MSK-Vortrag Schwächen der aktuellen Leitlinie

Forschung und Medizin
Über die Schwächen der aktuellen Leitlinie
zur MS-Behandlung
MSK-Vortrag: „Was ist evidenzbasierte Medizin
und ist diese bei MS realisiert?“
Im Februar hielt Dr. Jutta Scheiderbauer einen Vortrag für MSK-Mitglieder zum Thema evidenzbasierte Medizin und setzte diese in Zusammenhang mit der Aktualisierung der Leitlinie zu MS.
Zahlreiche Zuhörer kamen ins Gemeindezentrum St. Clara nach Mannheim-Seckenheim, um sich zu
informieren und zu diskutieren. Vielen Dank für die rege Beteiligung! Ihren Vortrag und die aktuelle Entwicklung fasst Jutta Scheiderbauer nachfolgend für uns zusammen. Nach dem kritischen
Bericht von Dr. Scheiderbauer hat die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, DGN, die Leitlinie
unabhängig überprüfen lassen. Die vier nicht an der Erstellung der Leitlinie beteiligten Kollegen
kamen zu ganz ähnlichen Schlüssen wie Dr. Scheiderbauer. Die DGN will daraus Konsequenzen für
die Leitlinienentwicklung insgesamt ziehen.
Die aktuelle MS-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose“ von Januar 2012 mit
Ergänzung von August 2014, herausgegeben
von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
(DGN), wird vom Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) und dem
Ärztlichen Beirat der Deutschen Multiple Sklerose
Gesellschaft (DMSG) zur generellen Anwendung
empfohlen. Auf diese Weise ist für eine breite
Anwendung der Leitlinie in der medizinischen
Versorgung von MS-Patienten gesorgt. Aber
kann man sich als Neurologe wirklich auf die
Leitlinienempfehlungen verlassen?
Was sind medizinische Leitlinien?
Ganz allgemein sind Leitlinien Handlungsempfehlungen für Ärzte. Einer hochwertigen medizinischen Leitlinie liegt eine aufwändige Methodik
zugrunde. Experten aus dem Fachgebiet einigen
sich in einem sogenannten Konsensusverfahren
nach Sichtung und Diskussion der gesamten
verfügbaren wissenschaftlichen Literatur auf
Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie in
bestimmten Krankheitssituationen, die auf dem
aktuellen Stand der Medizin und Wissenschaft
beruhen sollen. Soweit zur Theorie. Ob eine Leitlinie wirklich qualitativ hochwertig ist, lässt sich
mittels eines Instruments überprüfen: das Deutsche Instrument zur methodischen Leitlinienbewertung (DELBI). DELBI bewertet 34 Kriterien für
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die methodische Qualität und Praktikabilität einer
Leitlinie. Eine sehr hochwertige Leitlinie (Entwicklungsstufe S3) muss diese Qualitätsanforderungen erfüllt haben und ist damit wissenschaftlich
legitimiert und für die breite Anwendung geeignet, eine niedrige Entwicklungsstufe (S1) stellt
nicht mehr dar als eine Meinungsäußerung eines
nicht repräsentativen Expertenkreises, der man
sich anschließen kann oder auch nicht.
Inhaltliche Schwächen der MS-Leitlinie
Um die Leitlinienempfehlungen auf ihren Inhalt
hin zu überprüfen, müsste man sich die Mühe
machen und die wissenschaftliche Grundlage
jeder einzelnen Empfehlung nachvollziehen. Das
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ist für den Einzelnen kaum machbar. Dass die
MS-Leitlinie tatsächlich auch inhaltliche Schwächen hat, lässt sich exemplarisch an der Empfehlung zur Frühtherapie der schubförmigen MS
darstellen: Heutzutage gelten die sogenannten
McDonald-Kriterien für die MS-Diagnose, und
man kann mit Hilfe der Kernspintomographie
(MRT) MS schon im ersten Schub und mit einer
einzigen MRT-Untersuchung diagnostizieren.
Die Leitlinie enthält für die Behandlung in dieser
Situation folgende Empfehlung: „Die Frühtherapie der schubförmigen MS mit IFN-ß-Präparaten
oder Glatirameracetat ist als neues Paradigma
zu empfehlen, nachdem 4 positive Studien mit
Klasse-I-Evidenz vorliegen.“
Diese Argumentation klingt einleuchtend, ist
aber wissenschaftlich unsauber. Es wird auf vier
Studien Bezug genommen, die keine Patienten
mit früher schubförmiger MS, sondern mit einem
so genannten „Klinisch isolierten Syndrom“ (CIS)
einschlossen. Ein CIS bezeichnet das zunächst
einmalige Auftreten neurologischer Symptome
unbekannter Ursache, ohne dass die MRT-Kriterien für MS vollständig erfüllt wären. Daraus
entwickelt sich zwar oftmals im weiteren Verlauf
MS, aber in einer relevanten Anzahl von Fällen
auch nicht. Der Erfolg der geprüften Medikamente wurde in den erwähnten vier Studien
daran festgemacht, dass sie bei Patienten mit CIS
– aber ohne MS-Diagnose – im Studienzeitraum
von nur zwei Jahren den Übergang in die MS
häufiger verhindern konnten als das gleichzeitig
untersuchte Placebo. Angewandt wird die Empfehlung in der Leitlinie jedoch auf alle Patienten
mit Diagnose einer frühen schubförmigen MS
nach McDonald-Kriterien, also auf eine andere
Situation. Zudem lieferten diese Studien keinen
Nachweis, dass aus einer Frühtherapie langfristig
eine geringere Behinderung resultiert. Nur eine
einzige dieser Studien wurde im längeren Verlauf
nach elf Jahren ausgewertet, ohne dass sich die
beiden Behandlungsgruppen mit oder ohne Frühtherapie nach dieser Zeit im durchschnittlichen
Behinderungsgrad unterschieden hätten.
Leitlinie untersucht: die geringe wissenschaftliche
Legitimation durch fehlende systematische Evidenzbasierung und die Gefahr der Beeinflussung
durch Interessenskonflikte der Leitlinienautoren.
Solche Fehlschlüsse können in medizinischen Leitlinien leicht „durchrutschen“, wenn die Methodik
unzureichend ist. Im Folgenden werden zwei
wesentliche methodische Schwächen der MS-
Gefahr der Beeinflussung von Leitlinienempfehlungen durch Interessenskonflikte
der Autoren?
Zahlreiche MS-Leitlinienautoren sind als Mitglie-
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Wissenschaftliche Legitimation der
MS-Leitlinie?
Die MS-Leitlinie ist von den Leitlinienautoren
als S2e klassifiziert worden. Das „e“ steht für
„systematische Evidenzbasierung“, worunter
man versteht, dass die Leitlinienempfehlungen
auf Grundlage von wissenschaftlichen Beweisen
(=Evidenz) zustande gekommen sind. Also müsste
die Leitlinie die entsprechenden DELBI-Kriterien
für systematische Evidenzbasierung auch erfüllen.
Dazu gehören u.a. die Anwendung von systematischen Methoden zur Auswahl der wissenschaftlichen Literatur, klare Kriterien für die Auswahl
der Studienergebnisse, die für die Empfehlungen
herangezogen werden, und eine klare Verbindung zwischen den wissenschaftlichen Daten und
den daraus resultierenden Empfehlungen. Nur
in diesem Fall wäre die Leitlinie wissenschaftlich
ausreichend legitimiert.
Wendet man das DELBI-Leitlinienbewertungsinstrument auf die MS-Leitlinie an, findet man die
Qualitätskriterien der systematischen Evidenzbasierung nicht erfüllt. Insbesondere werden
die Kriterien für die Auswahl der Evidenz sowie
die Verbindungen zwischen Evidenz und Schlüsselempfehlungen nicht genannt. Die Evidenz für
Empfehlungen in Bezug auf MS-Diagnosekriterien, Prognosefaktoren, Therapieindikationen,
Therapieziele und Therapiedauer wird nicht
besprochen. Wichtige Studien (z.B. systematische Metaanalysen der Cochrane Collaboration),
deren Ergebnisse dem momentan etablierten
Behandlungskonzept entgegenlaufen, werden
ohne Angabe von Gründen in der Leitlinie nicht
aufgeführt. Da die MS-Leitlinie nicht systematisch
evidenzbasiert ist, handelt es sich bei ihr lediglich um eine S1-Leitlinie, also die Meinung eines
ausgewählten Kreises von MS-Experten.
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der der DGN, des KKNMS und des Ärztlichen
Beirats der DMSG Meinungsführer im Fachgebiet MS, und haben zugleich mehrere Formen
der Interessenskonflikte mit pharmazeutischen
Herstellern. Unter diese Interessenskonflikte
fallen Berater- bzw. Gutachtertätigkeit oder
bezahlte Mitarbeit in einem wissenschaftlichen
Beirat eines Unternehmens, Honorare für Vortrags- und Schulungstätigkeiten oder bezahlte
Autoren- oder Co-Autorenschaften im Auftrag
eines Unternehmens, finanzielle Zuwendungen
(Drittmittel) für Forschungsvorhaben oder direkte
Finanzierung von Mitarbeitern von Seiten eines
Unternehmens. De facto gibt es keinen einzigen
MS-Leitlinienautor, der gar keine Interessenskonflikte angegeben hat.
Natürlich kann man von Interessenskonflikten
der Leitlinienautoren nicht automatisch auf die
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inhaltliche Qualität der Leitlinie schließen. Aber
nicht umsonst wird momentan von der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer
Fachgesellschaften (AWMF), also Fachleuten
der Leitlinienentwicklung, gefordert, dass mindestens die Hälfte der Leitlinienautoren keine
Interessenskonflikte haben dürfe, die der Übrigen dürften allenfalls geringfügig sein. Es liegt
in der Natur von Interessenskonflikten, dass
man die eigene Beeinflussung nicht gut wahrnehmen kann. In einem Fernsehbeitrag vertrat
kürzlich Prof. Gold, der Leitlinienkoordinator der
MS-Leitlinie, sogar die gegenteilige Meinung,
nämlich dass man ohne Interessenskonflikte das
Fach nicht überblicken könne. Einen Schutz vor
unzulässiger Beeinflussung der Leitlinienempfehlungen würde z.B. auch das Einbeziehen von
Patienten in die Leitlinienentwicklung bieten, die
sicherstellen, dass die Ansprüche der Betroffenen
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an eine gute Behandlung ausreichend Berücksichtigung finden. Jede neue Leitlinie sollte vor
ihrer Einführung prinzipiell von unabhängigen
Experten begutachtet und von einer Pilotgruppe
von Neurologen auf ihre Praktikabilität geprüft
worden sein. All das ist leider bei der MS-Leitlinie
nicht erfolgt.
lassen und daraufhin angekündigt, den Mängeln
mit der nächsten MS-Leitlinie Abhilfe zu schaffen.
Es bleibt abzuwarten, ob die 2016 kommende
neue Leitlinie die methodischen und inhaltlichen
Schwächen abstellen wird. ■
Was muss geschehen?
Die aktuelle Leitlinie ist keine zuverlässige
Richtschnur für Neurologen und kann meiner
Meinung nach nicht Grundlage von Therapieentscheidungen sein. Nur mit einer hochwertigen
Leitlinienmethodik könnte zukünftig inhaltlichen
Trugschlüssen vorgebeugt werden. Die Leitlinienkommission der DGN und die MS-Leitliniengruppe haben sich in den letzten Monaten dieser
Kritik gestellt. Sie haben durch ein unabhängiges
Gremium meine Leitlinienbewertung überprüfen
Nachtrag: MEZIS, Transparency Deutschland und
NeurologyFirst starteten eine Kampagne, um die
Unabhängigkeit von Leitlinienempfehlungen zu
sichern. Adressat sind die medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland und ihre Dachorganisation, die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
(AWMF). Auf der Webseite www.neurologyfirst.
de/appell werden dafür Unterschriften von ärztlichen Unterstützern gesammelt.
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