Eva Lirot SEELENBRUCH Leseprobe THRILLER © Copyright 2015 für die deutschsprachige Ausgabe: Eva Lirot Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung der Autorin. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Verwertung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig. Bei den Straßen im Großraum Frankfurt, den Polizeistationen und sonstigen Ortsangaben wurden größtenteils die heutigen Namen verwendet. Dennoch sind alle Angaben als fiktiv zu verstehen. Zudem wurden topografische Gegebenheiten überall dort verändert, wo es für den Handlungsfluss zweckmäßig erschien. Lektorat/Korrektorat: Hughes Schlueter Bildnachweis: Fotolia.de ©Eva Lirot Weitere Informationen: www.evalirot.com Prolog Wer die Seele eines Menschen bricht, öffnet Pandoras Büchse »Lasset uns beten zu Gott, dem allmächtigen Vater.« Generalvikar Joachim Leitner lag flach auf dem Boden. Gesicht nach unten, Arme im neunzig Grad Winkel von sich gestreckt. »Er wache in seiner Güte über das Wohl der Kirche. Und schenke diesem Erwählten Gnade und Segen in Fülle.« Alle knieten nieder. Simone reckte den Hals. Vor dem Hochchor drängte sich die Besuchermasse. Es war Bischofsweihe im Sankt BartholomäusDom. »Ky-ri-e e-le-i-son. Chri-ste e-le-i-son ...« Surrende Fernsehkameras und klickende Blitzlichter begleiteten den sonoren Gesang des Erzbischofs. Weihrauchduft hing schwer in der Luft. Alles wartete gespannt auf den zentralen Akt der Zeremonie: das Weihegebet und die Handauflegung durch die anwesenden Bischöfe. Simone, inmitten des Gedränges im Hauptschiff des Doms, erhob sich. Sie biss die Zähne zusammen wegen der Schmerzen im Bein und kämpfte sich durch bis ans Ende des Nordquerhauses. Hier lichtete sich der Menschenpulk. Minimal. »Rau ist der Wind, der Maienflor nicht mag, und Sommers Pracht hat viel zu kurze Frist«, sang eine Stimme dicht hinter ihr. Voll tiefster Melancholie. Simone drehte sich um. In gebieterischer Haltung lehnte ein junger Mann an der Wand, direkt unter einem düster gerahmten Gemälde, das die Beweinung Christi darstellte. Es war Sebastian, ganz in schwarz gekleidet, ein Mitstreiter aus ihrer Laienspielgruppe. Sein attraktives, fast feminin geformtes Gesicht spiegelte ein unergründliches Lächeln. Simones sommersprossiges Haupt überzog sich mit flammender Röte. »Hallo, Shakespeare.« Sebastian fiel vor ihr auf die Knie, küsste ihre Hand. Schmachtend blickte er zu ihr auf und deklamierte mit leiser Stimme: »Dir soll dein Sommer ewig nicht vergeh’n, nie, was die Schönheit je verheißt, niemals wirst du in Todes Schatten steh’n, wenn meine Schrift dich deiner Zeit entreißt.« Simone sah sich verlegen um, entzog ihm die Hand, schüttelte ihre langen rotblonden Locken. Zwei ältere Herren beobachteten sie. Milde lächelnd. Die sonore Stimme des Erzbischofs war auch hier gut zu hören. »... von aller Sünde, von der ewigen Verdammnis ...« »Wo hast du deinen Fotoapparat? Den wolltest du doch mitbringen. Wegen der Bilder für den Blogbeitrag von dem Spektakel hier.« Simone blickte zurück in die Menschenmenge vor dem Altar und wandte sich wieder an Sebastian. »Seit wann bist du hier? Hab dich gar nicht gesehen in dem Andrang da draußen. Ein Wunder, dass die Sicherheitsgorillas einen überhaupt durchgelassen haben.« »Dem lieblichen Antlitz meiner Herzensdame erlegen, sie gleichwohl standen still, unfähig sich zu bewegen.« »Hör auf mit den Versen.« Sebastians tiefbraune Augen glühten. Er neigte den Kopf leicht nach unten, so dass ihm ein paar Strähnen seiner dunklen Haarpracht ins Gesicht fielen und so die Schnittnarben oben an der Stirn verdeckten. Dann riss er Simone an sich. Küsste sie. Ungestüm. »Autsch!« Sie rang sich aus seiner Umklammerung und stieß ihn zurück. Befühlte ihre Lippen. In der unteren ertastete sie einen winzigen Riss. Die beiden älteren Herren musterten sie. Missbilligend. Sie tuschelten, nickten und wandten sich ab, drehten ihnen betont den Rücken zu. »Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt«, rezitierte Sebastian. Mit einem sehnsüchtigen Blick. Simones Gesichtszüge entspannten sich. Flugs schnappte sich Sebastian erneut ihre Hand und nahm Simone ins Schlepptau, die tapfer mithumpelte. An den Lautsprechern vorbei – »Wir ar-men Sün-der, wir bit-ten dich ...« – quetschten sie sich durch die dichte Menschenansammlung im Hauptschiff des Doms. Unterhalb der riesigen Orgelpfeifen im Südquerhaus machte Sebastian Halt. Er presste Simone gegen den Beichtstuhl und fing wieder an, sie zu küssen. Sanft. Doch als seine Hand begann, an den Knöpfen ihrer leger geschnittenen Sommerhose zu nesteln, wehrte Simone ihn ab. »Lass das, Mensch! Tickst du jetzt völlig aus, oder was?«, zischte sie so leise wie möglich. Nervös schaute sie sich um. Zum Glück war noch niemand auf sie aufmerksam geworden hier im hintersten Bereich des Südquerhauses. Sebastian neigte abermals den Kopf, die Lippen zu einem feinen Lächeln verzogen. »Warte einen Moment.« Er verschwand in dem offenbar nicht mehr benutzten Beichtstuhl, trat wieder heraus und zog Simone zu sich heran. »Die Luft ist rein. Komm. Und genieße.« Simone starrte ihm mit offenem Mund entgegen. Und verpasste ihm eine Ohrfeige. Nicht sehr fest, mehr symbolisch. Er sah sie regungslos an, das schelmische Glitzern in ihren Augen registrierend. Wieder nahm er ihre Hand und zerrte Simone mit sich ins Dunkle des Beichtstuhls. Unbemerkt von allen anderen, die mit emporgereckten Köpfen das Geschehen vorne am Hauptaltar verfolgten. »Vorsicht, pass auf, dass du nicht stolperst. Auf dem Boden liegt ein kaputtes Lampengestell.« »Aha? Jetzt horten die hier ihren alten Kram? Denen sind wohl die Sünder ausgegangen.« »Pst!«, machte Sebastian und drückte die zierliche junge Frau rücklings an die holzvergitterte Wand, streichelte Simones Wange und flüsterte: »Und jetzt, holde Maid, dreh dich um.« Simone zögerte. Und gehorchte. Und schloss die Augen, als sie seine Hände spürte, wie sie erneut an den beiden Knöpfen ihrer Hose hantierten. »Segne und heilige deinen Diener ...« Die Stimme des Erzbischofs aus den Lautsprechern hob an, als der Reißverschluss aufging und das Stück Stoff wie von selbst an Simones Hüften herabrutschte. Sie wagte kaum, zu atmen. Ihr leicht angeschwollener linker Oberschenkel, sie spürte keinen Schmerz mehr, wohlige Schauer durchliefen ihren Körper, in ihrem Unterleib begann es zu kribbeln. Sie merkte wie sich ihre Brustwarzen aufstellten. Mit einem Ruck zog Sebastian ihren Slip herunter. Simone erschauerte. Sebastian drückte ihre Beine auseinander, begann ihren feuchten Schoß zu massieren. Mit der anderen Hand öffnete er den Gürtel und Reißverschluss seiner dunklen Jeans. »Erweise allen, die in Bedrängnis sind, dein Erbarmen ...« Simone krallte sich an der Holzvergitterung fest, zitternd vor Lust. Und der Angst, jeden Augenblick ertappt zu werden. Sebastian drang langsam in sie ein. Ließ seine Hüften kreisen. »Jesus, du Sohn des lebendigen Gottes ...« Simone gab keinen Laut von sich. Schwitzend und immer stärker zitternd, die Lippen fest aufeinander gepresst. Sebastians heißer Atem streifte ihr linkes Ohr. Seine Bewegungen wurden hastiger. Und derber. »Jetzt, meine Süße, jetzt sei bereit ...« Ein brutaler Griff umschloss ihren Hals. Und drückte zu. Erbarmungslos. Simone riss die Augen auf, sie versuchte nach Luft zu ringen. Wehr dich! Schnell!, schrie es in ihr. Doch sie konnte nicht, war wie gelähmt. Sebastian würgte Simone mit all seiner Kraft. Weiter und weiter stieß er in sie hinein. Und ejakulierte, während das Leben quälend langsam aus Simones Körper entwich. »Chri-stus, hö-re uns. Chri-stus, er-hö-re uns ...« Mit glasigem Blick starrte er auf den leblosen Körper, der an der vergitterten Innenwand des Beichtstuhls herabsank. Seine Brust war wie zugeschnürt. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Was hatte er getan ... Wie in Trance beugte er sich hinab und kleidete Simones Leichnam wieder vollständig an. Den Schrei unterdrückend, der sich mit aller Gewalt aus seiner Kehle herauslösen wollte. Er richtete seine Hose. Blickte sich um. Wie ein gehetztes Tier. Ohne es zu merken, presste er die Faust zwischen die Kiefer. Er biss zu. Fest. Schmeckte sein eigenes Blut, zog die Finger aus dem Mund, starrte mit großen Augen auf die Wunden und atmete wieder ruhiger. Sein Blick fiel zurück auf das tote Mädchen. Er kniete nieder, schaute sich fieberhaft um in dem Halbdunkel – und fand, was er suchte. Protokoll, Sitzung 1 »Was hast du empfunden, als du das erste Mal danach in den Spiegel sahst?« »Nichts.« 1 Bis zu der schmalen Domstraße war er noch einigermaßen durchgekommen. Hier, vor dem kopfsteingepflasterten Domplatz, gab es keine Lücke mehr. Jim Devcon fluchte und drückte die Hupe zum Dauersignal. Der durchdringende Ton und das rotierende Blaulicht auf dem Autodach ließ einen Teil der aufgeregt gestikulierenden Menschenmenge auseinanderspringen. Der Motor ging aus, die Tür flog auf, Jim Devcon stieg aus. Das markante Gesicht zur Grimasse verzogen. Er war erst vor einer knappen Stunde am Flughafen in Frankfurt am Main angekommen. Und während des neun Stunden langen Fluges hatte er wie immer kein Auge zutun können. Sein Urlaub hatte ursprünglich drei Wochen dauern sollen. Padre Island, Texas/USA, in einem Feriendomizil mit Blick auf kilometerlangen unberührten Sandstrand. Dan Foley, sein ehemaliger Kollege aus der Zeit bei der Mordkommission des San Antonio Police Departments, hatte ihn dazu eingeladen. Sonne satt. Meeresduft. Das Gezwitscher der Möwen. Ansonsten: Ruhe. Frieden. Nur Devcon und seine Angel. Pustekuchen! Am Tag vier seines Aufenthaltes im menschenbefreiten Paradies war es gleich wieder vorbei gewesen. Nachdem Polizeipräsident Fringes Anruf ihn aus dem frühmorgendlichen Schlaf gerissen hatte. »Tut mir leid, Jim, aber du musst dich sofort in ein Taxi zum Flughafen Dallas setzen. Wir haben einen Mord im Kaiserdom! Und das auch noch während der Bischofsweihe. Täter flüchtig. Ticket ist am Schalter hinterlegt. Flugnummer AA 070.« »Na, bravo.« Noch schlaftrunken vom langen Samstagabend mit Dan Foley und dessen Frau Linda in einer Bierbar am San Antonio-Riverwalk hatte Devcon dennoch gleich gewusst, was ein Mord im Kaiserdom bedeutete: das ganz große Aufgebot. Montagmorgen, Punkt sieben Uhr zwanzig nach deutscher Ortszeit, war seine Maschine an ein Gate im Terminal zwei des Frankfurter Flughafens gerollt – knapp zwanzig Stunden nach dem Start des Ersten Angriffs am Tatort im Sankt Bartholomäus-Dom. Die fast schwarzen, ausgeprägten Brauen nach oben gewölbt, bahnte sich der siebenundfünfzigjährige Hauptkommissar einen Weg durch die Menschenmeute. Einzelne Personen drängten sich rüde an ihm vorbei, die gezückten Handykameras wie eine Waffe im Anschlag haltend. Das Interesse galt einer Gruppe von Leuten, die wie gekreuzigt auf dem Boden in der Mitte des Domplatzes lagen. Bekleidet mit offenstehenden Mönchskutten. Darunter splitternackt. Gegen den sexuellen Missbrauch durch Priester, las Devcon die Botschaft des Flashmobs auf einem großen Pappschild. Es war auf einem Holzsteller hinter den Nudisten festgemacht, die deutlich mehr Blicke auf sich zogen als ihre Botschaft. Vor allem die beiden vollschlanken Frauen mit den großen Brüsten. Und der dürre Mann in ihrer Mitte mit dem halb aufgerichteten Gemächt. Devcon schaute rechts an dem Schild vorbei und sah drei Männer auf sich zustürmen. Die Mikrofone wie Säbel von sich gestreckt, feuerten sie ihre Fragensalven auf den Hauptkommissar ab. Er brummte ungehalten und stieß den ersten der Vertreter aus der hiesigen Boulevardzunft beherzt nach hinten, so dass der unsanft gegen die beiden Nachfolgenden prallte. Die verloren das Gleichgewicht und plumpsten mitten rein in die Nackten. Eine der vollbusigen Frauen fing an zu keifen, die andere schrie. Einige Männer des Wachpersonals vor dem Eingang des Doms eilten herbei und beruhigten die Entblößten, schützten besonders die Frauen vor Grabschern. Ein Uniformierter hielt Devcon die wuchtige Tür zum Dom auf. Nur einen Spalt breit, um zu verhindern, dass sich ein paar der besonders hartnäckigen Gaffer mit hereinmogelten. Auch am Tag nach dem Geschehen war der Andrang kaum geringer geworden. Nicht zuletzt dank der medialen Dauerberichterstattung. Devcon schritt durch den düsteren Vorflur des im gotischen Stil erbauten Doms, vorbei an weiteren Uniformierten aus dem polizeilichen Aufgebot. Er nickte ihnen zu, realisierte die ihm nicht unangenehme Kühle im Gotteshaus. In Texas war es feucht und brütend heiß gewesen. So heiß, wie es hierzulande selbst bei dem hochsommerlichen Juliwetter derzeit nicht wird. Devcon zog das eiserne Gittertor auf und schaute sich um im Inneren des berühmten Doms, in dem früher die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gekrönt worden sind. Für die hohen Gewölbe, die monumentalen Figuren aus Stein und die KirchenfensterOrnamentkunst hatte der Hauptkommissar keinen Blick. Seine Aufmerksamkeit galt dem Gewühl der hektisch umhereilenden Menschen. Devcon hielt inne, atmete geräuschvoll ein und stieß die Luft ebenso hörbar wieder aus. Vor dem prächtig geschmückten Hochchor, vis-à-vis seines Standortes, hatten sich mehrere Geistliche versammelt. Unter ihnen der zum Bischof geweihte Joachim Leitner. Mittendrin: zwei ernst nickende Herren in grauen Anzügen. Devcon knirschte mit den Zähnen. Die Anwesenheit des Ministerpräsidenten und des Innenministers an einem Tatort verhieß nie Gutes. Schon gar nicht für sein Ressort. Wahrscheinlich machten diese Politiker den Würdenträgern gerade Zugeständnisse, die die Ermittlungsarbeiten ganz bestimmt nicht einfacher machen würden. Devcon schaute in Richtung des Südquerhauses, wo sich der Tatort befand. Es war abgeriegelt. Davor war weiteres Wachpersonal postiert. Hinter der Absperrung sah Devcon Kommissare aus dem Bundes- und Landeskriminalamt umherlaufen sowie einige ihm unbekannte Personen. »Jim, da bist du ja! Gottseidank! Herzlich willkommen zurück, hattest du einen guten Flug?«, rief Norbert Fringe, der Polizeipräsident, ein leicht untersetzter Mann mit stets gerötetem Gesicht. Seine Aufregung fiel also zumindest äußerlich kaum auf. Devcon, mit seinen ein Meter achtzig etwas größer, erwiderte Fringes Gruß mit einem undefinierbaren Grunzen. »Komm, schau dir die Sauerei an. Das glaubt sowieso keiner, der es nicht mit eigenen Augen sieht. So was habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt, das kann ich dir sagen.« Sie stiegen über die fürs Kripopersonal wieder durchlässige Absperrung der Spurensicherung und gingen in Richtung des ausrangierten Beichtstuhls, der sich noch immer direkt unterhalb der Empore mit den riesigen Orgelpfeifen befand. Devcon registrierte die getrocknete Blutlache, die offenbar von dort geflossen war. Er runzelte die Stirn beim Blick auf einen großen Apparat, den ein Mann und eine Frau, bekleidet mit weißen Overalls, Mundschutz und Hauben über den Schuhen, in ihre Richtung schoben. »Neueste Hochtechnologie aus dem BKA«, erklärte Fringe. »Ein 3-DLaserscanner. Damit können die Kollegen millimetergenau jedes Detail und jede Entfernung vermessen. Mit den Angaben lässt sich der Tatort am Computer dreidimensional und aus jeder Perspektive heraus betrachten. Der Ablauf der Tat und die einzelnen Schritte des Täters können virtuell genau nachgespielt werden. Gar nicht so schlecht, meinst du nicht auch? Ich habe bereits alles Nötige veranlasst, damit uns die Daten so schnell wie möglich online übermittelt werden.« »Na, da freu ich mich aber. Ein Computerspiel aus’m BKA. Das ist genau das, was mir noch gefehlt hat zu meinem Glück.« Norbert Fringe stoppte abrupt und legte Devcon die Hand auf die Schulter. »Jim, bitte. Die Federführung des Falls liegt selbstverständlich voll und ganz bei dir ...« »Hab mich nicht darum gerissen.« »... und deine persönlichen Aversionen in allen Ehren. Aber hier ist Aufgeschlossenheit gegenüber jedem möglichen Mittel gefragt. Was zählt, ist nur der Erfolg, verstehst du? Ich brauche dir doch nicht zu erzählen, unter was für einem Druck wir hier stehen, oder?« Devcon erwiderte Fringes warnenden Blick mit einer undurchdringlichen Miene. »Und jetzt sieh dir die Tote an. Du kannst dir ja denken, dass die Herren von der Kirche nicht sehr glücklich darüber sind, dass der Leichnam immer noch nicht weg ist.« Devcon winkte ab. »Die sollen sich mal nicht so haben. Hier drin ist es doch schön kühl, dann riecht’s auch nicht so schnell.« In Fringes Miene spiegelte sich aufkommender Zorn. »Jim, bitte. Ein Mord im Gotteshaus ist wirklich kein Spaß.« »Was ist mit den Klebebändern? Ist das bereits passiert?« Devcons Gedankensprung ließ Fringe stutzen, er brauchte einen Moment, um hinterherzukommen. »Klar, die sind inzwischen sogar schon wieder ab.« Nach der Sicherung des Tatortes war die Tote mit einer speziellen Folie abgeklebt worden, die nach der Prozedur zur Analyse direkt in ein Labor des Landeskriminalamtes ging. So können Flusen, Haare, Hautpartikel, Fasern oder Vegetationsspuren entdeckt werden, die der Täter am Opfer hinterlassen haben könnte. Norbert Fringe deutete auf zwei Männer und einen Blechsarg, den diese vor der noch immer komplett abgeriegelten, engeren Tatortabsperrung abgestellt hatten. »Der Körper ist jetzt eingefasst. Die Kollegen von der Bestattung sind zum Abtransport in die Kennedy-Allee bereit. Im Moment wartet alles nur noch auf dich.« »Well, eine 747 ist eben keine Rakete, I apologize.« Über die Absperrung hinweg linste Devcon zu dem Beichtstuhl hin, taxierte das getrocknete Blut auf dem Boden davor. Der Hauptkommissar offenbarte keine Regung und wandte sich dem eingepackten Leichnam im Sektionssarg zu. Devcon beugte sich hinab, öffnete den Leichensack aus Plastikfolie und schaute hinein. »Was zum Teufel ...« »Ruhig, Jim.« Fringe sprach betont leise. »Das hier ist ein sakraler Tatort, und wir stehen unter Beobachtung, schon wieder vergessen? Also pass bitte auf, was du sagst.« Devcon schnaubte nur und schaute sich die Male am Hals des toten Mädchens an. Und die getrockneten Blutrinnsale, die sich im Schulterblatt erst zu einem kleinen See gesammelt haben mussten, um dann den Weg zum Kirchenboden zu finden. »Mord zum Nachteil von Simone Niklas.« Devcon sah hoch und in das jungenhaft glatte Gesicht von Kommissar Sascha Grafert. »Was habt ihr noch von ihr?« »Studentin, Alter vierundzwanzig, wohnhaft in Dreieich. Ging aus ihren Papieren hervor.« »Familie schon benachrichtigt?« Grafert nickte. Den Blick gesenkt. Devcon brummte und sparte sich Worte des Trostes für eine Situation, in der es seiner Meinung nach keinen Trost gab. Der zerknirschte Gesichtsausdruck seines jungen Mitarbeiters im Fachkommissariat für Tötungsdelikte offenbarte noch immer die starken Emotionen, die diese Aufgabe häufig bei den Beamten verursachte. Das Leid der Angehörigen mitansehen zu müssen als Überbringer der Todesnachricht, das war für viele eine der grausamsten Strafen, die der Dienst in einer Mordkommission so mit sich brachte. »War kein Notfallseelsorger dabei?«, fragte Devcon, der Graferts betretenes Schweigen nicht länger ertrug. »Doch, schon. Die Eltern haben dann zum Glück darauf verzichtet, ihre Tochter sofort noch einmal zu sehen. Ist in dem Fall wirklich besser. Sie ist ja ziemlich blutverschmiert ...« Grafert brach ab. Starrte wieder wie abwesend ins Leere. Dabei schien er einen inneren Schalter umzulegen. Er setzte ein Grinsen auf. »Und, wie war der Urlaub, Chef?« Devcon ignorierte die ironisch intonierte Frage und zog eine Grimasse, während er in Simone Niklas’ gebrochene hellgrüne Augen schaute. Sie waren weit aufgerissen, spiegelten das Entsetzen der letzten Sekunden ihres kurzen Lebens. Die Lippen zum Strich zusammengepresst, wandte Devcon sich ab. Er hatte schon viele Leichen gesehen. Dennoch konnte und wollte er sich nicht an den Anblick gewöhnen. »Todesursache?« »Laut Gerichtsmedizin Strangulation.« Grafert deutete auf die Würgemale an Simone Niklas’ Hals. »Von hinten ausgeführt.« »Um den Überraschungsmoment zu nutzen zwecks maximaler Minimierung der Gegenwehr des Opfers.« »Anzunehmen.« »Gut. Und was soll das da?« Devcon zeigte auf die Verstümmelung des Leichnams. Das linke Ohrläppchen fehlte. »Keine Ahnung. Wurde allem Anschein nach post mortem ausgeführt. Sonst wäre bestimmt noch mehr Blut aus der Wunde geflossen, wie die Kollegen bereits festgestellt haben.« Devcon schlug die Stirn in Falten, bedeutete den beiden Männern von der Bestattung mit einer Kopfbewegung, den Leichnam zu drehen, damit er sich die Verletzung genauer ansehen konnte. Devcon beugte sich vor und strich Simones langes rötliches und stellenweise blutdurchtränktes Haar zur Seite. »Da wurde in der Tat ein ziemlich großes Stück abgesäbelt.« Er sah auf und blickte Grafert fragend an. »Aber wozu?« »Keine Ahnung.« Der junge Kommissar zuckte die Schultern. »Ein Fall von Kannibalismus scheint aber unwahrscheinlich.« »Bisschen wenig für eine Mahlzeit, das ist korrekt. Gut, Sie können wieder zumachen, danke.« Devcon nickte den Männern von der Bestattung zu und wandte sich gleich wieder an Grafert. »Tathergang? Wisst ihr da schon was?« »Nun, da es keine Zeugen gibt ...« Devcon spuckte einen Lacher aus. »... und der Täter flüchtig ist ...« »Wie zum Teufel ist der Kerl mit seinem Teppichmesser überhaupt hier reingekommen?« »Teppichmesser? Aufgrund der Breite des Einschnitts wurde wahrscheinlich ein stumpfer Gegenstand benutzt ...« »Und wenn’s eine rostige Säge war!«, unterbrach Devcon unwirsch. »Kann mir mal einer sagen, wozu überall diese Schießbudenfiguren von der Security rumlungern, wenn die Leute dann doch bewaffnet zur Bischofsweihe gehen?« »Würdest du bitte aufhören, hier so rumzubrüllen, Jim!« Polizeipräsident Fringes Stimme war leise, aber schneidend. »Die Negativschlagzeilen produzieren die Herrschaften von der Presse auch ohne deine Hilfe, da kannst du ganz beruhigt sein.« »Presse, das war das Stichwort«, rief Grafert. »Denn wir haben immerhin so etwas wie eine Minimalbeschreibung von einem etwaigen Täter. Hallo, Sie da, kommen Sie mal?« Er winkte eine Dame herbei, die vorne an der Absperrung gewartet hatte. »Darf ich vorstellen, das ist Kerstin Mang vom Münchner Merkur. Frau Mang – Hauptkommissar James Lloyd Devcon.« »Guten Morgen«, sagte die Frau, gekleidet in ein strenges Kostüm in Bouclé-Optik, das ihrer Jugend kontraproduktiv gegenüberstand. Sie musterte Devcon überrascht. Vermutlich wegen seiner Kleidung, die aus der obligatorischen Bluejeans und einem weißen Kurzarmhemd bestand. Ohne Krawatte. »Guten Morgen.« Devcon drückte Kerstin Mang kurz die Hand. »Also, was genau konnten Sie beobachten?« Die Frau stutzte erneut. Weniger wegen seiner angenehm tiefen Stimme als vielmehr wegen des breiten US-Akzents, der alles annehmen ließ, nur nicht, dass Devcon schon seit über zwanzig Jahren in Deutschland lebte. »Den Mord selbst habe ich natürlich nicht gesehen. Aber mir ist ein ganz in schwarz gekleideter, schlanker junger Mann aufgefallen. Er kam kurz nach der Litanei allein aus diesem Querhaus und hat sich ziemlich ruppig in die Richtung durchgedrängelt.« Sie deutete zum Haupteingang des Doms. Devcon runzelte die Stirn. »Was ist Ihnen noch aufgefallen? Hatte dieser junge Mann vielleicht irgendwie schmutzige Hände?« »Schmutzige Hände?« Kerstin Mang war sichtlich irritiert. »Ich verstehe nicht ... Ah, Sie meinen Blut. Nun, ich weiß nicht ... da habe ich ja auch gar nicht drauf geachtet. Aufgrund seiner Kleidung dachte ich doch, er wäre ein junger Priester. Außerdem habe ich ihn sowieso nur ganz kurz sehen können. Und eigentlich fast nur von hinten.« Devcon starrte Kerstin Mang reglos entgegen. »Deswegen ja Minimalbeschreibung«, murmelte Grafert. »Ihre Aussage nehmen wir dennoch zu Protokoll. Sascha, mach du das.« Devcon sah an der Frau vorbei und dem Herrn im grauen Anzug entgegen, der auf Polizeipräsident Fringe zusteuerte, gefolgt von einem weiteren Mann. »Herr Ministerpräsident, nur einen Moment ...« »Bitte, bitte, bitte. Gedulden Sie sich wie alle anderen bis zur offiziellen Pressekonferenz um Punkt elf Uhr dreißig im Präsidiumsgebäude.« Der Mann ließ sich nicht abweisen. »Es geht um den BMW, der vorne am Domplatz die Zufahrt blockiert. Der gehört doch sicher zu Ihnen?« Devcon hielt Grafert kommentarlos seinen Schlüsselbund hin. Mit Kerstin Mang im Schlepptau machte der junge Kommissar sich auf den Weg. »Pressekonferenz?«, fragte Devcon und musterte Norbert Fringe mit hochgezogenen Brauen. »Das ist doch hoffentlich nicht ...« Fringe hob beide Hände. »Jim, ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass man selbstverständlich auch von dir erwartet, dass du daran teilnimmst. Und es hat jetzt erst mal oberste Priorität, dass wir das irgendwie überstehen. Und möglichst, ohne viel Federn dabei zu lassen. Haben wir uns da verstanden?« Devcon fixierte Fringe. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte los. »Jim! Was soll das, wo willst du denn jetzt hin?« »Präsidium«, rief er ohne sich umzudrehen. Und ohne den Schritt zu verlangsamen. Fringe folgte ihm, packte ihn an der Schulter. »Jetzt warte doch mal! Zur Vorbereitung für die Konferenz wirst du auf jeden Fall gleich noch genügend Zeit haben, das verspreche ich dir. Aber nun ...« Devcon blieb stehen und erwiderte in ruhigem Tonfall: »Es geht mir nicht um die Presse. Es geht um mich. Um mich und meinen Vorruhestand.« »Um – was?! Entschuldige bitte, aber für derart blöde Witze haben wir im Moment wirklich keine Zeit!« »Das ist kein Witz. Und ich werde außerdem meine sofortige Freistellung von diesem Fall beantragen.« »Abgelehnt!« Norbert Fringes sich überschlagende Stimme hallte durch den Dom wie das Echo eines erzürnten Gottes. »Das kannst du nicht«, erwiderte der Hauptkommissar gelassen. »Devcon! Verdammt noch mal, was soll dieser Stuss, jetzt reißen Sie sich zusammen! Ich hab’s langsam satt!« »Nein, ich habe es satt. Und zwar gründlich! Ist das klar?« Die dunklen Augen des Hauptkommissars loderten, sein sonst eher unterkühltes Mienenspiel glich einer Fratze puren Zorns. »Ganze vier Tage Urlaub, das ist ein Witz, und zwar ein ganz schlechter, oder? Habt ihr wirklich gar keinen anderen, der euch wenigstens nur einmal die Kastanien aus dem Feuer holt? Oder steht bei mir »gutmütiger Trottel« in Blockschrift vorne auf dem Schädel, und nur ich habe das noch nicht gesehen?« Devcon tippte sich gegen die Stirn. »Man muss auch mal nein sagen können, richtig? Kriegen wir von diesen Schwätzern in euren Work-and-Life-BalanceSeminaren, die uns noch mehr von unserer kostbaren Lebenszeit stehlen, ständig gesagt. Okay! Könnt ihr haben! Ich fange sofort damit an. Nein! Ich werde diesen Fall nicht übernehmen! Und wenn ich dafür kündigen muss, bitte. Mir egal.« Fringe trat einen Schritt zurück. Unverhohlene Bestürzung in der Mimik. »Gut, Jim. Mein Fehler, bitte verzeih. Selbstverständlich hast auch du ein Anrecht auf Urlaub, es war falsch von mir, dich zurückzuholen. Es tut mir wirklich sehr leid.« Fringe neigte den Kopf nach unten, blickte jedoch gleich wieder auf und Devcon direkt in die Augen. »Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Verstehst du das? Es nicht wahrhaben, dass es auch einen unserer besten Männer jederzeit erwischen kann. Ich hatte so gehofft, dass sie falsch wäre, die polizeipsychologische Diagnose ...« »Ach, lass mich doch mit dieser Scheiße in Ruhe! Ich habe kein verdammtes Burnout! Ich habe nur keine Lust mehr! Schlicht und einfach keine Lust mehr auf diesen ganzen Mist.« »Jetzt beruhige dich«, zischte Fringe, der sich besorgt nach allen Seiten umsah, bevor er sich wieder Devcon zuwandte und ihn mit der rechten Hand am Oberarm berührte. »Jim, ich weiß, es ist alles ein bisschen viel derzeit, aber vergiss doch bitte nicht, auch in den größten Mistpfützen spiegeln sich Sterne ...« Devcon schüttelte Fringes Hand ab wie Ungeziefer. »Also wirklich, verschone mich gefälligst mit solchen Kalendersprüchen. Hältst du mich für blöd? Oder geht es einfach nicht in deinen Schädel, dass ich diese gottverfluchte Sisyphosarbeit hier nicht mehr brauche? Genug ist genug.« »Jim ...« »Die großen Fische gehen uns nicht ins Netz und jede dahergelaufene Presseniete schleudert uns zusätzlich Brocken in den Weg.« Devcon stand vor Polizeipräsident Fringe wie ein Vulkan, der dem finalen Ausbruch entgegengrollte. »Wo soll da noch der Sinn sein? Jeder Straßenfeger räumt an einem Tag mehr Dreck weg als wir in einem Jahr!« Fringe starrte Devcon an und schüttelte den Kopf. Dann packte er den Hauptkommissar erneut am Arm und zog ihn mit sich ins Nordquerhaus des Doms. Vor den Altar mit dem Bildnis der Jünger am Sterbebett Marias. Und außer Hörweite der wachsenden Anzahl von Personen, die ihren Disput interessiert verfolgt hatten. »In Ordnung, Jim.« Fringe nickte. »Dann lass mal hören. Also im Klartext, meine ich. Du als Frühpensionär? Gut. Und was willst du da machen? Etwa die Parksünder vor deinem Haus in Sulzbach aufschreiben? Das kauf ich dir nämlich nicht ab.« »Brauchst du auch nicht. Ich gehe wieder nach Texas.« »Was?« »Hundertfünfzigtausend inklusive Tax für ein komplett eingerichtetes Vier-Bedroom-Haus in Corpus Christi. Direkt an der Waterfront mit Blick zum Golf von Mexiko und eigenem Bootssteg.« »Dem Immobiliencrash sei Dank. Ich kauf dir aber auch nicht ab, dass du dann die Parksünder vor deinem neuen Haus in Corpus Christi aufschreiben willst!« Devcons Kiefer malmten. Fringe sah ihm fest in die Augen. »Jim, ich bitte dich. Jetzt komm mal wieder runter. Ja, ich weiß, was du in den letzten Monaten erdulden musstest, war hart. Sehr hart. Die Behördenwillkür hielt dich im Würgegriff, und du hast nicht nur einen Mann verloren, sondern auch einen Freund. Doch du geißelst dich zu Unrecht.« Devcon winkte ab. »Was redest du da, Norbert, ich geißele mich nicht.« »Doch, das tust du! Aber der Kollege war erwachsen. Und kannte die Regeln. Und er kannte die Gefahren im Außeneinsatz. Wenn er sich trotzdem leichtsinnig verhält – du warst sein Chef, nicht sein Babysitter! Jim, du musst endlich wieder mit dir ins Reine kommen! Es wird Zeit. Höchste Zeit! Und du weißt doch, ein Mensch kann unendlich viel aushalten, solange er nur sich selbst noch irgendwie ertragen kann.« »Come on, please!« »Und ich appelliere an deine Loyalität. Ausdrücklich! Du kannst mich doch nach all den Jahren und all dem, was wir zusammen durchgemacht haben, nicht ausgerechnet bei diesem Albtraumspektakel hier hängen lassen!« Jim Devcon verzog keine Miene. Beide Männer standen sich gegenüber, die Blicke starr aufeinander gerichtet wie beim Showdown im Westernfilm. Bis Norbert Fringe das Schweigen brach. »Also, was sagst du?« Devcon schnaubte. Vernehmlich. Den Blick nach oben zum Deckengewölbe mit der restaurierten Rippenbemalung gerichtet. Dann schaute er zu Boden. Und nahm als nächstes den Tatort am Ende des Südquerhauses erneut ins Visier. »Vielleicht hast du recht, Norbert, vielleicht hast du recht. Wer im Loch sitzt, sollte aufhören zu graben.« »Was?« »Amerikanisches Sprichwort. Und jetzt lass den verdammten Dom räumen. Ganz! Raus mit dem Politiker- und Pressegeschmeiß, damit wir unsere Arbeit zur Abwechslung auch mal machen können, statt nur drüber zu reden.« 2 »Schnipp schnapp, schnipp schnapp und schon ist die Locke ab! Schnipp schnapp, schnipp schnapp ...« Stahlharte Griffe halten ihn unten auf dem feuchtkalten Steinboden. Seine Kopfhaut brennt. Wie Feuer. Tränen rinnen an seinen geschwollenen Wangen herab. Doch er wagt nicht, sich zu mucksen. Jemand drückt ihm die Kiefer auseinander und stopft ihm Haare mit blutigen Hautresten in den Mund. Seine Haare. »Na, wie schmeckt dir das, Arschloch?« Er ringt nach Atem, hustet und würgt. Bis er Galle spuckt, das höhnische Gelächter seiner Peiniger in den Ohren. »In Ordnung, das war’s. Und jetzt markiert ihn ...« Sebastian schnellte hoch, blickte verwirrt um sich. Die Morgensonne schien durch das große Dachfenster. Der Fernseher auf dem Videowagen gegenüber seines Bettes zeigte ein Standbild. Es war das Hauptmenü einer DVD mit Episoden der US-Serie Prison Break. Sebastian rieb sich die Augen und blinzelte. Sein Herz pochte noch immer bis zum Hals. Schon wieder dieser Albtraum. Er atmete kontrolliert ein und aus. Mehrmals. Bis sich sein Herzschlag normalisiert hatte. Dann lehnte er sich zurück und bemerkte seinen Laptop auf der Bettdecke. Sebastian klappte ihn auf und deaktivierte den Bildschirmschoner. Du hast eine neue Nachricht, lautete die aktuelle Meldung. Sebastian verzog den Mund. Seine vom Schlaf ausgedörrten Lippen spannten. Er griff nach dem großen Becher auf dem Nachttisch und trank ein paar Schlucke von der erkalteten Kamillenteebrühe. Dabei fiel sein Blick auf die kleine durchsichtige Plastikdose, die auf der Holzkiste stand, die ihm als Nachttisch diente. Er sah genauer hin. Und der Schreck durchfuhr ihn, kurz und schmerzvoll wie ein Elektroschock. Sebastian rang nach Luft, presste die Hände auf seine glühenden Wangen. Die Augen weit aufgerissen, starrte er zum Dachfenster hinauf in ein imaginäres Nirgendwo. Sein Herz raste erneut, in seiner Brust schien ein Feuer zu brennen. Er japste wie ein totkrankes Tier, zitterte am ganzen Körper. Dann bekam er einen Weinkrampf. Wie ein reißender Sturzbach floss alles aus ihm heraus. Der Druck auf seinen Lungen löste sich. Jedoch nicht der auf seinem Herzen. Was hatte er bloß getan! Sebastian unterdrückte das Schluchzen, zwang sich, die Beherrschung zurückzuerlangen. Mechanisch wie ein frisch aufgezogenes Uhrwerk wischte er sich die Tränen ab. Er zog ein gebrauchtes Papiertaschentuch unter dem Kopfkissen hervor, putzte sich ausgiebig die Nase. Dann hob er den Blick und schaute noch einmal zu der kleinen Plastikdose. Hinter deren Wänden schimmerte es bräunlich. Okay. Ich muss das jetzt entsorgen ... ENDE DER LESEPROBE www.evalirot.com
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