Eva Lirot SEELENNOT Leseprobe THRILLER © Copyright 2015 für die deutschsprachige Ausgabe: Eva Lirot Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung der Autorin. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Verwertung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig. Bei den Straßen im Großraum Frankfurt, den Polizeistationen und sonstigen Ortsangaben wurden größtenteils die heutigen Namen verwendet. Dennoch sind alle Angaben als fiktiv zu verstehen. Zudem wurden topografische Gegebenheiten überall dort verändert, wo es für den Handlungsfluss zweckmäßig erschien. Lektorat/Korrektorat: Hughes Schlueter Bildnachweis: Fotolia.de ©Eva Lirot Weitere Informationen: www.evalirot.com PROLOG Wer den Dampfkessel platzen lässt, zerstört die Lokomotive Sie hatten das nicht nötig. Keiner von denen, die sie bisher beobachtet hatte. Oftmals fuhren sie dicke Schlitten. Trugen Anzüge. Teuer aussehende Lederschuhe. Weniger nobel war nur das Klientel ohne Auto. Für eine warme Jacke reichte es aber auch. Sie fragte sich, wie man es bloß ohne aushielt in dieser Novembernacht. Ohne anständige Kleidung. Immerhin boten diese Kästen Schutz vor dem Sprühregen, der einen bis auf die Knochen auskühlte, wenn man nicht richtig angezogen war. So wie die Frauen. Nein, Mädchen. Die meisten jedenfalls. Frau war man ihrer Meinung nach erst ab zwanzig. Frühestens. Gesetz hin, Gesetz her. High Heels, knappste Röcke, Hotpants, Bustiers und Nylons. Das war die spärliche Verpackung der »Ware«. Die solange vor den Boxen herumzustolzieren hatte, bis sich eines der zweibeinigen Tiere heranpirschte und die leichte Beute mit sich in den Verhau zerrte, um sie dort zu vernaschen. Sie spürte, wie ihre Magensäfte zu brodeln begannen, das schmerzhafte Ziehen, das stärker werdende Hämmern hinter ihrer Stirnwand. Als nächstes würde es überall lodern, tief in ihr drin. Und dann ... Nein! Sie senkte den Kopf, schloss die Augen, ganz fest, ballte die Fäuste und biss die Zähne so sehr zusammen, dass ihr Zahnfleisch pochte. Es war wichtig, dass sie gelassen blieb. Damit sie ruhig und durchdacht vorgehen konnte. Sie hatte schon zu oft versagt. In den letzten beiden Wochen. Seit dem Tag, an dem sie begriffen hatte, dass ihr niemand mehr würde beistehen können. Sie war allein. Allein wie nie zuvor in ihrem Leben. Bäder in Selbstmitleid lösen aber keine Probleme. Im Gegenteil, sie wurden dadurch nur größer. Sie musste handeln. Jetzt! Sie entspannte ihre Kiefermuskeln, riss die Augen auf und den Kopf wieder hoch. Ihre Fäuste blieben geballt, als sie das Gelände sondierte. Mit kaltem Blick. Heute Nacht würde sie nicht versagen. Durfte sie nicht versagen! Jede weitere Stunde, die sie tatenlos verstreichen ließ, zog sie nur tiefer hinab inmitten dieses Treibsands der Hoffnungslosigkeit, in dem sie mehr als knietief feststeckte. Und stetig sank sie ein bisschen weiter. Stetig und unerbittlich. Bis sie sich eines nicht mehr allzu fernen Tages tatsächlich nicht mehr würde bewegen können und dann qualvoll erstickte. An ihrem Kummer. 2 Sie umschloss den Griff des Werkzeuges in ihrer Jackentasche. Kalt war er, der Griff. Kalt wie ihr Herz wurde, wenn sie an das Scheusal dachte. Kalt wie Gletschereis, obwohl ihre neue Daunenjacke sie gut vor den unwirtlichen Temperaturen hier draußen abschirmte. Auf diesem kargen Gelände. Tristesse pur ... Sie schlang ihre Arme eng um sich, versuchte sich so vor dem Frost zu schützen, der sich Stückchen für Stückchen in ihrem Körperinneren ausbreitete. Und vor dem sie kein Mantel dieser Welt schützen konnte. Schwarz war sie. Ihre Daunenjacke. Nachtschwarz, rabenschwarz! Wie ihre Gedanken, die Gefühle, die sie wie eine haushohe Welle zu ertränken drohten in diesem stürmischen Meer aus Hass. Sie widerstand. Der inneren Flut. Beobachtete den Lüstling in dem roten Porsche, der gemächlich über das Gelände rollte, die Scheibe heruntergekurbelt zur besseren Ansicht der Frischfleischauslage vor den Boxen. Das Rennen um die Gunst des brünstigen Kerls machte die große Rothaarige in den pinkfarbenen Hotpants aus Latex. Ihr mit weißen Perlen und Straßsteinchen üppig besetzter Push-Up funkelte wie ein Piratenschatz und war nur minimal verdeckt durch den rosafarbenen Schal aus Plüsch, den sie um ihre Schultern drapiert hatte. Alles saß akkurat, ihre Erscheinung war perfekt. In dieser Szenerie. Obwohl sie erst vor wenigen Minuten wieder ins Freie gestöckelt gekommen war. Nach der Abfertigung des Fahrers eines Kombis der Marke mit dem Stern. Hatte stark nach Familienkutsche ausgesehen, der Wagen. Und der Insasse war offensichtlich pflegeleicht. Mit wenig zufrieden. Konnte keine Viertelstunde gedauert haben, sein Boxenstopp. Wieso die große Rothaarige mit der Alabasterhaut sich gleich wieder feilbot, also praktisch ohne Pause, in der sie die sanitäre Einrichtung wenigstens mal kurz hätte aufsuchen können, verstand sie nicht. Hatte das Mädchen keine Angst vor Krankheiten? Oder war es etwa schon infiziert? Sie verzog ihre rissigen Lippen. War doch alles bloß leeres Geschwätz für die Öffentlichkeit, das mit der Besorgnis um die Gesundheit der Mädchen. Wohlfühlparolen für die Wahlbürger. Von denen es sowieso kaum einen interessierte, dass solche Gelände wie dieses hier überhaupt existierten. Schön abseits gelegen. Und nicht überwacht von irgendwelchem privaten Personal im Auftrag der Stadt. Das hätte sie gemerkt. Nein, hier wachte nur sie. Die dritte Nacht infolge. Wartete. Auf eine Gelegenheit. Doch damit war jetzt Schluss. Man wartet nicht auf Gelegenheiten, man nutzt Möglichkeiten. Das hatte ihre Mutter immer gesagt. Ihre Mutter ... Sie spürte, wie Tränen in ihr hochstiegen und schüttelte wild den Kopf. 3 Zum Heulen war später Zeit, nun war Zeit zum Handeln! Sie zog ihre mit Fell besetzte Kapuze tief in die Stirn, streifte sich die übergroßen Gummihandschuhe mit den extra langen Schäften über und holte das Werkzeug aus ihrer Jackentasche. Gemächlich schritt sie über das auf einmal verwaist wirkende Gelände. Die Boxen waren wohl alle in Betrieb. Sie drehte sich um, schaute nach den Containern. Ebenfalls vollzählig belegt, wie es aussah. Jedenfalls lungerte im Moment keines der Mädchen davor herum. Zudem befand sich kein Freier in Warteschleife. Motorengeräusche, die auf die Ankunft neuer Fahrzeuge hindeuteten, hörte sie auch nicht. Jetzt oder nie! Mit dem Gesicht nach unten und unter dem Schutz ihrer Kapuze sprintete sie los. Die Geräusche, die aus dem Inneren des roten Porsches drangen, waren eindeutig. Stöhnen. Wohlige Seufzer. Und das Schmatzen. Von der Rothaarigen. Durch die noch immer offene Scheibe des Wagens sah sie deren Kopf im Schoß des Fahrers. Dessen Unterleib sich hob und senkte. Immer heftiger, sodass der Schädel der Rothaarigen ein paar Mal gegen das Lenkrad stieß. Bald würde es soweit sein ... Sie entsicherte das Werkzeug. Leise. Mit sparsamer Bewegung. Die beiden Hälften der frisch geschliffenen Gartenschere klappten auseinander. Der Mann stöhnte lauter, er hatte die Augen weit offen. Und sah trotzdem nichts. Sein Blick war starr auf das Autoinnendach gerichtet. Die Rothaarige ließ ihren Kopf kreisen, setzte zusätzlich ihre rechte Hand ein und gab auch Töne der Lust von sich. Vermittelte glaubhaft den Eindruck, dass sie ebenfalls auf ihre Kosten kam. Doch das spielte keine Rolle. Für sie. Sie schlich noch näher heran. Legte die Hand an den Griff der Fahrerseite. Und machte sich bereit. Bereit, die Tür mit einem Ruck aufzureißen. Den Überraschungsmoment für sich zu nutzen. Eiskalt. Und ohne Gnade. Ihre Nasenflügel bebten, als sie abermals tief Luft holte. Drei – zwei – eins ... Das panische Gebrüll und hysterische Gekreische auf dem Gelände nahm sie nicht mehr wahr. Im Lauf riss sie den rechten ihrer mit Blut besudelten Handschuhe herunter, stopfte ihn in die Jackentasche zur Gartenschere und rieb sich übers Ohr. Der Schrei des Porschefahrers hatte ihr fast das Trommelfell zerrissen. Immer schneller rannte sie in den Wald hinein, verschwendete dabei nicht einen einzigen Blick nach hinten. Bloß nicht langsamer werden ... Sie hatte aber nicht das Gefühl, dass ihr jemand folgte. Nicht mehr menschlich hatte er geklungen, dieser Schrei, befand sie und verringerte ihr Lauftempo. Blieb schließlich stehen, ließ ihren Oberkörper 4 locker herabhängen und wartete, bis sie wieder zu Atem kam. Nun war sie zufrieden. Mit sich. 5 1 Er dürfte nicht hier sein. Er wusste, dass er noch nicht soweit war. Und es vielleicht nie wieder sein würde. Irgendwas hatte sich verändert. Hatte ihn verändert. Er saß zwar am gleichen Schreibtisch in vertrauter Umgebung und doch war alles anders. Ganz anders. Er war wieder hier. Aber dennoch nicht da. Hatte Konzentrationsprobleme. Seine Gedanken, sie drifteten immer wieder ab. In allen möglichen und leider auch unmöglichen Situationen. Ging gar nicht in diesem Job. Wobei Nachdenken an sich schon nötig war. Draufgänger oder einen schießwütigen Cowboy wie in den einschlägigen Fernsehfilmen brauchte hier kein Mensch, das war klar. Aber ein von Selbstzweifeln geplagter Mann, der einen Großteil des Tages mit seiner Schau nach Innen verbrachte, gehörte bestimmt nicht zu den wünschenswerten Alternativen. Schießwütiger Cowboy ... Er strich sich über das kurze, graumelierte Haar und stieß hörbar die Luft aus. Am Schlimmsten war die Erkenntnis gewesen, dass das, wovor er Angst hatte, und sogar eine Heidenangst, wenn er ehrlich war – dass das etwas war, das tatsächlich in ihm selbst lauerte. Noch an diesem kohlrabenschwarzen Tag hatte er das begriffen. Diesem Tag im letzten Winter, an dem er sich beinahe um seine Zukunft geballert hatte. Geballert, genau. Schießen war etwas anders. Kultivierteres. Maßvolleres. Rumballern ist ein Merkmal von blinder Aggressivität. Oder Wahnsinn. War er wahnsinnig? Geworden? Oder schon immer gewesen? Trug er das in sich? Und konnte man so etwas kontrollieren? Auch dann noch, wenn es schon mal hervorgebrochen war? Oder war die Gefahr allein dadurch eklatant erhöht, dass es wieder soweit kommen könnte? Dass er sich erneut Bahn brach, der Wahnsinn? Und was würde es dann sein, das ihn hervorlockte? Ein noch schlimmerer Anlass? Er schauderte. Hauptsächlich deshalb, weil er sich außerstande sah, sich einen noch schlimmeren Anlass vorzustellen. Und er konnte sich viel vorstellen, allein aufgrund seines Berufes. Den man aber nur ausüben sollte, wenn man sich selbst unter Kontrolle hatte. Hatte er das? Wieder? Oder war es vielmehr jederzeit möglich, dass doch noch mal etwas passieren würde in seinem Leben, das den Schalter zur Aktivierung seines Wahnsinns umlegt? Und er erneut die Kontrolle verlieren würde? Über sich? Das waren die Fragen, die er sich ständig stellte. Seit Monaten. Seit fast einem Jahr, um genau zu sein. Wobei ihn die Fragen nicht wirklich 6 beschäftigten. Im Sinne des Findens von Antworten. Er hatte noch nicht eine einzige parat. Es erschien ihm auch eher so, dass er sich diese Fragen nicht wirklich stellte, sondern ihrer gedachte. Dass sie wie ein Mahnmal auf seiner Seele ruhten und er nichts weiter tat, als die Erinnerung zu pflegen. So als würde er die Blumen auf einem Grab gießen. In dem er seine Schuld beerdigt hatte. Exakt das war es, was ihn am meisten schreckte. Die emotionale Kälte, mit der er seine Amoktat vor sich selbst längst abgetan hatte. Seine fast schon bürokratische Art, die Besorgnis im Zaum zu halten, die sich in seinem Inneren dazu entfaltet hatte. Es genügte ihm, sich immer wieder dieselben Fragen ins Gedächtnis zu rufen wie ein naiver Gläubiger, der mehrmals täglich immer dasselbe Ritual vollzog, um seinem Gewissen Genüge zu tun. Neuer Tag, neues Spiel. Fortschritte? Keine. Was war mit ihm passiert? Stumpfte er ab? Nach all den Jahren? Konnte es wirklich sein, dass sein Fass, bis oben hin voll mit unliebsamen Erinnerungen, endgültig übergelaufen war? An diesem Tag im letzten Winter? Da unten in dem Keller, als er es das erste Mal in seinem Leben zugelassen hatte, dass sein verwundetes Herz die alleinige Regie über sein Tun übernahm? Ein Tun, das er zutiefst bereuen sollte – doch wenn er ehrlich mit sich selbst war, es genau das war, was er nicht tat? Nicht tun konnte? Er schüttelte unwillig den Kopf. Realisierte erst jetzt, dass er schon wieder jede Menge Zeit mit dieser Grübelei vergeudet hatte, die weder ihm noch irgendeinem anderen Menschen auf diesem Planeten etwas bringen würde. Er saß wieder hier. In diesem Büro. Auf demselben Stuhl. Was keine Selbstverständlichkeit war. Und nur dadurch ermöglicht wurde, weil es noch immer Menschen gab, die an ihn glaubten. Ihm vertrauten. Also war es seine gottverdammte Pflicht, das fruchtlose Kreisen um sich selbst bleibenzulassen, solange er im Dienst war, und stattdessen zu funktionieren. Voll und ganz! Der Mann am Schreibtisch stieß abermals hörbar die Luft aus. Er griff nach einer der neuen Fallakten, schlug sie auf und begann zu lesen. Runzelte die Stirn. Betrachtete das erste Foto und verzog das Gesicht, als verspüre er schwere körperliche Schmerzen. »Oh, my goodness ...« 7 2 Das herrlich warme Wasser prasselte auf ihren Körper. Cremiger Duschschaum schillerte auf ihrer Haut, es duftete nach Honig und Vanille. Sie genoss das leise Plätschern, schloss die Augen und ließ sich Zeit. Ganz viel Zeit. Es wartete keiner auf sie. Das Haus war friedlich und leer. Niemand störte ihr Bad in der Stille, zu dem sie nur selten kam. Zumindest war das während der letzten zwanzig Jahre so gewesen. Sie stellte die Brause ab, drückte die Tür der Duschkabine auf und betrat vorsichtig den nass glänzenden Boden. Der Läufer war verrutscht, und sie hatte vergessen, ihn in die richtige Position zu schieben, bevor sie in die Duschkabine eingestiegen war. Solange es nur das ist ... Sie lächelte schmal, nahm eines der großen Handtücher, rubbelte sich ab und griff nach ihrem gemütlichen Frottee-Schlafanzug. Sie schlüpfte hinein und tappte zum Spiegel. Er war noch angelaufen. Vom Wasserdampf. Mit dem Ärmel rieb sie eine größere Fläche des Glases frei. Und schaute die Frau, die ihr daraus entgegenblickte, interessiert an. An sich hatte sie damit gerechnet, dass sie sich schlecht fühlen würde. So unmittelbar danach. Die Frau, die ihr aus dem Stück Spiegel offen ins Gesicht schaute, sah aber nicht aus, als ob sie sich schlecht fühlen würde. Sie sah aus wie immer. Es war auch alles wie immer. Es gab ein Problem. Mal wieder. Und sie war dabei, es zu lösen. Mal wieder. Schlecht fühlen konnte man sich nur, wenn man an die Größe des Problems dachte. Was aber nicht hilfreich war. Ganz im Gegenteil. Hilfreich war es, wenn sie ihren Job machen würde. Gründlich. Und vor allem: fehlerfrei. Um die Gartenschere hatte sie sich gleich gekümmert, als sie nach Hause gekommen war. Noch in der Jacke war sie in die Küche geeilt und hatte das Werkzeug akribisch gereinigt. Die besudelten Handschuhe mit den langen Schäften durchliefen das Programm in der Maschine unten im Waschraum. Sie hatte extra gewartet mit der Buntwäsche. Dann hätte sie sie einfach dazu gestopft. Leider hatte ihre neue Daunenjacke aber auch einiges abbekommen. Also hatte sie einen separaten Waschgang gestartet. Auf der schwarzen Jackenoberfläche sah man zwar so gut wie nichts, trotzdem war es ihr lieber, sie wieder makellos hinzukriegen. Wenn man gleich reagierte und das Textil mit dem richtigen Mittel behandelte, ließen sich auch Blutflecken relativ gut entfernen. Wie einfach doch alles sein konnte ... wenn man sich das Heft nicht 8 kampflos aus der Hand nehmen ließ ... Sie nahm ihre Zahnbürste, drückte einen Streifen Paste darauf, putze rund zwei Minuten und spülte ihren Mund mehrmals aus. Dann cremte sie sich die rissigen Lippen dick ein und kämmte ihr kinnlanges, lockiges Haar. Sie hielt kurz inne und sah auf, traf erneut den Blick der Frau im Spiegel. Deren Lippen weiß glänzten wie die Nivea Creme. Und deren Antlitz der Hauch eines Lächelns umspielte. Sie nickte. Zufrieden. Für den Moment. Sie hatte noch keinen Grund, sich zu freuen. Und wenn sie alle Freier dieser Welt auf einmal entmannen könnte, selbst das würde sie ihren Verlust nicht vergessen lassen. 9 3 »EG Eunuche?« »Also nee, weißte!« Tatjana Kartans Schalk im Blick strafte ihre Empörung Lügen. Sascha Grafert grinste. »Zur SOKO reicht’s nicht, richtig? Deshalb EG wie Ermittlungsgruppe und ...« »Ich finde das sehr makaber und vor allem respektlos«, ließ sich Leila Voist vernehmen, mit ihren fünfzig Jahren die Zweitälteste im Raum. Und die Vernünftigste. In der ganzen Abteilung. »Das müssen doch unvorstellbare Schmerzen gewesen sein.« Sie deutete ein Kopfschütteln an, zauberte ein Tuch aus der Eingriffstasche ihres schmalen Rocks und polierte die Gläser ihrer Brille. »Da hege ich null Zweifel«, bestätigte Grafert, nahm seine Hand aus der Sakkotasche und packte sich theatralisch in den Schritt. »Also echt!« Kartan schien nun wirklich verärgert. Sie hatte sich aufgerichtet, saß fast stramm auf dem Stuhl, spielte nicht mehr mit einer Strähne ihres dunklen Haares. »Du übertreibst mal wieder maßlos, Sascha. Wir sind hier doch nicht in einer Comedy-Sitcom.« »Ach, nein?« Grafert, das jungenhafte Gesicht zur Stan-Laurel-Grimasse verzogen, schaute der Kollegin betont naiv entgegen. »Kommt mir aber oft so vor.« »Kommt hier auch noch mal was zum Mitschreiben, oder wollt ihr weiter nur vor euch hinfrotzeln?«, fuhr Regina Tamm mit ihrer resoluten Stimme dazwischen. »Falls nicht, würde ich gern wieder rüber gehen. Ist ja nicht so, dass ich sonst nichts zu tun habe.« »Weia«, machte Grafert und duckte sich spielerisch weg unter dem Zorn der langjährigen Angestellten im Fachkommissariat für Tötungsdelikte, die mit der Protokollführung der Sitzung zu dem neuen Fall beauftragt war. Nur einer im Raum bekam von alledem anscheinend nichts mit. Er saß mit am runden Tisch, den Blick aus den dunklen Augen starr auf die YuccaPalme gerichtet, die beim Meeting-Point seines Büros ihren Platz gefunden hatte. Hauptkommissar und Dienststellenleiter Jim Devcon hing seinen Gedanken nach. Gedanken, die um einen Gerichtsprozess kreisten, der zwar schon einige Monate zurücklag, der aber einen nachhaltigen Eindruck in Devcons Erinnerungen hinterlassen hatte. Weil es um ihn selbst gegangen war. Um ihn und seine Zukunft. Und es war keineswegs sicher gewesen, dass er mit einer dermaßen heilen Haut aus diesen Verhandlungen herausspazieren würde. Roland Berger, der zuständige Staatsanwalt, hatte den Fall gleich 10 abgegeben. Was Devcon ihm nicht verübeln konnte. Sie waren befreundet, sind es noch. Und obwohl Berger schon einiges mitgemacht hatte in Devcons alles andere als vorbildlichen Karriere bei der Mordkommission in Frankfurt am Main – was an diesem grauenhaften Tag im letzten Winter vorgefallen war, das war selbst Berger zu viel gewesen. Viel zu viel. Devcon war bekannt als Raubein, machte den Klischees über sein Herkunftsland alle Ehre. Nicht nur wegen des immer noch starken Akzents des Texaners, der jeden vergessen ließ, dass Devcon bereits seit über zwanzig Jahren in Deutschland lebte. Vorschriften waren für ihn oft nur Richtlinien, die er nach eigenem Gutdünken verbog und sogar ignorierte, wenn es der richtigen Seite diente. All die Jahre im Polizeidienst hatte er nur deshalb überdauern können, weil er ein verdammt gutes Gespür für das Richtige hatte, wie man über ihn erzählte. Und weil Polizeipräsident Norbert Fringe zu seinen besten Freunden zählte. Bei dem es nun aber den Anschein hatte, dass er ihn als einen solchen verloren hatte. Eine andere Erklärung hatte Devcon nicht parat für die private Eiszeit, die seit diesem Tag im letzten Winter zwischen ihnen herrschte. »Jim! Bitte rede mit mir«, hatte Fringe verlangt. Geradezu flehentlich verlangt. Wieder und wieder. Doch Devcon schwieg. Weil es nichts zu reden gab. Für ihn. Und womöglich war das der wahre Grund für Fringes Rückzug. Was nichts änderte an Devcons Sprachlosigkeit zu diesem Thema. Zu einer Anklage wegen Mordes war es nicht gekommen. Das wäre auch absurd gewesen. Ein Mörder ist, »wer aus Mordlust heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln einen Menschen tötet.« Auszug aus Paragraph 211, Strafgesetzbuch. Eine Definition, die zweifellos für den bis heute nicht gefassten Psychopathen galt, der Devcons Frau, eine Nichte Fringes, getötet hatte. Vor rund zehn Jahren. Mit einem Messer. Eine Dienstpistole konnte zwar auch schnell zum »gemeingefährlichen Mittel« werden. Sie durfte aber benutzt werden, wenn der Beamte in Notwehr handelte. Eine Anklage gegen Devcon wegen Totschlags nach Paragraph 212 war somit auch schnell vom Tisch gewesen. Nicht vom Tisch gewesen war die kritische Bewertung seiner Tat. Von der ersten bis zur vorletzten Stunde der knapp eine Woche dauernden Verhandlungen war Devcons Notwehrhandlung als deutlich überzogen, sogar »bar jeder Ratio« bezeichnet worden. Diktum der Staatsanwältin. Dem der Angeklagte, Hauptkommissar James Lloyd Devcon, nicht widersprochen hatte. Alles in allem hatte er während der gesamten Dauer der Verhandlungen ohnehin nur sehr wenig gesprochen. Er hatte sich gehen lassen. Völlig. War wie im Rausch gewesen. Das stand 11 auch für ihn selbst vollkommen außer Frage. Zu klären war lediglich, ob das, was vorgefallen war, das, was den Blackout seiner Ratio hervorgerufen hatte, nach Auffassung des Gerichtes gravierend genug war, die Tat Devcons zu rechtfertigen. Was hätte er dazu noch sagen sollen? Geredet haben dann andere. Auch seine Mitarbeiter aus der K11. Die engsten. Reggie hatte geweint. Konnte gar nicht mehr aufhören, sodass die Staatsanwältin die Befragung seiner langjährigen Büroassistentin schließlich abgebrochen hatte. Leila Voist und Jost Kellermann schafften es besser, ihre Betroffenheit in der Öffentlichkeit des Gerichtssaals zu verbergen. Doch auch sie hatten zu Protokoll gegeben, dass sie nicht begreifen konnten, was an diesem Tag im letzten Winter geschehen war. Zu zusätzlichen Belastungen war es aber nicht gekommen. Alle hatten sich geschlossen hinter Devcon gestellt, sogar Sascha Grafert. Der coole Grafert, der keinen Hehl daraus machte, dass er scharf auf Devcons Position war. Nicht ansatzweise so abgebrüht wirkend wie sonst hatte er auf dem Zeugenstuhl gesessen und seine Loyalität mit dem ungeliebten Chef bekundet. Letzteres hatte er ehrlicherweise hinzugefügt. Und Devcon dabei offen in die Augen gesehen. Was der ihm hoch angerechnet und noch im Gerichtssaal kommuniziert hatte durch das Andeuten eines Nickens. Devcon merkte nicht, wie seine Kiefer zu malmen anfingen, während sein Blick noch immer auf der Yucca-Palme haftete wie mit Sekundenkleber fixiert. Als letztes war sie aufgerufen worden. Tatjana Kartan. Wenn er die Macht dazu gehabt hätte, Devcon hätte es verboten, sie in den Zeugenstand treten zu lassen. Lieber wäre er in den Knast gegangen. Was sie hatte erdulden müssen an diesem gottverfluchten Tag im letzten Winter ... und auf dem Zeugenstuhl noch einmal hatte durchleben müssen ... vor aller Augen ... Devcon schauderte es, auch wenn er nur kurz daran dachte. Und es würde ihn immer wieder schaudern. Ganz gleich, wie viele Jahre vergehen würden. Sie war im vierten Monat schwanger gewesen. Und sie verlor das Kind. Nachdem dieses Monstrum in Menschengestalt sie brutal getreten hatte. Ihre Stimme hatte gezittert, war leiser und leiser geworden, als sie den Moment der Attacke schilderte. Devcon hatte stocksteif dagesessen und sich auf die Zunge gebissen. Bis sie blutete. Nur so hatte er sich erfolgreich seine nächste Amoktat verkneifen können: aufspringen und die Staatsanwältin durch einen gezielten Schlag außer Gefecht setzen, damit diese Quälerei endlich aufhörte! Sie war sehr behutsam vorgegangen. Die Staatsanwältin. Wühlte nicht tiefer als nötig und gestand Kartan genügend Pausen zu. Devcon zollte ihr 12 dafür seinen Respekt. Später. Das Verfahren hatte zu der Zeit noch auf der Kippe gestanden. Hinsichtlich des Strafmaßes. Zu einem Ergebnis war man schon gekommen: NotwehrExzess. »War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine einem Angehörigen zugefügte Misshandlung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren.« Auszug aus Paragraph 213, Strafgesetzbuch. Tatjana Kartan war keine Angehörige Devcons. Sie war die Mutter seines toten Kindes. Und »Zorn« war in dem Fall die Untertreibung des Jahrhunderts. Hass! Was da in Devcon gelodert hatte, das war der blanke Hass auf dieses Monstrum, das ihnen das angetan hatte. Er bekam ein Jahr. Auf Bewährung. Weil er »die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken« überschritten hatte. Paragraph 33, Strafgesetzbuch. Und weil Tatjana Kartan in der Beantwortung einer wesentlichen Frage bewusst vage geblieben war. Die Frage, in der es darum gegangen war, ob Devcons erster Schuss auf das Monstrum bereits tödlich gewesen war. Er selbst hätte am liebsten ausgesagt, dass er selbstverständlich gleich einen Volltreffer gelandet hatte, ihn das in diesem Moment aber einen Scheißdreck interessiert hatte! So viel Restverstand hatte er dann doch noch gehabt, um zu wissen, dass sowohl die Staatsanwältin als auch der Richter in dem Fall nicht mehr anders gekonnt hätten, als ihn unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen. Also war er dem Rat seines Anwaltes gefolgt und hatte den Mund gehalten. Auch nach der Vernehmung des Gerichtsmediziners, der die Obduktion des Leichnams durchgeführt hatte: Hans Dillinger. Chef des Zentralen Rechtsmedizinischen Institutes im Klinikum der Goethe-Universität. Ein weiterer langjähriger Weggefährte Devcons. Er hatte die eindeutigen Ergebnisse aus der Ballistik zumindest teilweise entkräften können durch seinen sehr beredten Verweis auf den Fall Phineas Gage – Vorarbeiter einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft, dem sich bei einer Sprengung eine dicke Eisenstange von unten nach oben durch den Schädel gebohrt hatte. Trotz schwerster Läsionen im orbitofrontalen und präfortalen Kortex war Gage bei Bewusstsein geblieben und später sogar noch in der Lage gewesen, über den Hergang des Unfalls zu berichten, der sich im Jahre 1848 ereignet hatte. Demzufolge könne man selbst bei einem Kopfschuss nicht grundsätzlich ausschließen, dass der Getroffene dennoch zu einer Handlung fähig bleibt. Tatjana Kartan hatte nur noch ergänzen müssen, dass sie definitiv nicht sagen könne, ob Devcons erster Schuss tödlich gewesen sei. Sie habe dann 13 ja auch schnell das Bewusstsein verloren. Was stimmte. Letzteres. Wegen des Schusses hatte Devcon sie schon kurz nach der Katastrophe gefragt: »Wie viel musstest du mit ansehen?« Kartan hatte eine Weile ins Leere gestarrt ... ENDE DER LESEPROBE http://evalirot.com/1712/jim-devcon/#more-1712 14
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