Theater Verlag Magazin 2016

Suhrkamp Theater
Magazin 2016
2
Inhalt
Prolog: Einar Schleef Chor der Flüchtlinge2
Friedrich Ani
4
Thomas Bernhard
8
Tankred Dorst
10
Bettina Erasmy
11
Marjana Gaponenko
12
Rainald Goetz
14
Noah Haidle
16
Peter Handke
20
Martin Heckmanns
26
Wolfram Höll
30
Stephan Kaluza
34
Konstantin Küspert
35
Zwischenspiel: Jörn Klare Am Rand38
Thomas Köck
41
Mehdi Moradpour
46
Christoph Nußbaumeder
50
Georg Ringsgwandl
53
Gerlind Reinshagen
54
Akin E. Şipal
58
Junges Programm 62
Ruth Johanna Benrath 63
Märchen64
Starke Prosa für die Bühne
66
Briefwechsel68
Epilog: Marjana Gaponenko
Interview oder Einbeinig nach Europa70
Wolfgang Hildesheimer 100. Geburtstag
74
suhrkamp spectaculum
76
Jahrestage78
Impressum79
3
Einar Schleef (1944-2001)
Chor der Flüchtlinge
Wir bitten nicht, wir fordern von euch Wohnung, Brot, nicht Salz, nicht Brot, nicht andere Kost. Zucker ist bei
Kleidung und Fleisch. Der Gast ist König am Tisch des euch anderer Zucker, unser Mehl ist nicht euer Mehl,
Fremden, König in seinem Bett. Eingedenk, daß euch und preist nicht wie billig ihr abgebt und wie teuer wir
das träfe, was uns trifft, folgt dem alten Brauch. Kei- einst waren. Einst, das ist vorbei, vorbei, in jedem Gener bitte, denn geschähe es, lägen wir in unseren Bet- sicht könnt ihr lesen, was euch nie widerfahren mag,
ten und ihr würdet klopfen und fordern. Wir taten den verschont mögt ihr bleiben, das bitten die Fordernden
alten Brauch, oft, nicht eurem Volk, anderen Völkern von denen, die uns schlecht getan. Siegen die anderen,
die gleich uns verdrängt wurden, getrieben, da das Alte geht es eurem Volk wie uns.
nicht mehr standhielt. Wer es aufgegeben, gebrochen, Hundert sind wir, einhundert Kinder eines Vaters, der
davon sprechen wir nicht. Hört
von uns getragen, da nur er senicht unsere Klage, fordert sie
hen kann. Wir sind blind, weil
»Wir klagen ein, daß uns Gutes
nicht, keine Besinnung, keine
geschieht, daß ihr Freie Freien dient, wir nicht wissen wollten, wir
Rückkehr, kein Bedenken, gebt,
wurden gezwungen, Fremden
damit eurer Freiheit Sinn und
was nottut, sofort.
zu gehorchen, wir wurden geGerechtigkeit
widerfährt.«
Wir klagen ein, daß uns Gutes
zwungen, das zu tun, was ihr
geschieht, daß ihr Freie Freien
jetzt tun sollt, freiwillig, aus der
dient, damit eurer Freiheit Sinn und Gerechtigkeit wi- Erkenntnis, daß ihr verschont mögt bleiben von Unheil
derfährt. Tut ihr es nicht, wir weichen nicht, wir Freie, und Not. Gebt zu essen, gebt zu wohnen, gebt zu trinfordern und erwarten nur eins, wenn ihr es nicht gebt, ken, Mangel allein zeichnet nicht aus. Andere Völker
sind wir bereit zu sterben. Eingedenk, ihr würdet Glei- sind verhungert, aber wir sterben, freiwillig, wie uns
ches fordern, von uns oder anderen Völkern, mit denen der Vater gelehrt, denn wir haben gelernt, wir haben
euch gleiche Bande verknüpfen wie uns mit euch, beten gesehen, endlich.
wir für euren Mut, uns zu folgen in den Tod, wenn keine Hundert sind wir, einhundert Kinder eines Vaters. Ohne
friedliche Forderung Einlösung erfährt.
Unterschied, es gibt keinen. Anders klagen die Lieder
Wir schlafen in euren Betten, wir essen an eurem Tisch, der Freien, anders der Sklaven, heute ein Lied, eine
schlaft ihr auf Fluren, in Vorratskammern und Win- Forderung: Wohnung und Nahrung. Und laßt uns unkeln, laßt es uns gut gehen, bis wir vergessen, das alles, ter uns, verlangt nicht, wir sprechen eure Sprache, wir
was ihr nicht wißt. Verlangt nicht zu wissen, von dem denken wie ihr, wir kleiden und leben einander ohne
ihr verschont werden möchtet, aber bedenkt, bevor ihr Unterschied. Wir sind Völker verschiedener Länder, das
tut, was nötig ist in eurer Meinung, was geschieht, an alte Band, was unser Volk und das eure verbindet, ist
uns, an euch. Unsere Heimat könnt ihr nicht ersetzen, alt und nicht jeder weiß es. Alt, heißt in den Büchern
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suchen, die lange gelebt haben, können es wissen, wie
unser Vater es weiß. Wir wollen nicht bücken, dienen
und plagen, wir wollen wohnen und essen und unser
eigenes Volk sein. Frei wollen wir entscheiden über
unseren Dank, den wir bemessen, der nicht verhandelt
werden kann, nennt uns hochmütig, verbohrt, unreif,
unverfroren, wir wissen das, wir wissen es längst, viele
Völker sahen unser Schiff, viele, von vielen Ufern wurde
gedroht, von eurem nicht. Also seid Herren, seid Freie,
gebt, damit deinesgleichen sich dir erweisen kann.
Hundert sind wir, einhundert Kinder eines Vaters, unser Schiff ist der Rest, laßt es ausbessern ohne unsere
Hilfe, laßt uns die Aufsicht über eure Arbeiter, über das
notwendige Holz. Gebt mehr als wir fordern, anerkennt,
Gastrecht ist Pflicht. Jedem wird Asyl gegeben, ob er
vertrieben oder nur Ruhe bei euch sucht oder Arbeit
oder Wissen, gebt: Was unser ist, gehört euch.
Uraufführungen der Theaterstücke
Aus: Wilder Sommer, nach Carlo Goldonis Trilogie der Sommer-
Gertrud (2007)
frische, Uraufführung: 1999
Abschlußfeier (2009)
Der Fischer und seine Frau (1976)
Berlin ein Meer des Friedens (1983)
Mütter (Schleef/Müller-Schwefe) (1986)
Die Nacht (1987)
Die Schauspieler (1988)
Wezel (1995)
Totentrompeten I (1995)
Totentrompeten II (1997)
Salome (1997)
Wilder Sommer (1999)
Totentrompeten III (2000)
Nietzsche-Trilogie (2002)
Gertrud. Ein Totenfest (2003)
Lange Nacht (2003)
Totentrompeten IV (2011)
Tarzan rettet Berlin (2011)
14 Vorhänge (Frei zur UA)
Die Einladung (Frei zur UA)
Verratenes Volk (2000)
Uraufführungen der Prosabearbeitungen
für die Bühne
Die Bande (2002)
Zigaretten (2003)
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4
Foto: Tibor Bozi
NEU IM THEATER VERLAG
INGRID L AUSUND
Friedrich Ani
Der Gefangene
Monolog nach einer wahren Begebenheit
Jener Tag im März vor 22 Jahren änderte alles. Jakob Esterland erschoss bei
einem Banküberfall ungewollt eine Frau. Der Filialleiter eines Supermarktes,
der seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte, nicht die hohe Miete für das
schöne Haus mit dem riesigen Garten, nicht die Raten für die Gefriertruhe, hatte die Sparkasse eines Nachbarortes überfallen und viel Geld erbeutet. Kurz vor
dem Verlassen der Bank löste sich eine Kugel aus seinem alten Vorderlader, und
Esterland erschoss ohne Not eine zufällig anwesende Kundin, eine Mutter von
zwei kleinen Jungs. Sie hatte blaue Augen, erinnerte er sich, und sie trug einen
blauen Mantel. Sie wird ihn fortan in seinen Träumen verfolgen. Und Esterland
wird von diesem Tag an seine Familie anlügen und das Gefühl nie wieder loswerden, den Blicken der Welt ausgesetzt zu sein.
Friedrich Anis packender Monolog kennt kein gutes Ende. Esterlands Schweigen entlädt sich Jahre nach dem Mord in einer rastlosen Beichte, die sich dem
Leser wie eine Schlinge um den Hals legt. Der Gefangene ist die Geschichte
eines Mannes, der versucht, den sozialen Ansprüchen seiner Familie gerecht
zu werden, der ein guter Ehemann und ein liebevoller Vater sein will und an
dessen Schweigen der eigene Sohn schließlich zerbricht. Mit Detailgenauigkeit
und zärtlich-poetischen Bildern hat Ani ein Seelendrama geschrieben, das dem
Leser nicht aus dem Kopf gehen wird. (1 H)
Frei zur Uraufführung
Friedrich Ani, geboren 1959, lebt
in München. Er schreibt Romane,
Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele,
Theaterstücke und Drehbücher. Sein
Werk wurde mehrfach übersetzt
und vielfach prämiert, u.a. mit dem
Deutschen Krimipreis, dem AdolfGrimme-Preis und dem Bayerischen
Fernsehpreis. Seine Romane um
den Vermisstenfahnder Tabor Süden
machten ihn zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kriminalschriftsteller. Friedrich Ani ist
Mitglied der Bayerischen Akademie
der Schönen Künste und des Internationalen PEN-Clubs. Sein Roman
Der namenlose Tag (2015) markierte
Anis Wechsel zu Suhrkamp, mit den
Theaterstücken Der Gefangene und
Freiheit des Willens stellt der Theater
Verlag Friedrich Ani als neuen Dramatiker vor.
»Meine Schwester fragte
mich, wie mein Tag gewesen
sei, und ich habe ihr ein
paar harmlose Dinge erzählt.
Sie hat mich eigenartig angeschaut, immer wieder.
Diesen Blick hatte sie schon
als Kind. Das war ihr Lügendurchleuchtungsblick.«
(aus: Der Gefangene)
Freiheit des Willens
Ein Verhörraum. In einem kleinen Dorf in Oberbayern verschwindet eine junge
Frau spurlos. Schnell scheint mit dem verhaltensauffälligen Simon Kohlbeck
ihr Vergewaltiger und Mörder festzustehen. Doch die Verhöre durch den forensischen Psychiater Ehrenwirth und den undurchsichtigen Ermittlungsbeamten
Sittich lassen Zweifel zu. Sittich wird vom Geist des Opfers, Elena Moldau, heimgesucht und man ahnt, dass ihn weit mehr mit dem Beschuldigten verbindet,
als es zunächst den Anschein erweckt. Je tiefer der Leser dabei in die Abgründe
der Psyche und Vergangenheit der Figuren hineingeführt wird, umso deutlicher
treten deren Narben und Traumata hervor.
Freiheit des Willens basiert auf Protokollen eines wahren Falles und spielt auf
kluge Art und Weise mit vermeintlichen Gewissheiten und sicher geglaubten
Wahrheiten und überführt diese allesamt in einen Zustand der Schwebe und Ambivalenz, bis zu dem Punkt, an dem der Leser sich selbst fragen muss, was die
Freiheit des Willens bedeutet und was ihr Preis ist. (1 D, 5 H, Besetzung variabel)
Frei zur Uraufführung
5
Friedrich Ani
Die Erfindung der Welt
Schreiben für das Theater
Geboren im Sternzeichen der Lüge, bildete ich mir mit ungefähr sieben Jahren ein, den Unterschied zwischen maskierten
und unmaskierten Worten erkennen zu können, die ich so
nannte, weil sie mir vorkamen wie Menschen in verkehrten
Kleidern. Jedes Geschenk, das ich erhielt, so glaubte ich, wäre
eine Art Liebesersatz. In mir wuchs ein böses Misstrauen. Unterm Jahr nämlich empfand ich keine Nähe, keine Hingabe,
ich nahm Anweisungen entgegen und befolgte sie, ich wartete
auf ein wenig Heiterkeit und einfache Umarmungen.
Etwas stimmt nicht, dachte ich. Und wenn ich dann Geburtstag hatte oder Weihnachten war, überhäuften mich Eltern und
Verwandte mit Geschenken, und ich wusste nicht, wie ich
damit umgehen sollte. Also bedankte ich mich überschwänglich, stotterte und erfand Worte, die etwas ausdrückten, was
ich nicht so meinte. Ich strahlte und spürte: Mein Strahlen
war gemacht.
Wie ist das möglich: Dass ein Kind nicht einfach hüpft vor
Freude? Sondern abspringt und landet – jedenfalls in der eigenen Wahrnehmung. War ich denn kein Kind mehr? War ich
nicht mehr außerhalb der Zeit und geborgen im Ei des Augenblicks, noch weit entfernt von der Stunde der Schalensprengung, wenn das Polarlicht der wirklichen Menschheit ein für
alle Mal auf uns fällt?
Hauste das Kind etwa in einem egomanischen Sonnensystem,
eingebettet in Selbstherrlichkeit, oder schlimmer: eingekerkert in Finsternis, wo es seine Blicke schärfen musste wie
Messer, um sich gegen die Monster der Einsamkeit zur Wehr
zu setzen?
Kann ein Kind tatsächlich so empfinden?
Draußen die stotternden, im Überlebenstrieb sich selbst betrügenden, im Grunde ehrlichen Lügner, im Innern der zeternde, von Schatten umzingelte, sich Siege und Weisheiten
einbildende Knirps, der nichts als mit dabei, ein Ernstgenommener, ein zur Anwesenheit auf der Bühne der Großen unbedingt Berechtigter sein wollte?
Denkbar wärs.
Ich wollte niemanden kränken. Hätte ich versucht, meinen
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Zustand zu beschreiben – wer hätte das ernstgenommen, wer
ein Gespräch begonnen? Aber ich wollte sprechen, wollte teilhaben am übersichtlichen Universum um mich herum, an einer gloriosen Welt in weiter Ferne, die existierte, da war ich
mir sicher.
So begann ich, Dialoge, Monologe, von Schweigen ummantelte Texte zu schreiben (das Schweigen, so schien mir, wärmte
die sprachlosen, seltsam verzurrten Figuren, die ich erfand,
indem ich Augen und Ohren offenhielt und die Leute in meiner Umgebung beobachtete). Da war ich ungefähr zwölf Jahre
alt, und alles war Theater. Keine Kunst, denn überall, wo ich
hinschaute, fand ein Schauspiel statt, das ich bis in den letzten Winkel des Schnürbodens und der Garderobe ausleuchtete. Schnürboden? Garderobe? Keine Ahnung, dass es so was
gab, auch wenn ich als Neunjähriger zum ersten Mal in einem echten Theater in der Großstadt war, sechzig Kilometer
von meinem Heimatdorf entfernt, in einer Oper noch dazu, in
Porgy and Bess. Und hier? Dasselbe: Täuschung, Verzweiflung,
Dunkelheit, Sehnsucht nach Liebe, ein unglückliches Leben.
Da wusste ich: Eines Tages werde ich – und zwar für die Bühne! – vom Leben erzählen, so, wie es ist und wie die Menschen
die Hände nacheinander ausstrecken und – wie in dieser Oper
– würfeln ums Glück und fürs Freisein töten.
Monologe, Dialoge, Szenen – Personen, Charaktere, Situationen, Stille, Halbschatten, eine Handvoll Utensilien, Kulissen, die verschwinden, wieder erscheinen, sich verwandeln.
Später, in der schlauen Jugendzeit: Harold Pinter, Samuel
Beckett, Edward Albee, das Theater des Absurden, Wahrheiten auf bedrucktem Papier, meiner Ersatzhaut, dem weißen
Mantel, der meine Nacktheit bedeckte, für die ich einfach
keine anders wärmende Bekleidung fand. Ich las und las,
schrieb und schrieb, schwieg und schwieg, versank in vollendet unauffällig inszenierter Anwesenheit, hinter deren gläsernen Wänden mein echtes Dasein stattfand – oder das, was
ich dafür hielt.
Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass die Fremden in meiner
Nähe mir bloß als Fremde erschienen, weil ich sie als eine Art
gesichtslose, atemgleiche, handlungskonforme Masse sah, als
eine Brigade unberechenbarer, verschlagener Gegner, die mir
angeblich meinen Schatten streitig machten. Jetzt erkannte
ich sie erst, erst jetzt begriff ich sie als Hosen, Röcke, Hüte,
Jacken, Tarnkappen, Unterwäsche tragende Gefangene ihrer
selbst gezimmerten Einzelzellen. Und ich war einer von ihnen, und keiner von uns glich dem anderen.
So ließ ich sie agieren auf meinen Bühnen, ließ sie nach Worten ringen, ließ sie – redete ich mir ein – ganz bei sich sein
und ultimative Erkenntnisse erlangen. Was ich damit erreichen wollte, wusste ich noch nicht, allenfalls, was ich nicht
wollte: tricksen, jemandem nach dem Mund reden. So angestrengt und wild entschlossen, Großes zu sagen, kam mir
nach und nach das Spielen abhanden. Denn ich kettete meine Figuren an Eisenkugeln, prall gefüllt mit der donnernden
Ernsthaftigkeit meines Bedürfnisses, Köpfe zu erschüttern
und Gehirne zu pulverisieren und aus den Bekannten ringsum irgendwie bessere, verständnisvollere Menschen machen
zu wollen.
Bald hörte ich ein Kichern – und erkannte: Das sind die Figuren in der Garderobe und die Requisiteure im Schnürboden, sie amüsieren sich über mein rumpelstilzchenhaftes Gebaren, mein feuerspeiendes Gemurmel im Hintergrund des
dunklen Saals, mein geducktes Trippeln auf dem Heimweg in
die Klause meiner Überzeugungen.
Also hörte ich auf, fürs Theater zu schreiben. Auch kamen
meine Figuren nicht mehr freiwillig raus, die Wörter verkrümelten sich, Geld musste her. In den Jahren, in denen ich als
Reporter und freiberuflicher Lohnschreiber arbeitete, versuchte ich, meine Blicke und mein Sammelsurium an Begegnungen, Erlebnissen, Fundstücken in prosaische, lyrische,
sonst wie freie Genres zu gießen – gelegentlich überzeugt,
oftmals verzagt. Schließlich fand ich – aufgrund eines mir
noch immer beinah grotesk anmutenden Zufalls einer Auftragsarbeit – zum Kriminalroman und seinen unfassbar weltläufigen Möglichkeitsformen.
Aber der lodernde Kern meines neuen, wunderbaren, Barri-
eren niederreißenden, Eisenkugeln einschmelzenden Furors
war nicht die Lust am Spannungszauber und Freisetzen verborgener krimineller Energien. Sondern mein vertrautes Entlarven jedweder Götter der Lüge.
Mir gelang – als wäre ein Gelingen seit jeher irgendwo in
einem Nebenzimmer angelegt gewesen – auf einmal das Erzählen eines Einzelnen in absoluter Freiheit. Und wie diese
Freiheit sich äußern mochte – als Zeichen von Arroganz oder
Gewalt, als das Bedürfnis, zu verschwinden oder zu verstummen –, blieb allein der Figur überlassen, und dem Leser wiederum blieb keine Wahl, als ihr zu folgen, zu vertrauen oder
sich abzuwenden. Ich ließ es geschehen. Manchmal brach die
Realität wie eine Lawine in die Gegenwart meines Personals,
und ich bediente mich aller möglichen Utensilien und beweisbaren Indizien als Bausteine meiner Geschichten. Wahrlich
erfunden hatte ich eh noch nie eine einzige Zeile, alles – hoffte ich – fand seine Entsprechung in der gewöhnlichen Außenwelt, die wir berühren, umarmen und bekämpfen können.
Wie ich es als Kind gelernt und geübt hatte, schaute ich hin,
hörte zu und machte mir Gedanken und Notizen. Und tatsächlich: Sie tauchten von Neuem auf, meine Figuren, meine Leute aus den Winkeln ihrer unscheinbaren Zimmer, sie wagten
sich wieder ins Rampenlicht. Was für ein Glück. Sie ermutigten mich und harrten aus. Und eines Morgens schrieb ich
eine Regieanweisung an den Anfang eines Textes, die Darstellung eines Raumes, eines bestimmten Ortes, und ich wusste:
Dies ist nicht der Anfang eines Romans oder eines Drehbuchs
– hier beginnt ein Theaterstück. Endlich, scheinbar Lichtjahre vom Planeten meiner ersten Gehversuche entfernt, betrat
ich wieder ein ganz nach meinen ureigenen Vorstellungen gestaltetes Bühnenhaus, stürmisch wie einst, fast unbeschwert.
Und als auf der Bühne der erste Satz fiel, verschwand ich im
Schatten meiner Figur und kehrte erst wieder, als der Vorhang fiel und wir uns alle in der Garderobe versammelten
und mit unseren Stimmen spielend tanzten.
Und das ist die Wahrheit.
Theater lügt nicht.
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8
Foto: Sepp Dreissinger
Zum 85. Geburtstag von
Thomas Bernhard
Uraufführungen der Theaterstücke
Köpfe (1960)
Einfach kompliziert (1986)
Die Erfundene, Rosa, Frühling (1960)
Claus Peymann verläßt Bochum und geht
Der Berg (1970)
als Burgtheaterdirektor nach Wien (1986)
Ein Fest für Boris (1970)
Ritter, Dene, Voss (1986)
Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972)
Heldenplatz (1988)
Die Jagdgesellschaft (1974)
Elisabeth II. (1989)
Die Macht der Gewohnheit (1974)
Claus Peymann kauft sich eine Hose und
Der Präsident (1975)
geht mit mir essen. Drei Dramolette (1990)
Die Berühmten (1976)
Die Rosen der Einöde (1995)
Minetti (1976)
Immanuel Kant (1978)
Der deutsche Mittagstisch (aus: Der
deutsche Mittagstisch. Dramolette) (1979)
Uraufführungen der
Prosabearbeitungen für die Bühne
Vor dem Ruhestand (1979)
Der Weltverbesserer (1980)
Alte Meister (1997)
Am Ziel (1981)
Beton (1999)
A Doda, Maiandacht, Eis, Freispruch
Frost (1999)
(Vier Dramolette) (1981)
Das Kalkwerk (2001)
Alles oder nichts, Match (Zwei Dramolette)
Holzfällen (2003)
(1981)
Auslöschung – Ein Zerfall (2006)
Über allen Gipfeln ist Ruh (1982)
In der Höhe – Rettungsversuch. Unsinn (2010)
Der Schein trügt (1984)
Verstörung (2010)
Der Theatermacher (1985)
Der Untergeher (2013)
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Tankred Dorst
Das Blau in der Wand
Ein Dialog I Mitarbeit Ursula Ehler
Ein Paar, das sich in einer einzigen langen Szene durch das ganze Leben redet
bis in den Tod und darüber hinaus.
Er ist engagierter Pazifist und Schriftsteller, der sich nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem »Tagesjournalismus« gegen Ende des Lebens wieder dem
nie vollendeten Romanentwurf widmen möchte. Sie ist die Mutter des Kindes
Ganymed.
Gemeinsam kreisen sie um die Möglichkeit eines glücklichen Lebens als Paar.
Wo findet man einen Ort, an dem man das Leben spürt? Wie kann man ein Kind
großziehen, während man selbst mit dem Verlust der Eltern umgehen muss?
Wer ist man wirklich, wer ist der andere? Wie begegnet man dem Alter, wie
Krankheit und dem Nachlassen der Kräfte? Und was bleibt außer Einsamkeit,
wenn am Ende nur mehr einer von beiden übrig bleibt?
Sinnbild wird ein blassblauer Fleck in einer Fensternische des geerbten alten
Hauses, vielleicht ein Stück Himmel, ein Kleid, eine Blume? Soll das Alte neu
entdeckt werden oder mit weißer Farbe überstrichen, unter Putz gesichert werden, damit es niemand sehen kann, bis es in ferner Zeit zerstört wird und in
Staub zerfällt?
In Tankred Dorsts neuem Stück kann alles gemeinsam erlebte Erinnerung sein,
gerade erfahrene Gegenwart oder imaginierte Zukunft. (1 D, 1 H)
Foto: Isolde Ohlbaum
Koproduktion Düsseldorfer Schauspielhaus, Ruhrfestspiele Recklinghausen
Uraufführung: 8. Juni 2016, Recklinghausen
September 2016, Düsseldorfer Schauspielhaus
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Tankred Dorst, geboren 1925, hat in Zusammenarbeit mit seiner Frau Ursula Ehler über dreißig Theaterstücke geschrieben. Er gehört zu den meistgespielten
deutschen Gegenwartsautoren. Er erhielt unter
anderem den Georg-Büchner-Preis, den Mülheimer
Dramatikerpreis und 2014 den Brücke Berlin Initiativpreis gemeinsam mit Manfred Beilharz für ihre
Initiative »Neue Stücke aus Europa«.
Zu den wichtigsten
Stücken zählen
Merlin oder Das wüste Land
(1981)
Ich, Feuerbach (1986)
Korbes (1988)
Parzival (1990)
Fernando Krapp hat mir diesen
Brief geschrieben (1992)
Herr Paul (1994)
Die Schattenlinie (1995)
Wegen Reichtum geschlossen
(1998)
Ich bin nur vorübergehend hier
(2007)
Ich soll den eingebildeten
Kranken spielen (2009)
Bettina Erasmy
Brand
Eine deutsche Familiengeschichte
Fritz und Greta lernen einander in den 50er Jahren kennen und gründen eine
Familie. Die Geschäftsidee von Fritz, sein Geld zukünftig mit Immobilien verdienen zu wollen, wird sich als goldwert erweisen. Deutschland wird nach den
Zerstörungen des Krieges schnell wiederaufgebaut, Fritz wirkt tüchtig mit am
Wirtschaftswunder. Die Kinder Michael und Paulina wachsen in scheinbar gesicherten Verhältnissen auf. Doch sie tragen mit, was die Eltern belastet: das
Schweigen über traumatische Erfahrungen, die sie als Kriegskinder in Bombennächten oder auf der Flucht erlebt haben; die verdrängte Trauer um Verstorbene, Geschwister, den Vater, die beste Freundin, die zu seelischer Entwurzelung
führt. Während Greta als Kind und junge Frau erfahren hat, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, erfüllt sie sich spät doch noch den Traum von beruflicher
Selbstverwirklichung. Ihrer emotional wenig gefestigten Tochter Paulina wird
das ein Leben lang nicht gelingen. Michael macht zwar Karriere, doch zerbricht
seine Beziehung darüber. Eines Tages kündigt sich eine Frau an, die sich als
die polnische Halbschwester von Fritz vorstellt. Und im Testament von Gretas
Mutter Else steht schließlich ein Name, den allein Greta kennt.
Bettina Erasmy erzählt die komplexe Geschichte einer westdeutschen Familie
über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts hinweg. Wie Traumata und Gefühlskälte sich einschreiben in die DNA, in die Körper einer Familie, darüber
schreibt die Dramatikerin in erstaunlich leichtfüßigen und komischen Dialogen. Mit liebevoller Distanz entwirft Erasmy Bühnenfiguren, die einem nahgehen, und schreckt vor drastischen Bildern nicht zurück, die deshalb so stark
berühren, weil sie an kollektive Erfahrungen rühren. (5 D, 4 H, Doppelbesetzungen möglich)
Foto: Jeanne Degraa
Frei zur Uraufführung
Stücke
Mein Bruder Tom
4 D, 4 H
UA: 5.12.2008, Landestheater
Württemberg-Hohenzollern
Tübingen Reutlingen
Regie: Thomas Krupa
Supernova
3 D, 2 H
UA: 21.11.2010, Staatstheater
Darmstadt
Regie: Hermann Schein
Das wollt ihr nicht wirklich
3 D, 4 H
UA: 5.6.2010, Ruhrfestspiele
Recklinghausen in Kooperation
mit dem Staatstheater Wiesbaden
Regie: Tilman Gersch
Dass wir Geister sind
3 D, 4 H
UA: 30.3.2012, Staatstheater
Darmstadt
Regie: Hermann Schein
Chapters
Besetzung variabel
Koproduktion Staatstheater
Kassel, Ruhrfestspiele Recklinghausen
UA: 27.5.2016 Recklinghausen
4.6.2016 Staatstheater Kassel
Regie: Schirin Khodadadian
Bettina Erasmy, geboren in Köln, studierte Germanistik,
Philosophie und Anglistik in Köln und Vancouver/Kanada. Sie schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele und Dramatik und
lebt in Berlin. Für ihr Stück Chapters erhielt sie bei den
ARD Hörspieltagen 2014 den ARD Online Award. Erasmys Stücke wurden u.a. am Landestheater Tübingen, an
der Berliner Volksbühne, an der Berliner Schaubühne, am
Schauspielhaus Bochum, am Theater Basel und bei den
Ruhrfestspielen Recklinghausen aufgeführt.
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Foto: Mathias Bothor
NEU IM THEATER VERLAG
INGRID L AUSUND
Marjana Gaponenko
Zu den Sternen
A cosmic affaire I Ein Schauspiel in drei Akten
Eine kleine Mondkolonie im nächsten Jahrzehnt, besiedelt mit skurrilen Milliardären aus aller Welt, bildet die Szenerie von Marjana Gaponenkos erstem
Theaterstück. Die Gravitationsprobleme scheinen unter Kontrolle, die Triebe
sind es noch immer nicht. Auf ganz unterschiedliche Weise vereinnahmen die
Mitglieder der ehemaligen High Society den hermetischen Raum, den sie nun
seit einem Jahr bewohnen, um über Freiheit und Moral zu philosophieren, um
über verschiedene Gesellschaftsentwürfe zu streiten und sich diversen amourösen Verstrickungen hinzugeben. Aus Überdruss entstehen Anziehungen und
Abstoßungen zwischen den etwas abgehalfterten Koloniebewohnern. Es wird
geflirtet, bis die Luft wegbleibt. Die Aussicht ist phantastisch, die Moral am
Boden. Irgendetwas ist faul in diesem künstlichen Refugium. Eine Silvesterfeier
läuft komplett aus dem Ruder. Als einer ausschert und moralisch abzurechnen
beginnt, zeigt sich, mit welchen Mächten es die Exilanten noch immer zu tun
haben.
Marjana Gaponenkos Stärke im Erzählen für die Bühne liegt in der Leichtigkeit
ihrer Dialoge, in der Skurrilität der Figuren, die wie in einem Schatten- oder
Traumspiel die Dekadenz westlicher Gesellschaften kommentieren. (4 D, 4 H,
weitere Besetzung variabel)
Marjana Gaponenko wurde 1981
in Odessa (Ukraine) geboren und
studierte dort Germanistik.
Nach Stationen in Krakau und Dublin
lebt sie nun in Mainz und Wien. Sie
schreibt seit ihrem sechzehnten
Lebensjahr auf Deutsch. Für den
Roman Wer ist Martha? wurde sie mit
dem Adelbert-von-Chamisso-Preis
ausgezeichnet. Zu den Sternen ist ihr
erstes Theaterstück. In ihrer freien
Zeit kümmert sich Marjana Gaponenko um ihre Haflinger.
Frei zur Uraufführung
»Fern von der Erde sehe ich, dass ich von Anfang an für das
Weltall bestimmt war. Von diesen Höhen hätte ich mein Leben
lang besessen sein sollen.« (aus: Zu den Sternen)
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INGRID L AUSUND
Rainald Goetz
Georg-Büchner-Preis 2015
15
Noah Haidle
Das beste aller möglichen Leben
Originaltitel: Local Time 5-7 AM I Deutsch von Barbara Christ
Wie erfüllend das beste aller möglichen Leben sein
kann, hängt immer von dessen Möglichkeiten ab. Diese
ändern sich schlagartig für das kinderlose Paar Naomi
und East, als Findelkind Christopher eines Morgens vor
der Tür ihres Apartments liegt, wenige Minuten alt und
schon in der Lage zu sprechen, Gottesbeweise zu führen, Gedichte zu schreiben und seine neuen Eltern mit
den großen Fragen nach der Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz zu konfrontieren. In den folgenden zwei
Morgenstunden werden East und Naomi Zeugen eines
Lebens im Schnelldurchlauf von Kindheit und Pubertät
über die Midlife-Crisis bis ins hohe Greisenalter. Zwischen seinen Wachstumsschüben trinkt Christopher
reichlich Kaffee und noch mehr Alkohol, konsumiert
Heroin, vergewaltigt seine Eltern, erkrankt an der Welt,
wird zum Propheten und stirbt schlussendlich an der
Türschwelle, noch ehe der neue Tag angebrochen ist.
Zurück lässt er die tablettensüchtige Naomi und den
alkoholabhängigen East, deren scheinbar wohlgeordnete Verhältnisse Christophers jähes Erscheinen und
Ableben existentiell erschüttern – und ihnen vielleicht
erlauben, sich einander und dem Leben noch einmal
bewusster zu stellen. Vielleicht wird es ihnen noch gelingen, das beste aller möglichen Leben?
Noah Haidles fiebrig pulsierendes Stück steckt voller
Furor und unbedingter Bereitschaft zur Begegnung mit
den schmerzhaften Seiten des Lebens. Haidles Figuren
exerzieren Verstörungen, die beunruhigender und zugleich produktiver nicht sein könnten, fordern sie doch
radikal zu Misstrauen gegenüber dem schönen Schein
auf und dazu, sich dem Abseitigen, dahinter Verborgenen zuzuwenden. (1 D, 2 H)
Uraufführung: 2. Oktober 2015, Schauspiel Essen
Regie: Thomas Krupa
»Der amerikanische Autor Noah Haidle hat aus ›Das beste aller möglichen Leben‹
eine Evolutions-Geschichte im Schnelldurchlauf gemacht: eine komische,
surreale, pechschwarze Komödie, die die großen Themen wie Liebe, Tod und Lebenssinn mit tragikomischem Ton und einer gewissen Beckett-Nähe verhandelt.«
Foto: Susanne Schleyer
Martina Schürmann, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 2.10.2015
Noah Haidle, 1978 in Michigan geboren, ist Drehbuchautor
und Dramatiker. Seine Stücke wurden USA-weit inszeniert,
im deutschsprachigen Raum bekannt wurde Haidle 2009
durch die DEA von Mr. Marmalade. Haidles erstes Drehbuch
wurde mit Al Pacino und Christopher Walken verfilmt (Stand
Up Guys, Regie Fisher Stevens, USA 2012). Haidle hat einen
Abschluss der Princeton University und der Juilliard School
im Fach Szenisches Schreiben und lebt mit seiner Frau und
ihren neun Fischen in Detroit.
Das Theaterstück Alles muss glänzen wurde von Theater heute
zum besten Ausländischen Stück des Jahres 2015 gewählt.
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Götterspeise
Originaltitel: Pineapple in Syrup I Deutsch von Barbara Christ
Es ist Constants erster Arbeitstag in der Schulkantine
der amerikanischen Kleinstadt Grand Rapids. Hier ist
sie einmal selbst zur Schule gegangen, hier findet sie
nun ihre berufliche Erfüllung: Denn sie hat 800 hungrige Mäuler zu versorgen, und als exzellente SelfmadeKöchin, die sie ist, hat sie Großes vor bezüglich der Verfeinerung des Speiseplans. Ihre Liebe gilt den Schülern,
namentlich Sylvia Bell, deren Sorgen sie erhört und der
sie Trost spendet, wenn die unglücklich Verliebte einmal mehr in Lebensschmerz versinkt.
Selbst die Lehrer merken, dass ein neuer Wind weht
in der Kantine. Wer dem ungenießbaren Schulessen
bisher mit mitgebrachtem Lunch entging, genießt jetzt
Constants Roastbeef in Rotweinsoße und Crème brûlée.
So auch Tom Collins, Mathematiklehrer und ehemaliger Mitschüler von Constant, den sie einst anhimmelte.
Als der verheiratete Mann Constant allerdings schwängert, ihre Stelle aus Kostengründen gestrichen wird
Stücke
Mr. Marmalade
Deutsch von Brigitte Landes
2 D, 4 H
DSE: 4.4.2009
Badisches Staatstheater Karlsruhe
Regie: Thomas Krupa
Saturn kehrt zurück
Originaltitel: Saturn Returns
Deutsch von Brigitte Landes
1 D, 3 H
und man ihr schließlich ihr Kind wegnimmt, läuft Constant Amok.
»Mitgefühl ist der einzige Weg, wie die Welt noch zu
retten ist«, dieses Credo begleitet Constant auf ihren
weiteren Stationen, als Kellnerin im Flughafenimbiss
über die Psychiatrie bis zum Gefängnis, wo sie für Sterbehilfe die Todesstrafe erhält. Constants ungebrochene
Liebe, ihr Idealismus und ihr bedingungsloser Gerechtigkeitssinn stoßen an die Grenzen eines Systems, in
dem Nächstenliebe keine Bedeutung hat und niemand
Verantwortung übernimmt für sein Tun.
Noah Haidle schickt in Götterspeise eine wunderbar
eigenwillige Frauenfigur auf einen Passionsweg, der
eine ungewöhnlich deutliche Kritik am amerikanischen
Traum beschreibt. (3 D, 3 H)
Uraufführung: 20. Januar 2016, Nationaltheater Mannheim
Regie: Zino Wey
DSE: 19.10.2010
Staatstheater Nürnberg
Regie: Jean-Claude Berutti
DSE: 3.10.2014
Staatstheater Kassel
Regie: Thomas Bockelmann
Skin Deep Song
Deutsch von Thomas Krupa
3 D, 2 H
UA: 1.2.2013, Schauspiel Essen
Regie: Thomas Krupa
Lucky Happiness Golden Express
Deutsch von Brigitte Landes
3 D, 2 H
UA: 20.9.2013
Staatstheater Kassel
Regie: Thomas Bockelmann
Willkommen zu Hause
Originaltitel: Smokefall
Deutsch von Brigitte Landes und
Nina Peters
2 D, 3 H
Alles muss glänzen
Originaltitel: The Homemaker
Deutsch von Brigitte Landes
3 D, 5 H
UA: 16.5.2015
Schauspiel Hannover
Regie: Anna Bergmann
Ada und ihre Töchter
Originaltitel: What is the Cause
of Thunder?
Deutsch von Brigitte Landes
2D
Frei zur DSE
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Tschechow, Beckett, Haidle
Ein Porträt des Dramatikers Noah Haidle (aus Grand Rapids) I von Christine Wahl
Kurz vor unserem Treffen schickt Noah Haidle noch eine erkennungsdienstliche SMS: »Ich sitze draußen und versuche,
möglichst unamerikanisch auszusehen.« Der sachdienliche
Hinweis macht es tatsächlich unmöglich, am Treffpunkt etwa
auf den falschen Hipster-Bart-Träger zuzusteuern: So viele
begnadete Selbstironiker tummeln sich nicht im »Wohnzimmer« am Prenzlauer Berg. Haidle – Mitte dreißig, Lederjacke,
lokaluntypisch interessierter Blick – war schon etwas früher
da und hat sich vom Ambiente umgehend zu einer Filmszene
inspirieren lassen. Dass demnächst tatsächlich Kevin Spacey
oder George Clooney in den Universal Studios an einem Fake»Wohnzimmer«-Tresen stehen, liegt durchaus im Bereich des
Möglichen. Hat schließlich schon einmal funktioniert: Noah
Haidles Gangsterkomödie Stand Up Guys wurde vor drei Jahren in Hollywood mit Al Pacino verfilmt.
Bis dahin kann man den dialektischen Witz des hauptberuflichen Dramatikers am Schauspiel Hannover genießen. Dort hat
Anna Bergmann gerade Haidles jüngste Familienaufstellung
The Homemaker – Alles muss glänzen urinszeniert, in der sich
neben Haushaltsmessermorden und Doppellauf-Gewehr-Suiziden vor allem sintflutbedingte Todesfälle ereignen – sowohl
im gegenständlichen als auch im metaphorischen Sinn. Denn
die alttestamentarische Hausfrauen-Wiedergängerin Rebecca – die titelgebende Homemakerin – kocht, brät, putzt und
wienert praktisch abendfüllend gegen den Weltuntergang an.
»Weil wir nicht wissen, was wir sonst machen sollen«, wie sie
stellvertretend fürs Gros der Erdbevölkerung messerscharf
analysiert. Logisch, dass eine derart gläubige Pragmatikerin
der Sintflut, die sich draußen vorm Eigenheim bereits knietief
aufgestaut hat, durchaus auch ihre positiven Seiten abzugewinnen weiß: Eingedenk des nahenden (letzten) Abendmahls
öffnet Rebecca kurzerhand die Haustür, greift sich eine im
apokalyptischen Strom mitschwimmende Flunder und haut
sie in die Dinner-Pfanne.
Die von Bühnenbildner Florian Etti mit Retro-Charme ausgestattete Küchenzeile befindet sich laut Regieanweisung übrigens in Grand Rapids – und damit in allerbester Gesellschaft:
Die »Butterworth-Klinik« aus Noah Haidles Lucky Happiness
Golden Express, in der eine junge Frau namens Thump ihren
Vater – den Schlaganfallpatienten Andrew – heimsucht und
leider an so gar nichts anderes denken kann als an dessen
attraktive »Risikolebensversicherung«, steht ebenso in Grand
Rapids wie die Immobilie der hochschwangeren Violet aus
Haidles Willkommen zu Hause. Deren Zwillingsföten haben
offenkundig schon im Mutterleib zu viel Camus gelesen
18
und beantworten die Grundfrage der Philosophie – ob sich
das Leben lohne oder nicht – clevererweise bereits pränatal.
Kurzum: Wann immer so ein Haidle’scher Familienkosmos,
der auf den ersten Blick eigentlich ganz well made aussieht,
hochnotkomisch ins Surreale abzudriften beginnt, Zeitgenossen sich dramatisch vervielfachen und sich selbst in verschiedenen Lebensaltern begegnen oder – wie in Haidles (internationalem) Durchbruch Mr. Marmalade – frühreife Kleinkinder
sich Fantasie-Spielpartner ersinnen, die nicht nur ihre Angestellten verprügeln, sondern von denen sie auch selbst statt
verhätschelt munter betrogen werden, ist die Chance relativ
groß, dass sich das Ganze in Grand Rapids ereignet.
Grand Rapids ist Noah Haidles Geburtsstadt. Und in der Tat
müssen die frühkindlichen Lokalprägungen so nachhaltig gewesen sein, dass das »G-Rap«-Tattoo, das der Dramatiker am
Fußgelenk trägt, nicht etwa für irgendwelche Gangsta-RapAmbitionen steht, sondern wirklich und wahrhaftig für die
Heimat: Grand Rapids forever sozusagen. Andererseits: Irgendwann hatte sich Noah Haidle auch schon mal ein »K« für
die Ewigkeit eintätowieren lassen; das Initial seiner damaligen
Freundin. Als die Beziehung vorbei war, wurde kurzerhand ein
»O« davor graviert: »OK«, in zweiter grafischer Instanz auch
lesbar als »null K«. Genauso funktionieren im Prinzip Haidles
Texte: Kein Pathosverdacht, der nicht jederzeit ironisch aushebelbar wäre; keine Comedy, die nicht zielsicher am tragödischen Urgrund entlangschürfte (und umgekehrt).
Der Dramatiker selbst outet sich als regelrechter Fan von
Bergmanns Urinszenierung und zeigt sich von der »Grazie
und Demut« der deutschen Schauspieler äußerst angetan. Das
hiesige Repertoire- und Ensembletheater-System mache das
Spiel inszenierungsdienlicher und deutlich weniger Egotripanfällig als in den USA, sagt Haidle. Ursächlich beginnen für
Noah Haidle die Vorzüge des deutschen Stadttheaters bereits
in der Kantine: Diese beiläufige Möglichkeit zum gemeinsamen Essen, Trinken und Reden stifte einen Gemeinschaftssinn, der in seiner Zwanglosigkeit tatsächlich einmalig sei.
Dass viele von Haidles Stücken in den letzten Jahren in
Deutschland und nicht in den USA uraufgeführt wurden –
in Kassel, Essen oder eben Hannover –, hat allerdings nicht
ausschließlich mit der Kantinen-Vorliebe des Dramatikers zu
tun. »Wenn du in den USA ein paar schlechte Kritiken bekommst, ist es für die Theater noch um einiges riskanter und
weniger anspornend als in Deutschland, ein neues Stück zu
produzieren«, lacht Haidle. Im Übrigen stünden einige seiner Stücke zu Hause durchaus auf dem Spielplan, allerdings
die vergleichsweise erbaulicheren, erschütterungsferneren.
Dass Haidle einst hauptberuflich für die Bühne schreiben würde, war ihm übrigens schon mit siebzehn klar. Zwar hatte er
bis zu diesem Zeitpunkt weder ein Theater von innen gesehen
noch je »irgendetwas Kreatives« gemacht, geschweige denn
eine einzige Zeile geschrieben. Aber: Er hatte seinen Bruder
in einer Highschool-Aufführung erlebt – und daraus folgende
Theorie abgeleitet: »Wenn ich tonnenweise Informationen in
mich hineinfresse, bin ich eines Tages vielleicht in der Lage,
den ganzen Kram einzuordnen und zu synthetisieren.«
Gesagt, getan: Haidle – Sohn einer Schulaufsichtsrätin, Enkel
eines US-Kongressabgeordneten unter Franklin D. Roosevelt
und rein familienkarrieretechnisch für ein Juradiplom mit
Polit-Karriere in Michigan vorgesehen – las sich tatsächlich
durch die komplette abendländische Literatur- und Theatergeschichte; beginnend mit den Pulitzer-Preisträgern der Kategorie Drama in chronologischer Reihenfolge seit 1918. »Ich
startete mit einem Stück namens Why Mary?«, lacht Haidle.
»In den 1920ern, mit Eugene O’Neill, wurde es dann langsam
besser.« Als der Dramatiker schließlich eine solide Lektürebasis intus hatte – »von Autoren, die mich interessierten, las
ich zusätzlich Biografien und Interviews, um zu erfahren, von
wem wiederum sie inspiriert worden waren« –, wagte er sich
an die zweite Stufe seiner »Self-Education«. Er ging dazu über,
die gesammelte Weltdramatik zusätzlich auf seiner Schreibmaschine abzutippen: Tschechow, Beckett, Arthur Miller.
»Ich habe die Stücke natürlich nicht einfach nur kopiert, sondern den Denkprozess dieser Koryphäen Zeile für Zeile buchstäblich nach-gedacht, um ihre Baupläne zu erfassen, und
dabei immer überlegt, welchen Satz ich selbst als nächsten geschrieben hätte«, sagt Haidle. Kleine Enttäuschungen blieben
logischerweise nicht aus: Auch die eine oder andere Autorität
ist an einer entscheidenden Dialogkreuzung mal in die falsche Richtung abgebogen und hat bei ihrem Schüler an Aura
eingebüßt. Aber Könner wie Beckett, so Haidle nach wie vor
sichtlich fasziniert, exerzierten ihre Dramen tatsächlich mit
der Konsequenz einer mathematischen Beweisführung durch,
die Euklid alle Ehre gemacht hätte – wobei das zu beweisende
Axiom mit dem ersten Satz glasklar etabliert werde. »Zum Beispiel Warten auf Godot«, freut sich der Dramatiker: ›Nothing to
say!‹ Oder Die Möwe: ›Why are you always wearing black?‹ Die
Lässigkeit, mit der Noah Haidle im Folgenden scheinbar aus
dem Stegreif einen Dramen-Starter nach dem nächsten zitiert,
fordert natürlich geradezu zwanghaft zu Testfragen heraus:
Tod eines Handlungsreisenden? – Haidle, wie aus der Pistole
geschossen: »It’s all right, I came back.« – Hamlet? »Oh, das ist
leicht: ›Who is there?‹« Okay; Drei Schwestern! Haidle grinst:
»It’s been a year since father died.«
Zurück zu den letzten Dingen in den ersten Sätzen. Dass der
Dramatiker seinen Beckett ziemlich gut intus hat (»He’s the
man!«), kann man stellvertretend an den endzeitlichen Wladimir- und Estragon-Wiedergängerinnen Wooden und Mimi aus
Skin Deep Song sehen, die nicht nur abendfüllend die Leichen
ihrer Eltern, sondern auch die immergleichen Witze mit sich
herumschleppen. Außerordentlich aufmerksam bei der Sache
scheint Haidle allerdings auch gewesen zu sein, als auf seiner
Schreibmaschine die Tschechows dran waren. Die Homemakerin Rebecca zum Beispiel verficht gegen all die Apokalyptiker, von denen sie der Reihe nach heimgesucht wird, bis
zuletzt standhaft ihre Privatreligion: Allabendlich deckt sie
den Tisch für ihren verschollenen Gatten, der ein Jahr zuvor aufgebrochen war, »das Glück zu suchen«, und für ihren
schizophrenen Sohn Michael, welcher kurz darauf ebenfalls
auf Nimmerwiedersehen losstiefelte, um »Dad« seinerseits
wieder heimzuholen. »Ein Teil von mir weiß, dass sie heute
Abend nicht nach Hause kommen«, bekennt Rebecca ihrer
verbliebenen Teenie-Tochter Rachel wodkaklarsten Verstandes. »Aber ein anderer Teil von mir – der Teil, der wichtiger
ist – trifft Vorbereitungen.« Nicht, dass die Tschechow’scher
Wanjas oder Kirschgärtnerinnen diesen Sachverhalt je so
deutlich aussprechen würden. Aber die Gefühlslage dürfte
ihnen nicht fremd sein. Passend übrigens, dass Noah Haidle,
der vor seinem Dramatikerstudium an der Princeton University und der New Yorker Juilliard School auch ein paar Semester Philosophie studiert hat, eindeutig zu den Irrationalisten
tendiert. Sein Denker der Stunde? »Schopenhauer!«
Fun ist im Gespräch mit Noah Haidle eine ziemlich wichtige
Vokabel. Berlin war zum Beispiel »fun«: Der Dramatiker ist
erstmals in seinem Leben Vespa gefahren, einmal in der »Topografie des Terrors« und einmal im Gorki-Studio gewesen
(»very interesting«), hat auf der Kastanienallee eine Lederjacke gekauft, gegen den Theateragenten Tom Stromberg im
Tischtennis verloren und ansonsten auf dem Balkon seiner
Berliner Bleibe »ein bisschen gearbeitet«.
Deutlich weniger »fun«-assoziiert scheint es für Haidle dagegen zu sein, ernsthaft auf potenzielle Interpretationen seiner Stücke angesprochen zu werden. In einem lustigen Programmheftinterview zum Homemaker antwortet er auf die
Dramaturginnenfrage nach den alttestamentarischen StückBezügen sinngemäß, dass jemandem, der mit Vornamen
Noah heiße und schon mindestens eine Milliarde »Arche«Witze über sich ergehen lassen musste, möglicherweise gar
nichts anderes übrigbleibe, als irgendwann so ein Stück zu
schreiben.
Aber im Ernst: Nachdem Gabriel García Márquez, so Haidle,
einmal in einer Besprechung zu Hundert Jahre Einsamkeit gelesen hatte, dass Frauen »die treibende Kraft für die Ordnung«
und Männer »für die Unordnung« seien, habe er Männer und
Frauen nie mehr auf die gleiche Art beschreiben können.
Logisch, dass wir einen ähnlichen Fall unter gar keinen Umständen riskieren wollen; schon aus Eigeninteresse!
Der Text ist eine gekürzte Fassung des Porträts von Noah Haidle,
das im Juli 2015 in ›Theater heute‹ erschien.
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Foto: Isolde Ohlbaum
INGRID L AUSUND
Peter Handke
Die Unschuldigen,
ich und die Unbekannte
am Rand der Landstraße
Die Zeit, in der das neue Theaterstück von Peter Handke spielt, ist eindeutig
bezeichnet: die »vier Jahreszeiten«.
Der Ort der Handlung: eine Landstraße, eine »Allerweltslandstraße«?
Die Protagonisten: »Ich«, der am Rande dieser Landstraße über eine Sitzgelegenheit verfügt. Und der sich von einem dramatischen Akteur zu einem epischen Erzähler wandeln kann. Für »Ich« ist die Landstraße »der letzte freie Weg
in der Welt, der letzte nichtverstaatlichte, nichtvergesellschaftete, nichtgeographierte, nichtgeologisierte, nichtbotanisierte, nichtgegoogelte, nichtöffentliche
und nichtprivate Weg auf Erden«.
Diese freie Welt gilt es zu verteidigen gegen die »Landstraßenokkupanten«. Sie
gehen einzeln, zu mehreren, in Massen über die Landstraße und sind natürlich
ganz unschuldig und heißen demnach »Die Unschuldigen«.
Und die »Unbekannte«, die schöne, ist die Unbekannte von der Landstraße, »die
erhoffte, seit jeher ersehnte«. (Besetzung variabel)
Uraufführungen der
Theaterstücke
Publikumsbeschimpfung (1966)
Selbstbezichtigung (1966)
Weissagung (1966)
Hilferufe (1967)
Kaspar (1968)
Das Mündel will Vormund sein
(1969)
Quodlibet (1970)
Der Ritt über den Bodensee (1971)
Die Unvernünftigen sterben aus
(1974)
Über die Dörfer (1982)
Das Spiel vom Fragen oder Die
Reise zum sonoren Land (1990)
Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992)
Zurüstungen für die Unsterblichkeit (1997)
Die Fahrt im Einbaum oder Das
Stück zum Film vom Krieg (1999)
Warum eine Küche (DSE 2002)
Untertagblues (2004)
Spuren der Verirrten (2007)
Bis daß der Tag euch scheidet
oder Eine Frage des Lichts (DSE
2009)
Immer noch Sturm (2011)
Die schönen Tage von Aranjuez
(2012)
Uraufführung: 27. Februar 2016, Burgtheater Wien
Regie: Claus Peymann
Deutsche Erstaufführung: 10. März 2016, Bayerisches Staatsschauspiel München
Regie: Philipp Preuss
»›Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße‹ ist ein großartiges Stück, vielleicht sogar Handkes
dramatisches Opus magnum.« Lothar Struck, ›Glanz & Elend‹ Magazin, 29.3.2015
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»Schattenhaft klar«
Peter Handke über ›Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße‹
im Gespräch mit Nina Peters
Nina Peters: In ›Die Unschuldigen‹ gibt es ein »Ich« im Wechsel
zwischen »Ich, Erzähler« und »Ich, der Dramatische«. War das
die Grundidee?
Peter Handke: Die Grundidee war das nicht. Das kam dann
später hinzu als Dilemma. Die Grundidee war die Konfrontation. Die Konfrontation eines Individuums mit Menschen,
die gar nicht wissen, daß sie eine Konfrontation bilden. Die
Unschuldigen. Das war die Grundidee, die dramatische Idee.
Was kommt da heraus? Daß das gar keine Widersacher sind,
keine Feinde, sondern einfach Leute, die eine Konfrontation
bilden, ohne Feind, ohne Schuld, ohne böse Absicht, ohne bösen Willen.
raus kam mir die Idee, daß das anfängt mit dem Scheißdreck
aus dem Supermarkt und daß dann einer etwas aufhebt, was
zu etwas ganz anderem wird. Also aus dem, was ich nicht erlebt habe, kam erst das Stück heraus. Daß da auf den Zetteln
etwas steht, was ihm die Leute in einem anderen Licht erscheinen läßt. Und da habe ich gedacht: Jetzt bin ich auf dem
Weg für das Stück. Da bin ich nicht mehr in dieser Eindeutigkeit: Da bin ich, das Individuum, da sind die Ahnungslosen,
das ist ja noch schlimmer als »die Unschuldigen«. Da habe
ich plötzlich gedacht, da ist ein Stoff … aus dem die Träume
sind. Und dann habe ich die erotische Energie gespürt, das zu
dramatisieren.
»Bewußtlos« heißt es einmal im Stück.
Ja, das wäre fast schon beurteilend. Die sind sich sicher in
ihrem Kreis bewußt. In Spuren der Verirrten heißt es, für die
meisten Leute gibt es den anderen nicht mehr. Oder es wird
eine humanitäre Aktion übers Fernsehen. Aber nicht auf der
Straße direkt, auf der Landstraße gibt es den anderen nicht
mehr. Nur noch im Fernsehen. Und da wird er wirtschaftlich
ausgebeutet. Das war vielleicht die Grundidee. Aber da bin
ich dann auch bald ins Schleudern geraten.
Es gibt in dem Stück mehrere Figurenpaare ...
Ja, es gibt diese seltsame Beziehung zwischen dem Häuptling und dem Capo, und in manchen Momenten weiß man
nicht, wer wer ist. Und dann ist da einer unter der Bevölkerung an der Landstraße, der ist der Doppelgänger des »Ich«.
Der ist eigentlich »Ich«. Der könnte der Schlimmste von den
allen sein, der Doppelgänger, der Dümmste. Das habe ich erst
im nachhinein ein bißchen akzentuiert, im dritten oder vierten Durchgang. Aber das war mir beim Machen nicht klar,
weil mir vieles nicht klar war. Weil ich selber was erfahren
muß im Schreiben. Ich möchte keinen fertigen Plan haben,
das ist für mich unmoralisch, und unästhetisch, beides. Auch
die Frau des Capo, plötzlich ist sie viel interessanter, als wir
je gedacht haben. Aber ich muß oft mit Klischees anfangen.
Dadurch, daß ich die Klischees einfach körperlich nicht ertrage, möchte ich etwas anderes aus den Menschen machen
– natürlich besteht die Gefahr, daß man die Menschen idealisiert, den Capo oder den Häuptling – aber ich möchte, daß die
schillernde Existenzen werden oder dramatische Existenzen.
Daß die genausogut ausbrechen könnten aus sich und daß sie
bessere Individuen werden als das »Ich« von der Landstraße.
Warum?
Ich wußte überhaupt nicht mehr weiter. Ich hatte keinen
richtigen Plan. Ich habe mich so träumen oder treiben lassen, aber schon bewußt, schon sehr aufmerksam. Wie Goethe
sagt, er schreibt als »Nachtwandrer«. Im Grunde bin ich ein
Tagwandrer. Ich wußte nicht weiter, so schlimm wie noch nie.
Nach zwei, drei Wochen habe ich gesagt, ich gebe es auf.
Und dann?
Und dann kam dieser Moment, der für mich der entscheidende Moment war, hier in meiner Allee. Das ist eigentlich meine
Allee, weil, ich kümmere mich drum. Ich räume und reche
und schneide, und die Leute schmeißen immer ihre Zettel
weg. Und ich klaube die immer auf. Und das ist der billigste
Scheißdreck, den sie im Supermarkt kaufen. Und aus dem he-
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Der Umschlag des Buches zeigt Musterungen auf einer Straße.
Das Foto haben Sie gemacht. Wo ist das?
Das ist die Straße, die geht vorbei hinter meiner Allee. Ich
habe so eine Wegwerfkamera. Und dann macht man in der
Nacht mit dem Blitz Bilder vom Asphalt, vom Teer, und das
hinterläßt so, nicht Kalligraphien, aber Graphien, so geheimnisvolle.
Und gibt es diese Landstraße in Kärnten? Sie spielen sprachlich
auf Kärnten an.
Sicher gibt es die. Aber das Stück spielt ja nicht in Kärnten.
Im dritten, vierten Durchgang habe ich so Lokalfärbereien
hineingetan, ohne Dialekt. Das dramatische »Ich« und der
Häuptling treffen sich plötzlich über gemeinsame Ausdrücke
aus der Kinderzeit. Wenn gesagt wird, »nicht der da«, sondern »der dada«, das klingt wie ein Säugling, »der dada«, das
ist wirklich Kärntnerisch. Vielleicht auch nicht. Sich treffen
darüber, daß man nicht sagt »Sumpf«, sondern »Tumpf«. Aber
nicht über Dialekt, sondern über die Leidenschaft der Ausdrücke. Das war ein sehr wichtiger Moment in dem Stück in
der zweiten, dritten, vierten Bedenkzeit, daß das dazukam.
Das hat mir gutgetan. Und deswegen habe ich auch lang gebraucht. Ich habe es ja vor dreieinhalb Jahren angefangen
und erst im Februar dieses Jahres zu Ende phantasiert, ausphantasiert.
Durch die Gespräche zwischen dem dramatischen »Ich« und
dem Häuptling über die gemeinsame Kindheit kommt eine schöne Erzählebene in das Stück ...
… das ist mir fast die liebste Stelle. Das war am Anfang überhaupt gar nicht da. Wo plötzlich einer nicht weiß, warst du
das, der da beim Radfahren mit dem Schädel gegen einen
Randstein geknallt ist? Oder war ich das? Das Thema ist erst
einmal jenseits von Tschechow und Shakespeare angesiedelt, aber vorher und nachher ist viel, was dieses dramatische Fleisch und dieses dramatische Geheimnis hat. Aber ab
und zu habe ich das gestreift im Leben. Und dann bei dem
»Landstraßenstück«, so nenne ich es, ist es mir manchmal
vorgekommen, daß ein Streifen der großen Dinge von Menschen stattgefunden hat. Aber es interessiert heute niemanden mehr, was ein Stück ist. Wie man ein Stück schreibt,
das ist ein großes Geheimnis. Das ist eine gewaltige, spannende Geschichte, ein richtiges, reines Theaterstück. Bei
Immer noch Sturm hat man immer gesagt, das ist ja gar kein
Stück. Aber das ist ein reines Stück. Ich habe es nur so, aus
einer Scheu in einer epischen Form geschrieben. Aber es ist
ein reines Theaterstück. Mit fünf Akten. Wie eine Tragödie
geschrieben, und es steht nur eins, zwei, drei, vier, fünf geschrieben. Es ist ein reines Stück.
In diesem Stück allerdings trägt der Protagonist als »Ich, Erzähler« und »Ich, der Dramatische« zwei Seelen in einer Brust.
Auch der Dialog zwischen dem epischen Ich und dem dramatischen Ich ist ein reines Theaterstück. Zwei Spielarten, dramatische Arten eines Menschen, sind einander gegenübergestellt. Aber es ist ein Stück. Man könnte fast daraus ein Stück
machen, aber es wird dann wie Rameaus Neffe von Diderot,
oder irgendwas von Voltaire. Aber das interessiert mich nicht.
Mich interessiert das Klare und zugleich Undeutliche. Schattenhaft klar.
Im Stück spielen Sie auf Shakespeares ›Sturm‹ an.
Ja, das kam mitten im Dahinwurschteln. Da habe ich gedacht,
woher kenne ich das Ganze schon? Und dann habe ich den
Stoff von Shakespeare noch einmal gelesen. Und plötzlich habe
ich ein bißchen eine Hommage darauf gemacht, aber auch viel
wieder herausgenommen. Das »Ich«, das ist im Grunde Caliban
und Prospero in einer Person. Die »Unbekannte« könnte Ariel
sein, aber eigentlich stimmt das nicht. Aber wenn das »Ich« an
der Straße Reisig sammelt und herummurrt wie der Caliban,
weil er Reisig sammeln muß, das kann ich mir gut vorstellen.
Und das »Ich« kann zaubern wie Prospero.
Ich mach mich da lustig über das »Ich«, das ist ein Pseudozauberer. Zum Beispiel hat er einen Unterstand. Und der andere
schaut da hinein und sagt: »Hej, Mann, das ist ja ein richtiges
Schloß!« Das ist ein seltsamer Moment, daß der hineinschaut
in etwas, was die Zuschauer nicht sehen, und sagt: »Das ist ja
ein richtiges Gewölbe, das sind ja Säle!« Und wenn der Schauspieler das gut macht, dann kann das sehr schön sein. Der
Unterstand wird plötzlich ein Schloß. Es sei denn, er macht
sich lustig. Vielleicht kann man das ambivalent machen.
›Immer noch Sturm‹ war Ihr erstes Stück, in dem ein »Ich« als
Erzähler auftrat ...
Ohne dieses »Ich« hätte ich Immer noch Sturm nie schreiben
können. Ich hätte nie dieses historische, soziale, historiokritische Drama schreiben können wie, sagen wir, zu Grillparzers Zeiten. Seit Jahrzehnten, das ist jetzt keine Angeberei,
beschäftigt mich dieses Drama meiner Familie. Die Weglosigkeit ist verschwunden, indem ich plötzlich das »Ich« hatte,
das zugleich der Frager ist, zugleich die Autorität, zugleich
der Hampelmann, der Harlekin des Stücks, zugleich das Kind
des Stücks, zugleich der Älteste vor allem, weil auf der Bühne
alle anderen jünger sind als er. Plötzlich konnte ich Immer
noch Sturm … nicht schreiben, aber rhythmisieren. Ich hab
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nicht diese Autorität zu sagen, ich schreib jetzt einfach ein
Stück über meine Familie, und das sind die Figuren. Dadurch,
daß das »Ich« vordringlich wurde, kam diese dramatische
Spannung hinein. Daß der Bruder der Mutter sagt, du mit deiner utopischen Welt, daß du denkst, alles wird wieder gut.
Und die Welt, die Geschichte ist ein Sauhaufen, Sauhaufen
wäre ja noch schön. Sauhaufen ist etwas Fruchtbares.
… und in den ›Unschuldigen‹ steht nun wieder ein »Ich« da,
allerdings im Wechsel zwischen »Ich, dem Erzähler« und dem
»dramatischen Ich«, es steht am Rande der Landstraße und gibt
sich den Menschen, die ihm begegnen, preis.
Ja, ich bin der Diener und Herrscher der Landstraße. Das ist
mein Ort, das ist mein letzter Ort. Ihr kommt da nicht her.
Und zuerst freut er sich, daß da die da kommen. Er freut sich,
heißt sie willkommen, aber ohne daß die ihn bemerken. Und
weil sie ihn wirklich gar nicht bemerken, rempeln sie ihn an,
fast realistisch.
Weil das »Ich« das alles nur träumt, das Stück ist ja ein Traum?
Ich weiß nicht, da ist gar keine Begründung zu liefern. Ich bin
ganz erstaunt über mich, daß die meisten Leute, wo ich auch
bin, mich nicht sehen. In den Lokalen, die sehen mich nicht.
Nein?
Das war auch ein Ausgangspunkt: Ich komme nicht vor. Und
darüber werde ich natürlich wild. Und so fängt das Stück
dann an. Und zugleich freut er sich. Und gleichzeitig denkt
er: Das ist der letzte Ort, wo ich noch stumpf sinnieren kann.
Und plötzlich kommt diese ganze Sippschaft, und eigentlich
freut er sich. Und natürlich ist das eine Steigerung des Untertagblues, der Untertagblues ist ein Vorspiel. Die Unschuldigen
sind ein Weltdrama, aber das interessiert ja niemanden.
Es steckt nicht nur der ›Untertagblues‹ drin, ich habe den Eindruck, daß Ihr Werk, das epische, aber vor allem das dramatische, so stark hineinspielt wie bei keinem anderen Stück. Es
gibt den ›Kaspar‹, die stummen Stücke, ›Über die Dörfer‹, ›Zurüstungen für die Unsterblichkeit‹, auch Ihr erstes Stück, die
›Publikumsbeschimpfung‹ ...
… ja, dieses Mal ist es eine hilflose Beschimpfung, aber die
sich, wie man sagt, gewaschen hat. Ich hätte gern etwas mehr
erfunden, tätowierte Schwimmlehrer, irgendwie so was. Das
hat mir Freude gemacht, nicht Spaß, im Wortsinn, biblisch.
Ich hoffe, daß sich bei den Aufführungen diese Spiellust ergibt. Es darf ja kein Moment absolut ernst sein, gerade da-
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durch, dass es ernst ist, wird es Spiel. So wie bei Kafka. Weil
er absolut ernst ist, wird er lustig. Dadurch, daß es absolut
ernst ist, wird es Spiel.
Ich glaube, man könnte jedes Ihrer Stücke hier wiederfinden.
Sie zitieren Figuren, Motive, Bilder, auch Dialoge ...
Ja, das ist wahr. Aber das mach ich nicht absichtlich. Ich bin
kein selbstreferentieller Autor. Das passiert mir immer wieder, und erst im nachhinein merke ich es. Als ich jung war,
hätte ich mir das immer wieder herausgenommen. Aber jetzt
denke ich: Habe ich schon gesagt, um so besser. Das ergibt sicherlich eine gute Variante. Das macht mir überhaupt nichts
mehr. Ein schlechtes Gewissen ist eh genug im Leben.
Sie zitieren auch eines Ihrer Bilder, das aus Ihrer Prosa kommt.
Es zeigt einen Mann, unterwegs mit dunklem Anzug und weißem Hemd. Der Häuptling sagt zum »Ich«, »diesen Mann hast
du zur Idealfigur ernannt«. Was steckt hinter dem Bild?
Ja, der geht an der Landstraße. Das ist eines meiner Urbilder.
Ich hab als junger Mann, als Student, zwei Buben in Oberösterreich Nachhilfe gegeben. Latein, Englisch, alles. Der Vater
war Arzt. Und wir sind mit dem Auto übers Land gefahren,
die zwei Buben, ich und der Vater. Eine lange Fahrt. Und ein
Mann ging an der Landstraße. Das war eigentlich alles. Ein
Mann in einem dunklen Anzug und einem weißen Hemd ging
am Rand der Landstraße dahin. Und die Hosenbeine haben
geflattert, und es war Sonntag. Und war Sonne.
Die Hosenbeine haben »segelgleich« geknattert im Wind, heißt
es im Stück.
Ich weiß nicht, ob sie geknattert haben, im Auto hat man das
ja nicht gehört. Aber ich habe mir das so vorgestellt. Und ich
hab gedacht: Das ist mein elftes Gebot, frei nach dem Dekalog. So zu gehen. Das geht mir immer noch so.
»So zu gehen« ist Ihr elftes Gebot?
Ja, manchmal denke ich das immer noch. Manchmal, wenn ich
wandere, denke ich: Heute hast du den nicht verkörpert, den
Mann von der Landstraße. Deswegen ziehe ich mir manchmal
einfach ein weißes Hemd an und einen dunklen Anzug ... Na
ja, nicht deswegen. Aber manchmal spüre ich das. Und ich
finde auch manchmal gut, daß man weite Hosenbeine hat.
Der ist die Idealfigur. Und was hat es auf sich mit der »Unbekannten« am Rand der Landstraße?
Ja, man weiß nicht, wer die ist. Und ich hab das besonders
gern, wenn sie gegen Ende des Stücks die Vögel benennt, die
über das Jahr durch die Landschaft ziehen.
denkt: Ihr seid so extrem. Es kann nur noch was Neues kommen.
»Starker Durchzug der Regenpfeifer im September. Anfang Oktober wurde bei Kilometer neunzehn ein laut rufender Rauhfußbussard beobachtet ...«
Ich habe das besonders gern. Völlig sinnlos. Da habe ich ordentlich was hineingeschwindelt, erfunden. Aber ich empfinde das als einen Ruhemoment. Als ob sie sagt: »Mein Gott, ihr
Vögel wart da.« Das ist fast schon Ideologie, aber als rhythmisches System.
Und dieses Neue ist etwas Positives.
Ja, sicher. Es kann ja nicht so weitergehen. Es kann ja nicht
Weltuntergang sein, das kann man nicht denken. Ich bin ja
kein Adventist. Wenn ein Heiliger, dann wäre ich einer der
ersten Tage, aber nicht einer der letzten. So wie Goethe.
(lacht) Steht dann in den Interviews immer »Lachen«, »lacht«.
Es ist auf jeden Fall Ornithologie.
Ja, ich habe einen Freund, dessen Sohn Vogelbeobachter ist.
Der schickt mir jedes Jahr seine Vogelbeobachter-Broschüre,
… die Vogelbeobachter gehen ja immer mit so Feldstechern
herum (Peter Handke zeigt auf einen Feldstecher, der auf dem
Tisch liegt) und wissen immer ganz genau, was das für Vögel
sind. Und die Erstbeobachtung dieses und jenes Vogels in
Österreich ist eine Sensation!
Die »Unbekannten« sind eine ambivalente Gruppe. Sie zitieren
in Ihrem Stück ein utopisches Bild, das, glaube ich, einst für
Sie Bestand hatte. Da heißt es, aber als Abgesang auf dieses
utopische Bild: »Mein Silhouettenglaube, wo ist er geblieben?«,
fragt »Ich-der-Dramatische« am Ende, »Ja, die Silhouette, das
hieß einmal: der, die, das große Unbekannte, das hieß: Große
Erwartungen«.
Das habe ich noch eingefügt. Und jetzt habe ich nicht einmal
mehr die Unbekannten als Utopie. Und das stimmt auch. Das
ist real heute. Nicht einmal mehr die Unbekannten, die Silhouetten in den Bussen, in den Morgenbussen, diese Leute
sind meine Leute, und jetzt sind die alle vorbei. Und dann
denkt das »Ich« zu Recht, dann geht es wieder weiter. Man
kann ja nicht aufhören mit so was in einem Stück. Denn so
ernst ist es auch wieder nicht.
Der Schluß ist melancholisch, formuliert aber dennoch eine
Utopie, habe ich das richtig gelesen?
Ja, traurig ist er.
Ja, »c‘est la vie«. Aber das »Ich« sagt, durch die und dank der
Menschen, denen er begegnet sei, glaube er wieder an eine zukünftige Menschheit.
Ja, das war ein entscheidender Moment. Das ist sehr gut, daß
Sie das sagen. Das war ein entscheidender Moment, daß er
Ich finde, es gibt kein anderes Theaterstück von Ihnen, das so
komisch ist. Weil das »Ich«, das »dramatische Ich« insbesondere, einen Sinn hat für Selbstkritik, weil es sich ins Lächerliche
ziehen läßt.
Ja, ja. Ich meine, die Frau sagt es ja nicht schlecht, die CapoFrau. Wie sie ihn beschimpft, wie er sich aufspielt ...
»Wenn es jemand Totalitären gibt, dann ihn, den Idioten am
Rand der Landstraße. Er hält sich für den Alleinzuständigen
hier, zuständig für jedes Gran Vogelmist«, so verspottet sie ihn,
seitenlang.
Na ja, ich glaube, das sind ganz schöne Rollen. Wenn es das
überhaupt noch gibt. Sie sind schön voneinander abgesetzt.
Und alles changiert. Aber es changiert dann auch tatsächlich
von einem scharfen Rand zu einem anderen scharfen Rand.
Diese Frau fällt einmal zu Boden, kommt mir so vor.
Sie übt das Sterben, oder? Und am Schluß vergilbt das Bild vom
Unterstand.
Ich habe nie in einem Theaterstück, von Kaspar oder Publikumsbeschimpfung, Ritt über den Bodensee, Die Unvernünftigen sterben aus usw., einen Schluß gefunden. In einer Erzählung, in der Prosa, ist das Ende oft ein Ausatmen, eine
Erlösung gewesen. Frappant. Die Angst des Tormanns oder
Der kurze Brief … Aber in den Stücken weiß ich nicht, wie man
endet. Wie hört ein Theaterstück auf? Und deswegen muß es
immer weitergehen, das dramatische Ich, das epische Ich ...
Und jetzt hat es fast ein Shakespearesches Ende. Oder wie bei
Ferdinand Raimund, »zärtlich will geschieden sein, Brüderlein fein«. Was soll‘s. Es ist ja keine Tragödie. Ich hab das sehr
gern, ich bin ganz gerührt, wenn ich das lese. »Ach, ja!«, das
hat der alte Goethe immer gesagt, wenn er die Enkelkinder
gesehen hat. Er hat den Enkelkindern zugeschaut, »Ach, ja!«,
das habe ich von ihm.
Chaville, Ende Oktober 2015
25
Martin Heckmanns
Die Jugend von gestern
Drei Elternpaare treffen sich zu einem Problemgespräch. Ihre Kinder sind zum
zweiten Mal gemeinsam unterwegs auf einer Bergwanderung. Das ist nicht das
Problem. Aber der Oberstudienrat Michael Küster und seine Frau Hanne haben
auf dem Computer ihrer Tochter einen Film entdeckt, der die Jugendlichen am
Ende der ersten Wanderung bei sexuellen Aktivitäten in der Berghütte zeigt.
Im Gespräch der betroffenen Eltern soll nun eine gemeinsame Strategie entwickelt werden, wie die Kinder bei ihrer Rückkehr empfangen und über Sexualität und Internet aufgeklärt werden können.
Dabei zeigt sich vor allem, wie die Beziehungsmodelle der Eltern alternieren
und konkurrieren: Das Gastgeberehepaar ist in Therapie, die Sängerin und der
sehr viel ältere Bio-Energetik-Therapeut führen eine offene Beziehung, und der
Eventmanager tauscht seine Partnerin regelmäßig gegen eine jüngere aus. Als
die Tochter des Hauses schließlich früher als vereinbart von ihrem Ausflug
zurückkehrt, findet sie die Eltern aufgelöst und betrunken vor. Der Streit um
die Deutungshoheit und um das bessere Leben und ein Geheimnis aus ihrer
eigenen Jugendzeit haben die Beziehungen in verstörenden Aufruhr versetzt.
Die Jugend von gestern ist eine irrwitzige Komödie über die Unordnung des
Begehrens, konkurrierende Sexualmoral und die Schwierigkeit, in Zeiten von
youporn und digitaler Überwachung nicht nackt dazustehen. (3 D, 3 H)
Frei zur Uraufführung
Stücke – Auswahl
Schieß doch, Kaufhaus!
Frankfurter Fassung
5 Personen
UA: 9.5.2002, TiF/Staatsschauspiel Dresden in Kooperation mit
Theaterhaus Jena, Sophiensaele
Berlin und Thalia Theater Hamburg
Regie: Simone Blattner
Kränk
3 D, 2 H
UA: 11.3.2004
Schauspiel Frankfurt
Regie: Simone Blattner
Das wundervolle Zwischending
1 D, 2 H
UA: 10.2.2005, Niedersächsisches
Staatstheater Hannover
Regie: Charlotte Roos
Wörter und Körper
4 D, 7 H
UA: 10.2.2007
Staatstheater Stuttgart
Regie: Hasko Weber
Kommt ein Mann zur Welt
Mindestens 2 D, 3 H
UA: 24.3.2007
Schauspielhaus Düsseldorf
Regie: Rafael Sanchez
Foto: Dirk Opitz
Ein Teil der Gans
2 D, 3 H
UA: 10.10.2007
Deutsches Theater Berlin
Regie: Philipp Preuss
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Martin Heckmanns, geboren am 19. Oktober 1971 in Mönchengladbach, Studium der Komparatistik, Geschichte und
Philosophie, lebt in Berlin. Mit Schieß doch, Kaufhaus! wurde
er in der »Theater heute«-Kritikerumfrage zum Nachwuchsautor des Jahres 2002 gewählt und gewann bei den Mülheimer
Theatertagen 2003 für Schieß doch, Kaufhaus! und 2004 für
Kränk den Publikumspreis. 2012 wurde ihm der alle drei
Jahre verliehene Margarete-Schrader-Literaturpreis der
Universität Paderborn zugesprochen. 2015 war sein Kinderbuch Konstantin im Wörterwald für den Jugendliteraturpreis
nominiert.
Die Zuschauer
Wie sitzt der Zuschauer heute im Theater, und wie verlässt er es nach einer
Vorstellung? Verändert? Bereichert? Getäuscht? Martin Heckmanns entwirft
ein Kaleidoskop kleiner Szenen und Geschichten, die sich im Zuschauerraum
des Theaters abspielen. Der Text lässt sich nicht am Theaterausgang abwimmeln, sondern begleitet die Zuschauer auf ihren Heimwegen und folgt ihnen in
ihre Wohnungen. Dabei entsteht ein Chor unterschiedlichster Stimmen. Da sind
Ehepaare, sich gegenseitig belauernd im Theatersaal, Vater und Sohn, die ein
Theaterbesuch einander kurzfristig wieder annähert, ein Pärchen bei dem ersten Treffen, das feststellen muss, dass es das Bühnenideal einer romantischen
Liebe nicht in den Alltag des Heimweges retten kann, und natürlich ist dort
Herr Matuschek, der nach dem Besuch eines »Dramas der Unterdrückten« den
Job bei einem Boulevardmagazin kündigen und seine eigene Katharsis erfahren
wird. Unter diese Figuren mischen sich andere namenlose Stimmen in ihrem
Verhältnis und ihrer Beziehung zum Theater. Zuschauer, die das Theater erfahren, andere, die es verstehen wollen, und wieder welche, die sich bereits über
das Verstehen des Verstehens den Kopf zerbrechen.
Indem sich in Heckmanns Stück Beobachtende beobachten lassen, werden die
Wirkungen des Theaters vorgeführt, sein Zauber und seine Enttäuschungen,
die Kollision von Theater und Leben ebenso wie die Verfeinerung des Lebens
durch das Theater, bei dem immer die Gefahr mitschwingt, dass »draußen wieder alles in Einzelteile zerfällt, was sich hier immer wieder stimmig zu einer
Geschichte fügt«, aber doch auch ein Theater, bei dem Abend für Abend die
Chance besteht, »dass etwas ganz Neues beginnen könne«. (Besetzung variabel)
Uraufführung: 19. September 2015, Staatsschauspiel Dresden
Regie: Roger Vontobel
Hier kommen wir nicht
lebendig raus.
Versuch einer Heldin
1 D, weitere Darsteller
UA: 22.4.2010
Düsseldorfer Schauspielhaus
Regie: Hermann Schmidt-Rahmer
Vater Mutter Geisterbahn
1 D, 2 H
UA: 6.5.2011
Staatsschauspiel Dresden
Regie: Christoph Frick
Einer und Eine
2 D, 2 H
UA: 15.11.2012
Nationaltheater Mannheim
Regie: Dominic Friedel
Es wird einmal
3 D, 2 H
UA: 14.12.2013
Schauspielhaus Bochum
Regie: Anselm Weber
Der Diener zweier Herren
Von Carlo Goldoni
Neufassung von Martin Heckmanns nach den Übersetzungen
von J. H. Saal und F. L. Schröder
UA: 21.11.2013
Staatsschauspiel Dresden
Regie: Bettina Bruinier
»Dass sich Menschen in einem dunklen Raum einsperren lassen,
um zu schweigen und anderen dabei zuzuschauen, wie sie
scheitern und sterben.« (aus: Die Zuschauer)
27
Zuschauen verbindet
Aus dem Programmheft des Staatsschauspiels Dresden zur Uraufführung von ›Die Zuschauer‹
am 11. September 2015 I von Robert Koall
Der Betrachter ist in der klassischen Charakterisierung Dass es urteilen lehre oder moralische Anstalt sei, vermeistens einsam, still und häufig unbewegt. Die Zu- störende Erfahrung oder tröstendes Einverständnis
schauer dagegen im gleichnamigen Stück von Martin möglich macht.
Heckmanns zeigen sich redebedürftig, angeregt, aufge- Wesentlich aber, in diesen Zeiten und in diesem Stück,
dreht und um Anschluss bemüht. Sie tauschen sich aus scheint die Bereitschaft und offensichtlich auch die
über das Gesehene und suchen nach Ähnlichkeiten un- Lust, sich in die Situation zu versetzen, ein anderer zu
tereinander und im Verhältnis zu den Figuren der Büh- sein.
ne. Und bemerken verwundert, wie verschieden ihre Denn der Zuschauer nimmt sich im Zuschauen zurück,
Wahrnehmung und ihre Aufmerksamkeit das gerade er schenkt Zeit und gibt Raum dem Fremden, das sich
gemeinsam geschaute Geschehen deutet.
vor ihm entfaltet. Er folgt Figuren auf ihren eigenartiAber sie kommen ins Gespräch oder in Streit über sich gen Wegen und in ihren eigensinnigen Gedankengängen. Und entwickelt schrittin der Spiegelung und kom»Wie wir leben, ist immer auch ein Ergebnis
weise Verständnis, fühlt sich
men einander näher im Inteder
Erzählungen,
die
wir
verinnerlicht
ein im Verlauf der Geschichte
resse am Widerspruch.
und sucht nach einer VerbinEs sind die Unterschiede, die
haben. Wir lieben, wie wir lesen,
dung zum eigenen Erleben. –
verbinden, weil sie zum Ausund wir kämpfen mit Fiktionen im Kopf.«
Zuschauen verbindet auch in
tausch auffordern. Auseinandersetzung schafft Zusammenhang. Gemeinschaft ist diesem Sinne; das Fremde mit dem Eigenen, als Menhier kein Zustand, sondern ein Prozess. Diese Gemein- schenkunde auf Ähnlichkeitssuche.
schaft wird nicht fest, sondern in Aussicht gestellt im Die Zuschauer erzählen von einem Stück, das wir, die
Gedankenaustausch und in der Reflexion.
Zuschauer der Zuschauer, so nie gesehen haben. Ihr
Heckmanns’ Stück geht aus vom Staunen.
verbindendes Erlebnis wird uns nur fragmentarisch geEs nimmt seinen Ausgang in der Verwunderung darü- spiegelt zugänglich. Gelegentlich erkennen wir Bruchber, dass Menschen zusammenkommen, um anderen stücke bekannter Dramen wieder, die kein Ganzes ergeMenschen dabei zuzuschauen, wie diese wiederum Men- ben. Wir müssen uns auf unsichere Erzähler verlassen,
schen spielen, die ihrerseits tragisch scheitern, komisch um aus deren Eindrücken selbst uns eine vollständige
Geschichte zu imaginieren.
fallen und schließlich häufig als Gewaltopfer enden.
Das Stück ruft einige fast vergessene Hoffnungen auf, Unsere Einbildungskraft schafft so womöglich ein
die sich im Lauf der Geschichte mit dem Theater ver- Schauspiel, das über uns bekannte Schauspiele hinausbunden haben. Dass es reinigen möge von schlechten wächst und wuchert, weil wir die Leerstellen füllen mit
Gefühlen in einem kathartischen Akt. Dass es aufklären unserer Einbildungskraft und so Teilnehmer werden
könne mit den Mitteln der Verstellung – den Menschen und Mitspieler.
über sich oder die Gesellschaft über ihre Mechanismen. Und dazu, dazwischen und mittendrin ist Musik zu hö-
28
ren, die die Kraft unserer Einbildung auf noch einmal
andere Weise in Schwingung versetzt. Shakespeare
wird hier gesungen, als ein dramatisches Echo durch
die Zeiten, das den Raum und seine Geschichte zum
Klingen bringt.
Und nach und nach im Verlauf des Abends wächst
die Vermutung, dass diese Zuschauer hier nicht erst
seit ein paar Stunden sitzen und nicht nur dieses eine
Stück gesehen haben, vielmehr seit Tagen oder Jahren
schon, womöglich seit Beginn dieses Theaters. Sie verlieren ihre konkrete Kontur und werden zu den guten
Geistern, die dieses Theater zum Theater erst machen.
Sie sind die Geburtshelfer der Bühnenwesen, denn es
ist das Interesse des Zuschauers, das die Gestalten auf
der Bühne in Bewegung setzt. Und schließlich sind es
die Zuschauer auch, die diese Gestalten am Leben erhalten, indem sie von ihnen begeistert oder gerührt
oder erschreckt oder verärgert sind und sie weiter bei
sich tragen in die Welt und ihren Alltag hinein.
Denn Geschichten wirken. Wie wir leben, ist immer
auch ein Ergebnis der Erzählungen, die wir verinnerlicht haben. Wir lieben, wie wir lesen, und wir kämpfen
mit Fiktionen im Kopf.
Don Quichotte ist vermutlich der berühmteste Leser,
der vor lauter Feinden keine Windmühlen mehr sieht,
weil die massenhafte Lektüre von Ritterromanen seinen Blick verrückt hat. Und ähnlich scheinen auch die
Figuren in diesem Stück, wenn sie den Zuschauerraum
verlassen und damit aufhören, bloß Zuschauer zu sein.
Sie sind über die Maßen ergriffen von dem gesehenen
Geschehen auf der Bühne und schauen auf die Außenwelt mit veränderten Augen. Sie sind erleichtert, dass
sie die Kämpfe auf der Bühne unbeschadet überlebt ha-
ben, und diese Erleichterung eröffnet ihnen Spielraum
und einen Blick auf sich als Spieler darin.
Sie laden Obdachlose zum Essen ein, kündigen ihr Angestelltenverhältnis oder rufen zum Umsturz auf, Familien werden zusammengeführt, und Liebende imitieren
die Leidenschaft, die sie auf der Bühne gesehen haben.
Die meisten scheitern bei diesen Versuchen der Übersetzung von den Fiktionen in ihre Wirklichkeit, aber
selbst dieses Scheitern erscheint ihnen heldenhafter
als noch vor ihrem Theaterbesuch, weil sie gesehen haben, wie es sich schöner scheitern lässt.
Und sie haben den Versuch gewagt und sich im Versuchen verändert, sie haben sich eingemischt in Verhältnisse, die von Menschen gemacht werden. Wie
mühsam dieser Schritt vom Zuschauer zum Handelnden werden kann, weiß jeder schwermütige Zuschauer
des Weltgeschehens. In diesem Spiel aber scheinen die
Schritte märchenhaft leicht, und belohnt werden die
Figuren dafür mit einer Erfahrung oder mit einer Einsicht und also einem Zusammenhang.
Von diesen Verbindungen zum Fremden, zu unseren
Erfindungen und zur Wirklichkeit handeln Die Zuschauer und von der sehnsüchtigen Suche, denn wie
heißt es dort am Ende: »Ganz allein bin ich ja eher ein
langweiliger Typ.«
Robert Koall ist Chefdramaturg des Staatsschauspiels Dresden.
29
Wolfram Höll
Vom Verschwinden vom Vater
»Ein / kalter / Spalt / in der Erde / vom Boden / unter
uns / unter unseren Füssen / (und) mit unseren Füssen / grüssen / wir ihn«. Der da unten in der Erde liegt,
ist der Vater. Er ist nicht mehr da, um ihn kreisen die
Gedanken. Vom Verschwinden vom Vater ist die Annäherung eines Sohnes an das Sterben, den Tod seines Vaters. Wolfram Höll hat einen Bühnentext geschrieben,
dessen poetische und musikalische Sprache nicht in
Figuren aufgeht, sondern ins Offene strebt und dabei
zu bemerkenswerter Konzentration findet. Es erklingen gegenwärtige und vergangene Stimmen, in denen
das Erinnern und Vergessen wohnt, die sich manchmal gleichsam selbst lauschen, vom Autor fadenweise
aufgespannt: filigran verdichtet, stets klaffend. Mal
klingen diese Stimmen zusammen, dann gegen- oder
nebeneinander. Sie lassen Situatives aufscheinen und
lösen es wieder auf. Nicht als monologisch oder dialogisch ist dieser Text zu begreifen, er ist weder Drama
noch dramatisches Gedicht, doch verlangt er in seiner
Form nichtsdestoweniger nach dem gesprochenen
Wort. Die Worte bewegen sich entlang eines Grats: Ein
Sprechen will heraus, während ein anderes Sprechen
sich zurückzieht, abbricht, vielleicht vorher längst verstummt war. Den Tod kann das Sprechen und Nachrufen des Hinterbliebenen nicht einholen, ganz gleich,
wie genau, wie zärtlich tastend oder heftig hervorquellend es sein mag, und doch wohnt diesem Sprechen
eine Notwendigkeit inne. (Besetzung variabel)
Uraufführung: 7. Mai 2015, Theater Basel
Regie: Antje Schupp
»Wie ein stotterndes Gedicht fliesst und stolpert der Text dahin, in rhythmischen
Schlaufen, assoziativen Sprachsprüngen, variantenreich repetitiv.
Scharfe Beobachtungssplitter eines schleichenden Abschieds … Diese nüchternen,
distanzierten Beschreibungen einer finalen Beziehung erzeugen
in der poetischen Brechung eine erstaunliche Nähe und Anteilnahme.«
Foto: Patrick Savolainen
Alfred Schlienger, ›Neue Züricher Zeitung‹, 7.5.2015
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Wolfram Höll, 1986 in Leipzig geboren, ist Autor und Hörspielregisseur und lebt in Biel. Er hat Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und Theater an der Hochschule der
Künste Bern studiert. Sein vielfach ausgezeichnetes Stück Und dann
wurde 2013 am Schauspiel Leipzig uraufgeführt (Regie: Claudia
Bauer). Für das Stück wurde Höll der Mülheimer Dramatikerpreis
2014 verliehen und in der Kritikerumfrage von »Theater heute«
wurde er zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. In der
Spielzeit 2014/15 war Höll Hausautor am Theater Basel, wo im Mai
2015 sein Stück Vom Verschwinden vom Vater uraufgeführt wurde.
2015 erhielt er den Lessing-Förderpreis des Freistaates Sachsen
sowie den Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen
Wirtschaft. Im Februar 2016 wird sein neues Stück Drei sind wir
am Schauspiel Leipzig uraufgeführt.
Drei sind wir
Ein junges Paar träumt davon, nach Kanada zu gehen. Doch dann erwartet es ein Kind, das wegen einer
schweren Form von Trisomie vielleicht nicht lebend
geboren werden wird. Als das Kind zur Welt kommt,
lebt und »anders ist«, halten die beiden an ihrem Traum
fest. Mit Frühling, so der Name des Jungen, begeben sie
sich in die unbekannte Ferne. In Québec empfängt sie
Dany Daniel, der als freundlicher Tod fortan den Takt
bestimmt und die drei durch fünf Jahreszeiten geleitet.
Frühling wächst und entwickelt sich, steht im Mittelpunkt der Familie, deren Angehörige um ihn und seine
Eltern kreisen, achtsam und ängstlich, stets um seinen
baldigen Tod wissend. Und immer wieder sind da außerdem die Zuschreibungen selbst von Fremden, die
das Anderssein des Kindes erwähnen und mit erschaffen. Doch wer oder was kann »Normalität« für sich beanspruchen? Und ist dieser Anspruch nicht ganz obsolet, wenn nicht gar obszön?
In Drei sind wir führt Wolfram Höll seine Figuren und
uns an geheimnisvolle, manchmal unheimliche Orte,
denen noch andere Wirklichkeitssedimente innewohnen, in denen andere Zeiten aufscheinen und vieles in
der Schwebe bleibt. Zugleich besticht sein Stück durch
die äußerst genaue Sprache, die den Dingen auf den
Grund geht. Beharrlich und zärtlich kommt sie den Figuren nahe, zeigt sie in Momenten von Innigkeit und
Glück wie auch in ihrem Hadern und mit ihren Schwächen. Und in ihrem Bemühen, in einer Situation des
Erleidens und Entsetzens weiterhin nach den eigenen
Handlungsmöglichkeiten, nach dem Wagnis zu suchen.
(2 D, 3 H, Besetzung variabel)
Uraufführung: 20. Februar 2016, Schauspiel Leipzig
Regie: Thirza Bruncken
»Es sind große Themen, die Wolfram Höll behandelt. Er lenkt unseren Blick auf die Details und konfrontiert uns mit
scharf geschliffenen Gedankensplittern, die sich zu einem Erzählstrom verbinden, dem eine Inszenierung Struktur
und Form und dem wir als Zuschauer einen Sinn geben müssen. Insofern stellen Wolfram Hölls Stücke tatsächlich
keine geringe Herausforderung für das Theater dar – aber das ist angesichts ihrer Themen wohl auch gar nicht
anders möglich … Diese Texte … sind literarische und psychologische Tiefenbohrungen. Jeder Satz wirkt wie aus
Stein gemeißelt, nichts ist beliebig, jedes einzelne Wort zählt.« (Aus der Laudatio von Christian Holtzhauer anlässlich der
Verleihung des Dramatikerpreises des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI, 10. Oktober 2015)
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Original aus dem Manuskript Drei sind wir
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Stephan Kaluza
Blutmänner
Was ist damals geschehen … in der Tiefe des Urwalds … bei den fremden Stämmen … weit ab von der Zivilisation … angesichts archaischer Rituale? Nach
Jahren des Schweigens berichten drei Forscher unabhängig voneinander. Ihr
Gesprächspartner bleibt dabei im Verborgenen: Antworten sie auf die Fragen
eines Interviewers? Befinden sie sich vor Gericht? Oder legen sie vor sich selbst
Rechenschaft ab, hören auf ihre innere Stimme? Stück für Stück wird so ein
beschämendes Kapitel ethnologischer Studien enthüllt, der Forschungsbericht
ähnelt zunehmend einer Rechtfertigung. Denn was als ambitioniertes Projekt
zur Erforschung unbekannter indigener Stämme begann, geriet langsam, aber
sicher außer Kontrolle. Und die zunächst harmlos erscheinende Schilderung
ihrer Forschungen, die auch den Mythos der »Blutmänner« erzählt, wird zu
einem schockierenden Bericht, zu einer Reise in das Dunkle der menschlichen
Seele. Langsam wird das Netz sichtbar, in das sie verstrickt sind, gesponnen
aus persönlichen Eitelkeiten, sexuellen Obsessionen und knallharten wirtschaftlichen Interessen. Wird jemals aufgeklärt, wer der Verantwortliche für
den Ausbruch der tödlichen Krankheit ist, die sich zu einer medizinisch-humanitären Katastrophe ausweitet? Der Bericht endet. Die Stimmen verklingen im
Dunkel. (3 H)
Uraufführung: 13. April 2016, FFT Düsseldorf, Regie und Bühne: Stephan Kaluza
(zusammen mit Episode 3 aus: Studie einer menschlichen Figur im Raum)
Stephan Kaluza studierte Kunst und Kunstgeschichte.
Anschließend ergänzte er diese Studien an der Philosophischen Fakultät, Düsseldorf. Er lebt heute in Düsseldorf. Der
Autor ist sowohl im Bereich der bildenden Kunst als auch
in der Literatur tätig. In seinen Bildstücken inszeniert er
Theaterstücke und Performances zu stillstehenden, simultan
erlebbaren Bildern; u.a. wurden diese Interpretationen des
Narrativen im Zendai Museum of Modern Art, Shanghai,
im State contemporary Museum of Art, Seoul, im Museum
of the Seam, Jerusalem, und im Künstlerhaus Bethanien,
Berlin, ausgestellt.
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Stücke
Atlantic Zero
4H
UA: 5.5.2010
Düsseldorfer Schauspielhaus
Regie: Christian Doll
3D
1 D, 1 H
UA: 26.10.2012
Schauspiel Stuttgart
Regie: Stephan Kimmig
Sand
2 D, 6 H
Frei zur UA
Weil ich es kann
1D
Frei zur UA
Konstantin Küspert
rechtes denken
Wie formt sich Gesellschaft? Wieso gibt es Ausgrenzung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit? Diesen drängenden Fragen geht Konstantin Küspert in rechtes
denken nach, seine Untersuchungsgebiete sind dabei: »love«, »familie« und »philosophie«.
Mit Elementen einer Polit-Soap spielt »love«: Jasmin und Püppi, antifa-affine
Studentinnen, wollen ein Theaterstück »über die strukturen und gefahren von
rechtem denken« entwickeln. Auf der Suche nach einer Geschichte, die der Materie gerecht wird, stolpern sie schnell über ihre eigenen Ansprüche. Und dann
verknallt sich Jasmin noch in Casper, einen angehenden Burschenschafter.
Am Mittagstisch der »familie« wird Sohn Peter, wertehungriges Kind, mit seinen Fragen nach moralischer Orientierung abserviert. Zweifelhafte Antworten
finden sich allzu schnell am rechten Rand, sprich der selbsternannten »Mitte
der Gesellschaft«. Vati will nicht bemerken, wie Peter einen Rechtsruck nach
dem anderen vollzieht, während Mutti den Hals zusehends voll hat.
Bedient sind auch die Menschen, die in »philosophie« dem Hobbes’schen Chaos
entkommen wollen und deswegen einen Staat errichten. Das erweist sich als
nicht ganz unproblematisches Vorhaben, zumal dieser Staat als eigenwilliger,
manchmal ganz unsouveräner Leviathan auftritt. Uneinigkeit und Streit zwischen Leviathan und Bürgern sind die Folge, und die Konflikte machen an den
Staatsgrenzen nicht halt. Die Bürger geben sich besorgt, sind doch plötzlich
lauter Fremde da. Wohin mit denen? Und wessen Wohl, wessen Schutz, wessen
Würde gelten mehr?
Küspert, der schon mit mensch maschine gezeigt hat, dass er komplexe philosophische Theorien mit packenden Dialogen verstricken kann, hat mit rechtes
denken ein hochaktuelles Thema aufgegriffen. (4 Personen, Besetzung variabel)
Stücke
mensch maschine
Besetzung variabel
UA: 22.9.2013
Theater Regensburg
Regie: Sahar Amini
pest
Besetzung variabel
UA: 20.11.2015
Theater Regensburg
Regie: Katrin Plötner
Foto: Susanne Schleyer
Uraufführung: 18. Oktober 2015, ETA Hoffmann Theater Bamberg
Regie: Julia Wissert
Konstantin Küspert, 1982 geboren in Regensburg, Studium
der Germanistik, Politik, Philosophie an der Universität Wien
und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Seit 2002 als Autor, Regisseur und Dramaturg am Theater
aktiv, am Burgtheater Wien, Schauspielhaus Wien und HAU
Berlin. Zuletzt Schauspieldramaturg am Badischen Staatstheater Karlsruhe, dort Stückentwicklungen zu NSU und NSA.
Küspert lebt als Autor und Übersetzer in Karlsruhe und Berlin.
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»love, familie, philosophie«
Konstantin Küspert über ›rechtes denken‹ im Gespräch mit Frauke Pahlke
Frauke Pahlke: In deinem neuen Stück ›rechtes denken‹
beziehst du dich auf Thomas Hobbes’ Schrift ›Leviathan‹.
Hobbes vertritt mit der Auffassung »jeder gegen jeden«
kein allzu erbauliches Menschenbild. Schließen wir uns
nur aus Angst vor allen anderen präventiv zu gruppenegoistischen Notgemeinschaften zusammen?
Konstantin Küspert: Ja. Ich glaube, dass der Motor der
Nationenbildung genau jenes Erleben ist, jene Furcht
vor anderen. Man schließt sich zu Zweckgemeinschaften zusammen, überformt das gegebenenfalls ideologisch und baut Mauern. Ob man das nun reflektiert
oder nicht.
Wie bist du darauf gekommen, dir diesen Text als Folie für
dein Stück vorzunehmen?
Ich habe nach Möglichkeiten gesucht, wie man Politische Theorie anschaulich machen kann. Da drängt sich
Hobbes mit seinen biblischen Figuren geradezu auf.
Haben wir keine positiven Gründe, uns zusammenzutun?
Gibt es für deine Figuren auch eine andere Triebkraft, ein
anderes Begehren, sich in ein Miteinander zu begeben?
Ich kann mir, wie gesagt, schon vorstellen, dass das
ideologisch überformt ist, als Befreiungsmoment, als
Emanzipationsprozess, aber das ist nachgelagert bzw.
vorgeschoben. Unterbewusst – oder der Elite bewusst
– ist sicher immer der Sicherheitsgedanke ausschlaggebend. Das schließt sicheren Zugang zu Ressourcen
ebenso ein wie Sicherheit vor Übergriffen anderer.
Die »philosophie«-Ebene setzt ein mit einem vorstaatlichen Zustand. Dann wird der erste Staat gebildet, wird
ein Leviathan gebaut und gleichsam zum Leben erweckt,
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ein ziemlich künstliches und fragiles Gebilde von zweifelhafter Souveränität, das erstaunlicherweise sprechen
kann. Die Nationwerdung der zu Bürgern gewordenen
Menschen funktioniert nur bedingt, was in deinem Stück
hoch amüsant vonstattengeht. – Welche Konflikte tragen
Leviathan und Bürger aus?
Konflikte, die unvermeidlich entstehen, wenn der (vermeintliche) Wille der Mehrheit gegen den Willen Einzelner steht. Der Staat ist zwangsläufig ein eigenes
Wesen; im Idealfall handelt es im besten Interesse der
meisten Bürger. Da sich aber immer Einzelne nicht repräsentiert fühlen bzw. es bei manchen auch eine Differenz zwischen »want« und »need« gibt und schließlich
möglicherweise der Staat auch gegen den Willen der
Bürger handeln kann, wird es immer einen Richtungsstreit geben, und Personen, die das Wirken des Staats
etwa in Fragen des Umgangs mit Migration hinterfragen und bekämpfen.
Wie steht es um das Verhältnis zwischen dem ersten und
den anderen Leviathanen, die plötzlich auftauchen?
Die anderen Leviathane sind, wie bereits konzeptionell
im Staat als Abgrenzung angelegt, erst mal tendenziell
feindlich. Natürlich werden irgendwann wie in jeder guten Partie Risiko-Allianzen geschmiedet – die aber oft
nicht sehr nachhaltig sind.
»Je artifizieller seine Entstehung (des Staates), desto prekärer und hysterischer das Nationalgefühl. … Insofern
setzt eine ordentliche Nationalgeschichte die Fähigkeit
voraus, zu vergessen, was ihr nicht in den Kram paßt«,
schreibt Hans Magnus Enzensberger in ›Die Große Wanderung‹. Kann rechtes Denken innerhalb solcher Struk-
turen, wenn wir sie einmal für Deutschland annehmen,
überhaupt jemals überwunden werden?
Keine Ahnung. Moderne Nationalstaaten sind weitgehend beliebig. Insofern ist so ein Nationalgefühl auch
irgendwie Quatsch. Frag doch die Leute aus Niederbayern, wer ihnen kulturell näher ist: Niedersachsen oder
Oberösterreich. Ich finde es lächerlich, so beliebige Nationen wie Österreich oder Deutschland zu bejubeln.
Aber ich weiß nicht, ob rechtes Denken zwangsläufig an
eine Nation gebunden ist. Das kann ja auch viel kleinere Strukturen betreffen, oder viel größere. Es geht um
ein Überlegenheitsgefühl, und das ist eine dem Menschen immanente Schwäche. Das kriegt man nicht raus.
»love«, »familie«, »philosophie« nennst du die drei Stückebenen. Inwiefern sind Liebe, Familie und Philosophie
fundamentale Elemente rechten Denkens?
Die Liebe zu den »Eigenen«; Familie als Keimzelle jeder Bewegung; Philosophie zur ideologischen Unterstützung, zur Erklärung und Legitimation des eigenen
Handelns.
Welche Erscheinungsformen rechten Denkens findest
du am bedrohlichsten, welche bereiten dir am meisten
Sorge?
Diese antistaatlichen Bewegungen wie die so genannte
Pegida oder die Alternative für Deutschland, die weite
Teile der Gesellschaft ablehnen. Da wird ein Klima geschaffen des »die gegen wir«, was ein idealer Nährboden ist für Gewalt und Faschismus, legitimiert durch
subjektiv erlebte Selbstverteidigung.
Der Figur des Sohnes, Peter, legst du eins zu eins Zitate
aus Manifesten rechter Gruppen und aus den Dresdner
Thesen von eben jenen Pegida-Anhängern in den Mund
und lässt diese weitgehend unkommentiert für sich sprechen. Beim Lesen entsteht Unbehagen, weil die Texte auch
ungemein eloquent, rhetorisch versiert sind. Wie ging es
dir damit?
Ach, ich finde die lustig. Rhetorik ist ja nur dann gefährlich, wenn man sich darauf einlässt. Dann ist die
Gefahr recht groß, dass man beim Zuhören denkt: Ja,
stimmt eigentlich. Aber wenn man sich die ganze Zeit
vor Augen hält, dass die Personen, die das geschrieben
haben, schlicht Nazis sind, dann ist man, glaube ich,
nicht in Gefahr. Aber ich arbeite natürlich mit der Verführungskraft dieser Sprache, in der Hoffnung, den Rezipienten zum einen ihre eigenen Rassismen deutlicher
zu machen und zum anderen die Autoren dieser Texte
zu entdämonisieren. Das sind einfach nur Menschen,
manche von ihnen können gut schreiben, mehr ist das
nicht. Doof bleibt doof.
Du stellst in dem Stück viele Stile und Tonhöhen nebeneinander, lässt sie einander überlagern, spielst mit Klischees und Brüchen, montierst Zitate unterschiedlichster
Herkunft. Daraus ergibt sich eine spröde Ästhetik. Allen
Figuren ist eine große Künstlichkeit gemeinsam, obwohl
du auch O-Töne, also dokumentarische Elemente, einsetzt. Worin bestand der Reiz, diese »Vielstimmigkeit« zu
rhythmisieren?
Meine Aufmerksamkeitsspanne ist als Kind der 80er
recht kurz. Deshalb habe ich eine Tendenz zu schnellen
Schnitten und schnellen Wechseln. Ich langweile mich
schnell. Und immer, wenn ich mich langweile, denke
ich: So, jetzt reicht’s, neue Szene.
Wie würdest du dein Verfahren, mit Texten aus ganz unterschiedlichen Quellen zu arbeiten, beschreiben?
Text ist immer Intertext. Es gibt kein Originalgenie, keinen Menschen, der nie etwas konsumiert hat und allein
aus sich heraus schöpft. Schriftstellerei, Theater, jede
Kunst besteht aus der Rekombination bestimmter Einflüsse, besteht aus Intertextualität.
Die dystopischen Welten, die du in deinem Schreiben
entwirfst, sind Zuspitzungen jener Welt, in der wir leben.
Wer alle deine Stücke liest, wird feststellen, dass sie stets
mit demselben rätselhaften Nachsatz enden: »SWEET
DREAMS..« Ausdruck von Zynismus oder entschlossene
Aufforderung, mit Ausdauer am Besserwerden der Welt
weiterzuarbeiten?
Vielleicht auch einfach der Wunsch des Autors an die
Rezipienten, eine gute Nacht zu haben.
37
Jörn Klare
Am Rand
Eine Begegnung in der Türkei
Am Ende unserer Begegnung wird er mir das Benzin
zeigen, mit dem er sich verbrennen will. Zwei kleine
Kanister in einem Nebenraum seiner kargen Hütte.
»Warum?«
»Mein ganzes Leben lang war ich illegal. Ich habe genug
schlechte Erfahrungen gemacht.«
Foto: Joachim Zimmermann
Wir begegnen uns im Wartezimmer einer Menschenrechtsorganisation im Osten der Türkei. Ich möchte
etwas über die Situation der Kurden hier erfahren. Er
hockt neben mir und spricht mich unvermittelt an. Ein
schlanker, fast schmächtiger Mann, Anfang dreißig.
Sein dunkelrotes Haar ist in der Mitte gescheitelt, er
trägt billige Turnschuhe, ausgewaschene Jeans und ein
weißes T-Shirt mit orangefarbenen Ärmeln, das für die
Strände Floridas wirbt. Seine Augen sind blassgrün, die
Traurigkeit in seinem Blick kann ich kaum ertragen.
»Ich will dir meine Geschichte erzählen.«
Später sitzen wir in einem Café, trinken Tee. Es geht um
sein Leben. Seine Kindheit in Afghanistan, der Tod des
Vaters, als er fünf ist, der Tod der Schwester, als er zwölf
ist, der Tod des Bruders, als er fünfzehn ist. Kämpfe im
Krieg und Kämpfe ohne Krieg. Raketen, Granaten, Kugeln, Messer.
»Erzähl mir von deinen guten oder glücklichen Erinnerungen.«
»Die gibt es nicht. Nur Tragödien.«
38
Er spricht leise. An den Nebentischen sollen sie nicht
hören, was er sagt. Sein Englisch ist schlecht, er hat es
auf der Flucht gelernt. Immer wieder sucht er nach Worten. Er redet von der großen Nationalmoschee im pakistanischen Islamabad, der Stadt, in der seine Tante lebt.
»Der erste Sex meines Lebens.«
Er ist etwa fünfzehn Jahre alt, als ihm klar wird, dass er
homosexuell ist.
»Es war ein ganz natürliches Gefühl.«
Am Anfang denkt er, dass das vorübergeht, dass er mit
der Zeit so wird, wie die anderen sind. Ein Jahr vergeht
und noch eins.
»Ich dachte, dass ich der einzige Mensch auf der Welt
bin, der so ist.«
Es gibt in dieser Zeit niemanden, mit dem er offen sprechen kann. Seine Familie ist sehr religiös, sie würde ihn
verstoßen oder Schlimmeres tun. Er verschließt sich. Als
er seine Tante in Islamabad besucht, ist er achtzehn Jahre
alt. Ein Türsteher der Moschee, in der es einen versteckten Sanitätsraum gibt, wird sein Freund und Geliebter.
»War das nicht ein Moment, in dem du glücklich warst?«
»Sex ist nicht Glück. In dieser Stadt hier habe ich viel
Sex. Es bedeutet nichts.«
Wir bezahlen den Tee und gehen in der Stadt spazieren.
Es fällt ihm leichter zu sprechen, wenn wir uns nicht in
die Augen schauen. Ein Jahr nachdem er aus Pakistan
zurückgekehrt ist, schließt er die Schule ab, verlässt
Jörn Klare, geboren 1965, schreibt Features,
Reportagen (u.a. für den Deutschlandfunk und
Die Zeit), Sachbücher und Theaterstücke. Klare
erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen.
Viel diskutiert wurden seine Sachbücher Was bin
ich wert? Eine Preisermittlung (Suhrkamp, 2010,
wurde 2014 verfilmt) sowie Als meine Mutter
ihre Küche nicht mehr fand. Vom Wert des Lebens
mit Demenz (Suhrkamp, 2011).
seine Heimatprovinz, studiert in der Hauptstadt Kabul.
Es herrscht Krieg und die Universität ist zu großen Teilen zerstört. Er hat heimliche Beziehungen zu älteren
Männern, die meisten sind verheiratet, einer ist Arzt,
ein anderer Armeeoffizier. Dann erobern die Taliban
die Stadt, die Universität schließt, und jeden Freitag
werden auf öffentlichen Plätzen Menschen aufgehängt,
weil sie homosexuell sind. Er kehrt in sein Dorf zurück
und begegnet einem schönen, jungen Mann.
»Er flirtete mit anderen Jungen, die ihn wütend abwiesen. Ich dachte nicht, dass er sich für mich interessiert.
Doch dann probierte er es auch bei mir.«
Nach einigen Wochen wird ein Onkel misstrauisch, sie
müssen fliehen. Kurz schaut er mich an, wir sitzen am
Ufer eines großen Sees, dann starrt er auf sein billiges, aus bunten Schnüren geflochtenes Armband. Seit
jenem Tag hat er seine Mutter, die ihn gegen alle Verdächtigungen und Anschuldigungen verteidigte, nicht
wiedergesehen. Sie kennt die Wahrheit nicht.
»Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden.«
Schweigen.
Wir stehen auf, gehen weiter. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Nach einer Weile spricht er von seiner Flucht.
Von ihrem Dorf aus laufen die beiden jungen Männer
Richtung Iran, ein Schmuggler bringt sie über die Grenze und lässt sie die 100 Dollar, die er verlangt, zwanzig
Tage lang abarbeiten. In Teheran schlagen sie sich mit
Gelegenheitsjobs durch. Niemand merkt, dass sie ein
Paar sind.
»Aber war das nicht so etwas wie Glück?«
Er schüttelt den Kopf.
»Ständig sprach er davon, ein Mädchen zu heiraten,
nannte mich nutzlos und sagte, dass er mich gar nicht
will.«
Als Afghanen werden sie von den Iranern abgelehnt, immer wieder hören sie, dass sie den Einheimischen die
Arbeit nehmen und in ihre Heimat verschwinden sollen.
»Dort habe ich mich sehr fremd gefühlt.«
Er hofft auf ein freies Leben in Westeuropa und zieht allein weiter. Mit Hilfe von Schleusern schafft er es nach
Istanbul, die Polizei greift ihn auf, schafft ihn wieder an
die iranische Grenze, zwingt ihn, nachts durch die Berge Richtung Osten zu gehen, wo ihn iranische Polizisten
aufgreifen und wieder zurückschicken.
»Ich sagte ihnen, dass ich aus Afghanistan bin. ›Nein‹,
sagten sie, ›du bist aus der Türkei in unser Land gekommen. Dahin sollst du zurück.‹«
Das ist der einzige Moment unserer Begegnung, in
dem er so etwas wie ein Lächeln zeigt. Ein paar Monate später ist er wieder in Istanbul, dreimal scheitert
er bei dem Versuch, weiter in den Westen zu kommen.
Dann gibt er auf und bittet das UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, um Hilfe. Da er
aus dem Iran gekommen ist, schicken sie ihn wieder
Stücke
Du sollst den Wald nicht vor
dem Hasen loben
2D
UA: 28.1.2015
Staatstheater Karlsruhe
Regie: Katrin Plötner
Der frühe Hase fängt die Axt
2H
UA: 10.4.2015
Staatstheater Nürnberg
Regie: Kathleen Draeger
39
in diese Richtung zu einer Außenstelle in den Osten
der Türkei. Gut 100 Kilometer sind es von hier bis zur
iranischen Grenze. Seit zwei Jahren wartet er auf eine
Entscheidung oder auch nur auf irgendein Zeichen, wie
es mit seinem Leben weitergehen soll. Er bekommt keine Unterstützung, keine medizinische Versorgung und
darf nicht arbeiten.
»Manchmal trage ich Frauenkleider.«
Als er sich das erste Mal für Sex bezahlen lässt, gibt
ihm der Mann umgerechnet elf Euro. »Zuerst wollte ich
das nicht.«
Eine iranische Transsexuelle hat sie zusammengebracht.
»Sie selbst mag nur die Jungen, ich mag nur die Älteren. Wenn die ihr folgen, sage ich, dass sie bei ihr keine
Chance haben, und frage, ob sie vielleicht mich wollen.«
Seine Kunden sind Türken und Kurden aus allen Gesellschaftsschichten. Zwei oder drei in der Woche. Mehr
will er nicht.
»Es kostet zu viel Kraft. Ich bestehe darauf, dass sie
auch mich befriedigen. Es geht ja auch um Liebe. Ich
will sie wirklich sehr, aber sie kommen nur ein- oder
zwei- oder dreimal zu mir. Keiner will eine Beziehung.«
Manchmal verprügeln sie ihn. Auf Kondome verzichtet
er, vor dem HI-Virus hat er keine Angst. Er hat dieses
Leben ohnehin satt.
»Und deine Kunden?«
»Die meisten sind Familienväter. Einige fragen, ob ich
auch Beziehungen zu anderen Männern habe. Ich sage,
dass ich nur sie liebe.«
Wir sind an seiner Hütte am Stadtrand angekommen.
Ein kahler Raum, auf dem Betonboden liegt eine Matratze, er setzt sich darauf, bietet mir einen Plastikhocker
an. Andere Möbel gibt es nicht. Die Länder in Westeuropa haben hart für ihren Lebensstandard gearbeitet, sagt
er, und er versteht, dass sie das für sich getan haben
und nicht für den Rest der Welt.
»Wenn, dann wollen sie gut ausgebildete Flüchtlinge
oder welche mit viel Geld. Leute wie mich wollen sie
nicht. Ich würde sie belasten. Selbst wenn ich es zu
euch schaffen würde, glaube ich nicht, dass ihr mich
akzeptiert. Das ist unmöglich.«
Er will kein Illegaler und kein Fremder mehr sein. Zu
lange ist er dem Glück oder einer Idee von Glück hinterhergerannt, als dass er noch daran glauben könnte.
Er plant eine letzte Aktion, sie soll vor dem Büro des
UNHCR stattfinden, das ihn so schlecht behandelt hat,
wobei die dort doch wissen müssen, wie es Homosexuellen in Afghanistan ergeht. Er denkt an ein Fanal.
»Du kommst mir wie ein Selbstmordattentäter vor.«
Er nickt, als wäre es ein Kompliment.
»Ja, aber die töten sich selbst, um möglichst viele andere Menschen mit in den Tod zu ziehen. Ich will es tun,
um anderen zu helfen.«
Ich will ihm Geld geben, das er ablehnt. Er will, dass
ich seine Geschichte weitererzähle. Ich biete an, ihm zu
helfen, wenn er es bis Deutschland schafft. Er schüttelt
den Kopf. Er will nicht mehr nach Deutschland. Bevor
ich gehe, will er mir im Nebenraum noch etwas zeigen.
Die Recherchen für seine Reportagen haben Jörn Klare,
neben der Türkei, bereits in über 30 Länder geführt. Dauerhaft beschäftigt ihn der Begriff »Heimat« (im Frühjahr
2016 wird sein Buch »Nach Hause gehen« erscheinen),
der auch das Thema seines neuen Monologes, »Melken«,
sein wird: »Wie soll man ›Willkommen‹ sagen, wenn man
selbst nicht mehr die Heimat hat?«, fragt darin ein alter
Mann aus dem Osten Deutschlands. Das Dorf, in dem er
lebt, ist so gut wie ausgestorben, doch seit einigen Tagen
sieht er vor seinem Fenster fremde Menschen und blickt
zurück auf sein Leben.
»Er will kein Illegaler und kein Fremder mehr sein.
Zu lange ist er dem Glück oder einer Idee von Glück hinterhergerannt,
als dass er noch daran glauben könnte.«
40
Thomas Köck
Isabelle H.
geopfert wird immer
Daniel C. hat es nicht leicht. Gerade zurückgekehrt vom
Einsatz in einem der vielen Krisengebiete dieser Welt,
deutet sein Umfeld zu Hause seine Kriegserfahrungen
als posttraumatische Störung. Der Auslandseinsatz
muss ja schließlich seine Spuren hinterlassen haben
(auch wenn Daniel ganz anders darüber denkt). Was
ihm dort aber wirklich widerfuhr, kann niemand auch
nur ahnen. Auf einer Raststätte trifft er schließlich eine
Anhalterin, eine Geflüchtete. Sie nennt sich Isabelle
Huppert und wird von der Polizei gesucht. Nun kann
Daniel endlich den Helden spielen, der er immer sein
wollte. Und die Grenzen zwischen Opfer und Täter beginnen zu verwischen …
Auf unterschiedlichen Erzählebenen entwickelt Thomas Köck ein packendes, fast absurd erscheinendes
Roadmovie, spielt mit den Klischeevorstellungen vom
Krieg, von Misshandlung, von Flüchtlingen, Menschentransporten und Grenzbeamten. Sein Stück besticht
durch sein Gespür für erschreckend aktuelle Themen,
den hohen Grad an sprachlich-theatraler Gestaltungskraft, nicht zuletzt aber auch durch seinen schwarzen
Humor. Ein Kommentar zur vom Scheitern bedrohten
europäischen Flüchtlingspolitik. Und eine Hommage
auf eine große Schauspielerin, die gerade in der Darstellung von Schrecken und Leid zu ihrer wahren Größe
findet. (2 D, 2 H)
Uraufführung: 7. Januar 2016, Pfalztheater Kaiserslautern,
Regie: Ingo Putz
Thomas Köck, 1986 in Steyr, Oberösterreich, geboren. Sozialisiert
durch Musik, studierte er zunächst in Wien und Berlin Philosophie
und Literaturwissenschaften, seit 2012 Studium des Szenischen
Schreibens an der Universität der Künste in Berlin mit Aufenthalt am
Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien. Mit jenseits von fukuyama gewann Köck den
Osnabrücker Dramatikerpreis 2014. Im Februar 2015 erhielt Köck
für sein Stück Isabelle H. (geopfert wird immer) den Stückepreis
des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises, verbunden mit einer
Uraufführung am Pfalztheater Kaiserslautern. Er erhält das ThomasBernhard-Stipendium 2015 am Landestheater Linz und das Wiener
Dramatikerstipendium. Das Stück paradies fluten (verirrte sinfonie)
war eingeladen zum Heidelberger Stückemarkt 2015. In der Spielzeit 15/16 ist Köck Hausautor am Nationaltheater Mannheim.
Stücke
jenseits von fukuyama
3 D, 2 H
UA: 17.5.2014
Theater Osnabrück
Regie: Gustav Rueb
41
Klimatrilogie
paradies fluten
paradies hungern
verirrte sinfonie
teil eins der klimatrilogie
teil zwei der klimatrilogie
Wassermassen gleich dringen die Worte und Bilder auf
uns ein, die Thomas Köck im ersten Teil seiner ›Klimatrilogie‹ entwirft. Sind es Fluten aus dem Paradies,
die hier anrollen als Fluch, Rache oder Segen für die
Erde? Oder wird gar das irdische Paradies selbst geflutet, unbewohnbar gemacht? Sprachgewaltig und von
melancholischer Komik durchsetzt, schlägt der Autor
virtuos einen Bogen von der Frühphase der Globalisierung bis ins Heute: vom Kautschukboom des späten 19.
Jahrhunderts, dem ganze Landstriche und Völker zum
Opfer fallen, über den wahnwitzigen Export bürgerlicheuropäischer Kultur durch den Bau des Opernhauses
Teatro Amazonas, bis hin zur Geschichte einer Tänzerin, die die nackte Gewalt der heutigen Arbeitswelt –
voll flexibilisiert, auf Projektbasis und im Selbstmarketing – zu spüren bekommt. Werden die Fluten das
letzte bisschen Menschlichkeit dieser Erde wegspülen
wie ein Gesicht im Sand am Meeresufer?
Ein Stück für u. a. ein ertrinkendes Tanzensemble, ein
erschöpftes Symphonieorchester, zwei Überlebende in
Klimakapseln und eine durchschnittliche weiße mitteleuropäische Familie. (Besetzung variabel)
Für paradies fluten erhält Thomas Köck den
Kleist-Förderpreis 2016.
Sind es im ersten Teil der Klimatrilogie große, global
erfahrbare Strömungen, die zu sozialen, ökonomischen
und ökologischen Verwerfungen führen, so begegnen
wir im zweiten Teil der Trilogie mit Ben, Maggie und
Caro drei Menschen, die hungern und dürsten nach
Kommunikation, Gemeinschaft, Zwischenmenschlichkeit. Ben, dessen Einsamkeit letztlich das Misstrauen
seines Nachbarn erregt, bis dieser schließlich die Polizei auf ihn hetzt. Maggie, die sich von der Peripherie in
die Mitte der Stadt vorgearbeitet hat, aber in der Angst
lebt, wieder an deren Rand gedrängt zu werden. Und
schließlich Caro, die als Kriegsreporterin in einem Luxushotel in der Wüste festsitzt und auf der Suche ist
nach dem einen Bild, der einen Story.
Die drei Orte des Stücks – Wüste, verödete Großstadtperipherie und die leere Wohnung – werden so zu Schauplätzen der Vereinzelung angesichts der Erfahrung des
Verlusts gesellschaftlicher Utopien. Wir begegnen Menschen, die aufgrund ihrer traumatisierenden Erlebnisse
mit Bilderfluten in ihren Köpfen konfrontiert sind, deren Gewalt mit Sprache nur schwer beizukommen ist.
(2 D, 1 H)
Uraufführung: 24. Oktober 2015
Hessisches Landestheater Marburg, Regie: Fanny Brunner
Am dritten Teil der Klimatrilogie schreibt der Autor.
Koproduktion Staatstheater Mainz, Ruhrfestspiele
Recklinghausen, Kleist Forum Frankfurt/O.
Uraufführung: 2. Juni 2016, Recklinghausen
September 2016, Staatstheater Mainz
42
Paul Brodowsky
Kapillare Weltzusammenhänge
Zu Thomas Köcks Theaterstücken
Vor dem Fenster steht ein Baum. Sagen wir eine Linde.
Dieser Baum ließe sich besingen, man könnte von den
Menschen erzählen, die ihre Namen in seine äußere
Rindenstruktur ritzten, von den Kindern, die unter der
Krone nach Ästen suchen, um Krieg zu spielen mit
hölzernen Handfeuerwaffen. Man könnte den Baum,
sagen wir einen Ahorn, auch als Teil des öffentlichen
Raumes beschreiben, gepflanzt und gehegt mit Steuergeldern, reguliert und beschnitten, um Doppeldeckerbusse und Sattelschlepper voller Warentermingüter
berührungsfrei unter sich passieren zu lassen. Man
könnte den Material-, den Brennwert dieser Esche taxieren. Man könnte Fotos von der Ulme schießen und
zur Not die Kontraste auf den Bildern hochfahren. Oder
im Smartphone den Sepiabutton antippen und erzählen, wer an den Ästen dieser Eiche vor siebzig, vor achtzig Jahren aufgeknüpft wurde. Man könnte den Baum,
einen Ginko, als Naturereignis feiern, seine Vergänglichkeit, seine zyklische Ruhe beschwören, man könnte ihn reappropriativ mit einem Wollschal umstricken,
dann kämen andere vorbei und rissen Witze über den
Wollschal, der den Baumhals wärmt, einfach nur, um
die Zeit totzuschlagen. Oder man könnte trocken feststellen, dass diese japanische Zierkirsche im langjährigen Mittel von Jahr zu Jahr früher blüht und später
ihre Blätter abwirft. Thomas Köck würde den Baum,
eine balkanische Rosskastanie in voller Blüte, vermutlich vor unseren Augen ausreißen und vor uns in die
Luft halten. Und zwar so, dass wir einen Moment lang
in den Abgrund schauen dürften, in den Erdtrichter
unter seinen Wurzeln: Fernsehkabel und Fernwärmeleitungen, Wurmfraß und Zivilisationsschrott. In einer
atemberaubenden Kamerafahrt würde unser Blick an
Haarwurzeln und Rhizome herangeführt, bis sich diese
Mikrokosmen in ihrer spannungsreichen Komplexität
als Weltbilder vor uns auffalteten, um dann Zeuge zu
werden, wie der Baum in einer einzigen raschen Bewegung verkehrt herum, Krone voran, in die Erde zurückgesteckt würde.
Als Autor, zumal als Theaterautor sitzt man Tag für
Tag, Satz für Satz vor einem blassblauen, leeren
Screen. Die Themen, die uns alle betreffen, stehen uns
bis zum Hals: die Verwerfungen eines irrwitzig entfesselten Kapitalismus, die sich im Bereich von Medien
und Politik mehrenden Symptome einer postdemokratischen Gesellschaft, die Klimakatastrophe, das Elend
der Geflüchteten, der jeweils eigene und im Vergleich
zu den jetzt schon genannten Themen triviale, aber
immer wieder heimtückisch in die Kniekehlen schlagende, tief im Hirn verankerte neoliberale Hang zur
Selbstoptimierung und Selbstausbeutung. Hier jetzt
Unterbrechung: Ich muss mal nur kurz ein paar Mails
beantworten, dann bin ich gleich mit einer Kollegin,
die vorgestern eine katastrophale Premiere hatte, bei
Kimchi Princess zum Mittagessen verabredet, wir haben allerdings nicht viel Zeit, später schnell die Kinder aus der Kita holen, diesmal bitte möglichst ohne
Geschrei vor der grauhaarig-depressiven Verkäuferin
Kinderwinterschuhe kaufen, es hat tatsächlich geschneit am Wochenende. Das Problem an den großen,
weltumspannenden Krisenthemen ist: Sie sind auf den
ersten Blick zutiefst untheatral. In ihrer Komplexität
meint man ihnen eigentlich nur mithilfe soziologischer
Studien oder kulturkritischer Essays zu Leibe rücken
43
zu können. Oder sie unterfliegen zu müssen, wie es
wahlweise der anheimelnde Featurejournalismus beziehungsweise die aufmerksamkeitsökonomisch zugespitzte, sensationshungrige Echtzeitmedienmaschine
tagtäglich für uns tut. Sich als Theaterautor aus diesen
immer weiter hereintickernden Gewöllebergen herauszuschlagen ist auch deshalb keine leichte Aufgabe, weil
es uns – zumindest auf den ersten Blick – gut geht: Wir
leiden keinen Hunger, wir leben in keiner Diktatur, genießen weitreichende Freiheiten. Untheatral sind diese
Zusammenhänge zudem deshalb, weil sie sich kaum
personalisieren lassen: Wenn PeterLicht einen Abgesang auf »den Kapitalismus, den alten Schlawiner«
einsingt, ist das vor allem das ironische Eingeständnis der Ungreifbarkeit dieses übermächtigen Gegners.
Die verheerenden Brüche und Fehlleistungen unseres
Weltzusammenhangs hat niemand persönlich zu verantworten, sie sind systemisch, liegen begründet in der
eingeimpften Mikrophysik unseres Denkens oder in
transnationalen Strukturen, in, wie es so schön heißt:
Sachzwängen, die wir meist schnell als alternativlos,
als kleinstes aller denkbaren Übel anzusehen bereit
sind.
Innerhalb dieser Rahmenbedingungen eine bühnentaugliche, subjektzentrierte Sprechposition zu behaupten, scheint mindestens heikel. Nicht ohne Grund
haben die relevanteren Dramatiker der letzten Jahre,
also etwa René Pollesch, Kathrin Röggla und Elfriede
Jelinek, Figuren in ihren Texten von der Bühne weitgehend verabschiedet, um sich mit unterschiedlichen
Mitteln (und wechselndem Erfolg) der textflächigen
Untersuchung von Diskursen zuzuwenden. Und nicht
ohne Grund fallen Zuschauern, Lesern und Theaterkritikern von Thomas Köcks Texten diese drei Autoren
44
ein, wenn sie seine Stücke lesen oder sehen – man
merkt Köcks Texten an, dass er diese Postdramatiker
emphatisch rezipiert hat.
Zugleich gehen Köcks Texte aber einen Schritt weiter.
Sein hochdekoriertes Debütstück trägt den programmatischen Titel jenseits von fukujama: Köcks Texte
sind bevölkert von Rudimentfiguren, Gespenstern eines subjektzentrierten Sprechens. Typisch dafür sind
die exzessiven Chor- und sprecherlosen Spiegelstrichpassagen, aus denen sich aber immer wieder individualisierte Sprechpositionen herauskristallisieren. Als
Symptom dieser auswuchernden Figurationen lassen
sich etwa die absurden Sprecherbezeichnungen lesen:
»EINIGE BEZAHLTE JUNGSPUNDE DER CLUB
DER UNSICHTBAREN HAND SCHLÄGERBANDEN JETZT ÜBEREINANDER HERFALLEND WIE
DIE RATTEN WÄHREND DIE GUMMIBARONE
ERLEICHTERT ZUSCHAUEN AUF DEN STRASSEN WIEDER BLUT DIE PRESSE IST ENTSETZT
IM DSCHUNGEL TERROR KRIEG WILDE UND
DIE BEDROHUNG EUROPAS GIFTGASWAFFEN
WERDEN SCHON GESUCHT
bei aufständen in den kautschukwäldern rund um
manaus kam es zu den schwersten zusammenstößen von sicherheitskräften und terroristischen kräften seit der geschichte der kolonialisierung […]«
Eingemischt sind aber auch immer wieder stärker konturierte Figuren, durch die Weltgeschehen und Persönliches wie durch einen lebensgroßen Liveticker gefiltert werden:
»eine tänzerin dreht jetzt alleine auf einer bühne
ihre runden sie dreht mehrere auf einmal fällt stolpert steht aber sofort wieder auf und wiederholt alles noch einmal in großbritannien ziehen die herbeiprognostizierten werte für jugendarbeitslosigkeit
tiefe gräben durch die gesellschaft die dort nicht
existiert vor afrika ist ein schiff mit zweitausendfünfhundert containern voller macbooks gekentert
fischer sammeln jetzt die teuren elektronischen sonderteile ein tauchen ohne ausrüstung in lebensgefährliche tiefen apple zahlt monsterpreise aus einem
versicherungsfonds der mit dem kentern des schiffs
schwere schäden an der börse hinterlassen hat […]
echte nacktfotos von berühmten superstars erregen
weltweit aufsehen die tänzerin kann nicht mehr und
überprüft jetzt ob sie neue nachrichten erhalten hat
sie dehnt sich dabei manchmal lächelt sie und atmet erleichtert auf sie wiederholt ihre übung noch
einmal«
hocherregten indirekten Rede von einem aberwitzigen
Humor; zugleich scheint dahinter das Drama einzelner,
individueller Subjekte mit ganz realen Verzweiflungen
immer noch auf. Diese Gleichzeitigkeit von Ernsthaftigkeit und Ironie, von diskursgetränktem Bewusstseinsstrom und verzweifeltem Aufbegehren figurenhafter
Knotenpunkte im Diskurs machen Köcks speziellen
dramatischen Zugriff aus.
Wenn wir jetzt aus dem Fenster schauen, sehen wir
dort keinen Baum mehr, sondern einen Ausschnitt, einen kapillar verwurzelten Zipfel des Weltzusammenhangs, der vor uns ausgebreitet worden ist, den wir
jetzt durchdrungen und neu, anders, überraschend
begriffen haben.
Paul Brodowsky schreibt Prosa und Dramatik; seine Prosa erscheint im Suhrkamp Verlag. Er unterrichtet Szenisches Schreiben
an der Universität der Künste Berlin im Rahmen einer Professur
für »Dramentechnik«.
Hier werden individuelles Bewusstsein, also die konkrete persönliche Situation, mit realen – aber auch mit
aberwitzig-erfundenen – massenmedialen Ereignissen
in einem beinahe Joyceschen stream-of-consciousness
ansatzlos miteinander verschleift. Wir unterbrechen
den Text für einen kurzen Schlagabtausch mit dem stellvertretenden Chefredakteur der Welt-Gruppe, dessen
selbstgefällig-xenophober Facebookpost zur aktuellen
Flüchtlingskrise nicht unkommentiert stehen gelassen
werden konnte. Diese gebrochenen Figurensprechpositionen wirken zugleich hochgradig komisch, auch und
gerade weil sie wie ein permanenter Kommentar auf
das alte figurenzentrierte Sprechen daherkommen. Die
Vater-Mutter- und Mutter-Tochter-Dialoge in paradies
fluten sind in ihrer vor Ausrufezeichen strotzenden,
45
Mehdi Moradpour studierte Physik und Industrietechnik in Nur und
Qazvin, Iran. 2001 flüchtete er nach Deutschland. Er hat in Leipzig
und Havanna Hispanistik, Amerikanistik und Arabistik studiert. Er lebt
als Autor, Übersetzer und Dolmetscher für Persisch und Spanisch in
Berlin. 2013 war er mit reines land für den Münchner Förderpreis für
deutschsprachige Dramatik nominiert. 2014 wurde er in den Lehrgang
Forum Text an der UniT Graz aufgenommen. 2015 bekam er den Jurypreis des 3. Autorenwettbewerbs der Theater St. Gallen und Konstanz
für mumien. ein heimspiel. Sein Musiktheaterstück chemo brother wird
am 30. April 2016 an der Deutschen Oper Berlin Premiere haben.
46
Foto: Neda Navaee
NEU IM THEATER VERLAG
INGRID L AUSUND
Mehdi Moradpour
türme des schweigens
Sperber kann schweigen. Er hat seine Habichtaugen
geschlossen und spricht nicht mehr. Sein Koma hat
ihn in ein schützendes Schweigen gehüllt, die grellen
Licht- und Tonsignale des Krankenhauses legen sich
als Dämmschicht zwischen ihn und seine ungelösten
Beziehungen. »warum hast du mir immer die weltgeschichte erzählt, aber nicht darüber, wer du bist? und
wer ich?«, fragt ihn seine älteste Tochter Dana. Mit ihr
war seine Frau Sepi schwanger, als Sperber gefoltert
wurde – und schwieg. Sepi und Sperber haben sich im
politischen Widerstand kennengelernt. Und noch immer sind sie, die beiden Lebensextremisten, über ihre
Liebesgeschichte und ihre Töchter miteinander verbunden. Obwohl das Unsagbare am Erlebten sie einander
zunehmend fremd macht. Sepi entlässt ihre Gefühle,
ihren Kopf und ihren Körper in eine leidenschaftliche
Beziehung zu dem Proktologen Veit, der in sie hin-
einhorcht und -forscht. Für Dana wird der geknebelte
Lustschrei beim Sex mit ihrer Freundin Jenny zum Entlastungsmoment aus allem Verschwiegenen. Und Tana,
die jüngere Tochter, nimmt überhaupt nur vorsichtig
und stotternd Kontakt auf zu ihrer Familie und empfängt lieber akustische Signale aus der Tierwelt.
In türme des schweigens umkreist Mehdi Moradpour die
Gefühlswelt und Beziehungskonstellation einer Familie,
in der die unaufgearbeiteten politischen Erfahrungen der
Eltern auch das Leben der Töchter in Beschlag nehmen.
Wie ein Tinitus, der alle stetig durchdringt. Moradpour
formiert seine Figuren in eine immer hermetischere
Konstellation und strenge Komik, bis sie nicht mehr anders können, als miteinander in Verhandlung zu treten,
um die Last des Schweigens offensiv zu teilen. (3 D, 2 H)
Frei zur Uraufführung
mumien. ein heimspiel
Alle haben sie eine Art Beziehung zu Mamal. Zu Mamal,
dem ehemaligen Angehörigen des Paramilitärs, dem Soldaten, dem Folterer vom Dienst, dem Gefolterten, dem
Geliebten, dem Fluchthelfer, dem »scheinschwulen Kommunistenaraber«, dem Flüchtling. Nur ist Mamal jetzt
verschwunden. Nicht mehr auffindbar in dem und um
das Heim für Asyl und Soziales, in dem er gerade noch
offiziell gelebt hat und das die Drehscheibe ist in diesem
Stück. Zurück bleiben lose Beziehungsstränge, die in die
Gespräche der Zurückgebliebenen hineinragen und neu
verknüpft werden auf der Suche nach der Geschichte, die
sich ereignet hat. Und dabei fliegen neue Geschichten auf,
die sich mal manifest, mal andeutungsweise zwischen
Mehdi Moradpours Figuren ereignen: zwischen Otto,
dem Heimleiter, der in einer Lebenspartnerschaft mit
dem ehemaligen Heimbewohner Davoud eingetragen ist.
Davoud, kurz Dud, wiederum ist in eine Affäre verstrickt
mit Ada, die sich in eine Ehe mit dem fast verstummten
Computerspezialisten Pep nach Europa gerettet hat. Um
sie alle kreist Viv mit ihren einladenden Augen, eine Sozialforscherin mit Vorliebe für Taxidermie und Mumifizierung. Szene für Szene seziert Mehdi Moradpour mit
seiner poetischen, hoch sensiblen Sprache als Werkzeug
einen Körper von außen nach innen, vom Leib bis in die
Blutkörperchen. Einen Erzählkörper, der alle Figuren –
ihre Sehnsüchte, ihre Suche nach Anschluss – miteinander verbindet. Dabei gelingt es ihm, Zusammenhänge zu
eröffnen, ohne eine Version dominant werden zu lassen.
Die Wahrheit über Mamals plötzliches Verschwinden
und die Frage, wie sich Flucht in die Körper und ihre
»Wertigkeit« einschreibt, werden dabei immer komplexer. Und das Verschwinden geht weiter. (2 D, 3 H)
Uraufführung: 9. April 2016, Theater Konstanz /
Schweizer Erstaufführung: Juni 2016, Theater St. Gallen
Regie: Andreas Bauer
47
»Von der Wunde leben«
Mehdi Moradpour über ›türme des schweigens‹ im Gespräch mit Miriam Denger
48
Mehdi Moradpour, in Ihrem neuen Stück schreiben Sie
über den missglückten Versuch von Menschen, miteinander und mit der Welt in Verbindung zu treten – über
Eltern, die daran scheitern, ihren Töchtern von früher zu
erzählen. Zu Beginn des Stücks hat diese Stille eine extreme Form angenommen: Sperber, der Vater, liegt im Koma.
Wie lässt sich für das Schweigen eine Sprache finden?
Es gibt eine Schnittstelle zwischen dankbarem und
quälendem Schweigen. Ich habe versucht, aus dieser
Schnittstelle heraus eine Sprache zu finden. Ich arbeite
oft mit ungewöhnlichen Metaphern, die nicht organisch
sind, mit Strukturen von Sprachstörungen, mit Anakoluthen, also Satzbrüchen, oder komprimierter Sprache.
Als wir den Text mit Schauspielern zusammen ausprobierten, fanden wir heraus, dass er sich wie Schaum
anfühlt: ein Sprachschaum, in den man mit der Hand
hineingreift und den man doch nicht ganz zu fassen
bekommt.
idee, die ich für das Stück hatte, war ein Mann, der politischer Gefangener war und nun im Koma liegt. Ich
kannte und kenne noch Menschen, die gefoltert wurden, oder deren Eltern oder Familienangehörige, zum
Beispiel als linke oder islamisch-reformistische Gegner
der Regierung nach der iranischen Revolution 1979.
Sperber und seine Frau Sepi lernten sich im Widerstand
der kommunistischen Minderheitenbewegung kennen.
Während Sepi mit Dana schwanger war, wurde Sperber
im Gefängnis gefoltert. Er schweigt darüber, und auch
Sepi verschweigt eine Gewalterfahrung. Das, wovon geschwiegen wird, scheint aber in den Körpern zur Wiederholung verdammt. Die Traumata werden an die nächste
Generation weitergegeben.
Aus den besten aller möglichen Handlungsgründe werden durch Folter und Gewalt Störungen erzeugt, die sich
permanent reproduzieren können. Manche durchbrechen diesen Quasikreislauf, andere nicht. Die Ausgangs-
Bereits vor ein paar Jahren schrieben Sie, die Thematisierung von Migrationskulturen auf dem Theater solle weniger zu exotischer Abendunterhaltung, Pflichtprogrammen
oder Betroffenheitsritualen führen, sondern zur Selbstverständlichkeit eines politischen Theaters. Sind wir heute
einen Schritt weiter?
Das Theater kann die erweiterte Themenvielfalt aufgreifen, Partizipation fordern, aber genauso mit neuen
Formen experimentieren. Meine Lesart von Hans-Thies
Lehmanns »Unterbrechung des Politischen« ist aber die
einer Unterbrechung des Mainstream-Politischen. Auf
den Bühnen sehe ich Abbildungen der politischen All-
Wir haben uns für dieses Gespräch auf Schloss Retzhof in
der Nähe von Graz getroffen. Nur wenige Kilometer von
uns entfernt liegt die Grenze zu Ungarn, 40 000 Menschen
sind in diesem Moment unterwegs nach Deutschland.
Jeder einzelne dieser Menschen ist eine notwendige
Bereicherung. Mit jedem geflüchteten Menschen, der
hierherkommt, wird auch das wichtig, was Menschen
schon erlebt haben, die hier bereits leben. Offensichtlich gehen wir zurzeit geradewegs in die Wunde hinein,
es ist ein großes Potenzial vorhanden, um vieles bewirken zu können.
tagsreden. Diese Art von Theater wiederum kann nur
im Sinne einer möglichst großen Heterogenität notwendig sein. Denn das einzig Absolute, an das ich glaube,
ist die Heterogenität. Es soll so viele verschiedene Bestandteile geben, dass wir in ihnen verloren gehen! Das
ist gut, weil wir dann automatisch neue Gemeinschaften bilden, weil wir jegliche Identität als herrschaftsgebende Form auflösen können und uns neue Splitter
suchen. Und das kann eben in dieser Wunde passieren,
in dieser Wunde namens Deutschland.
Ihr Text enthält viel Unverdauliches. Sepis Liebhaber ist
Proktologe, er will sie heilen. Kann es für die Figuren dieses Stücks so etwas wie Heilung geben?
Ich glaube generell nicht an das Konzept einer möglichen Heilung. Für mich steckt ein unerreichbarer Absolutheitsanspruch darin. Heilprozesse gibt es, aber sie
sind nie vollständig abgeschlossen, und es wäre auch
nicht gut, wenn gewisse Wunden völlig geschlossen
würden. Es geht darum, mit den Resten leben zu können, statt diese integrieren zu wollen. Warum braucht
es den Proktologen als Figur im Stück? Falls Sepi sich
überhaupt noch einmal verlieben kann, dann nur in
ihn. Wenn sie überhaupt noch einmal Lust empfinden
kann, dann nur noch bei jemandem, der ihre chronische Verstopfung zu »heilen« versucht oder verbessert,
also der, der mit dem zu tun hat, was verdaubar ist. Der
Proktologe hat eine ähnliche Funktion wie die Geier im
Totenkult der Zarathustrier. Diese Vögel hacken das
Fleisch von den Knochen der Toten, die auf den sogenannten Türmen des Schweigens liegen. Der Proktolo-
ge kann diese Leichenteile sozusagen verdauen und so
wieder in einen Kreislauf bringen.
Auch eines Ihrer nächsten Stücke, »mumien. ein heimspiel«, wird ein Beziehungsgeflecht aus Abhängigkeiten
beschreiben, eine Gruppe von Menschen, die sich um eine
Leerstelle herum organisieren, um einen Riss im Gewebe,
um offene Wunden. Woher stammt Ihre Faszination für
das Bild der Wunde?
Theater gleicht einer rhizomatischen Vampirmaschine,
die Exzessivität, aber auch absolute Reduktion nicht
ausschließen muss. Es ist ein künstlerisches und soziales Laboratorium, das Wunden braucht und sie auch
erzeugen kann, um sich im Sterben zu üben, wie es Susanne Kennedy nennt, und genauso, um sich im Leben
zu üben. Die Wunde ist ein idealer Ort. Für Nietzsche
ist es die Wunde, die uns zwingt zu leben. Es gibt wahrscheinlich Menschen, die besser von den Verkrustungen leben, und Menschen, die vom Inneren der Wunde
leben. Ich empfinde eine große Lebendigkeit darin, von
der Wunde zu leben.
Das Interview ist erschienen in »Theater der Zeit« 10/2015 und ist
hier in gekürzter Version wiedergegeben.
49
Christoph Nußbaumeder
Margarete Maultasch
Drama in 5 Akten
Foto: Susanne Schleyer
In die politischen Unruhezeiten des 14. Jahrhunderts
entführt uns das neue Stück von Christoph Nußbaumeder und greift die historische Rolle der legendären
Margarete von Tirol auf, um daraus ein sehr heutiges
Drama um Macht und Moral entstehen zu lassen.
Als junges Mädchen zwangsverheiratet, körperlich
und seelisch vergewaltigt, eingespannt in wechselnde
politische Planspiele, gelingt Margarete die zeitweise
Selbstbefreiung. Sie nutzt ein Machtvakuum, sucht sich
einen jüdischen Gelehrten als Berater und beginnt zu
regieren. Ihr Land öffnet sich in wirtschaftlicher und
kultureller Hinsicht. Bis die Pest alle Pläne durchkreuzt
und der kurzen Blüte ihrer Regentschaft ein jähes Ende
bereitet. Die alten Mächte erlangen neuen Schwung
und bringen Margarete in immer stärkere Bedrängnis.
Sie verhärtet sich und wird zu einer Funktionärin der
Macht. Eine späte, unerwartete Liebe droht ihr das Herz
50
zu brechen. Widerstrebend entscheidet sie sich für die
Staatsräson und muss doch das Scheitern all ihrer Träume erleben.
Über drei Jahrzehnte spannt sich der dramatische Bogen dieses großen Stückes. Lion Feuchtwangers Prosaporträt einer hässlichen Herzogin setzt Nußbaumeder
die Figur einer modern wirkenden, selbstbewussten
und schönen Frau entgegen, die sich vielfältiger patriarchaler Intrigen und Zumutungen zu erwehren weiß,
die aber zeitlebens im Konflikt zwischen Macht- und
Herzensanspruch gefangen bleibt. (3 D, 13 H, Doppelund Mehrfachbesetzung möglich)
Margarete Maultasch ist ein Auftragswerk der Tiroler Volksschauspiele Telfs. Bis zu der dort geplanten Inszenierung
des Stückes im Sommer 2018 ist die Uraufführung des
Stückes frei.
Christoph Nußbaumeder, 1978 im niederbayerischen Eggenfelden geboren, ist Dramatiker und Autor. Nach Abitur und
Zivildienst arbeitete er in einer Automobilfabrik in Pretoria/
Südafrika und studierte Rechtswissenschaften, Germanistik
und Geschichte in Berlin. Seine Stücke wurden u.a. bei
den Ruhrfestspielen Recklinghausen, an der Berliner Schaubühne, am Schauspielhaus Bochum und am Schauspiel Köln
uraufgeführt. Christoph Nußbaumeder lebt in Berlin.
Alles, was passiert
Christoph Nußbaumeder – Notizen zum eigenen Schreiben
Vor meinem Haus hat sich ein kupferfarbener Teppich über den ganzen Platz hinweg ausgebreitet, und
vom Asphalt sieht man nur noch kleine schimmernde
Inseln. Schön sieht das aus. So lange, bis der Regen
kommt, dann wird aus dem Laubwerk eine schlierigdunkle Masse, auf der man leicht ausrutschen kann. Ein
paar Tage lang lag das Kupferfeld vor meiner Haustür.
Gestern Morgen sind dann drei Arbeiter vom Bezirksamt gekommen und haben mit Laubbläsern die Blätter
weggepustet. Mit ihren Overalls und ihren Geräten erinnerten sie mich ein wenig an die Ghostbusters aus
den Achtzigern. Ob die Arbeiter sich auch so vorkommen, wenn sie das tun? Was sie überhaupt denken beim
Laubpusten? Wie sie wohl zueinander stehen? Und wer
bekommt was, wann und wie?
Nach meinem Platz kommt der nächste dran. Die Blätter
fallen bis aufs letzte. Am Ende der Prozedur war in der
Platzmitte ein kleiner Laubberg entstanden. Ich setzte
mich wieder an den Schreibtisch.
In meinem Beruf bin ich eine Art Kommunikationsforscher. Wer als Arbeitsgerät nur eine Schreibmaschine
hat, sieht in jedem Menschen eine potentielle Figur, die
es von A nach B zu transferieren gilt. Und zwischen A
und B kann alles passieren. Als Kommunikationsforscher weiß ich, dass Gesagtes nur einen geringen Teil
der Verständigung ausmacht. Durch Sprache habe ich
nur eine begrenzte Möglichkeit der Mitteilung zur Verfügung, deswegen kann ich immer nur präzise im Ungefähren sein. Die Mitteilung selbst ist eine Mischung
aus Ablauschen und Verdichtung, ein Konglomerat aus
Auf-den-Punkt-Bringen und Unausgesprochenem, bestimmt durch den Informationsgehalt der Rede, aber
durch den Klang der Worte. Die Info und der Sound beziehen sich aufeinander und haben bisweilen leitmotivischen Charakter.
Nichtsdestotrotz muss ich die Situationen in ihrer Komplexität erfassen und sie anschaulich machen. Mich
interessieren dabei Geschichten, die Figuren in den
Vordergrund stellen, weniger die Handlung und ein mit
ihr einhergehendes Konzept mit der Absicht zu zeigen,
»was zu beweisen wäre«. Ich finde so was ziemlich öde.
Auf der Bühne braucht nichts bewiesen zu werden,
denn wenn ich wollte, könnte ich für alles einen Beweis
konstruieren. Und ist die Figur nicht ohnehin die Determinierung von Ereignissen? Ist die Handlung nicht
sowieso Folge der Figurenkonstellation, wenn man sie
denn lebensdurchlässig kreieren will? Mir geht es um
zugespitzte Situationen, die müssen nicht reißerisch
oder spektakulär, aber doch so zwingend sein, dass sich
mir die Frage aufdrängt, wie ich anstelle der jeweiligen
Stücke
Ich werde nicht sterben
In meinem Bett
1D
Anna Politkowskaja gewidmet
Monolog für eine Frau
UA: 17.5.2007
Schauspielhaus Bochum
Regie: Burghart Klaußner
Mit dem Gurkenflieger in die
Südsee
4 D, 9 H, Statisten
UA: 3.6.2005, Landestheater Linz/
Ruhrfestspiele Recklinghausen
Regie: Bernarda Horres
Liebe ist nur eine Möglichkeit
5 D, 6 H
UA: 17.10.2006, Schaubühne
am Lehniner Platz Berlin
Regie: Thomas Ostermeier
Mindlfinger Goldquell oder
Wir scheißen auf die Ordnung
der Welt
3 D, 6 H
UA: 11.2.2006, Landestheater Linz
Regie: Georg Schmiedleitner
Offene Türen
2 D, 3 H
UA: 5.4.2007
Nationaltheater Mannheim
Regie: Christiane J. Schneider
Jetzt und in Ewigkeit
4 D, 5 H
UA: 15.12.2007
Nationaltheater Mannheim
Regie: Burkhard C. Kosminski
Mörder-Variationen
1 D, 4 H
UA: 10.5.2008
Bühnen der Stadt Köln
Regie: Florian Fiedler
Terminator
Ein Jugendtheaterstück
2 D, 3 H
UA: 13.11.2009, Theater Essen
Regie: Ines Habich
51
Figur handeln würde? Ich habe eh das Gefühl, dass man erst auf sich zukommen lassen und dann eine Haltung
mit allen anderen verwandt ist. Dass auch ein anderer zu ihnen einnehmen. Sie tragen vorher schon ein einin mir ist, so wie ich in allen anderen. Interessant wird deutiges Urteil in sich. Zu meinen, man könne die Welt
es, wenn sich eine gewisse Identifikation mit jemandem eindeutig und absolut erklären, ist anmaßend und starreinstellt, den man im Grunde als abstoßend empfindet. sinnig beziehungsweise deshalb auch unsinnig. Leben
Also den Leser/Zuschauer so weit zu bringen, dass er ist Bewegung, ist die Summe aus allem, was passiert.
selbst Anteile in sich entdeckt, die nicht deckungs- Ich glaube, man muss Disziplinargesellschaften pergleich sind damit, wie man gerne wäre. Es gibt diesen manent angreifen beziehungsweise ihre schleichenden
Ausweitungen sich selbst und anGedanken von Philippe Sollers,
»Interessant wird es, wenn sich eine deren vor Augen führen. Und das
auf den ich immer und immer
wieder Bezug nehme: »Das Krite- gewisse Identifikation mit jemandem geht am eindrücklichsten, wenn
man den Menschen zeigt und alrium für den Faschisierungsgrad
einstellt, den man im Grunde als
les, was mit ihm passiert.
einer Gesellschaft ist: Je gelasseabstoßend empfindet.«
Am Nachmittag ist dann noch das
ner sich die Menschen in ihr vor
Augen halten, dass es in ihnen auch etwas Gemeines, Nachbarmädchen gekommen. Greta ist als Prinzessin
Tierisches und Schablonenhaftes gibt, desto weniger verkleidet, ihre Kita hat dem Faschingsanfang Rechnung getragen. Greta und ich kommen gut miteinander
faschistisch ist sie.«
Diese Dinge sind mir wichtig aufzuzeigen, im Versuch, aus. Sie versorgt mich mit Neuigkeiten aus ihrem Kosden einzelnen Menschen zu beleuchten: nachvollzieh- mos, ich kann meine Kinderbuchideen an ihr austesten.
bar, widersprüchlich, geheimnisvoll, verwundbar – Im Zuge dessen habe ich sie gefragt, was sie beruflich
eben so, wie er auf die Welt gekommen ist. So, wie man einmal machen möchte. Sie überlegte kurz, dann grinste
ihm das immer noch ansieht, selbst wenn er dem Säug- sie mich an: »Schreiben«. Greta ist fünf und kann noch
lingsalter schon längst entwachsen ist, ganz gleich, ob nicht schreiben. Nach Pizzabäckerin und Blumenverer freigeistig oder abgerichtet, ob er aufrichtig oder käuferin jetzt also Schreiben. Aha. Sie musterte mich
korrupt ist. Das Faktum der Geburt und die Tatsache prüfend und war gespannt, wie ich reagieren würde.
des Todes sind die größten gemeinsamen Nenner unter Ich aber ließ mir keine Reaktion entlocken, stattdessen
allen Determinanten der menschlichen Existenz. Wer hakte ich ungerührt nach. »Und was willst du dann so
gekommen ist, wird auch wieder gehen. Wer da ist, wird schreiben?« Sie spitzte den Mund und schaute nachnur lebenslänglich bleiben. Irgendwann bist du nichts denklich aus dem Fenster, unten sah sie zwei Kinder,
weiter als ein Blatt auf einem Haufen, allen Konzepten die sich in einem fort in den Laubhaufen stürzten und
zum Trotz. Ich bin grundsätzlich sehr skeptisch gegen- vor Freude lauthals johlten. »Alles, was passiert.« Sagte
über Leuten, die sich nur über den Kopf Wahrheiten es und hob die Augenbrauen. Dem hatte ich nichts mehr
angeeignet haben. Diese Leute können die Dinge nicht hinzuzufügen.
Die Kunst des Fallens
4 D, 5 H
UA: 3.6.2010, Schauspiel Köln
Regie: Katja Lauken
Eisenstein
4 D, 5 H
UA: 26.9.2010
Schauspielhaus Bochum
Regie: Anselm Weber
52
Meine gottverlassene
Aufrichtigkeit
1D
UA: 18.9.2012
Sophiensaele, Berlin
Regie: Bernarda Horres; Anna Eger
Mutter Kramers Fahrt zur Gnade
3 D, 4 H
UA: 15.5.2013, Ruhrfestspiele
Recklinghausen 2013
Regie: Heike M. Goetze
Die Perlmutterfarbe
nach dem Roman von
Anna Maria Jokl
15 Mädchen und Jungen, Doppelbesetzung möglich, ab 11 Jahren
UA: 7.11.2013
Junges Schauspielhaus Düsseldorf
Regie: Annette Kuß
Von Affen und Engeln
3 D, 5 H
UA: 13.5.2015, Ruhrfestspiele
Recklinghausen in Koproduktion
mit den Sophiensaelen Berlin
Regie: Bernarda Horres
Das Fleischwerk
3 D, 5 H, Doppelbesetzungen
möglich
UA: 12.9.2015
Schauspielhaus Bochum
Regie: Robert Schuster
Das Wasser im Meer
4 D, 5 H
UA: 13.5.2016
Landestheater Linz
Regie: Gerhard Willert
Georg Ringsgwandl
Der Hund, der Hund
Sprechoper für ältere Frau, Hund und drei Stimmen
Eine alte Frau geht mit ihrem Hund durchs Viertel, um sie herum das Treiben
des täglichen Lebens: Müllabfuhr, Gefrierkostlaster, Handwerker auf einer Baustelle. Irgendwo liebt sich ein Paar, aus einem anderen Fenster Streit, Gebrüll,
Türen knallen, ein Kind weint. Das Innenleben der Wohnbebauung. Stimmen
von Menschen aus der Vergangenheit, die ihr Leben geprägt haben: ihr Mann,
ihr Liebhaber, Freundinnen, der Hausarzt, der Friseur, ihr verstorbener Sohn.
Sie spricht mit Nachbarn, Obdachlosen, dem Hausarzt, jungen Müttern, und die
realen Gespräche mischen sich mit den Stimmen in ihrem Kopf.
Ringsgwandls Sprechoper ist eine Komposition aus Stimmen, Geräuschen, aus
Anklängen von Kinderliedern und Schlagern, aus poetischen Wortwechseln, in
der sich Gegenwart und Vergangenheit miteinander verweben. Ein zartes Porträt einer alten Frau mit Hund, äußerlich unscheinbar, aber was für ein Leben
dahinter. Die Idee: Keiner, der das Stück gelesen oder gesehen hat, wird je wieder achtlos an einer alten Frau vorbeigehen. (2 D, 2 H)
Uraufführung: 29. Juli 2015, Tiroler Volksschauspiele Telfs, Regie: Susn Weber
Stücke
Der varreckte Hof
(Bayerische Fassung)
Stubenoper. Gesänge in einer
sterbenden Sprache
3 D, 2 H
UA: 4.8.2012
Tiroler Volksschauspiele Telfs
Regie: Susn Weber
DEA: 4.10.2013
Theater an der Rott, Eggenfelden
Regie: Susn Weber
Der verreckte Hof
(Hochdeutsche Fassung)
SEA: 4.10.2014, Theater an der
Winkelwiese, Zürich
Regie: Stephan Roppel
Die Donauprinzessin
Ein Abend für eine Schauspielerin
und zwei, drei Musiker
1 D, 2, 3 Musiker
Frei zur Uraufführung
»Ringsgwandl verzichtet fast völlig auf schnelle kabarettistische Kalauer, sondern
hat einen Text voll Poesie geschaffen, wenn er die Erfahrungen und die Weltsicht
der einsamen alten Frau mit Hund ausbreitet. Wenn man will, kann man sich da
im Stadl durchaus an großes klassisches Theater erinnert fühlen, an Samuel Becketts ›Das letzte Band‹ zum Beispiel.«
Foto: Christian Kaufmann
Bernhard Doppler, ›Deutschlandradio Kultur‹, 29. Juli 2015
Georg Ringsgwandl arbeitete bis zu
seinem 44. Lebensjahr als Arzt und steht
seit über dreißig Jahren auf der Bühne.
Er veröffentlichte zehn Studioalben,
schreibt Musiktheaterstücke, Bücher und
Beiträge für Magazine und Zeitungen.
53
Foto: Isolde Ohlbaum
54
Zum 90. Geburtstag von
Gerlind Reinshagen
»Ein Kokon der anderen
Möglichkeiten«
Hans-Ulrich Müller-Schwefe über Gerlind Reinshagen
Durch einige Bücher der Autorin bewegt sich eine alte, erblindende Frau; eine
asketische Erscheinung; frei, sich zu erinnern, frei, alles zu hören und mit ihren
sich eintrübenden Augen zu sehen – um strikt nur zu beherzigen, worauf es
ankommt. Ein preußischer HOMER? »Wer singt? Nicht ich. Ich schreibe, wenn
ich schreib, ein Leben, so wie es mir erscheint. Und wenns sich einmischt und
sich selber schreiben will, kann ich dafür? Ich muß den Anfang finden.« (Vom
Feuer, 16)
Gerlind Reinshagen, die 1926 in Königsberg geboren wurde, wohnt seit langer Zeit in BERLIN. In vielen ihrer Stücke und Prosabücher, zuletzt in ihrem
Roman nachts und dem jüngsten Theaterstück Die Fernfrau, ist das Berlin der
Gegenwart Handlungsort, mit der Präsenz einer Hauptfigur.
Die KRIEGsjahre und die davor und danach durchlebte sie als Mädchen und
als junge Frau in Halberstadt. Neben dem wenig jüngeren Alexander Kluge ist
sie die andere Chronistin der Zerstörung Halberstadts durch den Luftangriff
am 8. April 1945 – und der Zerstörung des zivilen Lebens, die vorausgegangen war.
In der von Männern weitgehend befreiten, merkwürdig weiblich geprägten
Schul- und Familienwelt des Kriegs gedeihen Träume und Fantasien eines
anderen Lebens. Die männlichen Helden, Kampfflieger, Generäle, zartbesaitete Schulkameraden, sterben an der Front im Osten oder kehren verwundet
55
und gebrochen zurück. In den Hunger- und Trümmerjahren danach, wie befreit von Ballast, scheint materielle Knappheit eine große Beschwingtheit und experimentierfreudige Beweglichkeit freizusetzen, die bald
darauf den Erfolgen des Wirtschaftswunders erliegen.
(Hinzuweisen ist, neben den beiden Prosabänden Zwölf
Nächte und Vom Feuer, auf die Stücktrilogie Sonntagskinder, Das Frühlingsfest und Tanz, Marie!)
Jeder Mensch hat eine AURA. Manche können sie sehen. Sie erkennen am Zustand der Aura, wie es um den
Betreffenden steht. Zur ›Grundausstattung‹ der Autorin
Gerlind Reinshagen scheint zu gehören, dass sie jeden
von uns durch auch so eine Art Aura, einen Kokon der
anderen Möglichkeiten, worin wir leben, herausgehoben und ausgezeichnet sieht. In ihren Theaterstücken
und Gedichten, den Erzählungen und Romanen wird
sie nicht müde, ihre Figuren auf diese Weise zu vervollständigen, ihnen Größe zu verleihen. Sie macht die
Kokons sichtbar, bringt sie ins Spiel.
Sodass alles schön wird? Keine Angst. Eine paradiesisch, gar spirituell befriedete Scheinwelt kommt bei der
›Operation Reinshagen‹ nicht heraus. Wohl aber verteilen sich die Gewichte anders. Beziehungen erscheinen
in einem neuen Licht. Sauerstoff wird zugeführt. Aussichten, und seien es bestürzende, tun sich auf. Noch
in der Sackgasse bricht sich Manövrierfähigkeit Bahn.
In einer SPRACHE übrigens, die geerdet, nicht ohne
Witz und Schlagfertigkeit ist und doch immer wieder
zu gebundener Rede drängt, mit den Flügeln schlägt
– um zu fliegen. (Leichtigkeit und Witz zeichnen viele
ihrer Stücke aus, zum Beispiel auch Joint Venture, die
dialogische, extrem vergnügliche »Kleine Studie über
die Impotenz«.)
Eines der schönsten Textbeispiele ist der jüdischen
Dichterin Gertrud KOLMAR (1894-1943) gewidmet,
die nicht emigrierte, sondern – für ihren Vater und
dann allein – sehenden Auges in ihrer Stadt, in Berlin,
ausharrte. Die Frau und die Stadt – Eine Nacht im Leben
der Gertrud Kolmar ist ein großer Monolog, ein Gesang
im Feuerofen.
Auch Kolmar-Gedichte hat Gerlind Reinshagen geschrieben. Eines lautet:
»Nichts
Was mich angeht
Verrat ich je
Die Stadt nicht
Noch die Zeit
In der ich mich befinde
Wo ich herkomm
Ahnt keiner
Nur meine Tiere wissen früh
Wohin wir gehen«
P.S. Und der preußische Homer – die blinde Frau? Die Autorin hat so jemanden gekannt, wie sie erzählt; eine ferne
Verwandte; eine Art Vorbild. Ihr SELBSTBILD?
Hans-Ulrich Müller-Schwefe ist langjähriger Lektor von Gerlind
Reinshagen im Suhrkamp Verlag.
»Jede Forschungsreise ist gut.
Jeder Aufbruch ins noch immer Unentdeckte.«
Gerlind Reinshagen
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Die Fernfrau
Es ist Nacht in der Stadt. In das Meer aus Stimmen, das tagsüber nach Touristen
und Passanten klingt, mischen sich die Stimmen von Prostituierten, Bettlern,
von potenziellen Selbstmördern und vom Messi-Jessi.
Teresa, kurz vor der Mitte ihres Lebens, eine Nachtschwärmerin, die »hinter
die Menschen kommen« möchte, die liebeskranken, die todeskranken, verwählt
sich. Sie landet beim Doktor, gerade am Beginn der zweiten Lebenshälfte, ein
ganz normaler Feld-, Wald- und Wiesendoktor. Aus dem Zufall entwickelt sich
ein Gespräch, die beiden Einsamen finden sich, in der anderen Stimme, die
zuhört. Während am Tag Touristen auf der Suche nach der nächsten Sensation durch die Stadt strömen, baut sich nachts am Telefon eine Verbindung auf.
Doch was für eine? Freundschaft? Seelenverwandtschaft? Liebe? Immer wieder
streiten sie und finden dennoch nicht mehr auseinander. Der Doktor schließlich
möchte seine »Fernfrau« sehen, doch für Teresa steht ein Kennenlernen im Tageslicht außer Frage. Zwischen Zoo und Dönerbude kommt es schließlich zur
Begegnung.
2011 erschien Gerlind Reinshagens Roman nachts. Ihr neues Stück nimmt diesen Dialog über die Einsamkeit wieder auf und bringt ihn jetzt auf die Bühne:
eine Großstadtsymphonie, im Hintergrund ein stetiges Handyklingeln. Während am Augusthimmel der Perseidenstrom vorüberzieht, entspinnt sich zaghaft über die Distanz von Lautsprechern und Telefonnetzen hinweg eine Beziehung. Im Zeitalter der Beredsamkeit wird »eine kleine angeraute / Stimme,
mitten in der Nacht« zum Fluchtpunkt. (1 D, 2 H, weitere Besetzung variabel)
Uraufführungen der
Theaterstücke
Doppelkopf (1968)
Das Frühlingsfest (1980)
Eisenherz (1982)
Die Clownin (1986)
Die Feuerblume (1988)
Tanz, Marie! (1989)
Die fremde Tochter (1993)
Die grüne Tür (1999)
Die Frau und die Stadt (2015)
Drei Wünsche frei
Göttergeschichte
Joint Venture
Frei zur Uraufführung
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Akin E. Şipal
Kalami Beach
Kalami Beach ist ein Traumstrand auf Korfu. Und »Korfu
ist eine epische Insel und hier herrscht episches Licht«.
In diesem flirrenden Licht am Inselrand Europas lässt
Akin E. Şipal zwei seiner Figuren in bewusster Schicksalhaftigkeit durch einen verhinderten Badeunfall aufeinanderprallen: Ernst rettet Ayda. Obwohl Ayda lieber
ertrunken wäre. Im angenehm ereignisarmen Abseits
der Nebensaison beginnen die beiden eine Affäre, die
einen doppelten Zeugungsunfall verursacht:
Die eigentlich unfruchtbare Ayda wird schwanger
und das zufällige Paar stellt fest, dass es miteinander
verwandt ist. Die deutschen und armenischen Ahnen
werden zu unsichtbaren Protagonisten, durch die die
Völkermorde Europas mit der Wucht des Zufalls in die
melancholische Strandgegenwart von Ernst und Ayda
einmarschieren. Ernst berichtet Ayda, dass sein Großvater als Wehrmachtsoffizier in Korfu stationiert war,
als die Juden der Insel deportiert wurden. Und sie stellen fest, dass ihre Verwandtschaftsbande über den Bau
der Bagdadbahn vom Taurusgebirge ins türkische Adana führen, wo Aydas armenische Großeltern umgekommen sind. Aydas Mutter ist Ernsts Großtante. Erahnte
innerfamiliäre Opfer- und Täterrollen überblenden sich,
verschatten ihren Beziehungsbeginn.
Blackout, Zeitsprung: Im zweiten Teil des Stücks tritt
der gefühlt ungeliebte Sohn von Ayda und Ernst als junger Erwachsener in Erscheinung. Und wie eine intellektuelle Handgranate, die sich ihrer Planstrecke längst
entzogen hat, steuert er zielsicher in die Geschichtspassivität und das unaufgearbeitete biografische Erleiden
der Eltern- und Großelterngeneration hinein. Er stellt
die Identitätsfrage und verortet sich selbst als jemand,
der in der Schule als »scheiß Türke bezeichnet wurde,
obwohl ich der Einzige war, der einer schlesischen Offiziersfamilie entstammt«. Eine Diversität, die sich –
entgegen dem propagierten Zeitgeist – nicht verkaufen
lässt. Zum Showdown führt Akin E. Şipal seine unglückliche Kleinfamilie auf den gutbürgerlichen Tennisplatz,
wo der Sohn als vom Vater installierter Tennisprofi das
Match gegen seine Eltern als Lebensglücks- und Erziehungsversager eröffnet. Und zugleich mit Europa abrechnet, dieser »auf sich selbst zentrierten Familie, die
eine nach außen hin verheerende Form von Innerlichkeit zelebriert«. (1 D, 2 H)
Uraufführung: Spielzeit 2016/17
Nationaltheater Mannheim
Akin E. Şipal, 1991 in Essen geboren, studiert Film an der Hochschule
für bildende Künste Hamburg. Für sein erstes Theaterstück Vor Wien
gewann er den bundesweiten Wettbewerb »In Zukunft«, für Santa Monica
erhielt er den Förderpreis Literatur der Kulturbehörde Hamburg. Şipal ist
als Drehbuchautor an diversen Kurz- und Langfilmen beteiligt, die auf Festivals wie Festival des Films du Monde de Montréal, Internationale Hofer
Filmtage, Internationales Kurzfilmfestival Hamburg oder Dok Leipzig zu
sehen sind. Sein drittes Theaterstück Kalami Beach ist ein Auftragswerk
für das Nationaltheater Mannheim und wird dort in der Spielzeit 2016/17
uraufgeführt. Am Theater Bremen entstand 2015 in Zusammenarbeit
mit der Regisseurin Selen Kara und dem Musiker Torsten Kindermann
Istanbul, ein Liederabend über Sezen Aksu.
58
Über Adana
Ein Reisebericht
»Ein Haus in der Nähe einer Airbase« ist der Arbeitstitel für das Stück, an dem Akin E. Şipal aktuell arbeitet. Es spielt
in Adana und Umgebung, am Rande des geschichtssatten »Fruchtbaren Halbmondes« und nicht weit von der türkischsyrischen Grenze gelegen. Diverse politische, militärische und religiöse Einflusssphären überlagern sich hier. Der Autor
kennt Adana gut, das »Haus in der Nähe einer Airbase« ist Teil seiner Familienbiografie. Diesen Sommer war er wieder
dort, um für sein neues Stück zu recherchieren.
Juli 2015. Es ist Ramadan. Ich sitze im Flieger nach
Adana. Vor mir ein GI, der in Statur und Bewegungsprofil an LeBron James erinnert. Um ihn herum wuseln
seine Kinder, ein Mädchen, ein Junge. Beide sind klein
und zierlich und passten wahrscheinlich genau in seine Handinnenflächen. Die Turkish-Hostessen bemühen
sich, den Aktionsradius der kleinen Imperialisten mit
O-Saft und Airbussen aus Plüsch so gering wie möglich
zu halten. Der Vater, ein Fels wie die Rocky Mountains,
muss mindestens zwei Meter groß sein, sein breiter
Schädel ragt im Sitzen über die Lehne. Seine Kurzhaarfrisur, akkurat – der englische Rasen des Tages. Vor
lauter Vorfreude projiziere ich das Bild des Adana International Airport auf seinen Hinterkopf: Palmen auf
den versengten Grünstreifen zwischen Start und Landebahn, gepflegte, verblichene bungalowartige Terminals.
Es ist das erste Mal in all den Jahren, die ich diese Strecke fliege, dass ich einen GI sehe. Sonst sind es immer
Angehörige, Ehefrauen und Kinder, die am Ausgang
des Terminals in breitschultrige Jeeps mit getönten
Scheiben steigen. Dieses Mal wieder: Der Familienvater in Waffen nimmt seine Tochter huckepack und den
etwas älteren Sohn an die Hand. So will er sie nicht in
Versuchung führen, die Gepäckausgabe zu bespielen.
Sie steigen in einen Jeep, braun gepanzert wie eine Küchenschabe. Die Krabbelgruppe mit Riese verschwindet in einer Dieselwolke. Ich sehe ihnen hinterher und
staune. Ein beziehungsvoller Moment, denn ich weiß,
wohin sie fahren. Die Inçirlik Airbase liegt in Richtung
Stausee. Die ersten fünf Kilometer hätten wir gemeinsam fahren können. Ich nehme ein Taxi.
Das Haus meiner Familie liegt auf einer Landzunge, die
in den Çukurova-Stausee ragt, der die Pastelltöne des
Himmels beherbergt. Es gibt ein Dutzend Buchten, große Tropfen aus weißem Kalkstein und Ringelnattern,
die sich im Schilf verstecken. Unser Haus liegt in einer
Siedlung von 26 beinahe identischen Häusern. Was im
ersten Moment unromantisch klingt, ist es ganz und
Stücke
Santa Monica
2 D, 2 H
UA: 1.3.2015
Nationaltheater Mannheim
Regie: Tarik Goetzke
Vor Wien
2 D, 3 H
Frei zur UA
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gar nicht. Die abblätternde Farbe der Fassaden, die ei- »Musa …«, sage ich, »ich brauche nur ein Brot und
gentümliche Architektur, Zitronen- und Feigenbäume, ein großes Stück Beyaz Penir. Morgen fahre ich schon
die in unregelmäßigen Abständen in den Gärten zwi- weiter.« »Wohin denn, Akın bey?« »Nach Urfa, Göbekli
schen den Häusern stehen … All das trägt zum Gefühl Tepe, Halfeti …«
Der Wächter hat ein unpünktliches Lächeln und trauribei, man befände sich in einer Oase.
Der Zaun, der das weitläufige Areal um die Häuser ge Augen. Seine Untröstlichkeit ist wie die der Hunde.
abgrenzt, dient bloß pro forma zur Abschreckung von Es ist eben kein Vergnügen, im Dienste der lower UpperDieben. Der einsame Wachmann, der meist in seinem Class zu stehen. Aber es gibt Schlimmeres. In diesem
weißen Kunststoffkabuff neben dem automatischen Moment starten Kampfjets aus Inçirlik und bombardieSchiebetor residiert, klagt immer wieder darüber, dass ren Stellungen des Islamischen Staates (IS). Man hört
er alleine in so einer gigantischen Ansammlung von sie nicht. Ja, man würde sie nicht einmal bemerken,
Häusern nicht für die Sicherheit ihrer Bewohner garan- wenn sie auf meinem Unterarm starteten oder landeten.
tieren könne. Woraufhin die Eigentümerversammlung Vielleicht röche es nach verbrannten Haaren.
ihm zyklisch ausrichten lässt, dass es sowieso keine Ga- Seitdem die Siedlung vor 20 Jahren von einem Bauingerantien gäbe, für gar nichts. Sich von einem Mitarbeiter nieur und seinen Geschwistern gebaut wurde, steht das
einer privaten Sicherheitsfirma, die schreckliche Löhne Gerücht im Raum, es sollten ein Tennisplatz und ein
Swimmingpool her. Dazu wird
zahlt, Missmanagement vorwer»Ich
bin
fasziniert
vom
Licht,
es in absehbarer Zeit nicht komfen zu lassen, kommt gar nicht
das mich an farbige Kreide erinnert,
men. Man sieht Menschen Entin Frage. Das lässt sich nicht mit
schlossenheit an und wenn ich
dem holprigen Standesbewusstnippe an einem Drink und glotze
am Haus des Siedlungsvaters vorsein der Eigentümer vereinbaauf den riesigen Stausee …«
beispaziere und er, in seinem viel
ren. Die zum größten Teil wohlhabenden Familien haben in ihrem großbürgerlichen zu großen Poloshirt, mit schlackernden Armen grüßt,
Selbstverständnis ein Faible für große Familienhunde. unmotiviert, berentet, weiß ich, dass Tennisplatz und
Weil sie keinerlei Knowhow im Umgang mit Hunden Pool Legenden bleiben werden. Besser so. Wir haben
als Haustieren besitzen, wissen sie auch nicht, dass den See. Ich trete auf die Terrasse, von der Reise beHunde beschäftigt werden wollen. Ich habe noch nie nebelt, schwimme in den vielen Unwahrscheinlichkeieinen der Hausbesitzer mit seinem Hund Gassi gehen ten, wie in Selbstverständlichkeiten. Ich bin fasziniert
sehen. Stattdessen wird die Siedlung von einem gan- vom Licht, das mich an farbige Kreide erinnert, nippe
zen Rudel unterforderter reinrassiger Golden Retriever, an einem Drink und glotze auf den riesigen Stausee,
Labradoodle und einem deutschen Schäferhund bevöl- diesen selbst in der Abendsonne noch hell erleuchtekert. Fellbesetzte Karamellbonbons, die von einem zum ten grün-blauen Fleck, auf dessen gegenüberliegender
Seite die Lichter Adanas ihrerseits zu leuchten beginnächsten Schatten schleichen.
Die meisten Anwohner der Karşikent-Sitesi sind an der nen. Stilsicher, diskret; echte Großstadtlichter eben.
nahe gelegenen Çukurova-Universität beschäftigt, der Die zwanzigstöckigen Sozialbauten sehen von hier aus
aus wie Hochhäuser. So stelle ich mir die Skyline von
größten des Nahen Ostens.
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Manhattan vor. Wenn ich doch jede freie Sekunde dazu
nutze, nach Adana zu fliegen, werde ich niemals Zeit
haben, die Skyline von Manhattan vis-à-vis zu bestaunen. Die von Manhattan hat ein aggressives Geltungsbewusstsein, sie bürdet sich einem auf. Jeder zweite
Film beginnt oder endet auf ihr. Die Skyline von Adana
ist in dieser Hinsicht ein echter Underdog und besticht
als klassische Chimäre. Von weitem schön, von nahem
hässlich. Ich solidarisiere mich mit dem weniger populären Ort. Zumal Adana bei diesem Besuch nur als
Sprungbrett dient. Meine diesjährige Route führt mich
ins Zweistromland, an die syrische Grenze.
Ich sehe ein Frachtflugzeug der US Air Force über dem
See den Landeanflug antreten. Das Flugzeug erinnert
an einen Walfisch und wirft einen gigantischen, sanft
über der ruhigen Wasseroberfläche des Sees schwebenden Schatten. Das macht alles noch romantischer, als es
sowieso schon ist. Wer weiß, was es geladen hat. Einen
Schwung Harleys, ein paar Sprengköpfe, eine Spezialeinheit? Who knows? Who cares? Bei der Bescherung
interessieren einen ja auch nur die eigenen Geschenke.
Ein aus Kausalitäten zusammengebasteltes Statement
stünde mir, in gewisser Weise als Sohn dieser Stadt,
nicht gut zu Gesicht. Ich weiß viel zu wenig, um das
alles fundiert kommentieren zu können. Die Nähe Adanas zu den Orten, die die Welt bedeuten im Moment,
und die Nachbarschaft zum Zweistromland und damit
der Keimzelle aller Sesshaftwerdung machen, dass die
Luft steht und flirrt zugleich. Ein Surren, und dann! Ein
Pfau rennt quäkend an unserem Tulpenbeet vorbei, wenig später folgt ein Labradoodle. Er prallt an den Marmorstufen zur Terrasse ab. Die Hitze beeinträchtigt das
Orientierungsvermögen der Hunde. Ihm ist schwindelig. Er trottet davon.
Ich decke die von großen weißen Laken umschlungenen
Möbel im Salon nicht ab. Außer eines der Betten in einem
der Schlafzimmer. Ich trinke einen weiteren Schluck vom
Brandy, den mein Onkel vom Duty Free mitgebracht und
der beachtlichen Bar des Hauses übergeben hat. Ich gehe
schlafen. Morgen beginnt meine eigentliche Reise. Zweistromland, Fruchtbarer Halbmond. Ich will eines dieser
Safe Houses um Urfa ausfindig machen, in dem sich ISKämpfer verstecken. Nur mal gucken. Und ich will die
heiligen Karpfen im Teich des Abraham füttern. Der
Wallfahrtsort, die fünftheiligste Stätte des Islam, liegt in
der Altstadt Urfas und ist in einen achthundert Jahre alten Moscheenkomplex eingebettet. Die dazugehörige Legende könnte auch der Plot eines Disneyfilms sein: Der
böse Monarch Nemrut ergeht sich in ungezügeltem Polytheismus, woraufhin sich Abraham aufgefordert sieht,
ihm beizubringen, dass es nur einen Gott gäbe. Abraham wird auf Geheiß Nemruts vom Zitadellenberg in ein
eigens für ihn vorbereitetes Feuer geworfen. An dieser
Stelle dann: Auftritt Gott. Funktion: Erzählerisches Korrektiv. Befehl: Das Feuer habe kühl zu sein und seinen
Eleven freundlich zu behandeln. Also verwandeln sich
das Feuer in Wasser und die Holzscheite in Karpfen und
Abraham fällt weich, wie in einen Rosengarten. Gut, Rosen haben Dornen, aber gute Geschichten haben eben
auch sympathische Ungenauigkeiten.
Vermutlich bin ich ein antiquierter Reiseberichterstatter. Ich verneine eine investigative Recherche. In
meinen Augen ist die einzig wahre Form der Recherche, eine Dekade an einem Ort zu verleben, ohne eine
unangenehme Frage zu stellen. Ich bin korrumpiert
durch meinen türkischen Großvater, der in Adana geboren wurde und ein Kind der Çukurova ist. Jener Senke
zwischen Riviera und Taurusgebirge, der Kornkammer
der türkischen Republik der Gründungsjahre, die den
Staatsbürger gewordenen Menschen von damals das
Überleben sicherte, als es hieß, autark zu sein, um
nicht in den Zweiten Weltkrieg eintreten zu müssen.
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Junges Programm
Stücke für ein junges Publikum – Eine Auswahl
Etel Adnan
Wessen Ehre?
Originaltitel: Crime of Honour
Deutsch von Brigitte Landes
3 D, 1 H, Besetzung variabel, ab 12 Jahren
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
François Bégaudeau
Die Klasse
Originaltitel: Entre les murs
Deutsch von Katja Buchholz
und Brigitte Große
Besetzung variabel, ab 14 Jahren
Walter Benjamin
Radau um Kasperl
Besetzung variabel, ab 7 Jahren
Edward Bond
Der Balanceakt
Originaltitel: The Balancing Act
Deutsch von Brigitte Landes
4 D, 3 H, Besetzung variabel, ab 14 Jahren
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Jean-Claude Carrière
Die Konferenz der Vögel
Originaltitel: La conférence des oiseaux
Deutsch von Renate Doufexis
Besetzung variabel, ab 6 Jahren
Dietmar Dath
Die Abschaffung der Arten
zahlreiche Bühnenadaptionen
Besetzung variabel, ab 14 Jahren
Dirk Dobbrow
Bomber
1 H, ab 14 Jahren
Konstantin Küspert
mensch maschine
Besetzung variabel, ab 12 Jahren
Per Olov Enquist
In der Stunde des Luchses
Originaltitel: I Lodjurets Timma
Deutsch von Angelika Gundlach
2 D, 2 H, ab 14 Jahren
Heidi von Plato
Hampel und Trampel
2 D, ab 5 Jahren
Frei zur Uraufführung
Judith und Werner Fritsch
Der singende Draht
Besetzung variabel, ab 6 Jahren
Frei zur Uraufführung
Nikolaus Günter
Wild ist der Wind oder Quadrophenia II
1 D, 3 H, ab 14 Jahren
Frei zur Uraufführung
Martin Heckmanns
Kränk
3 D, 2 H, ab 12 Jahren
Hermann Hesse
Demian
Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend
Bühnenfassung von Daniela Löffner
2 D, 4 H, ab 14 Jahren
Anna Maria Jokl
Die Perlmutterfarbe
Ein Kinderroman für fast alle Leute
Für die Bühne bearbeitet von
Christoph Nußbaumeder
Besetzung variabel, ab 11 Jahren
Weitere Titel finden Sie unter www.suhrkamptheater.de
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Raymond Queneau
Zazie in der Metro
Originaltitel: Zazie dans le Métro
Deutsch von Eugen Helmlé
Besetzung variabel, ab 8 Jahren
Judith Schalansky
Der Hals der Giraffe
Bühnenfassung von Anita Augustin
und Florian Fiedler
1 D, ab 14 Jahren
Dianne Warren
Im Zeichen der Schlange
Originaltitel: Serpant in the Night Sky
Deutsch von Heide Liebmann
3 D, 3 H, ab 14 Jahren
Frei zur deutschsprachigen
Erstaufführung
Ruth Johanna Benrath
Frankfurt/Oder, Frankfurt/Main
Foto: Bernd Suchland
Caro ist sauer auf ihren Vater: Ausgerechnet in Frankfurt an der Oder musste er eine Stelle annehmen! Dabei wäre sie lieber bei ihrer Freundin Ayla in Frankfurt
am Main geblieben. Zum Glück kann Caro etwas, das
keiner in ihrer neuen Klasse kann: Sie spielt Gitarre
und schreibt Songs. Und da das Talent der neuen Mitschülerin nicht lange unbemerkt bleibt, bittet Jojo sie
bald, ein Liebeslied für die toughe Fine zu schreiben,
die nach jeder Annäherung immer wieder das Weite
sucht. Aber auch Paul bittet Caro um einen Song für
eine neue Internet-Bekanntschaft. Ausgerechnet Paul!
Dabei hat Caro gerade Gefallen an ihm gefunden. An
Paul, der gerne Tag und Nacht Computerspiele zockt,
Schule schwänzt und nicht einmal weiß, wie man Spaghetti kocht. Und der die Ressentiments seiner Mutter
wiedergibt, die die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten verdammt, denn Glück hat sie ihr nicht
gebracht. Caros Songs handeln von Liebe und Verlust,
von Sehnsucht und ihrer Lieblingsstelle am Fluss in
einer Stadt, mit der sie nur langsam warm wird. Und
wenn es mal wieder Zoff gegeben hat mit den Neonazis
auf der Straße oder sie sich das Herz ausschütten muss
wegen Paul, skypt sie mit ihrer Freundin Ayla in Frankfurt am Main. Und deren Ratschläge werden sich als
wertvoll erweisen …
Ruth Johanna Benrath beherrscht die Kunst der lakonischen Erzählweise. Die Jugendlichen aus Frankfurt/
Oder, Frankfurt/Main begeistern mit ihrem charmanten
und schlagfertigen Witz. Ein Stück über die Verortung
im eigenen Leben. (2 D, 3 H)
Ein Theaterstück für Jugendliche ab 14 Jahren
Frei zur Uraufführung
Ruth Johanna Benrath, geboren 1966 in Heidelberg, studierte
Germanistik, Philosophie und Geschichte. Seit 2007 Veröffentlichung von Gedichtbänden und Romanen. Bei Suhrkamp
erschien 2011 Wimpern aus Gras. Seit 2013 schreibt Benrath
für das Theater und leitet Schreibwerkstätten für Kinder und
Jugendliche. Für das Jugendtheaterstück Klassenkämpfe erhielt
sie den Preis des Coburger Forums junger Autoren. Ruth
Johanna Benrath lebt in Berlin.
Stücke
Klassenkämpfe
2 D, 3 H
UA: 12.6.2015
Landestheater Coburg
Regie: Judith Kunerth
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Märchen
Auf dieser Doppelseite laden wir Sie ein zu einer Wiederbegegnung mit Märchenstoffen und ihrer Bearbeitung für die Bühne durch drei namhafte Autoren des Suhrkamp-Programms. Unterschiedlich, eigen und konsequent sind die jeweiligen Zugriffe auf die Welt der Märchen mit ihrer Phantastik und ihren Archetypen:
Mal entsteht dabei pralles Märchentheater, mal Stücke mit sozialpolitischem Akzent.
Bertolt Brecht
Hans im Glück
Das ländliche Idyll von Hans und Hanne wird von einem Reisenden gestört. Er verführt Hanne, entreißt sie
Hans und bricht mit ihr in ein neues Leben auf. Hans
bleibt auf ihrem Bauernhof zurück. Kurz darauf tauscht
er jedoch den Hof gegen einen Wagen und lässt sich
ebenfalls auf das Abenteuer Freiheit ein. Wie in dem
gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm tauscht
Hans gutgläubig Stück für Stück seines Besitzes und
sucht in dem ihm widerfahrenden Übel immer wieder
aufs Neue sein Glück und die Liebe seines Lebens.
Brechts Hans im Glück ist eine gesellschaftskritische
Adaption des bekannten Märchens. Er lädt Hansʼ eingetauschte Besitztümer symbolisch auf und lässt seinen Helden immer weiter sozial absteigen. Dennoch
behält sich dieser seine Lebensfreude und fügt sich in
seine Situation. (Besetzung variabel)
Uraufführung: 11. Januar 1998
Thalia Theater
Regie: Christian Schlüter
Cesare Lievi
Die wilden Schwäne
Märchentheater nach Hans Christian Andersen
Deutsch von Michael Eybl
In Frieden und Eintracht leben Prinzessin Elisa und
ihre elf Brüder am Hof des alten und weisen Königs.
Besessen von Machtgier, Neid und Missgunst, gelingt
es ihrer Stiefmutter, der neuen Königin, im Verbund
mit drei bösen Kröten, Prinzessin Elisa vom Hof zu verstoßen. Mittels eines Zaubers hatte die böse Königin
schon zuvor die elf Prinzen in Schwäne verwandelt.
Einsam und verlassen in einer Höhle bekommt Elisa
unerwartete Unterstützung von drei freundlichen Mäusen und erfährt schließlich von der Erscheinung ›Fata
Morgana‹, wie sie ihre Brüder vom bösen Zauber befreien kann: Aus Brennnesseln muss sie elf Hemden
fertigen und den Schwänen überziehen. Während der
Arbeit aber muss sie absolut stumm bleiben, kein Wort
darf ihr über die Lippen kommen! Elisa bleibt selbst
dann noch stumm, als der neue, junge König sie findet,
sie zu sich auf sein Schloss holt und zu seiner Frau
macht. Wegen ihres sonderbaren Verhaltens aber landet Elisa auf dem Scheiterhaufen. Erst in letzter Minute kann sie ihre Brüder vom Zauber erlösen und sich
selbst retten. – Cesare Lievi macht aus dem weniger
bekannten, vielschichtigen Märchen ein packendes,
phantasievolles Bühnenstück für die ganze Familie,
das dabei dicht an der Vorlage von Hans Christian Andersen bleibt. (4 D, 16 H, Doppel- und Mehrfachbesetzung möglich)
Uraufführung: 14. November 2014
Stadttheater Klagenfurt
Regie: Cesare Lievi
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Thomas Brasch
Die wilden Schwäne
Nach Hans Christian Andersen
Thomas Brasch erzählt in seiner Fassung des Andersʼschen Märchens, wie aus einer verwöhnten Prinzessin und ihren elf tumben Brüdern sozialbewusste
und empathiefähige Menschen werden, die künftig
als Kollektiv zusammen mit dem neuen Regenten das
Reich regieren (und dabei auch noch dem Klerus ein
Schnippchen schlagen). Ein Erzähler umreißt dabei
knapp die wichtigsten Stationen der Handlung: wie der
greise, despotische König seine Macht an seine neue
Frau verliert, wie diese die Prinzen verflucht und in
Schwäne verwandelt, die so zum ersten Mal die reale Welt sehen – außerhalb des Palastes. Und wie die
Prinzessin schließlich ihre Brüder rettet, indem sie
ihre Ichbezogenheit überwindet und selbstlos bereit
ist, auch Schmerzen für ein höheres Ziel zu ertragen.
(Besetzung variabel: 2 D, 12 H)
Uraufführung: 13. März 2004
Theater an der Sihl, Zürich
Regie: Enrico Beeler
Thomas Brasch
Falada
Mit Falada hat Thomas Brasch eine so poetische wie
abgründige Interpretation des Grimmʼschen Märchens
Die Gänsemagd geschaffen. Aus der Sicht des Pferdes
Falada, dessen Kopf abgeschlagen und von Gedanken
schwer am Torhaus hängt, erzählt Brasch die Geschichte der Prinzessin, die, von ihrer Magd zum Kleidertausch gezwungen, ihrem königlichen Bräutigam als
Gänsemagd dienen muss. Der Blick des königlichen
Pferdes nimmt untrüglich jede kleine Veränderung
im Machtgefüge wahr. Treu steht Falada seiner einstigen Herrin in der Not bei, spendet Trost, erfüllt seinen Zweck – und wird vergessen. Ein Märchen für ein
Pferd, eine Prinzessin, eine Magd und viel Volks Geschrei. (Besetzung variabel)
Frei zur Uraufführung
Thomas Brasch
Der Schweinehirt
Ein Prinz mit winzigem Reich, der eine Frau braucht,
und eine Kaiserstochter, die vor Langeweile umkommt
und einen Mann verbrauchen will. Thomas Braschs
Neuerzählung von Hans Christian Andersens Märchen Der Schweinehirt ist voller Musik und unbeirrbarem Gespür für die Misstöne des Hochmuts: Der Prinz
singt, die Prinzessin liebt einzig ihre Spieluhr. Die
Nachtigall, die der Prinz ihr als Brautgeschenk schickt,
ist ihr zu lebendig. Sie lässt sie aus dem Fenster werfen; der Vogel zwitschert’s dem Prinzen. Trotzig zieht
der Abgewiesene an den Hof des Kaisers und verdingt
sich unerkannt als Schweinehirt. Er lockt die Prinzessin in den Stall und luchst ihr ein paar Küsse ab. Als
der Kaiser dies entdeckt, verbannt er seine Tochter und
zwingt sie zur Heirat mit dem Schweinehirten. Niedergang einer Hochmütigen: Auch der Prinz schlägt ihr
schließlich die Tür zu seinem Königreich vor der Nase
zu. (Besetzung variabel)
Frei zur Uraufführung
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Starke Prosa für die Bühne
Ausgewählte Romane aus dem Suhrkamp-Programm
Gerbrand Bakker
Oben ist es still
Marceline Loridan-Ivens
Und du bist nicht zurückgekommen
Helmer van Wonderen, Bauer wider Willen, macht klar
Schiff. Er verfrachtet seinen bettlägerigen Vater ins
Obergeschoss, entrümpelt Wohn- und Elternschlafzimmer, streicht Dielen, Fenster, Türen und Wände und
schafft neue Möbel an. Das Gemälde mit den schwarzen Schafen, die Fotografien von Mutter und die alte
Standuhr kommen nach oben, alle Pflanzen, die blühen
können, auf den Misthaufen. Da Vater ihm nicht den
Gefallen tut, einfach zu verschwinden, sich von einem
Windstoß hinwegfegen zu lassen oder wenigstens zu
sterben, richtet Helmer sein Leben unten neu ein. Doch
die ländliche Ruhe währt nicht lange, denn eines Tages
kommt ein Brief von Riet, der Frau, die Helmers Zwillingsbruder das Leben kostete. Ihr pubertierender Sohn
Henk soll auf dem Hof das Arbeiten lernen …
Genau in der Beobachtung von Mensch und Natur, subtil in der Anspielung und von zärtlicher Skurrilität, entwickelt Bakkers trockener, lakonischer, oft dialogischer
Erzählstil einen unwiderstehlichen Sog. Unversehens
findet man sich mit einem wortkargen Bauern inmitten
von Milchkühen, Texel-Schafen, einer Nebelkrähe und
zwei Eseln an die großen Fragen des Lebens erinnert
und versteht, dass Komik und Tragik, Witz und Wehmut, Oben und Unten unauflöslich zusammengehören.
Marceline ist fünfzehn, als sie zusammen mit ihrem Vater ins Lager kommt. Sie nach Birkenau, er nach Auschwitz. Sie überlebt, er nicht. Siebzig Jahre später schreibt
sie ihm einen Brief, den er niemals lesen wird.
Einen Brief, in dem sie das Unaussprechliche zu sagen
versucht: Nur drei Kilometer sind sie voneinander entfernt, zwischen ihnen die Gaskammern, der Geruch von
brennendem Fleisch, der Hass, die Unausweichlichkeit
der eigenen Verrohung, die ständige Ungewissheit, was
geschieht mit dem anderen? Einmal gelingt es dem Vater, ihr eine kleine Botschaft auf einem Zettel zu übermitteln. Aber sie vergisst die Worte sofort – und wird
ein Leben lang versuchen, die zerbrochene Erinnerung
wieder zusammenzufügen.
Marceline Loridan-Ivens schreibt über diese Ereignisse
und über ihre unmögliche Heimkehr, sie schreibt über
ihr Leben nach dem Tod, das gebrochene Weiterleben
in einer Welt, die nichts von dem hören will, was sie
erfahren und erlitten hat. Und über das allmähliche Gewahrwerden, dass die Familie ihren Vater dringender
gebraucht hätte als sie: »Mein Leben gegen deines.«
Und du bist nicht zurückgekommen ist eine herzzerreißende Liebeserklärung, ein einzigartiges Zeugnis von
eindringlicher moralischer Klarheit – das wohl letzte
Zeugnis seiner Art.
315 S. Broschur. € 9,99
(978-3-518-46142-6)
66
111 S. Gebunden. € 15,00
(978-3-458-17660-2)
Heinz Helle
Eigentlich müssten wir tanzen
Clemens J. Setz
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
Fünf junge Männer verbringen ein Wochenende auf einer Berghütte. Sie kennen sich lange, sie kennen sich
gut. Sie bauen eine Schneebar, trinken, eingeschworen
wie früher, nur älter. Als sie ins Tal zurückkehren, sind
die Ortschaften verwüstet. Die Menschen sind tot oder
geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt. Zu Fuß versuchen sie, sich in ihre Heimatstadt durchzuschlagen. Sie durchwandern die winterliche Welt: ein zerstörtes Museum des Kapitalismus,
kalt und seltsam wehrhaft. Sie versenken ihre Mobiltelefone im See, verschlingen getautes Tiefkühlbaguette
und vergewaltigen eine Frau. Sie funktionieren, so gut
sie können. Nachts bleiben sie wach oder tanzen, um
nicht zu erfrieren, und streifen durch ihre Erinnerungen. Sie werden immer weniger. Auf ihrer gemeinsamen
Suche nach einem Grund, am Leben zu bleiben.
In einer knappen, klaren, präzisen Sprache erzählt
Heinz Helle aus der Perspektive eines namenlos bleibenden Ich-Erzählers. Die Erzählung verstellt immer
mehr erhoffte Auswege und nimmt uns mit in Bilder,
die wir vergessen wollen, aber nicht mehr vergessen
können. Sie nehmen uns den Atem, weil sie uns so nah
an uns selbst rücken. An uns als Ohnmächtige in einer
stehengebliebenen Zivilisation. Der Text fordert uns
auf, uns selbst einzusetzen in dieses Szenario.
Was geschah in der Stunde zwischen Frau und Gitarre?
In einem Wohnheim für behinderte Menschen wird die
junge Natalie Reinegger Bezugsbetreuerin von Alexander Dorm. Der Mann sitzt im Rollstuhl, ist von unberechenbarem Temperament und gilt als »schwierig«.
Dennoch erhält er jede Woche Besuch – ausgerechnet
von Christopher Hollberg, jenem Mann, dessen Leben
er vor Jahren zerstört haben soll, als er ihn als Stalker
verfolgte und damit Hollbergs Frau in den Selbstmord
trieb. Das Arrangement funktioniere zu beiderseitigem
Vorteil, versichert man Natalie, die beiden seien einander sehr zugetan. Aber bald verstört die junge Frau
die unverhohlene Abneigung, mit der Hollberg seinem
vermeintlichen Freund begegnet. Sie versucht, hinter
das Geheimnis des undurchschaubaren Besuchers zu
kommen und die Motive seines Handelns zu verstehen.
Dieser Roman ist eine Bergwerksfahrt in die Welt des
Clemens J. Setz. Sie fördert ihre innere Ordnung zutage,
ihre Geheimnisse und Prinzipien: Macht und Ohnmacht,
Sinnsuche und Orientierungsverlust, Unterwerfung
und Liebe in allen Spielarten – fürsorglich, respektvoll,
besessen, Liebe als Wahn und als Manipulation. Und
Rache. So subtil und schmerzhaft, dass die Frage nach
Täter und Opfer in namenloses Gelände führt.
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre wurde 2015 mit
dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet.
173 S. Gebunden. € 19,95
(978-3-518-42493-3)
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67
Briefwechsel
Leseprogramme für die Bühne
Bertolt Brecht, Helene Weigel
»ich lerne: gläser + tassen spülen«
Thomas Bernhard, Siegfried Unseld
Der Briefwechsel
Briefe 1923–1956
In einer ersten Bestandsaufnahme zum Jahreswechsel
1923/24 schreibt Brecht an und über die junge Schauspielerin: »H W / (zu deutsch: Havary)«; von ihr getrennt
herrschen bei ihm »Starke Langeweile / 90 % Nikotin /
10 % Grammophon«. Immer wieder bestürmt er sie: Fragen nach einem Zimmer oder einer Wohnung, nach Büchern und Artikeln oder nach Autopreisen und der Wiederbeschaffung von verlorenen Papieren; er erkundigt
sich nach ihren Rollen und Auftritten und nach der Resonanz von Publikum und Kritik; er berichtet über die
Arbeit an seinen eigenen Stücken oder darüber, dass er
»mit viel Nikotin wenige Sonette hergestellt« habe.
Nach der Flucht aus Deutschland Anfang 1933 geht es
immer wieder um Orte, an denen Brecht weiterarbeiten
kann, um die Mühsale einer Familie im Exil, um zwei
Kinder, die ihre Muttersprache nur noch zu Hause hören, und um die Nöte einer Schauspielerin, die fünfzehn
Jahre lang ohne Bühne ist. Und deren Briefen wir hier
zum ersten Mal begegnen.
Diese von Erdmut Wizisla erarbeitete und ausführlich
kommentierte Ausgabe der Briefe von Bertolt Brecht
und Helene Weigel ist die erste weitgehend vollständige
Edition der Korrespondenz zwischen Brecht und seiner
Ehefrau.
402 S. Gebunden. € 26,95
(978-3-518-41857-4)
68
30 Jahre alt, ohne Resonanz auf seine bis dahin veröffentlichten drei Gedichtbände, vom eigenen überragenden schriftstellerischen Können allerdings überzeugt,
schreibt Thomas Bernhard im Oktober 1961 an Siegfried Unseld: »Vor ein paar Tagen habe ich an Ihren Verlag ein Prosamanuskript geschickt. Ich kenne Sie nicht,
nur ein paar Leute, die Sie kennen. Aber ich gehe den
Alleingang.«
Obwohl der Suhrkamp Verlag das Manuskript ablehnte, gingen der Alleingänger und der Verleger seit dem
Erscheinen von Bernhards erstem Roman »Frost« 1963
gemeinsam den Weg, der den Autor in die Weltliteratur
führte.
In den etwa 500 Briefen zwischen beiden entwickelt
sich ein einzigartiges Zwei-Personen-Schauspiel: Mal
ist es eine Tragödie, wenn etwa Bernhard die aus seinen Werken bekannten Schimpftiraden auf den Verleger loslässt, der seinerseits auf die Überzeugungskraft
des Arguments setzt. Es dominiert das Beziehungsdrama: Der Autor stellt die für sein Werk und seine Person
unabdingbaren Forderungen. Der Verleger seinerseits
weiß, dass gerade bei Bernhard rücksichtslose Selbstbezogenheit notwendige Voraussetzung der Produktivität ist.
Solch einen dramatischen Briefwechsel zwischen Autor
und Verleger, in dem bei jeder Zeile alles auf dem Spiel
steht, kennt das Publikum bislang nicht.
869 S. Broschur. € 18,00
(978-3-518-42213-7)
Lew Tolstoj, Sofja Tolstaja
Eine Ehe in Briefen
Wolfgang Koeppen, Marion Koeppen
»...trotz allem, so wie du bist« –
Wolfgang und Marion Koeppen. Briefe
Der große russische Autor Lew Tolstoj und seine Frau
Sofja führten während ihrer fünfzigjährigen Ehe einen
ausgedehnten Briefwechsel.
Diese Briefe geben Einblicke in das Alltags- und Familienleben der Tolstojs und in die Entstehung von Tolstojs
großen Werken wie Krieg und Frieden, Anna Karenina,
Die Auferstehung oder Die Kreutzersonate.
Als nach etwa zwei Jahrzehnten Ehe das Familienglück
zum Familiendrama wurde und der Schriftsteller sich
immer mehr von seiner Familie und seinem bisherigen Leben abwandte, ersetzten die Briefe häufig das
Gespräch der Partner. Über Wochen verkehrten Tolstoj
und seine Frau nur schriftlich miteinander. Sie trugen
in Briefen ihre Auseinandersetzungen aus, fügten einander seelische Verwundungen zu und offenbarten
ihr Innerstes, ihren Schmerz und ihre Wut. Und sie
beschworen gegenseitig ihre Liebe, rangen um Annäherung. Sie kämpften für ihre Überzeugungen, die nun
nicht mehr miteinander zu vereinbaren waren – sie
kämpften um ihre Liebe.
Der dramatische Briefwechsel zwischen Lew Tolstoj
und Sofja Tolstaja ist das bewegende Zeugnis einer großen und zugleich schwierigen Liebe.
Über einen Zeitraum von sechsunddreißig Jahren
schrieb Wolfgang Koeppen Briefe an seine um einundzwanzig Jahre jüngere Frau Marion. Es sind berührende
Dokumente der Liebe und Fürsorge, aber auch der Angst
und Resignation, und sie tauchen Marion Koeppen in
ein völlig neues Licht. Denn anders als bisher wahrgenommen, erscheint in diesen erstmals veröffentlichten
Briefen nicht die alkoholkranke Ehefrau als Ursache
für die anhaltende Schreibkrise, sondern sie werfen die
Frage auf: Ist es nicht Marion, der Wolfgang Koeppen
Inspiration und Anregung verdankt, und hat sein literarisches Verstummen nicht ganz andere Gründe? Koeppens Briefe und die erhaltenen Gegenbriefe der Ehefrau
zeigen eine für beide Seiten belastende, dennoch bis
zum Tod Marion Koeppens unauflösbare Verbundenheit: »denn ich liebe ja dich, du Einzigartige, Sonderbare, unverwechselbare, dich Märchenwesen, trotz allem,
so wie du bist«.
Außerdem dokumentiert dieser Briefband die Entstehung einiger der bekanntesten Texte Wolfgang Koeppens, etwa von Das Treibhaus, Nach Rußland und anderswohin sowie Amerikafahrt, und er eröffnet einen
neuen Blick auf das Verhältnis zwischen Koeppen und
seinen Verlegern, Henry Goverts und Siegfried Unseld.
Brigitte Landes hat diesen Briefwechsel für die Bühne bearbeitet.
493 S. Broschur. € 12,95
(978-3-458-35786-5)
456 S. Gebunden. € 32,80
(978-3-518-41977-9
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Marjana Gaponenko
Interview
oder Einbeinig nach Europa
Ein Dramolett
Im August 2015 war ich Artist in Residence in der südhessischen Stadt Lorsch. Meine Gastgeber haben
mich gebeten, in einem Nachmittagsworkshop mit mehreren afghanischen Asylbewerbern und mit Hilfe
eines Dolmetschers Texte rund um das Thema Flucht zu erarbeiten. Unser Treffpunkt war der Gemeinderaum der evangelischen Kirche. Aus dieser besonderen Begegnung ist allein dieses Dramolett entstanden.
Personen:
ABDULRAHMAN, ein junger Mann aus Jalalabad
HERR ADWITZ, ein Mittvierziger aus Kabul, Minenopfer
MOHAMAD, der Jüngste von zehn Geschwistern,
Vollwaise aus Kabul
DOLMETSCHER
INTERVIEWERIN
seiner Muttersprache Schala bala, harhar, hamabatal
elm arban.
INTERVIEWERIN Ich heiße Anna, komme aus Russland und bin Schriftstellerin. Der Plan sieht …
DOLMETSCHER zu ihr gewandt Moment mal! Brubatalam, name man anna ast. Ma russa malalam. Hra
kre krawala bam, aimros bebakschen, e- eh …
historda, barada.
Alle vier Männer lachen.
Ein etwas düsterer Raum mit drei Fenstern. Blick in
einen wunderschönen sonnigen Garten. Vogelgezwitscher. In der Mitte des Raums ein rechteckiger Tisch mit
Papierbögen, Wassergläsern, einer Wasserflasche und
Brezeln. Die Autorin schraubt die Wasserflasche auf,
füllt ein Glas und schiebt es langsam zu Herrn Adwitz,
der mit starrem Blick diese Bewegung verfolgt und das
Glas bis zum Ende des Gesprächs nicht anrührt.
INTERVIEWERIN Dann würde ich sagen, ich stelle
mich mal vor und erzähle ein wenig über meinen
Auftrag.
DOLMETSCHER spricht leise, aber sehr akzentuiert, in
70
INTERVIEWERIN Was haben Sie ihnen gesagt?
DOLMETSCHER Ich habe ihnen den Schriftstellerberuf
erklärt.
INTERVIEWERIN nachdenklich. Ich bin Schriftstellerin
und habe den Auftrag, Sie dabei zu begleiten, die
schönsten Erlebnisse aus Ihrem Leben zu Papier zu
bringen. Pause, sie fährt etwas hastig fort. Momentaufnahmen Ihrer Kindheit zum Beispiel. Es sollen
aber bitte nicht die Schilderungen des Kriegselends und der Flucht sein. Davon sind die Zeitungen voll,
der Leser ist übersättigt und abgestumpft.
DOLMETSCHER übersetzt.
INTERVIEWERIN Schreiben Sie so, dass jeder skeptische Deutsche menschliche Wesen in Ihnen erkennt.
Menschliche Wesen mit Gefühlen, Erinnerungen, Humor und Charme ... lächelt abwesend. Letzteres
ist natürlich nicht obligatorisch. Es geht darum,
dass sich nach dem Lesen Ihrer Lebensgeschichten
das Asylanten-Etikett von Ihnen ablöst und auf der Flasche nur mehr »Mensch« steht. Ich weiß nicht,
ob das eine gelungene Metapher ist ... übergibt dem
Dolmetscher mit einem Handzeichen das Wort.
INTERVIEWERIN Die Texte, die Sie heute niederschreiben, werden in ein Buch in deutscher Sprache
einfließen. Ein berührendes Buch für die Bevölkerung dieser Stadt. Ich hoffe zumindest, dass es die
Menschen berühren wird …
DOLMETSCHER fasst sich an den Mund, stöhnt Ich
habe vergessen zu sagen, dass die Männer Analphabeten sind.
INTERVIEWERIN nach kurzem Schweigen Umso besser.
Dann erspare ich den Jungs die Mühe und schreibe
für sie.
DOLMETSCHER So ersparen Sie auch mir die schriftliche Übersetzungsarbeit.
INTERVIEWERIN zieht den Papierstapel, der für die
Männer gedacht war, zu sich heran. Beginnen wir
mit Abdulrahman. Was ist seine schönste Erinnerung? Woran denkt er besonders gerne?
DOLMETSCHER übersetzt zunächst, wendet sich dann
der Interviewerin zu Er sagt, dass er an seine Cousine denkt. Er ist in sie verliebt. Bei uns dürfen
Cousins und Cousinen heiraten. Es hat aber nicht
geklappt, mit der Heirat. Leider. Aber er weiß, dass
sie auch in ihn verliebt ist.
INTERVIEWERIN schreibt Aha, das ist sehr interessant.
Und woher weiß er, dass sie in ihn verliebt ist?
DOLMETSCHER übersetzt wieder Sie hat es ihm gesagt.
INTERVIEWERIN Wie dürfen wir uns dieses Mädchen
vorstellen? Wie sieht es aus?
DOLMETSCHER übersetzt Schön sieht sie aus. Nicht
dick. Sie trägt einen Tschador. Er will sie heiraten
und hat die Mutter des Mädchens auf seiner Seite.
Nur der Vater macht Stress.
INTERVIEWERIN Was kann er noch über seine Kindheit mit der Cousine erzählen?
DOLMETSCHER übersetzt Sie haben im selben Dorf gelebt und sich als Kinder jeden Tag getroffen. Zusammen haben sie Schafe gehütet. Das war schön.
INTERVIEWERIN Wie romantisch! rezitiert »Sagt, wo
sind die Rosen hin, die wir singend pflückten, als
sich Hirt und Schäferin Hut und Busen schmückten?« Ist ein Lied aus dem 18. Jahrhundert. hastig
Das brauchen Sie nicht zu übersetzen.
Der Dolmetscher lächelt ratlos.
INTERVIEWERIN Ist das Dorf schön grün, oder ist es
dort eher staubig? Und die Häuser? Was hatten die
für Dächer?
DOLMETSCHER übersetzt Ein grünes Dorf, Häuser aus
Lehm, Bambusvordächer.
INTERVIEWERIN Ich brauche mehr Details.
DOLMETSCHER übersetzt Zwei große Hunde waren
immer mit dabei, die passten auf die Schafe auf.
INTERVIEWERIN Aha, das ist interessant! macht Notizen. Zwei große Hunde also. Und wie hießen sie?
Welche Farbe hatten sie?
DOLMETSCHER spricht mit Abdulrahman
Abdulrahman zuckt mit den Schultern und schnalzt mit
der Zunge, als würde er die Hunde rufen. Die Interviewerin scheint kurz irritiert zu sein.
DOLMETSCHER übersetzt Schwarze Hunde. Er sagt, die
Hunde waren schwarz. Sie hatten keine Namen.
INTERVIEWERIN Gut, vielen Dank, das reicht. Wie ist
es mit Ihnen, Herr … ähm, Herr Adwitz? Sie haben
einen markanten Namen. Ad heißt auf Russisch …
Hölle. Und Witz heißt auf Deutsch Witz. Eine
Witzhölle also. Lächelt erwartungsvoll, während der
Dolmetscher übersetzt.
Herr Adwitz schaut sie entgeistert an. Das Lächeln der
Interviewerin erlischt.
71
INTERVIEWERIN Gibt es etwas, woran Sie gerne denken?
Herr Adwitz spricht lange und gestikuliert.
DOLMETSCHER übersetzt Er ist mit 17 auf eine Mine
getreten. Eine üble Sache. Das Gute war aber, dass
die Nachbarn, nachdem er aus dem Krankenhaus zurückgekommen war, meinten, er solle heiraten. Auf
diese Weise hat er seine Cousine geehelicht. Es war
eine Cousine väterlicherseits. Sie haben vier Kinder
bekommen.
INTERVIEWERIN leise Glück im Unglück.
Herr Adwitz erzählt. Der Dolmetscher und die drei Männer lachen.
DOLMETSCHER kichernd Seine Cousine wollte vom
Dach springen, als sie von der Heirat mit dem Krüppel hörte. Doch die Brüder des Mädchens haben sie
überzeugt, ihn zum Mann zu nehmen. Sie haben ihr
Hilfe versprochen, und sie willigte schließlich ein.
INTERVIEWERIN Ich bin mir sicher, Ihre Herzensdame
hat diese Entscheidung nicht be…
wird von Herrn Adwitz unterbrochen.
DOLMETSCHER 30.000 Afghani musste er dem Brautvater zahlen. Später wollte er 5.000 zusätzlich.
INTERVIEWERIN Fragen Sie ihn bitte, wie er vor seinem schrecklichen Unfall gelebt hat.
DOLMETSCHER übersetzt Er hatte ein Kleidergeschäft.
Zuerst kaufte er auf dem Flohmarkt Pullover. Dann
ließ er aus der Wolle von den Frauen im Dorf neue Kleidungsstücke nähen.
INTERVIEWERIN schreibt und spricht laut vor sich hin
Ließ von den Frauen im Dorf Kleidungsstücke nähen.
HERR ADWITZ macht eine Bewegung, als führe er eine
Nadel, spricht aufgeregt Modder nawischtan schusch
al schodan.
72
DOLMETSCHER Seine ganze Familie konnte nähen,
mit Seide sticken. Auch er kann das.
INTERVIEWERIN Wunderbar. Vor dem Schneiderberuf
habe ich, als Frau, viel Respekt. Pause Möchte er
etwas über das Unglück erzählen?
DOLMETSCHER übersetzt Nach der Detonation bemerkte er nicht, dass ihm etwas fehlte. Immer wieder versuchte er aufzustehen und fiel auf die Seite. Dann
lag er drei Stunden allein da. Erst am Abend kam
jemand vorbei und fand ihn. Der Dorfarzt leistete
Erste Hilfe. Trotzdem blutete das Bein die ganze Nacht. Am nächsten Morgen trugen ihn die Männer
stundenlang über die Felder nach Kabul ins AliAbad-Krankenhaus.
INTERVIEWERIN Was geschah mit dem Bein?
DOLMETSCHER übersetzt Das Bein landete in einem
nahe gelegenen Gemüsegarten. Einige Tage danach
wollte der Gartenbesitzer gießen. Er wunderte sich
über die vielen Fliegen und fand das Bein. Der
Schuh war noch dran. Er hat es beerdigt. Zusammen
mit dem Schuh.
INTERVIEWERIN Und dann bekam er die Prothese?
DOLMETSCHER übersetzt Am Anfang hat er eine
Prothese aus mehrfach gefaltetem Kuhleder getragen, mit Socke drüber. Als die abgewetzt war, hatte
er neun Jahre lang eine Kunststoffprothese. Mit der
kam er hierher. Nun ist die auch kaputt.
INTERVIEWERIN Nicht weiter verwunderlich, nach
dieser langen Reise. Hat er ein Lieblingswort? Eine
kindische Frage, ich weiß, aber es würde mich wirklich interessieren.
DOLMETSCHER erklärt lange und übersetzt Nak. Das
heißt Birne.
INTERVIEWERIN Nak. In der Tat sehr schön. Besten
Dank!
Die Interviewerin wendet sich an Mohamad.
INTERVIEWERIN Was ist Ihnen Schönes im Leben
widerfahren?
DOLMETSCHER übersetzt Die Kindheit ist die schönste
Zeit im Leben. Er hat in jeder Sekunde seines Lebens
Sehnsucht nach dieser Zeit. Als Kind hatte er viele
Freunde und ließ Drachen steigen. Selbstgebastelte
Drachen aus Bambus und Plastiktüten.
INTERVIEWERIN schreibt Drachen steigen lassen ... wie
wundervoll. Ich dachte, so etwas gibt es nur hier.
Kann er das gut? Dazu braucht man Geschick.
DOLMETSCHER übersetzt Geschick und Windstille.
Sonst reißt der Faden. Oft ist der Drachen in den
Garten des Nachbarn gefallen. Er musste immer wieder an das Tor des Nachbarn klopfen. Irgendwann
hatte der Mann genug von der ständigen Klopferei.
Er machte den Drachen einfach kaputt ... Jetzt ist das
Wetter gut zum Drachensteigen zeigt zum Fenster.
Aus dem Off ist Vogelzwitschern / Bienensummen zu
hören. Es ist windstill.
Er kann sich vorstellen, wieder einen Laden zu
haben.
INTERVIEWERIN lächelt mitleidig Ich möchte auch
einen Laden haben. an den Dolmetscher Sie nicht?
DOLMETSCHER grinst komplizenhaft Schon, wer möchte das nicht?
INTERVIEWERIN Und was können Sie, Mohamad?
DOLMETSCHER übersetzt Er sagt, er kann sehr gut
Drachen steigen lassen.
INTERVIEWERIN kann sich das Lachen nicht verkneifen
Süß!
Die Interviewerin sieht auf die Uhr.
INTERVIEWERIN Na gut, ich danke jedem ganz herzlich.
Sie steht auf, sammelt die leeren Papierbögen ein und
drückt jedem die Hand. Die Männer bleiben ratlos
zurück.
INTERVIEWERIN erstaunter Blickwechsel zwischen Fenster und Dolmetscher Hat er das Drachensteigen allein
praktiziert?
DOLMETSCHER übersetzt Mit seinem Bruder Ematulla. Er war wie eine Mutter für ihn. Er hat gekocht,
genäht. Um die anderen Geschwister hat er sich auch
gekümmert. Die Eltern haben sie früh verloren.
INTERVIEWERIN Wie viele Geschwister sind es insgesamt?
DOLMETSCHER übersetzt Zehn.
INTERVIEWERIN Wahnsinn. Ich bin Einzelkind und
hätte gerne neun Geschwister gehabt. Überlegt. Wie
stellen sich alle drei ihre Zukunft hier vor, was können sie handwerklich?
DOLMETSCHER übersetzt Abdulrahmans Antwort Eine
Schneiderlehre wäre toll. Er kann ein bisschen nähen.
INTERVIEWERIN Gute Idee!
DOLMETSCHER übersetzt die Antwort von Herrn Adwitz
73
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Foto: Jerry Bauer
Zum 100. Geburtstag und 25. Todestag von
Wolfgang Hildesheimer
Das dramatische Werk im Suhrkamp
Der schiefe Turm von Pisa. Ein Spiel in einem
Theater Verlag
Akt (1959)
Der Drachenthron. Eine Komödie /
Die Eroberung der Prinzessin Turandot
(1955)
Pastorale oder die Zeit für Kakao.
Ein Spiel in einem Akt (1958)
Die Uhren. Ein Spiel in einem Akt (1959)
Landschaft mit Figuren. Ein Spiel in
zwei Teilen (1959)
Die Verspätung. Ein Stück in zwei Teilen (1961)
Rivalen (1961)
Nachtstück (1963)
Mary Stuart. Eine historische Szene (1970)
Die Herren der Welt. Eine Komödie in
zwei Teilen
Übersetzungen
Das Opfer Helena. Eine Komödie in
Bernard Shaw: Die heilige Johanna (1966)
zwei Teilen (1959)
Bernard Shaw: Helden (1970)
William Congreve: Der Lauf der Welt (1985)
»Das absurde Theater ist eine Parabel über die Fremdheit des
Menschen in der Welt. Sein Spiel dient daher der Verfremdung.
Es ist ihre letzte und radikale Konsequenz. Und Verfremdung bedeutet
Spiel im besten, wahrsten und – nebenbei bemerkt – im ältesten Sinne.«
Wolfgang Hildesheimer
75
suhrkamp spectaculum
Bereits erschienen
Volker
Braun
Dmitri / Die Übergangsgesellschaft /
Nibelungen / Transit Europa /
Limes. Mark Aurel / Was wollt ihr denn
suhrkamp spectaculum
253 Seiten. Broschur. € 20,–
(978-3-518-42378-3)
303 Seiten. Broschur. € 24,(978-3-518-42438-4)
Noah
Haidle
Gesine
Schmidt
Mr. Marmalade /
Lucky Happiness Golden Express /
Ada und ihre Töchter
suhrkamp spectaculum
liebesrap / Oops, wrong planet! /
Expats / Bier, Blut und Bundesbrüder
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205 Seiten. Broschur. € 18,–
(978-3-518-42412-4)
217 Seiten. Broschur. € 18,–
(978-3-518-42413-1)
240 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42462-9)
Noah
Peter Handke
Haidle
Thomas Oberender
Einar
Schleef
Stephan
Kaluza
Mr.
Marmaladeoder
/ Haupteingang?
Nebeneingang
Gespräche
über 50Golden
Jahre Schreiben
Lucky
Happiness
Express /
fürs und
Theater
Ada
ihre Töchter
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Die Schauspieler / Mütter / Wezel /
Berlin – ein Meer des Friedens
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Atlantic Zero / 3D / Sand
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199 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42437-7)
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151 Seiten. Broschur. € 14,–
(978-3-518-42379-0)
228 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42463-6)
227 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42484-1)
Erscheint im Mai 2016
Erscheint im Mai 2016
Georg
Ringsgwandl
Werner
Fritsch
Der varreckte Hof / Der verreckte Hof
suhrkamp spectaculum
Nofretete / Das Rad des Glücks /
Mutter Sprache
suhrkamp spectaculum
Ca. 130 Seiten. Broschur. Ca. € 14,(978-3-518-42508-4)
Ca. 100 Seiten. Broschur. Ca. € 14,(978-3-518-42509-1)
Mutter Weichsenrieder spricht mit Menschen, die nicht
mehr leben, und sieht Dinge, die es nicht gibt. Wird sie
dement oder tut sie nur so? Eine Pflegerin muss her.
Ihre Kinder, die Handarbeitslehrerin Gerlinde und der
Industriemanager Rupert, haben keine Zeit für die alte
Bäuerin. So kommt Svetlana aus Moldawien auf den Hof
und bringt die eingelaufenen Verhältnisse ins Rutschen.
Dieses Buch veröffentlicht die ursprüngliche, bayerische Fassung der erfolgreichen »Stubenoper« Der varreckte Hof sowie die neuere hochdeutsche Fassung, Der
verreckte Hof. Mit enthalten das Notenmaterial und ein
Essay des Autors zu Dialekt, Hochsprache und den Hintergründen des Stücks.
Georg Ringsgwandl arbeitete bis zu seinem 44. Lebensjahr als Arzt und steht seit über 30 Jahren auf der Bühne. Er veröffentlichte zehn Studioalben, schreibt Musiktheaterstücke, Bücher und Beiträge für Zeitungen und
Magazine.
Drei Frauen verleiht Werner Fritsch in Das Rad des
Glücks und Mutter Sprache und in Nofretete eine Stimme. Alle drei blicken zurück auf ein schmerzvolles
Leben, dennoch formulieren sie Hymnen darauf. Die
legendäre Königin Nofretete trauert um ihren Gemahl,
den altägyptischen König Echnaton, der einst den Monotheismus eingeführt hatte. Nach seinem Tod droht
die alte, mafiöse Priesterkaste die Macht zurückzugewinnen. Mit der Sintiza »Großmutter Courasch« (Das
Rad des Glücks) hat Fritsch eine Ausnahmeprotagonistin für die deutsche Dramatik geschaffen: Ihr Leben war
vor allem ein Überleben in den Lagern von Auschwitz
und Ravensbrück. Mutter Sprache schließlich ist die
Erinnerung einer alten Bäuerin an ein Leben, das »ein
Gehetz und ein Gewürg« war und das den autobiografischen Kosmos birgt, aus dem Werner Fritsch seit Cherubim (1987) seine Figuren, Konflikte, seine Haltung als
Erzähler schöpft.
77
Jahrestage
2016
2017
85. Geburtstag
75. Geburtstag
9. Februar 1931 – 12. Februar 1989
8. August 1942
105. Geburtstag und 25. Todestag
75. Geburtstag
15. Mai 1911 – 4. April 1991
6. Dezember 1942
100. Geburtstag und 25. Todestag
50. Geburtstag
9. Dezember 1916 – 21. August 1991
30. November 1967
Thomas Bernhard
Max Frisch
Wolfgang Hildesheimer
Isabel Allende
Peter Handke
Albert Ostermaier
90. Geburtstag
Gerlind Reinshagen
4. Mai 1926
2018
100. Geburtstag
80. Geburtstag
Peter Weiss
8. November 1916 – 10. Mai 1982
Herbert Achternbusch
23. November 1938
75. Geburtstag
Reinhild Hoffmann
1. November 1943
78
Impressumsum / Kontakt
Suhrkamp Verlag AG
Suhrkamp Theater Verlag
Pappelallee 78-79
10437 Berlin
E-Mail: [email protected]
(oder: [email protected])
Telefon: +49 (0)30/740 744 395
Telefax: +49 (0)30/740 744 399
www.suhrkamptheater.de
Leitung:
Christiane Schneider
Nicola Ahr (Assistenz)
Dramaturgie: Nina Peters (Lektorat Theater) / Frauke Pahlke (Vertretung)
Michael Sauter (Lektorat Theater, Musiktheater)
Ruth Feindel (Lektorat Theater)
Lizenzen:
Britta Davis (professionelle Theater, internationale Lizenzen)
Alexandra Murphy (Amateure, Lesungen, TV-Ausschnitte, Vertonungen)
Textbuchbestellungen:über www.suhrkamptheater.de, www.theatertexte.de
oder [email protected]
Redaktion: Gestaltung: Dramaturgie
Jutta Schneider Grafik Design, Frankfurt a. M.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
79
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Thomas Valentin · Mario Vargas Llosa · Dieter Waldmann · Martin Walser · Dianne Warren
Manfred Weiß · Peter Weiss · William Carlos Williams · Robert Wolf · Konrad Wünsche
Gisela von Wysocki · Marina Zwetajewa