Pressetext - Institut für Ethik und Recht in der Medizin

ierm.univie.ac.at
Das Projekt FOKUS – Forensische Kinder- und Jugenduntersuchungsstelle will
minderjährige Gewaltopfer medizinisch besser versorgen und die Folgen der
Gewalt dokumentieren.
Während in Österreich das erste medizinische Pilotprojekt zum verbesserten Opferschutz von
Kindern und Jugendlichen gerade erst angelaufen ist, gibt es in anderen Ländern zu diesem Thema
bereits viel Erfahrung und Expertise. Um diese zu nützen und von nachgewiesenermaßen
erfolgreichen Modellen zu lernen, lud das Institut für Ethik und Recht in der Medizin die
US-amerikanische Expertin Dr. Jordan Greenbaum M.D., PH.D. zu einem Vortrag und
anschließendem Erfahrungsaustausch nach Wien.
(Wien, 25.11.2015) – Dr. Jordan Greenbaum, M.D., PH.D. leitet das Stephanie Blank Center for Safe
and Healthy Children, Children’s Healthcare of Atlanta. Wie nahezu alle Kliniken in den USA,
unabhängig von deren Größe und Ausstattung, verfügen auch die beiden zentralen Krankenhäuser in
Atlanta über sogenannte „Child Protection Teams“. Es handelt sich dabei um multiprofessionelle
Teams, die sowohl im klinischen als auch im ambulanten Setting kollegiale Unterstützung anbieten,
wenn Kinder mit Verdacht auf physischen oder sexuellen Missbrauch oder auch Vernachlässigung in
die Notfallaufnahmen der Kliniken bzw. in die externen Versorgungseinrichtungen gebracht werden.
Je nach Größe der Spitäler und ihren medizinischen Einzugsgebieten sind die Teams unterschiedlich
zusammengestellt. Neben mindestens zwei ÄrztInnen gehören auch Pflegekräfte und
SozialarbeiterInnen, bei größeren Einrichtungen auch klinische PsychologInnen,
VerhaltenstherapeutInnen oder Kinder- und FamilienjuristInnen dazu.
Sobald jemand des betreuenden Krankenhauspersonals den Verdacht hat, dass ein Missbrauch
vorliegen könnte, ruft er das Child Protection Team zur Unterstützung. Das Team liest alle
vorliegenden Befunde, spricht mit allen involvierten Personen im Rahmen von Einzelgesprächen über
die Vorfälle, um die Aussagen anschließend abgleichen zu können. Dabei kann sich das medizinische
Team, das in aller Regel für diese Aufgabe freigestellt und damit nicht in den operativen Klinikalltag
involviert ist, soviel Zeit wie nötig nehmen, um die Gespräche entsprechend ausführlich, aber auch so
behutsam wie notwendig zu gestalten.
Anschließend folgt eine medizinische Untersuchung mit einer entsprechend detaillierten
Dokumentation der Verletzungen in Worten und Bildern. Gegebenenfalls werden weitere
Laboruntersuchungen, bildgebende Verfahren oder Tests angeordnet. Später sprechen alle
Teammitglieder, aber auch zugezogene BehördenvertreterInnen wie Polizei etc. den „Fall“
ausführlich durch, wobei jeder seine Informationen einbringt. Auf dieser Basis wird dann ein Bericht
zusammengefasst, der auch Schlussfolgerungen und Empfehlungen für weiterführende medizinische
wie auch therapeutische, psychologische, soziale oder juristische Maßnahmen beinhalten kann.
Der speziellen Ausbildung und Erfahrung der Teammitglieder, vor allem auch der ÄrztInnen, kommt
in diesem Setting größte Bedeutung zu, erläuterte Greenbaum: „Sie ‚finden‘ auch nicht
offensichtliche Verletzungen und identifizieren sie als mögliche Folgen von Gewaltanwendung, die
andere Ärzte nicht diagnostizieren würden.“ Sollte es später zu Prozessen kommen, hat außerdem
die medizinische Expertise von ÄrztInnen, die am neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung
argumentieren können, mehr Gewicht. Zudem werden die ÄrztInnen dieser Teams für derartige
Prozesse geschult und etwa auch für aggressive Kreuzverhöre vorbereitet.
Das System funktioniere nicht zuletzt deswegen so gut, berichtete Greenbaum, weil die anderen
ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen im Krankenhaus davon überzeugt sind, durch die Arbeit des
Teams einen großen Benefit zu haben. Immerhin sei „die Angst in diesem besonders sensiblen
medizinischen Bereich groß, Fehler zu machen – Fehler in beide Richtungen: das Kind einerseits nicht
rechtzeitig beschützt zu haben, weil Gewaltanwendungen übersehen wurden, oder andererseits mit
vorschnellen Beschuldigungen Familien oder Existenzen zu zerstören.“
The Child Advocacy Center Model
Wie viele andere amerikanische Städte bietet Atlanta auch einen ambulanten Service bei Verdacht
von Kindesmisshandlungen oder -vernachlässigungen an. Hierher können etwa Kinder von der Polizei
gebracht werden, die von einer Mutter wegen des Verdachts einer sexuellen Misshandlung ihres
Kindes durch den Stiefvater alarmiert wurden. „Die Zentren befinden sich außerhalb der Kliniken,
sind manchmal nur ganz klein, aber immer kindergerecht und einladend gestaltet“, erzählte
Greenbaum. Im Sinne des One-Stop-Shop-Prinzips kann hier das gesamte Prozedere durchlaufen
werden, vom videounterstützten forensischen Interview der Opfer durch eigens geschulte
SpezialistInnen über die medizinischen Untersuchungen und psychologischen Testungen bis hin zur
juristischen Unterstützung durch Kinder- und FamilienanwältInnen.
Das Stephanie Blank Center for Safe and Healthy Children in Atlanta betreut mehr als 300
Konsultationen jährlich. Es ist fünf Tage die Woche geöffnet, für akute Fälle gibt es einen Rund-umdie-Uhr-Bereitschaftsdienst, um Verletzungen sofort untersuchen und dokumentieren zu können. Die
MitarbeiterInnen sind in Vollzeit angestellt.
Zusätzlich bietet das Center niedergelassenen ÄrztInnen und SpitalsärztInnen
Weiterbildungsmaßnahmen zur Diagnose und Dokumentation von Gewalteinwirkungen an sowie ein
unterstützendes Mentoring durch die MitarbeiterInnen. Außerdem werden hier
Präventionsprogramme erarbeitet und koordiniert.
Pilotprojekt FOKUS
Auch wenn das von Greenbaum vorgestellte Konzept von Atlanta auf die viel kleineren heimischen
Dimensionen nicht direkt übertragbar ist, so sind die Erfahrungswerte für das derzeit laufende
Pilotprojekt FOKUS an der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde doch sehr
nützlich. FOKUS steht für „Forensische Kinder- und Jugenduntersuchungsstelle“. Wie die
wissenschaftliche Leiterin des Projekts, Univ.-Prof.in Dr.in Susanne Greber-Platzer, MBA, im Rahmen
der Veranstaltung berichtete, soll damit die Möglichkeit geschaffen werden, Gewaltopfer nach
Zuweisung durch die Kinderschutzgruppen, das Jugendamt und die Polizei möglichst rasch nach der
Tat zu untersuchen, Indizien zu erfassen und die Spuren durch ein Expertenteam zu sichern.
Außerdem sollen im Rahmen der zeitnahen Befundung auch mögliche psychische Folgen, etwa
Traumatisierungen, erfasst und die Opfer psychisch stabilisiert werden. Mithilfe der
SozialarbeiterInnen soll ein angemessener Schutz der Opfer sichergestellt werden. Für all diese
Aufgaben der Einrichtung gilt es, standardisierte Verfahren zu entwickeln, die später auch auf
nachfolgende Einrichtungen in den Bundesländern anwendbar sind.
Ein weiteres Projektziel ist es, einheitliche Strukturen und Unterstützungs-Tools zu entwickeln, um
die Arbeit der ÄrztInnen und des Gesundheitspersonals in den Kinderschutzgruppen der Spitäler zu
unterstützen und zu erleichtern.
Das Angebot richtet sich an Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr in Wien. Überweisen
können allerdings nur medizinische Einrichtungen, wenn ein begründeter Verdacht auf
Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung vorliegt. Betroffene selbst können sich nicht direkt
an die Untersuchungsstelle wenden, auch niedergelassene ÄrztInnen müssen das wohnortnahe Spital
kontaktieren.
Das Pilotprojekt ist zwar vorerst auf zwei Jahre beschränkt, jedoch ortet Dr. Maria Kletečka-Pulker
vom Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien und Geschäftsführerin der
Plattform Patientensicherheit zumindest ein „wachsendes Problembewusstsein der
Gesundheitspolitik.“ Dies würde sich nicht zuletzt im aktuellen Regierungsprogramm widerspiegeln,
wo eine österreichweit flächendeckende Versorgung mit forensischen Untersuchungsstellen in allen
Bundesländern festgeschrieben wurde.
Zu erreichen ist die Forensische Untersuchungsstelle rund um die Uhr über die Leitstelle der
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde unter der Telefonnummer 01 40400 32310.
Weitere Informationen unter: http://kinderklinik.meduniwien.ac.at/forschung/fokus
Foto:
Der Vortrag von Dr. Jordan Greenbaum M.D., Ph.D. am Institut für Ethik und Recht in der Medizin
stieß auch bei den Mitgliedern des FOKUS-Projektteams auf große Aufmerksamkeit. (v.l.n.r.):
Priv.-Doz. Mag. DDr. Martin Grassberger, Gerichtsmediziner und Mag. Astrid Grundner, Psychologin
der forensischen Untersuchungsstelle; MMag. Katharina Leitner, Plattform Patientensicherheit;
Dr. Eva Theuer, Kinderärztin der Forensischen Untersuchungsstelle; Dr. Jordan Greenbaum, M.D.,
PH.D., Stephanie Blank Center for Safe and Healthy Children, Children’s Healthcare of Atlanta;
Univ.-Prof. Dr. Susanne Greber-Platzer, MBA, wissenschaftliche Leiterin des Projekts FOKUS;
Dr. Wolfgang Nowak, Kinderarzt und Leiter der Kinderschutzgruppe SMZ-Ost;
Dr. Maria Kletečka-Pulker, Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien und
Geschäftsführerin der Plattform Patientensicherheit. Foto: V. Weilguni
Kontakt:
Dr.in Maria Kletečka-Pulker
[email protected]
0664/6027722202
Veranstalter: Institut für Ethik und Recht in der Medizin (www.ierm.univie.ac.at) in Kooperation mit
der Österreichischen Plattform Patientensicherheit (www.plattform-patientensicherheit.at)