Der alte und der neue Kalte Krieg in Europa

30 DEBATTE
FREITAG, 20. NOVEMBER 2015
Der alte und der neue Kalte Krieg in Europa
Gastkommentar. Vor 25 Jahren wurde in der französischen Hauptstadt feierlich die „Charta von Paris für ein neues Europa“
unterzeichnet. Von der damaligen Aufbruchsstimmung ist nichts geblieben. Dafür dominiert wieder das Gut-Böse-Denken.
Westen, so hat sich aus dieser Divergenz eine Diversifikation der
Ökonomien auf östlicher Seite
durch eine semikapitalistische
staatswirtschaftliche Oligarchienwirtschaft entwickelt.
War im Zeichen des alten Kalten Krieges eine Machtbalance in
Europa gegeben, so vollzog sich
seit Ende der 1990er-Jahre durch
die Nato- und seit 2004 durch die
EU-„Osterweiterung“ eine Machtverschiebung, die Russland gefühlt
in die Defensive zwang und aus
seinen gewohnt traditionellen Einflusszonen zu verdrängen drohte.
Nach einer Phase der Annäherungen, Normalisierung und Abrüstung hat sich spätestens unter
George W. Bush und Wladimir Putin eine neue Aufrüstungspolitik im
konventionellen Bereich, aber
auch auf dem Sektor der Raketenabwehrsysteme entwickelt. Wurde
seit Ende der 1940er-Jahre eine einseitige westliche Embargo-Politik
im Rahmen des Marshallplans
durch die OEEC (Cocom-Listen)
gegen die UdSSR und ihre Verbündeten praktiziert, erfolgte zuletzt
eine wechselseitige Embargo-Politik durch die EU und Russland.
VON MICHAEL GEHLER
D
er Begriff „Cold War“
stammt vom US-Präsidentschaftsberater und Rüstungsexperten Bernard Baruch sowie dem Journalisten Walter Lippmann. Er bezeichnete damit den
Gegensatz zwischen den USA und
der UdSSR, ein Denken in „Blöcken“ und Einflusssphären, das
sich durch Auf- und Wettrüsten,
Druck durch Diplomatie und Politik, Wirtschaftsembargos, Geheimdienstaktivitäten, ideologische Infiltration, Kriegsdrohungen, Militärinterventionen und Propaganda
äußerte. Hinzu kamen heiße oder
auch Stellvertreterkriege in fernen
Regionen (Indochina 1946–54, Korea 1950–53, Vietnam 1959–75).
Die Anfänge werden mit dem
Zerwürfnis der zerfallenden AntiHitler-Koalition während des Zweiten Weltkriegs oder erst nach
Kriegsende mit den kommunistischen Machtübernahmen und der
sowjetischen Hegemonie in Mittelund Osteuropa 1946/47–1949 datiert. Dem gegenüber standen das
amerikanische Atomwaffenmonopol 1945–1949 und der Marshallplan 1948–1952, verbunden mit
„Eindämmung“ des Kommunismus durch wirtschaftliche und militärische Hilfeleistungen für westeuropäische Staaten.
Offizielles Kriegsende in Paris
Das Ende des Kalten Krieges wird
mit dem Zerfall der UdSSR und ihres Satellitensystems 1989–1991
angenommen. Mit Unterzeichnung
des INF-Vertrags 1987 hatte es begonnen, als Mittelstreckenraketen
und Marschflugkörper mit einer
Reichweite zwischen 500 und 5500
Kilometern samt Startgeräten und
Infrastruktur abgebaut wurden.
Die Nato beschloss auf dem
Londoner Gipfel im Juli 1990, den
Warschauer Pakt nicht mehr als
Gegner zu betrachten, und bekundete Kooperationsbereitschaft. Am
19. November 1990 verkündeten
beide Militärbündnisse wechselseitigen Gewaltverzicht. Zwei Tage
später folgte die „Charta von Paris
für ein neues Europa“, die den Kalten Krieg auf dem Kontinent offiziell für beendet erklärte.
Seine Kennzeichen waren
wechselseitige Fehlwahrnehmungen, Übertreibungen und Überschätzungen gegnerischer Potenziale sowie Ängste vor einem direkten militärischen Zusammenstoß
und dem Vernichtungspotenzial
der Nuklearwaffen. Das Denken in
Ost-West-Gegensätzen hatte sich
fest in die Gehirne eingeprägt. Und
nun sollte das alles aus und vorbei
sein? Der Warschauer Pakt
beschloss zwar 1991 seine Selbstauflösung, und die Nato lief mangels eines Feindbildes Gefahr, Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden.
Das „Ende der Geschichte“ mit
dem weltweiten Siegeszug der liberal-westlichen Demokratie (Francis
Fukuyama) zu verkünden, war
einer euphorischen Aufbruchstimmung geschuldet. Einerseits folgte
ein globalisiertes Denken der Freiheit, andererseits aber auch eine
Emanzipation alter Nationalismen
und eine Spirale der Gewalt mit
dem blutigen Zerfall Jugoslawiens,
den Kriegen in Liberia und Somalia
sowie dem Jihad Osama bin Ladens, der nach seinem Kampf gegen die Sowjetbesatzung in Afghanistan eine neue antiamerikanische Strategie entwickelte.
Neue Bedrohungen
Der Islamische Staat – Ergebnis
verfehlter Interventionspolitik im
Irak – verkörpert inzwischen die radikalisierte Variante von al Qaida.
Seit 1989 sind also neue Bedrohun-
PIZZICATO
Der Trikolore-Baum
A
ndreas Hofer dreht sich gerade im Grabe um. Der Christbaum
aus Tirol, der nun auf dem Wiener Rathausplatz aufgestellt
wurde, wird – ausgerechnet! – mit der französischen Trikolore beleuchtet.
Wir erinnern uns: Andreas Hofer kämpfte seinerzeit mit seinen
Alpen-Taliba-, äh -Rebellen gegen die französischen Besatzer und
ihre bayrischen Verbündeten. Er starb als Volksheld für die Freiheit
Tirols, füsiliert von den fremden Besatzern. Und da fragen wir uns:
Was kommt jetzt als Nächstes? Wird nun vielleicht die eine oder
andere unserer gesunden Banken den Bayern angetragen? So weit
kommt’s noch!
Dass die Franzosen zu viel feiern und ein liederliches Leben
führen, das war schon Andreas Hofer bewusst. So heißt es etwa auf
Wikipedia: „Hofer verbot nach dem ersten Sieg alle Bälle und Feste
und befahl per Erlass, dass ,Frauenzimmer‘ nicht mehr ,ihre Brust
und Armfleisch zu wenig und mit durchsichtigen Hadern bedecken‘ dürfen. Wirtshäuser sollten während der Gottesdienste geschlossen bleiben.“
Kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Eines ändert sich aber anscheinend nie: Diese opportunistischen Wiener
fallen einem immer wieder in den Rücken.
(oli)
Reaktionen an: [email protected]
gen und vermehrt internationale
Risken entstanden. Während sich
der Osten Europas öffnete und die
Demokratie Einzug hielt, erlebte
China nur einen Monat den Traum
des Wortes „Freiheit“. Das Ende
des alten Kalten Krieges galt nur
für Europa. Der Westen ignorierte
nach dem gewonnenen Ringen mit
dem Kommunismus die Sicherheitsinteressen Russlands, was
einen neuen Kalten Krieg zulasten
Europas erzeugte.
Vergleicht man die Ost-WestVerhältnisse vor 1989 mit jenen
von 2015, so ähnelt sich manches,
doch sind massive Veränderungen
DER AUTOR
Michael Gehler (* 1962
in Innsbruck) studierte
Geschichte und
Germanistik an der Uni
Innsbruck, habilitierte sich 1999 und war
dort a.o. Professor am Institut für Zeitgeschichte. Seit 2006 Professor und
Leiter des Instituts für Geschichte an der
Uni Hildesheim. Seit 2013 Direktor des
Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. [ Privat]
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Die Presse, Hainburger Straße 33,
A-1030 Wien oder an
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Systemkonflikt oder
Orientierungslosigkeit?
„Was Schüler und Eltern erwartet“,
von Julia Neuhauser, 18. 11.
Zum dritten Mal lese ich Ihren
Artikel zu den Errungenschaften
der Bildungsreform, die in harten,
nächtlichen Verhandlungen erreicht worden sind, durch und
finde sie nicht. Trotzdem werden
die halbherzigen Maßnahmen
großspurig verkündet, und die Bildungsverantwortlichen dieses Landes demonstrieren „Gimme five!“.
Wer erklärt mir jetzt nochmals
den Unterschied zwischen Landesschulrat und Bildungsdirektor?
Oder den Vorteil einer Schule mit
WLAN gegenüber einer Schule, die
die Notebooks nach katastrophalen Erfahrungen wieder abge-
unübersehbar: Gab es vor 1989
zwei „Blöcke“ mit China als Regionalmacht, so existiert heute ein
multipolares System mit China als
Hegemon in Ostasien und neuen
Atommächten. Bestanden früher
zwei regionale Militärallianzen
(Nato, Warschauer Pakt), so heute
mit dem Nordatlantikpakt nur
noch eines mit „Out of area“-Einsatzbereitschaft und globaler Interventionsfähigkeit, gleichwohl sich
Russland die atomare Erstschlagqualität bewahrt hat.
Russlands gefühlte Defensive
Standen einander noch in den
1980er-Jahren die Europäischen
Gemeinschaften und der Rat für
gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW
= Comecon) als zwei Wirtschaftsblöcke gegenüber, steht heute eine
von zwölf auf 28 Mitglieder angewachsene EU einer weit loseren
„Eurasischen Union“ gegenüber,
die mehr russischem Wunschdenken entspricht, als wirksame realpolitische Alternative zu sein.
Existierte im Zeichen der OstWest-Konfrontation eine zentralistische Kommando- und Planwirtschaft im Osten neben einer privatwirtschaftlich und wettbewerbsorientierten freien Marktwirtschaft im
schafft hat? Und warum müssen
wir uns seit Jahren auf die gefürchtete Zentralmatura vorbereiten,
während man gleichzeitig den einzelnen Schulen mehr didaktischpädagogische Autonomie einräumt? Lehrer zwischen dem Bregenzer Wald und dem Neusiedler
See sollen ihren Unterricht künftig
freier gestalten dürfen, aber geprüft
wird die Österreich-Ausgabe des
Zentralkomitees!? Ich orte einen
Systemkonflikt, hoffentlich ist es
nicht Orientierungslosigkeit.
Mag. Reinhold Sattlegger,
2123 Unterolberndorf
Womit hat Haslinger
Scholz’ Zorn erregt?
Zum „Quergeschrieben“ von Kurt
Scholz vom 17. 11.
Welche Bemerkungen hat Josef
Haslinger von sich gegeben, dass
ihm Scholz die Lebensgeschichte
D’Annunzios und der Futuristen
rund um Filippo Tommaso Marinetti zur Seite stellen, ihm fast
seine gesamte bisherige Publikationsgeschichte vorhalten, das
OSZE: Schwach und ungeeignet
Die Entspannungspolitik durch die
Schlussakte von Helsinki vom
1. August 1975 und der KSZENachfolgeprozess bewirkten einiges zur Beseitigung der Konfrontationsmuster. Heute fehlen jedoch
vergleichbare Instrumentarien, so
wie in den Anfängen des alten Kalten Kriegs. Die OSZE ist viel zu
schwach und ungeeignet dafür.
Die Annexion der Krim und die
Destabilisierung der Ukraine stehen für russischen Selbstbehauptungswillen. Reformbestrebungen
à la Gorbatschow sind unter Putin
nicht gegeben – im Gegenteil. Die
verstärkte Integration des Baltikums sowie Mittel- und Osteuropas in das westliche Wirtschaftssystem wird von Moskau als Herausforderung angesehen.
Nicht grundlos geht Russland
gegen die EU-assoziierte Ukraine
vor. Europa durchlebt einen neuen
Kalten Krieg mit relativ gleichen
Formen unter geänderten Rahmenbedingungen. Das Gut-BöseDenken ist geblieben. Auch Historiker sollten sich nicht frei von der
Gefahr traditionell einseitiger Parteinahmen wähnen.
E-Mails an: [email protected]
ganze österreichische Förderwesen
zu einem Mix aus Bestechungen
und Belohnungen und den deutschen PEN-Club, dessen Präsident
Haslinger ist, zu einer siechen
Standesvertretung erklären muss?
Er hat gesagt, dass sich Österreich
bei der Versorgung von Flüchtlingen nicht immer korrekt verhält.
Das ist angesichts der Verhältnisse im Flüchtlingslager Traiskirchen im heurigen Sommer und
der Errichtung von Zeltlagern, weil
keine festen Quartiere bereitgestellt wurden, keine besonders
heftige Attacke, die aber ganz
offensichtlich genügt hat, um bei
Kurt Scholz alle Ressentiments
wachzurufen, die sich über Jahre
bei ihm gegen die österreichische
Gegenwartsliteratur und ihre Vertreter aufgestaut haben müssen.
Kurt Scholz hätte sich seinen
von Gegenargumenten freien
Kommentar sparen können, wäre
er darauf eingegangen, was Haslinger im Interview mit dem Deutschlandfunk insgesamt tatsächlich
gesagt hat, dass nämlich Österreich Flüchtlinge gerne mög-