Sprachtagung2015_Jezek [Kompatibilitätsmodus]

Früherkennung von
Sprachentwicklungsproblemen
im Alter von 2 Jahren
d
Zur besonderen Funktion eines Screenings
des Sprachverstehens
Dr. Magdalena Jezek
Grundlagen
allg. Entwicklungsstörungen 10-15%
– nicht-sprachliche Entwicklungsstörungen
– sprachliche Entwicklungsstörungen
– Sprachentwicklungsverzögerung (Abweichung um mind. 6 Monate)
→ kann sich in der Folgezeit als Sprachentwicklungsstörung
manifestieren
– zusätzliche Auffälligkeiten in anderen Entwicklungsbereichen
möglich (sensorisch, kognitiv, psycho-sozial, motorisch)
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Grundlagen
Late Talker 13-20% (Grimm 2003)
Kinder ohne erkennbare Primärbeeinträchtigungen, die bis zum Ende
des 2. LJ weniger als 50 Wörter und keine Wortkombinationen
produzieren
Late Bloomer ca. 50%
sprachliche „Aufholer“ ohne spezifische Fördermaßnahmen
Grundlagen
Viele Studien zeigen eine hohe Rate von Aufholern
bei LateTalker-Kindern
(Sachse/Suchodoletz 2008, Paul et al. 1991, Rescorla et al. 2000, Paro et al. 2004,
Whitehurst/Fischel 1994, Bishop/Edmundson 1987, Conti-Ramsden 2005, u. w.)
zwischen 40-60% bei den 2-3-Jährigen
ca. 70% bei den 4-Jährigen
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Grundlagen
ABER:
– im Längsschnitt liegen die sprachlichen Leistungen von Late
Bloomern langfristig im unteren Normbereich!
(Kühn/v. Suchodoletz 2009)
– “illusionary recovery”
– Probleme bzgl. phonologischer Bewusstheit häufig
(v. Suchodoletz 2004, Penner et al. 2005)
Grundlagen
ABER:
– nicht-Aufholer 50-65% (Kauschke 2003)
– 2/3 der Late Talker zeigten mit 3a noch sprachliche Auffälligkeiten
1/2 davon
Sprachentwicklungsstörung (Sachse/v. Suchodoletz 2009)
– gegenüber unauffällig entwickelten Kindern haben LT eine ca. um
das 20-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit für
Sprachauffälligkeiten im Vorschulalter (Kühn/v. Suchodoletz 2009)
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16% SSES
18% sprachliche Defizite
50% Auffälligkeiten im Wortschatz
kognitive Entwicklungsrückstände (Buschmann et al. 2008)
autistische Symptome (Buschmann et al. 2008)
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Grundlagen
Zum anderen gibt es Studien darüber, dass ein
großer Teil der 3-4-jährigen SSES-Kinder keinen
Late Talker-Status zeigte (ca. 50%). Diese Kinder
waren im Alter von 2 Jahren unauffällig entwickelt.
Eine Befundung der Sprachentwicklung zu unterschiedlichen
Zeitpunkten der kindlichen Entwicklung ist notwendig!
Problemstellung
Problemstellung 1:
Ca. 15% Entwicklungsstörungen, viele bleiben jedoch unerkannt oder
werden erst sehr spät diagnostiziert.
Problemstellung 2:
Viele Kinder, die im Alter von 2 Jahren als auffällig diagnostiziert werden,
holen den Rückstand wieder auf.
Problemstellung 3:
Viele Kinder mit SES im Alter von 3-4 Jahren waren im Alter von 2 Jahren
unauffällig, also zeigten keinen LT-Status.
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Begründung der Früherkennung
bei nicht systematischem Screening werden
Sprachstörungen zumeist nicht oder viel zu spät
erkannt!
– D: bisherige kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen sind
unzureichend: nur jeder 4. Late Talker wird im Rahmen der U7 als
sprachentwicklungsverzögert beschrieben (Sachse et al. 2007)
– nur 30-40% der Eltern äußern spontan Bedenken, d. h. ohne
Nachfrage (Glascoe, Pediatrics 1995)
– weniger als 30% der Verhaltens- und Entwicklungsprobleme werden
vor dem Alter von 5 Jahren entdeckt und zur weiteren Abklärung
überwiesen (Palfey, JI Pediatrics 1987, Rushton Arch Ped Adolesc Med 2002)
Häufigkeit von Kindern mit
identifizierter Beeinträchtigung (2007)
https://ideadata.org/
2,53%
5,74%
11,36%
UES, Sprache, Emotion/Verhalten, Intelligenzminderung
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typischer Verlauf einer SSES
0-2 Jahre
anfängliche Unauffälligkeit der SSES,
da andere Entwicklungsbereiche unauffällig erscheinen
24 Monate
Late Talker
sprechen weniger als 50 Wörter und keine/kaum Zweiwortäußerungen
ab 3 Jahre
Dysgrammatismus
grammatikalische Übereinstimmungen schwierig,
häufig Probleme mit dem Verstehen von Äußerungen
Schulbeginn
Beeinträchtigung der sprachlichen Informationsverarbeitung und unzureichendes Sprachwissen bedingen
Schriftsprachprobleme
Schule
schlechtes Lesesinnverstehen, unsichere
Rechtschreibung, geringes Erzählvermögen
(mündlich und schriftlich)
Notwendigkeit einer frühen Erkennung von
Sprachentwicklungsproblemen!!
„Die frühe Sprachentwicklung stellt […] eine Art Alarmsystem für den
Gesamtentwicklungsstand eines Kindes dar. Um Entwicklungsstörungen
unterschiedlicher Art frühzeitig erkennen zu können, ist es daher
erforderlich, die frühe Sprachentwicklung insbesondere im Alter von 1 bis 3
Jahren besonders sorgfältig zu beobachten und Sprachverzögerungen
bereits in diesem Alter ernst zu nehmen.“
(Bielefelder Institut für frühkindliche Entwicklung, konsultiert am 21.10.2015)
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Frühintervention
ist effektiv!
– Effektivität von Interventionen trainierter Eltern und Therapeuten bei
phonologischen und expressiven Störungen (Law et al. 2004)
– Effektivität elternzentrierter Ansätze (Roberts/Kaiser 2010)
– Effektivität kindzentrierter Intervention bei Late Talkern (Schlesiger 2009)
– Effektivität des „Heidelberger Elterntrainings“
(Buschmann et al. 2006, 2007, 2009)
spart Geld!
1:4 bis 1:17 Kosten-Nutzen Verhältnis (Lynch 2005)
Begründung der Früherkennung
Sprachentwicklungsauffälligkeiten weisen häufig auf
umfassendere Entwicklungsprobleme hin →
Sprache als „Fenster“ zum kindlichen Geist
„Die meisten Entwicklungsstörungen - wie z.B. allgemeine
Entwicklungsverzögerungen, Lernbehinderungen, geistige
Behinderungen, Sprachentwicklungsstörungen, Autismus - lassen sich
an einer verzögerten Sprachentwicklung erkennen.“
(Bielefelder Institut für frühkindliche Entwicklung, konsultiert am 21.10.2015)
2-Jährige LT (Buschmann et al. 2008, vgl. auch Rescorla 2013)
– 6% ausgeprägte allg. Entwicklungsverzögerung
– 12% leichte allg. Entwicklungsverzögerung
– 4% Vd. a. Autismusspektrumstörung
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Zeitpunkte der Früherkennung
bis 12 Monate
– Schreientwicklung (Wermke 2004)
– Lallentwicklung (Oller 1999, Penner 2002)
– frühe Gestik
– Sprachverarbeitung: Wahrnehmung von Lautunterschieden und
anderen Sprachmerkmalen (Guttorm et al. 2004, Molfese/Molfese 1997)
→ in der Praxis noch nicht flächendeckend einsetzbar
– fehlende Normdaten
– unzureichende Gütekriterien der Verfahren
– nicht abgesicherte prognostische Qualität
– Probleme der praktischen Durchführbarkeit
Zeitpunkte der Früherkennung
12 Monate
– ELFRA 1 (Grimm/Doil 2000)
→ Sprachproduktion
→ Sprachverständnis
→ Gestenverwendung
→ Feinmotorik
für flächendeckenden Einsatz nicht geeignet!
→ zu viele Kinder als Risikokinder eingestuft
→ zu geringe prognostische Qualität (Sens. 52%, Spez. 65%)
– andere Verfahren
→ FRAKIS (Szagun et al. 2009): noch keine Normdaten
→ A-CDI-1 (Vollmann et al. 2000): noch keine Normdaten
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Zeitpunkte der Früherkennung
der aktive WS mit 2 Jahren ist lt. Elternbeurteilung der
zuverlässigste Marker
– Elterninfos sind für die Beurteilung des aktiven Wortschatzes
im Alter von 2a zuverlässig → hohe Übereinstimmung mit
Sprachtestergebnissen: Gesamttrefferquote >90%
(vgl. u. a. Sachse 2005, Pecha et al. 2004)
– Elterninfos sind für die Beurteilung des Sprachverständnisses
nicht zuverlässig → bei 72 von 97 Kindern (74%) mit rez. Störung
schätzen die Eltern das SV als unauff. ein!
(Möller et al. 2008)
Warum sind Elterninfos für die
Beurteilung des SV nicht zuverlässig?
„Auffälligkeiten in der Sprachproduktion werden von Eltern und
Fachkräften meist ohne Schwierigkeiten erkannt. Hingegen werden
Auffälligkeiten im Sprachverständnis aufgrund der Redundanz
kommunikativer Situationen häufig übersehen.“
(de Langen-Müller et al. 2011: 38)
„Das Sprachverständnis und damit auch dessen Störungen
sind als solche nie direkt beobachtbar.“
(Zollinger 2010: 59)
→ SV ist nur schwer direkt beobachtbar
→ im Alltag: Situationsverständnis (kein reines Sprachverständnis)
→ Fehlinterpretation („er/sie versteht schon, aber will nicht…“)
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Projekt „SPES“
Sprachentwicklungsscreening OÖ
Entwicklung von Früherkennungsscreenings (2a) für
persistierende Sprachentwicklungsprobleme (3a+) in
der kinderärztlichen Praxis im Alter von 2 und 3 Jahren
Unterscheidung zwischen „Aufholern“ und
„Persistierern“ bis zum Alter von 3 Jahren
Risikofaktoren
Sprachstörung
Screeningverfahren SPES 2
(Holzinger/Fellinger 2011)
ELTERN
Ermittlung Risikofaktoren
Expressiver Wortschatz
Geschwisterposition
Elternbildung
Elterneinschätzung und ev. Sorgen
Wortkombinationen
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Screeningverfahren SPES 2
(Holzinger/Fellinger 2011)
KINDERARZT
Verstehen von Wörtern
SETK-2; 9 Items (Grimm 2000)
Fremdsprachen: aktiver WS
SPES 2
Elternfragebogen
– Ermittlung totales Konzeptvokabular
z.B. Türkisch - Deutsch
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Fremdsprachen: Wortverständnis
SPES 2
Durchführung mit
Unterstützung der Eltern
Kontrolle des Einhaltens
der schriftlichen Vorgabe
Normen sind nicht 1:1
übertragbar!
auffälliges Ergebnis:
– Cut off ≤ 4
– Cut off Türkisch ≤ 3
Auswertung und Interpretation
SPES 2
Elternfragebogen:
expr. WS
unauff.
SPES 3
Wortverstehen
auff.
(15%)
unauff.
11%
auff.
3,3%
logopäd.
Diagnostik
Elternberatung
multiprof.
Abklärung
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Auswertung und Interpretation
SPES 2
bei unauffälligem WV → Beobachtung weiterer
Faktoren
– Elterneinschätzung
– zweite oder weitere Position in der Geschwisterreihe
– Elternbildung: keine Matura
– Elternberatung
– Elternanleitung: logop. Einzeltermin/e
– Elterntraining: HET
Auswertung und Interpretation
SPES 2
bei Auffälligkeit im WV bzw. in beiden Bereichen
→ Wahrscheinlichkeit einer Sprachstörung mit 3a = 84%
→ Empfehlung einer multidisziplinären Abklärung
–
–
–
–
sprachlich
neuropädiatrisch
entwicklungspsychologisch
pädaudiologisch
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Outcome SPES 2
expressiv und rezeptiv auffällig (3,3% von 3257 Kindern)
ISS Diagnostik (40%)
– 98% Sprachprobleme
(davon ca. 95% anhaltend bis 3a)
– 38% auffällige Hörreaktionsschwelle (2% IOS)
– 32% allgemeiner Entwicklungsrückstand
(davon bei ca. einem Drittel bekannt)
– 10% motorische Entwicklungsstörung
– 8% Frühsymptome ADHS
– 0% keine signifikante Auffälligkeit
Outcome SPES 2
NUR expressiv auffällig (11,3% von 3257 Kindern)
logopädischer Sprachstatus (23,7%)
– 82% signifikante Verzögerung der Sprachentwicklung
– davon 10% auch rezeptiv beeinträchtigt
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Welche Faktoren beeinflussen ein
sprachliches Aufholen oder Verharren in
der Problematik?
Sprachverständnis!
→ 31,5% der LT-Kinder hatten auch Probleme mit dem
Wortverstehen
→ 10-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Sprachstörung im
Alter von 3 Jahren gegenüber Kindern mit „rein“ expressiver
Sprachentwicklungsverzögerung
Früherkennung mit 2 Jahren
weitere Faktoren
– Elternsorgen um die Sprachentwicklung
→ wenn Elternsorgen vorhanden (bei 40% der LT): Wahrscheinlichkeit
einer anhaltenden Sprachproblematik mit 3a = 71,6%
– nicht erste Position in der Geschwisterreihe
→ wenn zweites oder weiteres Kind (58% der LT): Wahrscheinlichkeit
einer anhaltenden Sprachproblematik mit 3a = 59%
– Elternbildung
→ wenn Mutter ohne Matura (70% der LT): Wahrscheinlichkeit einer
anhaltenden Sprachproblematik mit 3a = 57%
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Früherkennung mit 2 Jahren
relevante Informationen zur Erkennung eines erhöhten
Risikos von anhaltenden Sprachproblemen
– aktiver Wortschatz (Wortliste Eltern)
– Sprachverständnis (Wortverständnis im Alter von 2a)
– Elterneinschätzung (Sorgen)
– Position in der Geschwisterreihe
– Elternbildung
Die Wahrscheinlichkeit, eine SES zu entwickeln fällt umso größer
aus, je geringer das Wortverständnis im Alter von 2a ist!
(Sachse/v. Suchodoletz 2009)
SPES 3
wiederholtes Sprachscreening bei allen Kindern mit 3a
Methodik
– Elternfragebogen: aktive Grammatik
– kinderärztliches Screening: Satzverständnis
– bei mehrsprachigen Kindern: orientierende Überprüfung der
Deutschkompetenz (Satzverständnis) + Elterninterview zur L1
Unterscheidung zwischen „Aufholern“ und
„Persistierern“ bis zum Alter von 3 Jahren
→ Sprachverständnis als entscheidendes Kriterium
der Triagierung!
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SPES Screeninggüte
Screeninggüte
(gewichtet für gesamte Stichprobe)
– Gesamttrefferquote bezogen auf
Sprachprobleme: 91.2%
– Sensitivität (SSES): 90.3%
– Spezifität (SSES): 92.4%
– Positiver Vorhersagewert (PPV) für
Sprachstörung: 60%
– Positiver Vorhersagewert (PPV) für
Sprachentwicklungsverzögerung: 84%
KÄ: hohe Akzeptanz, einfache
Durchführung, zeitökonomisch
Fazit
Wie kann zwischen auffälligen und nicht auffälligen
Kindern unterschieden werden?
→ Sprachverständnis als Schlüssel!
Sinnhaftigkeit einer frühen multiprofessionellen
Entwicklungskontrolle bei auffälligem Sprachverständnis
→ Sprachverständnisauffälligkeiten sind häufig ein Hinweis auch für
nicht-spezifische Sprachentwicklungsauffälligkeiten bzw.
umfassendere Entwicklungsprobleme!
(vgl. u. a. Rescorla 2011, SPES-Ergebnisse)
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