DOKTORATSPROGRAMM L I T E R AT U R WISSENSCHAFT Studien- und Begegnungstag Doktoratsprogramm Literaturwissenschaft Freitag, 20. November 2015 11:00–12:30, Kollegienhaus, Raum 111 (Regenzzimmer) Öffentlicher Vortrag Prof. Dr. em. Wolf Schmid (Universität Hamburg) Perspektiven und Grenzen der kognitiven Narratologie Am Beispiel der Bewusstseinsdarstellung 13:30–16:30, Kollegienhaus, Raum 111 (Regenzzimmer) Doktorandenworkshop Anmeldung unter: [email protected] Perspektiven und Grenzen der kognitiven Narratologie Am Beispiel der Bewusstseinsdarstellung «Novel reading is mind reading», so lautet der Slogan des prominenten britischen Narratologen Alan Palmer, des Autors von Fictional minds (2004) und Social minds in the Novel (2010). Schlüsselkonzepte des narratologischen Kognitivsmus sind mind reading und theory of mind. Letzterer Begriff, der nicht eigentlich eine Theorie meint, sondern das Erkennen von Bewusstseinsbewegungen von außen, ist von Lisa Zunshine (Why We Read Fiction, 2006) eingeführt worden. Beide Konzepte beziehen sich auf die Bildung von Hypothesen über das, was im Bewusstsein einer fremden Person vorgehen mag. Beide Vorgänge gründen auf der Interpretation des verbalen und praktischen Verhaltens der beobachteten Person sowie ihres äußeren Eindrucks, ihrer Gestik und Mimik. In Wirklichkeit sind mind reading und theory of mind aber weder “reading” noch “theory”, sondern Annahmen oder, wie ein Kritiker sagt, “mind guessing”. Die kognitiven Narratologen tendieren dazu, die Objektivität des mind reading zu überschätzen und den Unterschied zwischen dem Verstehen eines realen und eines fiktiven Bewusstseins zu unterschätzen. Dabei stellt der Kognitivismus eines der Axiome der Literaturwissenschaft in Frage. In der klassischen Erzähltheorie (E. M. Forster, Käte Hamburger, Dorrit Cohn) galt es als ausgemacht, dass die fiktionale Erzählung sich von der faktualen dadurch unterscheidet, dass sie die Innenwelt von Figuren authentisch darzustellen in der Lage ist, während im faktualen Kontext lediglich Vermutungen möglich sind oder die Berufung auf verlässliche Zeugnisse erforderlich ist. Die fiktionale Erzählung galt sogar als der einzige Ort für die authentische Darstellung des menschlichen Innenlebens. Diese klassische “exceptionality thesis” ist von Kognitivisten (David Herman, Palmer) scharf kritisiert worden. Jedoch sind ihre Argumente nicht imstande, die klassische These der Darstellung fremder Innenwelt als eines distinktiven Merkmals der fiktionalen Narration zu erschüttern. Die kognitive Narratologie, die sich in verschiedenen Gestalten zeigt, öffnet für die Literaturwissenschaft neue Horizonte, indem sie Fragen von anthropologischer Bedeu-tung stellt und dabei die Literaturwissenschaft, eine im Wesentliche hermeneutische Disziplin, mit den empirischen Wissenschaften verbindet. Ihr Hauptverdienst besteht in der Analyse der Beziehung zwischen Erzählwerk und Bewusstsein, Bewusstsein sowohl der fiktiven Figuren als auch der realen Leser. Die kognitive Narratologie steht erst in der Anfangsphase ihrer Entwicklung, aber sie sollte nun zwei aktuelle problematische Tendenzen überwinden: 1. die Tendenz, fiktives und reales Bewusstsein gleichzusetzen, 2. die Tendenz, sich auf die Figur zu konzentrieren und ihr die Handlung unterzuordnen. In den Mittelpunkt sollte nicht die Figur, sondern die Handlung gerückt werden, und die Figur sollte – wie schon Aristoteles in seiner Poetik gefordert hat – betrachtet werden als in der Handlung impliziert. Objekte der Bewusstseinsdarstellung sind oft Handlungen, mentale Handlungen. In der literarischen Erzählung nehmen solche Bewusstseinshandlungen nicht selten den Charakter von Ereignissen, d. h. außerordentlichen Zustandsveränderungen, an. So können wir Palmers Formel Novel reading is mind reading die Formel entgegensetzen Novel reading is event reading oder noch besser: Novel reading is mental event reading. Bild: Quilt von Gee‘s Bend. Bildbearbeitung und Gestaltung: Sabina Horber Wolf Schmid (Universität Hamburg)
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