Leseprobe Seelennot

Eva Lirot
SEELENNOT
Leseprobe
THRILLER
© Copyright 2015 für die deutschsprachige Ausgabe: Eva Lirot
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung bedarf der
ausdrücklichen Zustimmung der Autorin. Dies gilt insbesondere für die
Vervielfältigung, Verwertung, Übersetzung und die Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten
mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig. Bei den Straßen
im Großraum Frankfurt, den Polizeistationen und sonstigen Ortsangaben
wurden größtenteils die heutigen Namen verwendet. Dennoch sind alle
Angaben als fiktiv zu verstehen. Zudem wurden topografische
Gegebenheiten überall dort verändert, wo es für den Handlungsfluss
zweckmäßig erschien.
Lektorat/Korrektorat: Hughes Schlueter
Bildnachweis: Fotolia.de ©Eva Lirot
Weitere Informationen: www.evalirot.com
PROLOG
Wer den Dampfkessel platzen lässt,
zerstört die Lokomotive
Sie hatten das nicht nötig.
Keiner von denen, die sie bisher beobachtet hatte. Oftmals fuhren sie dicke
Schlitten. Trugen Anzüge. Teuer aussehende Lederschuhe. Weniger nobel
war nur das Klientel ohne Auto. Für eine warme Jacke reichte es aber
auch. Sie fragte sich, wie man es bloß ohne aushielt in dieser
Novembernacht. Ohne anständige Kleidung. Immerhin boten diese Kästen
Schutz vor dem Sprühregen, der einen bis auf die Knochen auskühlte,
wenn man nicht richtig angezogen war. So wie die Frauen. Nein, Mädchen.
Die meisten jedenfalls. Frau war man ihrer Meinung nach erst ab zwanzig.
Frühestens. Gesetz hin, Gesetz her. High Heels, knappste Röcke, Hotpants,
Bustiers und Nylons. Das war die spärliche Verpackung der »Ware«. Die
solange vor den Boxen herumzustolzieren hatte, bis sich eines der
zweibeinigen Tiere heranpirschte und die leichte Beute mit sich in den
Verhau zerrte, um sie dort zu vernaschen.
Sie spürte, wie ihre Magensäfte zu brodeln begannen, das schmerzhafte
Ziehen, das stärker werdende Hämmern hinter ihrer Stirnwand. Als
nächstes würde es überall lodern, tief in ihr drin. Und dann ... Nein! Sie
senkte den Kopf, schloss die Augen, ganz fest, ballte die Fäuste und biss
die Zähne so sehr zusammen, dass ihr Zahnfleisch pochte. Es war wichtig,
dass sie gelassen blieb. Damit sie ruhig und durchdacht vorgehen konnte.
Sie hatte schon zu oft versagt. In den letzten beiden Wochen. Seit dem
Tag, an dem sie begriffen hatte, dass ihr niemand mehr würde beistehen
können. Sie war allein. Allein wie nie zuvor in ihrem Leben. Bäder in
Selbstmitleid lösen aber keine Probleme. Im Gegenteil, sie wurden dadurch
nur größer. Sie musste handeln. Jetzt!
Sie entspannte ihre Kiefermuskeln, riss die Augen auf und den Kopf
wieder hoch. Ihre Fäuste blieben geballt, als sie das Gelände sondierte. Mit
kaltem Blick.
Heute Nacht würde sie nicht versagen. Durfte sie nicht versagen! Jede
weitere Stunde, die sie tatenlos verstreichen ließ, zog sie nur tiefer hinab
inmitten dieses Treibsands der Hoffnungslosigkeit, in dem sie mehr als
knietief feststeckte. Und stetig sank sie ein bisschen weiter. Stetig und
unerbittlich. Bis sie sich eines nicht mehr allzu fernen Tages tatsächlich
nicht mehr würde bewegen können und dann qualvoll erstickte. An ihrem
Kummer.
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Sie umschloss den Griff des Werkzeuges in ihrer Jackentasche. Kalt war
er, der Griff. Kalt wie ihr Herz wurde, wenn sie an das Scheusal dachte.
Kalt wie Gletschereis, obwohl ihre neue Daunenjacke sie gut vor den
unwirtlichen Temperaturen hier draußen abschirmte. Auf diesem kargen
Gelände. Tristesse pur ...
Sie schlang ihre Arme eng um sich, versuchte sich so vor dem Frost zu
schützen, der sich Stückchen für Stückchen in ihrem Körperinneren
ausbreitete. Und vor dem sie kein Mantel dieser Welt schützen konnte.
Schwarz war sie. Ihre Daunenjacke. Nachtschwarz, rabenschwarz! Wie
ihre Gedanken, die Gefühle, die sie wie eine haushohe Welle zu ertränken
drohten in diesem stürmischen Meer aus Hass.
Sie widerstand. Der inneren Flut. Beobachtete den Lüstling in dem roten
Porsche, der gemächlich über das Gelände rollte, die Scheibe
heruntergekurbelt zur besseren Ansicht der Frischfleischauslage vor den
Boxen.
Das Rennen um die Gunst des brünstigen Kerls machte die große
Rothaarige in den pinkfarbenen Hotpants aus Latex. Ihr mit weißen Perlen
und Straßsteinchen üppig besetzter Push-Up funkelte wie ein Piratenschatz
und war nur minimal verdeckt durch den rosafarbenen Schal aus Plüsch,
den sie um ihre Schultern drapiert hatte. Alles saß akkurat, ihre
Erscheinung war perfekt. In dieser Szenerie. Obwohl sie erst vor wenigen
Minuten wieder ins Freie gestöckelt gekommen war. Nach der Abfertigung
des Fahrers eines Kombis der Marke mit dem Stern. Hatte stark nach
Familienkutsche ausgesehen, der Wagen. Und der Insasse war
offensichtlich pflegeleicht. Mit wenig zufrieden. Konnte keine
Viertelstunde gedauert haben, sein Boxenstopp.
Wieso die große Rothaarige mit der Alabasterhaut sich gleich wieder
feilbot, also praktisch ohne Pause, in der sie die sanitäre Einrichtung
wenigstens mal kurz hätte aufsuchen können, verstand sie nicht. Hatte das
Mädchen keine Angst vor Krankheiten? Oder war es etwa schon infiziert?
Sie verzog ihre rissigen Lippen. War doch alles bloß leeres Geschwätz für
die Öffentlichkeit, das mit der Besorgnis um die Gesundheit der Mädchen.
Wohlfühlparolen für die Wahlbürger. Von denen es sowieso kaum einen
interessierte, dass solche Gelände wie dieses hier überhaupt existierten.
Schön abseits gelegen. Und nicht überwacht von irgendwelchem privaten
Personal im Auftrag der Stadt. Das hätte sie gemerkt.
Nein, hier wachte nur sie. Die dritte Nacht infolge. Wartete. Auf eine
Gelegenheit. Doch damit war jetzt Schluss. Man wartet nicht auf
Gelegenheiten, man nutzt Möglichkeiten. Das hatte ihre Mutter immer
gesagt. Ihre Mutter ...
Sie spürte, wie Tränen in ihr hochstiegen und schüttelte wild den Kopf.
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Zum Heulen war später Zeit, nun war Zeit zum Handeln!
Sie zog ihre mit Fell besetzte Kapuze tief in die Stirn, streifte sich die
übergroßen Gummihandschuhe mit den extra langen Schäften über und
holte das Werkzeug aus ihrer Jackentasche. Gemächlich schritt sie über das
auf einmal verwaist wirkende Gelände. Die Boxen waren wohl alle in
Betrieb. Sie drehte sich um, schaute nach den Containern. Ebenfalls
vollzählig belegt, wie es aussah. Jedenfalls lungerte im Moment keines der
Mädchen davor herum. Zudem befand sich kein Freier in Warteschleife.
Motorengeräusche, die auf die Ankunft neuer Fahrzeuge hindeuteten, hörte
sie auch nicht.
Jetzt oder nie! Mit dem Gesicht nach unten und unter dem Schutz ihrer
Kapuze sprintete sie los.
Die Geräusche, die aus dem Inneren des roten Porsches drangen, waren
eindeutig. Stöhnen. Wohlige Seufzer. Und das Schmatzen. Von der
Rothaarigen. Durch die noch immer offene Scheibe des Wagens sah sie
deren Kopf im Schoß des Fahrers. Dessen Unterleib sich hob und senkte.
Immer heftiger, sodass der Schädel der Rothaarigen ein paar Mal gegen
das Lenkrad stieß. Bald würde es soweit sein ...
Sie entsicherte das Werkzeug. Leise. Mit sparsamer Bewegung. Die beiden
Hälften der frisch geschliffenen Gartenschere klappten auseinander. Der
Mann stöhnte lauter, er hatte die Augen weit offen. Und sah trotzdem
nichts. Sein Blick war starr auf das Autoinnendach gerichtet. Die
Rothaarige ließ ihren Kopf kreisen, setzte zusätzlich ihre rechte Hand ein
und gab auch Töne der Lust von sich. Vermittelte glaubhaft den Eindruck,
dass sie ebenfalls auf ihre Kosten kam. Doch das spielte keine Rolle.
Für sie.
Sie schlich noch näher heran. Legte die Hand an den Griff der Fahrerseite.
Und machte sich bereit. Bereit, die Tür mit einem Ruck aufzureißen. Den
Überraschungsmoment für sich zu nutzen. Eiskalt. Und ohne Gnade. Ihre
Nasenflügel bebten, als sie abermals tief Luft holte. Drei – zwei – eins ...
Das panische Gebrüll und hysterische Gekreische auf dem Gelände nahm
sie nicht mehr wahr. Im Lauf riss sie den rechten ihrer mit Blut besudelten
Handschuhe herunter, stopfte ihn in die Jackentasche zur Gartenschere und
rieb sich übers Ohr. Der Schrei des Porschefahrers hatte ihr fast das
Trommelfell zerrissen. Immer schneller rannte sie in den Wald hinein,
verschwendete dabei nicht einen einzigen Blick nach hinten. Bloß nicht
langsamer werden ... Sie hatte aber nicht das Gefühl, dass ihr jemand
folgte.
Nicht mehr menschlich hatte er geklungen, dieser Schrei, befand sie und
verringerte ihr Lauftempo. Blieb schließlich stehen, ließ ihren Oberkörper
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locker herabhängen und wartete, bis sie wieder zu Atem kam. Nun war sie
zufrieden. Mit sich.
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Er dürfte nicht hier sein.
Er wusste, dass er noch nicht soweit war. Und es vielleicht nie wieder sein
würde. Irgendwas hatte sich verändert. Hatte ihn verändert. Er saß zwar am
gleichen Schreibtisch in vertrauter Umgebung und doch war alles anders.
Ganz anders. Er war wieder hier. Aber dennoch nicht da. Hatte
Konzentrationsprobleme. Seine Gedanken, sie drifteten immer wieder ab.
In allen möglichen und leider auch unmöglichen Situationen. Ging gar
nicht in diesem Job. Wobei Nachdenken an sich schon nötig war.
Draufgänger oder einen schießwütigen Cowboy wie in den einschlägigen
Fernsehfilmen brauchte hier kein Mensch, das war klar. Aber ein von
Selbstzweifeln geplagter Mann, der einen Großteil des Tages mit seiner
Schau nach Innen verbrachte, gehörte bestimmt nicht zu den
wünschenswerten Alternativen.
Schießwütiger Cowboy ...
Er strich sich über das kurze, graumelierte Haar und stieß hörbar die Luft
aus. Am Schlimmsten war die Erkenntnis gewesen, dass das, wovor er
Angst hatte, und sogar eine Heidenangst, wenn er ehrlich war – dass das
etwas war, das tatsächlich in ihm selbst lauerte. Noch an diesem
kohlrabenschwarzen Tag hatte er das begriffen. Diesem Tag im letzten
Winter, an dem er sich beinahe um seine Zukunft geballert hatte.
Geballert, genau. Schießen war etwas anders. Kultivierteres. Maßvolleres.
Rumballern ist ein Merkmal von blinder Aggressivität. Oder Wahnsinn.
War er wahnsinnig? Geworden? Oder schon immer gewesen? Trug er das
in sich? Und konnte man so etwas kontrollieren? Auch dann noch, wenn es
schon mal hervorgebrochen war? Oder war die Gefahr allein dadurch
eklatant erhöht, dass es wieder soweit kommen könnte? Dass er sich erneut
Bahn brach, der Wahnsinn? Und was würde es dann sein, das ihn
hervorlockte? Ein noch schlimmerer Anlass?
Er schauderte. Hauptsächlich deshalb, weil er sich außerstande sah, sich
einen noch schlimmeren Anlass vorzustellen. Und er konnte sich viel
vorstellen, allein aufgrund seines Berufes. Den man aber nur ausüben
sollte, wenn man sich selbst unter Kontrolle hatte. Hatte er das? Wieder?
Oder war es vielmehr jederzeit möglich, dass doch noch mal etwas
passieren würde in seinem Leben, das den Schalter zur Aktivierung seines
Wahnsinns umlegt? Und er erneut die Kontrolle verlieren würde? Über
sich?
Das waren die Fragen, die er sich ständig stellte. Seit Monaten. Seit fast
einem Jahr, um genau zu sein. Wobei ihn die Fragen nicht wirklich
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beschäftigten. Im Sinne des Findens von Antworten. Er hatte noch nicht
eine einzige parat. Es erschien ihm auch eher so, dass er sich diese Fragen
nicht wirklich stellte, sondern ihrer gedachte. Dass sie wie ein Mahnmal
auf seiner Seele ruhten und er nichts weiter tat, als die Erinnerung zu
pflegen. So als würde er die Blumen auf einem Grab gießen. In dem er
seine Schuld beerdigt hatte.
Exakt das war es, was ihn am meisten schreckte. Die emotionale Kälte, mit
der er seine Amoktat vor sich selbst längst abgetan hatte. Seine fast schon
bürokratische Art, die Besorgnis im Zaum zu halten, die sich in seinem
Inneren dazu entfaltet hatte. Es genügte ihm, sich immer wieder dieselben
Fragen ins Gedächtnis zu rufen wie ein naiver Gläubiger, der mehrmals
täglich immer dasselbe Ritual vollzog, um seinem Gewissen Genüge zu
tun. Neuer Tag, neues Spiel. Fortschritte? Keine.
Was war mit ihm passiert? Stumpfte er ab? Nach all den Jahren? Konnte es
wirklich sein, dass sein Fass, bis oben hin voll mit unliebsamen
Erinnerungen, endgültig übergelaufen war? An diesem Tag im letzten
Winter? Da unten in dem Keller, als er es das erste Mal in seinem Leben
zugelassen hatte, dass sein verwundetes Herz die alleinige Regie über sein
Tun übernahm? Ein Tun, das er zutiefst bereuen sollte – doch wenn er
ehrlich mit sich selbst war, es genau das war, was er nicht tat? Nicht tun
konnte?
Er schüttelte unwillig den Kopf. Realisierte erst jetzt, dass er schon wieder
jede Menge Zeit mit dieser Grübelei vergeudet hatte, die weder ihm noch
irgendeinem anderen Menschen auf diesem Planeten etwas bringen würde.
Er saß wieder hier. In diesem Büro. Auf demselben Stuhl. Was keine
Selbstverständlichkeit war. Und nur dadurch ermöglicht wurde, weil es
noch immer Menschen gab, die an ihn glaubten. Ihm vertrauten. Also war
es seine gottverdammte Pflicht, das fruchtlose Kreisen um sich selbst
bleibenzulassen, solange er im Dienst war, und stattdessen zu
funktionieren. Voll und ganz!
Der Mann am Schreibtisch stieß abermals hörbar die Luft aus. Er griff
nach einer der neuen Fallakten, schlug sie auf und begann zu lesen.
Runzelte die Stirn. Betrachtete das erste Foto und verzog das Gesicht, als
verspüre er schwere körperliche Schmerzen. »Oh, my goodness ...«
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Das herrlich warme Wasser prasselte auf ihren Körper. Cremiger
Duschschaum schillerte auf ihrer Haut, es duftete nach Honig und Vanille.
Sie genoss das leise Plätschern, schloss die Augen und ließ sich Zeit. Ganz
viel Zeit. Es wartete keiner auf sie. Das Haus war friedlich und leer.
Niemand störte ihr Bad in der Stille, zu dem sie nur selten kam. Zumindest
war das während der letzten zwanzig Jahre so gewesen.
Sie stellte die Brause ab, drückte die Tür der Duschkabine auf und betrat
vorsichtig den nass glänzenden Boden. Der Läufer war verrutscht, und sie
hatte vergessen, ihn in die richtige Position zu schieben, bevor sie in die
Duschkabine eingestiegen war. Solange es nur das ist ... Sie lächelte
schmal, nahm eines der großen Handtücher, rubbelte sich ab und griff nach
ihrem gemütlichen Frottee-Schlafanzug. Sie schlüpfte hinein und tappte
zum Spiegel. Er war noch angelaufen. Vom Wasserdampf. Mit dem Ärmel
rieb sie eine größere Fläche des Glases frei. Und schaute die Frau, die ihr
daraus entgegenblickte, interessiert an.
An sich hatte sie damit gerechnet, dass sie sich schlecht fühlen würde. So
unmittelbar danach. Die Frau, die ihr aus dem Stück Spiegel offen ins
Gesicht schaute, sah aber nicht aus, als ob sie sich schlecht fühlen würde.
Sie sah aus wie immer.
Es war auch alles wie immer. Es gab ein Problem. Mal wieder. Und sie
war dabei, es zu lösen. Mal wieder. Schlecht fühlen konnte man sich nur,
wenn man an die Größe des Problems dachte. Was aber nicht hilfreich war.
Ganz im Gegenteil. Hilfreich war es, wenn sie ihren Job machen würde.
Gründlich. Und vor allem: fehlerfrei.
Um die Gartenschere hatte sie sich gleich gekümmert, als sie nach Hause
gekommen war. Noch in der Jacke war sie in die Küche geeilt und hatte
das Werkzeug akribisch gereinigt. Die besudelten Handschuhe mit den
langen Schäften durchliefen das Programm in der Maschine unten im
Waschraum. Sie hatte extra gewartet mit der Buntwäsche. Dann hätte sie
sie einfach dazu gestopft. Leider hatte ihre neue Daunenjacke aber auch
einiges abbekommen. Also hatte sie einen separaten Waschgang gestartet.
Auf der schwarzen Jackenoberfläche sah man zwar so gut wie nichts,
trotzdem war es ihr lieber, sie wieder makellos hinzukriegen. Wenn man
gleich reagierte und das Textil mit dem richtigen Mittel behandelte, ließen
sich auch Blutflecken relativ gut entfernen.
Wie einfach doch alles sein konnte ... wenn man sich das Heft nicht
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kampflos aus der Hand nehmen ließ ...
Sie nahm ihre Zahnbürste, drückte einen Streifen Paste darauf, putze rund
zwei Minuten und spülte ihren Mund mehrmals aus. Dann cremte sie sich
die rissigen Lippen dick ein und kämmte ihr kinnlanges, lockiges Haar. Sie
hielt kurz inne und sah auf, traf erneut den Blick der Frau im Spiegel.
Deren Lippen weiß glänzten wie die Nivea Creme. Und deren Antlitz der
Hauch eines Lächelns umspielte.
Sie nickte. Zufrieden. Für den Moment.
Sie hatte noch keinen Grund, sich zu freuen. Und wenn sie alle Freier
dieser Welt auf einmal entmannen könnte, selbst das würde sie ihren
Verlust nicht vergessen lassen.
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»EG Eunuche?«
»Also nee, weißte!« Tatjana Kartans Schalk im Blick strafte ihre
Empörung Lügen.
Sascha Grafert grinste. »Zur SOKO reicht’s nicht, richtig? Deshalb EG wie
Ermittlungsgruppe und ...«
»Ich finde das sehr makaber und vor allem respektlos«, ließ sich Leila
Voist vernehmen, mit ihren fünfzig Jahren die Zweitälteste im Raum. Und
die Vernünftigste. In der ganzen Abteilung. »Das müssen doch
unvorstellbare Schmerzen gewesen sein.« Sie deutete ein Kopfschütteln an,
zauberte ein Tuch aus der Eingriffstasche ihres schmalen Rocks und
polierte die Gläser ihrer Brille.
»Da hege ich null Zweifel«, bestätigte Grafert, nahm seine Hand aus der
Sakkotasche und packte sich theatralisch in den Schritt.
»Also echt!« Kartan schien nun wirklich verärgert. Sie hatte sich
aufgerichtet, saß fast stramm auf dem Stuhl, spielte nicht mehr mit einer
Strähne ihres dunklen Haares. »Du übertreibst mal wieder maßlos, Sascha.
Wir sind hier doch nicht in einer Comedy-Sitcom.«
»Ach, nein?« Grafert, das jungenhafte Gesicht zur Stan-Laurel-Grimasse
verzogen, schaute der Kollegin betont naiv entgegen. »Kommt mir aber oft
so vor.«
»Kommt hier auch noch mal was zum Mitschreiben, oder wollt ihr weiter
nur vor euch hinfrotzeln?«, fuhr Regina Tamm mit ihrer resoluten Stimme
dazwischen. »Falls nicht, würde ich gern wieder rüber gehen. Ist ja nicht
so, dass ich sonst nichts zu tun habe.«
»Weia«, machte Grafert und duckte sich spielerisch weg unter dem Zorn
der langjährigen Angestellten im Fachkommissariat für Tötungsdelikte, die
mit der Protokollführung der Sitzung zu dem neuen Fall beauftragt war.
Nur einer im Raum bekam von alledem anscheinend nichts mit. Er saß mit
am runden Tisch, den Blick aus den dunklen Augen starr auf die YuccaPalme gerichtet, die beim Meeting-Point seines Büros ihren Platz gefunden
hatte. Hauptkommissar und Dienststellenleiter Jim Devcon hing seinen
Gedanken nach. Gedanken, die um einen Gerichtsprozess kreisten, der
zwar schon einige Monate zurücklag, der aber einen nachhaltigen Eindruck
in Devcons Erinnerungen hinterlassen hatte. Weil es um ihn selbst
gegangen war. Um ihn und seine Zukunft. Und es war keineswegs sicher
gewesen, dass er mit einer dermaßen heilen Haut aus diesen
Verhandlungen herausspazieren würde.
Roland Berger, der zuständige Staatsanwalt, hatte den Fall gleich
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abgegeben. Was Devcon ihm nicht verübeln konnte. Sie waren befreundet,
sind es noch. Und obwohl Berger schon einiges mitgemacht hatte in
Devcons alles andere als vorbildlichen Karriere bei der Mordkommission
in Frankfurt am Main – was an diesem grauenhaften Tag im letzten Winter
vorgefallen war, das war selbst Berger zu viel gewesen. Viel zu viel.
Devcon war bekannt als Raubein, machte den Klischees über sein
Herkunftsland alle Ehre. Nicht nur wegen des immer noch starken Akzents
des Texaners, der jeden vergessen ließ, dass Devcon bereits seit über
zwanzig Jahren in Deutschland lebte. Vorschriften waren für ihn oft nur
Richtlinien, die er nach eigenem Gutdünken verbog und sogar ignorierte,
wenn es der richtigen Seite diente. All die Jahre im Polizeidienst hatte er
nur deshalb überdauern können, weil er ein verdammt gutes Gespür für das
Richtige hatte, wie man über ihn erzählte. Und weil Polizeipräsident
Norbert Fringe zu seinen besten Freunden zählte. Bei dem es nun aber den
Anschein hatte, dass er ihn als einen solchen verloren hatte. Eine andere
Erklärung hatte Devcon nicht parat für die private Eiszeit, die seit diesem
Tag im letzten Winter zwischen ihnen herrschte. »Jim! Bitte rede mit mir«,
hatte Fringe verlangt. Geradezu flehentlich verlangt. Wieder und wieder.
Doch Devcon schwieg. Weil es nichts zu reden gab. Für ihn. Und
womöglich war das der wahre Grund für Fringes Rückzug. Was nichts
änderte an Devcons Sprachlosigkeit zu diesem Thema.
Zu einer Anklage wegen Mordes war es nicht gekommen. Das wäre auch
absurd gewesen. Ein Mörder ist, »wer aus Mordlust heimtückisch oder
grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln einen Menschen tötet.«
Auszug aus Paragraph 211, Strafgesetzbuch. Eine Definition, die
zweifellos für den bis heute nicht gefassten Psychopathen galt, der
Devcons Frau, eine Nichte Fringes, getötet hatte. Vor rund zehn Jahren.
Mit einem Messer.
Eine Dienstpistole konnte zwar auch schnell zum »gemeingefährlichen
Mittel« werden. Sie durfte aber benutzt werden, wenn der Beamte in
Notwehr handelte. Eine Anklage gegen Devcon wegen Totschlags nach
Paragraph 212 war somit auch schnell vom Tisch gewesen.
Nicht vom Tisch gewesen war die kritische Bewertung seiner Tat. Von der
ersten bis zur vorletzten Stunde der knapp eine Woche dauernden
Verhandlungen war Devcons Notwehrhandlung als deutlich überzogen,
sogar »bar jeder Ratio« bezeichnet worden. Diktum der Staatsanwältin.
Dem der Angeklagte, Hauptkommissar James Lloyd Devcon, nicht
widersprochen hatte.
Alles in allem hatte er während der gesamten Dauer der Verhandlungen
ohnehin nur sehr wenig gesprochen.
Er hatte sich gehen lassen. Völlig. War wie im Rausch gewesen. Das stand
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auch für ihn selbst vollkommen außer Frage. Zu klären war lediglich, ob
das, was vorgefallen war, das, was den Blackout seiner Ratio
hervorgerufen hatte, nach Auffassung des Gerichtes gravierend genug war,
die Tat Devcons zu rechtfertigen. Was hätte er dazu noch sagen sollen?
Geredet haben dann andere. Auch seine Mitarbeiter aus der K11. Die
engsten. Reggie hatte geweint. Konnte gar nicht mehr aufhören, sodass die
Staatsanwältin die Befragung seiner langjährigen Büroassistentin
schließlich abgebrochen hatte. Leila Voist und Jost Kellermann schafften
es besser, ihre Betroffenheit in der Öffentlichkeit des Gerichtssaals zu
verbergen. Doch auch sie hatten zu Protokoll gegeben, dass sie nicht
begreifen konnten, was an diesem Tag im letzten Winter geschehen war.
Zu zusätzlichen Belastungen war es aber nicht gekommen. Alle hatten sich
geschlossen hinter Devcon gestellt, sogar Sascha Grafert. Der coole
Grafert, der keinen Hehl daraus machte, dass er scharf auf Devcons
Position war. Nicht ansatzweise so abgebrüht wirkend wie sonst hatte er
auf dem Zeugenstuhl gesessen und seine Loyalität mit dem ungeliebten
Chef bekundet. Letzteres hatte er ehrlicherweise hinzugefügt. Und Devcon
dabei offen in die Augen gesehen. Was der ihm hoch angerechnet und
noch im Gerichtssaal kommuniziert hatte durch das Andeuten eines
Nickens.
Devcon merkte nicht, wie seine Kiefer zu malmen anfingen, während sein
Blick noch immer auf der Yucca-Palme haftete wie mit Sekundenkleber
fixiert.
Als letztes war sie aufgerufen worden. Tatjana Kartan. Wenn er die Macht
dazu gehabt hätte, Devcon hätte es verboten, sie in den Zeugenstand treten
zu lassen. Lieber wäre er in den Knast gegangen. Was sie hatte erdulden
müssen an diesem gottverfluchten Tag im letzten Winter ... und auf dem
Zeugenstuhl noch einmal hatte durchleben müssen ... vor aller Augen ...
Devcon schauderte es, auch wenn er nur kurz daran dachte. Und es würde
ihn immer wieder schaudern. Ganz gleich, wie viele Jahre vergehen
würden.
Sie war im vierten Monat schwanger gewesen. Und sie verlor das Kind.
Nachdem dieses Monstrum in Menschengestalt sie brutal getreten hatte.
Ihre Stimme hatte gezittert, war leiser und leiser geworden, als sie den
Moment der Attacke schilderte. Devcon hatte stocksteif dagesessen und
sich auf die Zunge gebissen. Bis sie blutete. Nur so hatte er sich erfolgreich
seine nächste Amoktat verkneifen können: aufspringen und die
Staatsanwältin durch einen gezielten Schlag außer Gefecht setzen, damit
diese Quälerei endlich aufhörte!
Sie war sehr behutsam vorgegangen. Die Staatsanwältin. Wühlte nicht
tiefer als nötig und gestand Kartan genügend Pausen zu. Devcon zollte ihr
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dafür seinen Respekt. Später.
Das Verfahren hatte zu der Zeit noch auf der Kippe gestanden. Hinsichtlich
des Strafmaßes. Zu einem Ergebnis war man schon gekommen: NotwehrExzess.
»War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine einem Angehörigen
zugefügte Misshandlung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt
und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden, so ist die Strafe
Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren.« Auszug aus Paragraph 213,
Strafgesetzbuch.
Tatjana Kartan war keine Angehörige Devcons. Sie war die Mutter seines
toten Kindes. Und »Zorn« war in dem Fall die Untertreibung des
Jahrhunderts. Hass! Was da in Devcon gelodert hatte, das war der blanke
Hass auf dieses Monstrum, das ihnen das angetan hatte.
Er bekam ein Jahr. Auf Bewährung. Weil er »die Grenzen der Notwehr aus
Verwirrung, Furcht oder Schrecken« überschritten hatte. Paragraph 33,
Strafgesetzbuch. Und weil Tatjana Kartan in der Beantwortung einer
wesentlichen Frage bewusst vage geblieben war. Die Frage, in der es
darum gegangen war, ob Devcons erster Schuss auf das Monstrum bereits
tödlich gewesen war. Er selbst hätte am liebsten ausgesagt, dass er
selbstverständlich gleich einen Volltreffer gelandet hatte, ihn das in diesem
Moment aber einen Scheißdreck interessiert hatte! So viel Restverstand
hatte er dann doch noch gehabt, um zu wissen, dass sowohl die
Staatsanwältin als auch der Richter in dem Fall nicht mehr anders gekonnt
hätten, als ihn unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen. Also war er dem
Rat seines Anwaltes gefolgt und hatte den Mund gehalten. Auch nach der
Vernehmung des Gerichtsmediziners, der die Obduktion des Leichnams
durchgeführt hatte: Hans Dillinger. Chef des Zentralen
Rechtsmedizinischen Institutes im Klinikum der Goethe-Universität. Ein
weiterer langjähriger Weggefährte Devcons. Er hatte die eindeutigen
Ergebnisse aus der Ballistik zumindest teilweise entkräften können durch
seinen sehr beredten Verweis auf den Fall Phineas Gage – Vorarbeiter
einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft, dem sich bei einer Sprengung
eine dicke Eisenstange von unten nach oben durch den Schädel gebohrt
hatte. Trotz schwerster Läsionen im orbitofrontalen und präfortalen Kortex
war Gage bei Bewusstsein geblieben und später sogar noch in der Lage
gewesen, über den Hergang des Unfalls zu berichten, der sich im Jahre
1848 ereignet hatte. Demzufolge könne man selbst bei einem Kopfschuss
nicht grundsätzlich ausschließen, dass der Getroffene dennoch zu einer
Handlung fähig bleibt.
Tatjana Kartan hatte nur noch ergänzen müssen, dass sie definitiv nicht
sagen könne, ob Devcons erster Schuss tödlich gewesen sei. Sie habe dann
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ja auch schnell das Bewusstsein verloren.
Was stimmte. Letzteres. Wegen des Schusses hatte Devcon sie schon kurz
nach der Katastrophe gefragt: »Wie viel musstest du mit ansehen?« Kartan
hatte eine Weile ins Leere gestarrt ...
ENDE DER LESEPROBE
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