugriffstechniken. „Es gibt tagtäglich Übergriffe auf Frauen, auf der
Straße und daheim, doch erst jetzt nach den massenhaften Übergriffen in Köln redet jeder darüber“, sagt der
Beamte, der auf dem Stuttgarter Revier an der Wolframstraße für schwere Gewaltdelikte zuständig ist.
Experten warnen vor Pfefferspray
Von den sogenannten Bürgerwehren, die nun für die Sicherheit der Frauen sorgen wollen, halten Andreas Böhm
und Thorsten Boßdorf nichts. „Das führt zu einer Gewaltspirale, die irgendwann nicht mehr kontrollierbar ist“,
erklärt Boßdorf. Vor dem Gebrauch von Pfefferspray und Schreckschusswaffen warnen beide ebenso. Eine
gezielte Täter-Abwehr funktioniere damit in den wenigsten Fällen. Stattdessen sei es sinnvoller, Frauen die Angst
zu nehmen und sie für einen Notfall zu wappnen.
Funktioniert die Deeskalationsstrategie nicht und ist eine Konfrontation mit einem Angreifer nicht mehr zu
vermeiden, dann kommen sogenannte aggressive Selbstverteidigungsmethoden zum Einsatz. Schreien, treten,
schlagen, beißen oder kratzen: „Erlaubt ist alles, was weh tut“, sagt Thorsten Boßdorf. „Selbstverteidigung muss
keinen Schönheitspreis gewinnen“, betont er. Auch alltägliche Gegenstände, wie die Handtasche oder der
Schlüsselbund, könnten Angreifer schnell außer Gefecht setzen.
Tritte gehören zum Schulungsprogramm
Die Abwehrmethoden der Modern School setzen sich aus diversen Kampfsportarten zusammen. Elemente aus
dem Combat-Training und aus dem Budo-Bereich, sind Teil des Kurses. „Arme und Beine sind unsere Waffen“,
sagt Lambros Stogios von der Kampfkunstakademie Filderstadt. „Wir trainieren sehr schnelle und effektive
Techniken, Halsschläge, Kehlkopfschläge und auch Genitalschläge und Tritte gehören dazu und können auch
von körperlich zierlichen und schwächeren Personen gezielt eingesetzt werden.“ Boßdorf und Böhm bestätigen
das. „Es spielt keine Rolle, ob eine Frau 50 oder 80 Kilo wiegt, die Verteidigung funktioniert“, sagt Boßdorf.
Schwierigkeiten bereitet hingegen die Schlaghemmung der Frauen. Um die Teilnehmerinnen in einem sicheren
Rahmen dennoch auf eine reale Notsituation vorbereiten zu können, schlüpfen die Trainer in die Rolle der
Angreifer. Mit gezielter Provokation brechen die Profis die Hemmschwellen der Frauen auf, bis diese am Ende
voller Wucht draufhauen können. „Wir überschreiten bewusst die Grenzen und Schutzzonen der Frauen, um
automatisierte Abwehrtechniken zu trainieren“, erklärt Thorsten Boßdorf. Im Anschluss an den Kurs wird das
Erlernte dann unter einer möglichst realen Stresssituation abgefragt. „Wir gehen in typische Angsträume wie
Tiefgaragen und Sackgassen“, sagt Andreas Böhm. Es sei enorm wichtig, in solchen Momenten nicht in
Schockstarre zu verfallen und die stille Opferrolle einzunehmen. Thorsten Boßdorf fügt hinzu: „Sobald man den
Täter erfolgreich abgewehrt hat, heißt es weglaufen und sich in Sicherheit bringen!“
„Kursinhalte regelmäßig auffrischen“
Einen Zweikampf gelte es unbedingt zu vermeiden. „Der Crash-Kurs zielt nicht darauf ab, neue Kampfkünstler zu
erschaffen, sondern soll Frauen eine schnelle, aber effektive Abwehr eines Angreifers ermöglichen“, so Böhm.
Der langjährige Polizeibeamte, der zwölf seiner Dienstjahre in der Klettpassage am Stuttgarter Hauptbahnhof
eingesetzt war, bedauert, dass Frauen sich erst nach den jüngsten Vorfällen für die Kurse interessieren.
Eigentlich, so der Wing Chun-Meister, müsste man einen Selbstverteidigungskurs regelmäßig auffrischen. „Das
ist wie beim Erste-Hilfe-Kurs“, sagt er. „Da wissen die Leute nach einem Jahr auch nicht mehr, was sie bei einem
Unfall zu tun haben. Man muss in Übung bleiben, um jederzeit für den Fall X gerüstet zu sein!“
Info
Spezielle Selbstverteidigungskurse findet man auf den Homepages der Anbieter.
Modern School of Wing Chun, Rainäckerstraße 63 (Bonlanden): www.studium-selbstverteidigung.de.
DVT Kampfkunstakademie - Kung Fu Filderstadt im Fitnessworld, Obere Bachstraße 5 (Bernhausen): www.kungfu-filderstadt.de.
Kampfsportzentrum Schmid, Schulze-Delitzsch-Straße 2, (Leinfelden-Unteraichen): www.kampfsportschuleschmid.de.
Mütter-/Töchter-Kurs an der VHS Filderstadt, Kurs-Nr. 1380 im Bürgerhaus Plattenhardt: www.filderstadt.de.
ATK Leinfelden, beim TSV Leinfelden, Randweg 10: www.atk-leinfelden.de.
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