Uta Benefeld-Süß Eine Prise DDR Ferien im anderen Deutschland Eine Prise DDR Ferien im anderen Deutschland Zur Erinnerung an meine Großeltern Margarete und Otto Komoll 1 2 Die Einreise 7 Oma 9 Rituale 13 Anmeldung bei der Volkspolizei 18 Opa 22 Verwandtschaft 26 Der Schinken 34 Die Flucht 35 Neuruppin 38 Abschied 50 Der erste Besuch 54 Abenteuer Westdeutschland 59 Wintergäste 62 Exkursionen 69 Die letzten Besuche 72 Nachwort 77 3 4 Ich hatte mal einen Traum. Meine Großeltern waren schon nicht mehr am Leben, da träumte ich, ich würde einen Film drehen. Mit der Kamera fuhr ich auf Schienen ganz langsam an ihrem Haus vorbei. Da standen sie, völlig reglos vor der Haustür: Oma und Opa, die Hand zum Gruß erhoben, freundlich die Gesichter. Ich konnte alles sehr genau erkennen, das Haus mit dem markanten Giebel, den Garten, alles war ganz hell, doch schwebte ich unaufhaltsam an dieser Szene vorbei. Tröstlich war, dass ich alles aufgenommen hatte, es war ein warmes Gefühl, nichts war verloren. 5 Die Einreise „Aus grauer Städte Mauern zieh n wir durch Wald und Feld …“ Im Auto herrscht fröhliche Aufbruchs- und Urlaubslaune, sobald die Sonne aufgeht und wir richtig wach sind. Helle Stimmen singen Wanderlieder mit zweistimmigem Refrain, sogar mein Vater brummelt mit. Ich bin erstaunt, denn ich habe ihn noch nie singen gehört. Die ersten „Hasenbrote“ sind verzehrt, der pelzige Geschmack auf der Zunge und die schweren Augenlider sind verschwunden, bald sind wir schon an der Grenze. Raststätte Helmstedt, letzter Halt auf westdeutschem Boden. Traditionsgemäß mit Kaffee und Pfefferminztee. Dann wird es ernst. Wachtürme, Betonmauern, graue Baracken und Stacheldraht, eine endlose Schlange bis zum Kontrollpunkt. Meine Mutter gibt letzte Anweisungen, der Wagen hält. Mein kleiner Bruder kann in solchen Momenten nie die Klappe halten. Während die Eltern in größter Anspannung die Personalausweise umklammert halten, kräht er von hinten Sätze wie: „Ist das ein Russe, Mami?“ „Guck mal, der Russe hat ein Gewehr!“ 6 Schwerste Drohungen sind nötig, um ihn zum Schweigen zu bringen. Wir kapieren schnell, dass es hier nichts Lustiges gibt. Höchste Vorsicht ist geboten, ungefragt reden nicht erlaubt. Was macht aber ein kleiner Junge, wenn er gerade jetzt, unbedingt und ganz dringend aufs Klo muss? Die Grenzkontrollen dauern. Wir müssen alle aussteigen und das Gepäck ausladen, dann wird das Auto auseinander genommen. Mein Vater weist höflich darauf hin, dass sich bei diesem Modell die Rückbank nicht umklappen lässt. Der Grenzsoldat glaubt ihm nicht und holt Verstärkung. Ein Gefühl von Ausgeliefertsein erfasst mich. Müssen wir jetzt zusehen, wie sie unser neues Auto demolieren? Sie mühen sich vergeblich ab und geben irgendwann auf. Meine Mutter und mein Bruder haben keine Toilette gefunden, hinter die Baracke durften sie nicht gehen, also pinkelt Burki an die Panzersperre neben der Straße. Grenzübergang Helmstedt / Marienborn in den 70er Jahren 7 Oma Oma ist sehr klein, sehr rund und stets umhüllt mit geblümtem Kittelschürzenstoff. Zur Begrüßung umarmt sie mich, so dass ich in ihr versinke wie in einem ihrer dicken Federbetten und alles wackelt, weil sie sich so freut. Ich fühle mich, als sei ich einer großen Gefahr mit knapper Not entronnen und endlich in Sicherheit. Die rettende Insel nach einem Schiffsunglück. Wenn ich morgens die Stiege herunter komme, im Krebsgang, da auf eine Stufe sonst kein ganzer Fuß passt, sitzt sie schon auf ihrem Bänkchen im Hof, einen Eimer geschälter Kartoffeln vor sich. Die Hühner umgackern sie weiträumig und tun sehr geschäftig, obwohl es hier nichts als Sand gibt, kommen aber dann und wann unauffällig auch ganz nah an ihr vorbei. Das Kommando, auf das sie schlagartig ihr Verhalten ändern und sie kopflos auf ihre Herrin und Brotgeberin losstürmen lassen, heißt: „Put, put, put, put, put, put, put, put!“, mit Betonung und Crescendo auf dem ersten „u“, Stakkato und abfallende Tonfolge bei den folgenden. Diese Hühner sind zweifellos glücklich. Wenn ihnen jemand erzählt hätte, was Frikassee ist, sie hätten es nicht geglaubt. 8 Später bittet Oma mich zu sich auf die Bank: „Set di hen min Deern“ und drückt auch mir ein kleines Messer in die Hand. Zwischen uns befindet sich eine Schüssel mit Schoten, die ich zunächst für Bohnen halte, weil ich keine Ahnung von den Früchten eines Gartens habe. Sie zeigt mir, wie man Erbsen pult. Andere Frauen kommen hinzu, wir pulen und singen, bis die Arbeit getan ist. Apropos Frikassee: Wir mögen dieses Gericht trotz aller Tierliebe sehr gern, ist meine Oma doch eine äußerst begabte Köchin. In dieser Funktion ist sie allerdings auch den ganzen Tag sehr beschäftigt in Küche und Hof. Braten, halb und halb, panierte Koteletts, dunkel und saftig, Kartoffelsuppe (Tüffelsupp is S h üffelsupp ), Heri gshä kerle, Eiersalat, Klopse, Frikassee und Eierkuchen (mit Blaubeeren, mmh)… Doch für die größte Köstlichkeit stellt sich sogar Opa in die Küche und schlägt eine halbe Stunde lang Eigelbe und Eiweiße schaumig: Omas berühmte Zitronencreme! Als junges Mädchen arbeitete sie in einer Hotelküche. Gerne weiht sie mich in die Geheimnisse ihrer Kochkunst ein, Eigelb abziehen, Mehlschwitze bereiten, heikle Angelegenheiten, für die ein gewisses Fingerspitzengefühl unabdingbar ist. Trotzdem wird sowohl beim Kochen, als auch unbedingt beim Abwasch immer gesungen. „Nu weene 9 mal nich, nu weene mal nich, inner Röhre sind Klöße, die siehste bloß nich“, singt sie beispielsweise, wenn jemand sie fragt, wann es Essen gibt. Schon Wochen vor unserem Besuch hat sie Opa regelmäßig in die Stadt geschickt, um nach seltenen Lebensmitteln Ausschau zu halten oder im Tausch gegen andere Gefälligkeiten „zurücklegen“ zu lassen. Ein weiteres Geheimnis betrifft ihre heilerischen Fähigkeiten. Meine Großmutter kann „Warzen weg böten“, hat sogar schon einmal eine Gürtelrose geheilt. Ihr sind auch noch andere heidnische Bräuche in Erinnerung, die von den Vorfahren immer hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wurden. In mir findet sie eine begeisterte Zuhörerin, auch ich möchte später dieses Wissen unbedingt an meine Enkel weitergeben, hoffentlich werde ich eine Enkeltochter haben! Wenn Oma ihren Haarknoten löst, fällt ein langer Zopf ihren Rücken hinunter, der ist am Ende ganz dünn und noch ein bisschen blond. Manchmal darf ich ihn nach dem Bürsten wieder flechten, denn ich habe ihr anvertraut, dass ich gern Friseuse werden möchte. Omas Vorname ist Margarete, sie wird aber von allen Grete genannt. Ihre Mutter starb 1908 nach der Geburt am Kindbettfieber. 10 In schillernden Farben wird die Geschichte von der Hebamme mit der blutigen Schürze immer wieder erzählt und kommentiert. Anna Unfug hinterließ drei kleine Kinder und ein Poesiealbum, das später in meinen Besitz wechselte. „Bergauf, bergab, zuletzt ins Grab“ schrieb 1894 ein Mädchen hinein. 11 Rituale „Schönes Auto!“ Diese, mit Nachdruck ausgesprochene Feststellung von Opa beendet stets die ausführliche Westfahrzeugbesichtigungsrunde, die gleich nach der ersten Begrüßung auf dem Hof stattfindet. Meine Brüder zappeln um ihn herum, sie können den nächsten Programmpunkt kaum abwarten, freuen sich seit mindestens 400 Kilometer schon darauf. Doch erst gibt es Bohnenkaffee, Brause und Blechkuchen. Bienenstich mit Kokosflocken, Mandeln gibt es meist nicht. Die Eltern berichten von der Einreise. „Die Schweine!“, lautet Opas abschließender Kommentar, allumfassende Bezeichnung für Menschen, die in der DDR etwas zu sagen haben. Für die Jungs das Stichwort, sich in Erinnerung zu bringen: „Opa, fährst du jetzt mit uns Motorrad?“ Die Maschine steht natürlich bereit, längst ist ausdiskutiert worden, in welcher Reihenfolge wir Sozius sein werden, die Strecke ist für alle exakt dieselbe. Die Allee hinunter, Gühlen-Glienicke, Neu-Glienicke, Rheinsberg-Glienicke, Ortsnamen, die einen magischen Klang besitzen, so geheim, dass fast niemand auf der Welt sie kennt. 12 Auch ich genieße die Fahrt, da kann keine Kirmesattraktion mithalten. Die nächste Aktion ist ebenfalls von großer Wichtigkeit, dokumentiert sie doch den Beginn der Aufpäppelung viel zu dünner Stadtkinder unter Omas Regiment. Die riesige Waage steht in einer Kammer zwischen Scheune und Waschküche. Es gruselt uns immer ein bisschen, denn hier lagern die wunderschönen Eichensärge, die mein Opa für seine Frau und sich angefertigt hat. Im Moment sind sie allerdings noch mit Korn gefüllt. Gewicht für Gewicht wird aufgelegt, das jeweilige Ergebnis sorgfältig notiert. Am Ende unseres Aufenthaltes werden wir alle an Gewicht und Umfang zugelegt haben, zur Freude unserer Oma, die stolz sein wird, dass sich der Aufwand gelohnt hat. Nun folgt die Gartenrunde. Hier passt der Ausdruck "Besichtigung", denn es gibt wahrhaftig viel zu sehen und zu bewundern. Unzählige Sorten von Gemüse und Obst wachsen in den verschiedenen Stockwerken, großzügige Stauden und Büsche, aber auch akkurate Reihen von kleineren Gewächsen, die ich gar nicht alle kenne. Die Anlage ist gepflegt, kein Unkräutchen verwirrt den Blick des Betrachters, meine Großeltern sind 13 zurecht stolz auf diese Pracht. "Hier verhungert so schnell keiner", lacht Oma. Wir Kinder sind eigentlich nicht so begeistert von Gemüse, doch bin ich kein Rohkostverächter. Ich mag alles, was sich einfach so in den Mund stecken lässt, besonders die knackig saftigen Möhren. Während die Familie, eifrig nach links und rechts deutend, langsam in Richtung Erdbeerfeld wandert, ziehe ich rasch eine große Rübe heraus. Doch, wie ungeschickt, ich habe auch zwei ganz kleine Möhrchen erwischt, was mache ich denn jetzt mit denen? Vorsichtig bohre ich mit dem Zeigefinger ein Loch in den sandigen Boden, vergewissere mich, dass keiner schaut und stecke die Mini-Möhren hinein. Vielleicht wachsen sie ja wieder an. Auf dem Rückweg zum Haus bleiben wir bei dem verkrüppelten Baum stehen, dem man es nicht ansieht, dass er jedes Jahr so wundervoll dunkle und süße Kirschen hervorbringt. Eingeweckt schmecken sie nach Marzipan, die besten Kirschen der Welt. Doch der Baum ist krank, Opa zuckt resignierend mit den Schultern, auch Oma schüttelt ratlos den Kopf. Wir kommen beim Hasenstall vorbei und ich finde dankbare Abnehmer für die Reste meines Möhrenabenteuers, alle Spuren sind damit beseitigt. 14 Die alte Standuhr schlägt sechs Mal, Abendbrotzeit. Es wird aufgetischt, was der Kühlschrank hergibt, dazu werden gekochte Eier gereicht, auch die Hühner haben sich in den letzten Wochen mächtig anstrengen müssen. Eine Prise Salz dazu lasse ich genüsslich zwischen Daumen und Zeigefinger rieseln. Sie wird dem kleinen, orange geriffelten Porzellantöpfchen entnommen, das stets in der Schublade des Tisches bereit steht und die Regel "mit Lebensmitteln spielt man nicht" auf so wunderbar unauffällige Weise außer Kraft setzt. Oma hat jetzt Pause, sitzt strahlend am Esstisch in der „guten Stube“ und freut sich während des gesamten Essens immer wieder darüber, dass wir gesund und munter bei ihr gelandet sind. Sie nickt meinem kleinen Bruder zu: „Iss, Sohni!“ „Ich bin schon satt, Oma“, lautet die übliche Antwort. Das ist für sie kein Argument: „Schmeckt es dir nicht?“ „Doch, Oma, schmeckt gut!“ „Dann iss, Sohni!“ Die weibliche Variante für meine Kusinen und mich lautet: „Iss, Dochter!“ Nach dem Abwasch, dazu sind auch wir immer eingeteilt, wechseln wir in die „kleine Stube“. 15 Dort liegt unter dem Fernseher das gesetzlich vorgeschriebene Hausbuch, in das, peinlich genau, alle Besuche eingetragen werden müssen. Wer (Name, Geburtsdatum, Beruf, Staatsbürgerschaft) hält sich wann, mit wie vielen Personen im Haus auf, wann hat die polizeiliche An-, bzw. Abmeldung stattgefunden. Dann schaltet Opa den Fernseher ein. Damit der funktioniert, muss auch der Spannungsregler, ein kleiner, schwarz glänzender Kasten unter dem Gerät in Betrieb genommen werden. Die „Aktuelle Kamera“ beginnt, und er schimpft oder wundert sich über die Berichte. „Wat nich all jeft!“ Wir ignorieren die Nachrichten, aber dann folgt zur Entschädigung „Unser Sandmännchen“ mit „Pittiplatsch, der liebe“. Wir sind müde. Die Eltern rauchen. „F6“, mit Kartoffelkraut, wie Opa behauptet. 16 17 Anmeldung bei der Volkspolizei Wir sind eine geteilte Familie. Unser Teil lebt nach Ansicht meiner Eltern auf der sonnigen Seite, wir haben ein schönes Auto, Bananen und die große Freiheit. Meine Sicht auf die DDR ist eine ganz eigene, natürlich lokal begrenzt und emotional. Ich finde, hier scheint die Sonne viel öfter als im verregneten Sauerland, darum brauche ich kein Auto, sondern fahre mit dem Fahrrad zum nahe gelegenen See. Der Garten ist voller Obst und ich bin frei wie nie, denn es sind Ferien. Birgt die Schule nicht die höchste Form von Freiheitsberaubung überhaupt? In dieser Umgebung befindet sich mein kleines, persönliches Paradies. Klar gibt es Spannungen in der Familie, doch was geht mich das an? Den einen oder anderen Knacks im Paradies kann ich trotzdem nicht ignorieren. Am nächsten Tag müssen wir in die Stadt fahren, um uns polizeilich anzumelden. Dies muss innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Ankunft geschehen. Schon im Auto maule ich: „Muss ich da unbedingt dabei sein?“ 18 Mit Grauen denke ich an den langen Flur, die Wände mit amtsgrüner, abblätternder Farbe bedeckt, unbequeme Holzstühle, falls man einen Platz bekommt und der Mann mit dem Spitzbart an der Stirnseite, der nicht lächelt, ewig lange Wartezeit, nur um einen Stempel in den Ausweis zu bekommen. Das Amtsgericht in Neuruppin Und dabei ginge ich jetzt so gern die lange Straße mit den kleinen Läden entlang, mit wachem Blick für all die ungewöhnlichen Kostbarkeiten, die ich dort entdecke. Dinge wie Emaillegeschirr oder 19 mechanische Handrührgeräte, die bei uns längst ausgestorben sind oder nie erfunden wurden. Das Allerbeste daran ist: Ich habe Geld! In der DDR Verwandtschaft hat es sich längst herumgesprochen, dass Uta es problemlos schafft, ihr Geld für nützliche Dinge auszugeben. Im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern, die behaupten, es gäbe hier nichts Brauchbares zu kaufen. Das Geld fliegt mir also zu, auch von dem täglichen Zwangsumtausch von 25,- DM pro Person profitiere ich. Doch zunächst muss ich mich in Geduld üben. Wir haben Pech, viele Menschen warten in dem Flur, wir ergattern zwei Sitzplätze und wechseln uns mit dem Sitzen ab, anderthalb Stunden lang. Wir Kinder dürfen nicht laut sein und so tauschen wir gedämpft Albernheiten aus und verbotene Witze. Familiengeheimsprache, es genügen oft schon Blicke und eindeutige Handbewegungen. Die Stimmung kann jederzeit kippen und, bestenfalls, in haltlosen Lachanfällen münden. Die Anspannung der Erwachsenen verstärkt die Unnatürlichkeit dieser Situation. Endlich dürfen wir eintreten. In dem großen, hohen Raum, grüne Wände auch hier, befinden sich vier 20 Ende der Leseprobe von: Eine Prise DDR - Ferien im anderen Deutschland Uta Benefeld-Süß Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1Qxz9bD
© Copyright 2024 ExpyDoc