Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun! Palliative Care und Organisationsethik in der außerklinischen Intensivmedizin gestalten Prof. in, Dr. in Katharina Heimerl , IFF Wien Dr. phil. Hartmut Jäckel, Jedermann Gruppe Kongress für Außerklinische Intensivpflege und Beatmung, Berlin, 15. Oktober 2015 Palliative Care Symptom orientiertes Handeln bei Menschen mit fortgeschrittener, weiter voranschreitender Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung und dem Ziel bestmöglicher Lebensqualität Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 2 Durchführungsempfehlungen zur invasiven außerklinischen Beatmung 5. Sterbebegleitung - „Eine außerklinische Beatmung hat die anhaltende Stabilität und das Überleben des Patienten bei angemessener Lebensqualität zum Ziel.“ - „Die Fortführung oder Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, also auch der Beatmung, hängen vom Willen des Patienten ab.“ - „Die Grundsätze der Bundesärztekammer sind zu berücksichtigen, die Etablierung eines ethischen Konsils ist zu empfehlen.“ Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 3 Durchführungsempfehlungen … - „Bei der Sterbebegleitung muss in jedem Fall eine umfassende pflegerische Versorgung des Patienten gewährleistet sein.“ - „Die Beherrschung von Atemnot, Übelkeit, Schmerzen und anderen Krankheitsbeschwerden, der Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität sowie die Behandlung psychologischer, sozialer und spiritueller Probleme besitzen in der Palliativversorgung höchste Priorität.“ Randerath, W.-J. et al. Durchführungsempfehlungen zur invasiven außerklinischen Beatmung… Pneumologie 2011; 65:72-88 Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 4 Palliative Care – WHO Definition „Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problem associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual.“ WHO (2002): Definition of Palliative Care. http://www.who.int/cancer/palliative/ definition/en/ Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 5 Was ist Palliative Care? • stellt Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen sicher • bejaht Leben und betrachtet Sterben als normalen Prozess • trachtet weder den Tod zu beschleunigen, noch ihn zu verzögern • bezieht psychosoziale und spirituelle Aspekte in die Sorge um PatientInnen mit ein • bietet ein unterstützendes System an, das PatientInnen hilft, so lange wie möglich so aktiv wie möglich zu leben (WHO 2002) Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 6 Was ist Palliative Care? • bietet ein unterstützendes System an, das der Familie hilft, mit der Erkrankung der Patientin, des Patienten und ihrer eigenen Trauer zurecht zu kommen • nutzt den Zugang als Team, um mit den Bedürfnissen der PatientInnen und ihren Familien umzugehen , inklusive Trauerberatung, wenn notwendig • verbessert die Lebensqualität, beeinflusst aber ebenso den Verlauf der Erkrankung positiv • ist früh im Verlauf der Erkrankung anzuwenden, gemeinsam mit anderen Therapien, die dazu geeignet sind, das Leben zu verlängern, (…) und schließt jene Untersuchungen ein, die notwendig sind, um belastende klinische Komplikationen besser zu verstehen und mit ihnen umzugehen (WHO 2002) Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 7 Es ist die Einstellung gegenüber der Symptomkontrolle, die die Palliativmedizin von der klassischen Medizin unterscheidet. Die Befreiung oder Linderung von Symptomen wird zum alles überragenden Mittelpunkt der Therapie. Klaschik, Husebö: (2003) Palliativmedizin. Berlin: Springer, 3 Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 8 Quälende Symptome nach Häufigkeit des Empfindens (nach Grond; Zech et al (1994): Prevalence and pattern of symptoms in patients with cancer pain: in Aulbert et al: Lehrbuch Palliativmedizin. 24) • Schmerzen 70,3 % • Mundtrockenheit 67,5 % • Anorexie (Inappetenz) 60,9 % • Schwäche 46,8 % • Verstopfung 44,7 % • Luftnot 42,3 % • Übelkeit 36,2 % • Schlaflosigkeit 34,2 % • Schwitzen 25,3 % • Schluckbeschwerden 23,2 % • urolog. Symptome 21,3 % • Neuropsychiatrische Symptome 19,8 % • Erbrechen 18,5 % • dermatologische Symptome 16,3 % • Dyspepsie (Symptomkomplex von Oberbauchbeschwerden wie Übelk.; Erbrechen; Reflux…) 11,3 % • Diarrhö 7,6 % (Aus 10 Studien mit 12438 Patienten) Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 9 Elisabeth Kübler-Ross 08.07. 1926 – 24.08.2004 „Wir haben den Patienten gebeten, unser Lehrer zu werden, damit wir mehr als bisher über die Endstation des Lebens wissen, über seine Ängste, Sorgen und Hoffnungen.“ E. Kübler-Ross (1969): Interviews mit Sterbenden. (dt.Ausgabe 2009) Freiburg: Kreuz Verlag. 7 Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 10 Das „Tabu“ wurde in den 60er Jahren gebrochen ➢„Ich habe das Sterben aus der Toilette geholt“ Elisabeth Kübler-Ross (www.kuebler-ross.de) Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 11 Die fünf Phasen des Sterbens / der Trauer • Nicht wahrhaben wollen und Isolierung (Denial) • Zorn (Anger) • Verhandeln (Bargaining) • Depression • Akzeptanz (Acceptance) Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 12 Dame Cicely Saunders 22.6.1918 – 14.07.2005 „Du zählst, weil Du bist, wer Du bist. Und Du zählst bis zum letzten Moment Deines Lebens.“ 1990) (Nach Hörl Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 13 Total Pain (Cicely Saunders) physisch psychisch “it began in my back …” “all of me is wrong” sozial spirituell „my husband and my son were having to stay off work“ „all the world was against me“ to feel safe I think that's probably the best definition of pain that we can have: Pain is what the patient says hurts. Cicely Saunders Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 14 Kein Symptom kann nur körperlich gesehen werden, die Aspekte von Total Pain gilt es bei jedem Symptom zu berücksichtigen. Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 15 Während man die Lebensquantität einfach in Monaten und Jahren beziffern kann, kann die Lebensqualität „nur vom Kranken selbst als eine für sein individuelles Leben wichtige Qualität erlebt werden.“ Aulbert, E. (2007): Lebensqualität in der Palliativmedizin. In: Aulbert/Nauck/ Radbruch: Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart, New York: Schattauer:17 I think that's probably the best definition of pain that we can have: Pain is what the patient says hurts. Cicely Saunders Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 16 „Man kann zugleich chronisch krank sein und sich trotzdem >>eigentlich ganz gesund<< fühlen.“ Aulbert, E. (2007): Lebensqualität in der Palliativmedizin. In: Aulbert/Nauck/ Radbruch: Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart, New York. Schattauer: 16 Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 17 „Das Lernen, mit erträglichen Verlusten zu leben und (bei aller Trauer über das Verlorene) den Blick dafür zu gewinnen, was noch erhalten ist, ermöglicht Lebensqualität, und hier ist auch der Ansatz für eine Hilfestellung.“ „und so kann sich Lebensqualität auch noch in der größten Beschränktheit zeigen, wenn der Kranke das ihm Verbliebene als Wert erkennt.“ ebenda, 23 Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 18 Der/die „klassische“ Patientin in der SAPV • Hat ein weit fortgeschrittenes, weiter voranschreitendes Karzinom und eine Lebenserwartung von wenigen Tagen bis wenigen Monaten. • Erhielt Chemotherapie, Bestrahlung oder/ und wurde operiert, • Bis kurz vor Beginn der palliativen Versorgung war er/sie noch relativ selbständig. Eine Pflegestufe ist selten vorhanden. Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 19 Der/die „klassische“ Patientin in der SAPV • hat einen Sterbeprozess, in dem lebensverlängernde Maßnahmen ausgeschlichen werden (Reduzierung oder Beendigung von Nahrungs- und/oder Flüssigkeitszufuhr), • in dem nur noch Medikamente gegeben werden, die der Symptomkontrolle dienen • und in dem ein Plan palliativer Maßnahmen umgesetzt wird Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 20 Der Plan palliativer Maßnahmen • Was soll in welcher Situation getan werden oder soll unterbleiben? • Kriseninterventionsplanung • Welche Bedarfsmedikation kann wie gegeben werden? • Wer ist wann und worüber zu informieren (Hausarzt, Palliativmediziner, Pfarrer, Angehörige)? Telefonnummern notieren Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 21 Der palliative Intensivpatient • hat eine lange klinische und rehabilitative Vorgeschichte • hat meist eine hohe Pflegestufe • wird seit längerer Zeit rund um die Uhr durch ein kleines Team von Pflege Fachkräften zu Hause oder einer betreuten Wohnform betreut • hatte zu Beginn der Versorgung noch eine relativ lange Lebenserwartung Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 22 Der/ die palliative Intensivpatient/in • sein Weiterleben hängt von der Fortsetzung der Intensivtherapien ab • Ziel der Behandlung laut Durchführungsempfehlung: „Überleben“ Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 23 Der/die Entweder-Oder-Patient/in • lebt im fortgeschrittenen Stadium einer voranschreitenden Erkrankung und muss sich in dieser Situation zwischen unterschiedlichsten Optionen entscheiden - Beatmung ja/nein - Parenterale Ernährung ja/nein - Parenterale Flüssigkeitsgabe ja/nein (oder doch PEG, oder s.c. Substitution …) Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 24 Der/die intensive Palliativpatient/in • Ist nach Diagnose und Prognose palliativ • Erhält im Behandlungsverlauf immer mehr Geräte, Ableitungen und manchmal Beatmung • Wird dennoch nicht durch Intensivsondern Palliativteam betreut. Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 25 Organisationsethische Perspektiven • Was entscheiden wir - wie entscheiden wir? • Nicht richtig vs. falsch sondern: Ist das, was wir tun, gut für uns? (P. Heintel) • Wir leben in und mit existentiellen Widersprüchen – Diese Widersprüche sind Ursache für Konflikte – Sie sind Ursache für moral distress – Widersprüche lassen sich nicht auflösen, jedoch bearbeiten • Es gibt keine idealen Lösungen, sondern nur „miserable und hundsmiserable“ (Erich Loewy) Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 26 Organisationsethische Perspektiven (2) • „Jeder Dienst am Menschen braucht einen Dienst an der Organisation.“ (Grossmann 2000) • Interventionen, die sich an einzelne Personen richten, wirken nachhaltig, wenn auch unterstützende Strukturen angeboten bzw. entwickelt werden, die eine Routine und damit Entlastung initiieren. „Strukturen“ verstehen wir hier im Sinne von interprofessionellen Besprechungen, Dokumentationen und geregelten Entscheidungsprozessen. Palliative Care umzusetzen bedeutet, in die Entscheidungsprozesse jener Organisationen zu intervenieren, die schwerkranke und sterbende Menschen betreuen. (Heimerl, Wegleitner, Reitinger 2015) Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 27 Caring Institutions (Joan Tronto) • Woher wissen wir, welche Institutionen gute Sorge (good care) anbieten? – Wie kommt die Institution zu einem Verständnis ihrer Bedürfnisse? – Wie werden Bedürfnisse verhandelt? – Welche Bedürfnisse gelten als berechtigt? – Wie wird Verantwortung geteilt? – Wer betreut tatsächlich? – Wie wird Betreuung (Care) evaluiert? Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 28 Die außerklinische Pflege als „Caring Institution“? • Reflexiv in Bezug auf die Frage: Wie gehen wir mit den Bedürfnissen aller Mitglieder um (Betreute, An- und Zugehörige und Betreuende)? • Passende und gut konzipierte Orte/Settings (Spaces), wo Konflikte bearbeitet werden können – Konflikte innerhalb der Organisation – Konflikte mit den relevanten Umwelten • Herausforderung: Wie sehen solche Orte in der außerklinischen Pflege aus? Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 29 Organisationsethik umsetzen • Es gibt keine idealen Lösungen, sondern nur „schlechte und hundsmiserable“ (Erich Loewy) • Gefühle sind eine wichtige Quellen der Erkenntnis • Darüber reden „tut gut“ – die Erkenntnis, dass auch andere betroffen sind ist entlastend • Im Zentrum steht die multiperspektivische, interdisziplinäre Verständigung auf Augenhöhe • Es zählt was erzählt werden kann (Andreas Heller) – narrative Ethik Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 30 Zusammenfassende Gedanken (1) unter Verwendung von: Palliativmedizin-Ethische Herausforderungen der Begleitung von Intensivpatienten. In: Thieme E-Journals-AINS-Anästhesiologie. Intensivmedizin .Notfallmedizin; download: 07.09.15 • Intensiv- und Palliativmedizin sind einander ergänzende Versorgungskonzepte einer zeitgemäßen, modernen Medizin. • Ethik ist Nachdenken über Tun oder Unterlassen unter dem Aspekt des Wertes für den Menschen. • Diagnostik und Therapie sind nur zulässig, wenn die Maßnahmen medizinisch indiziert sind und der aufgeklärte Patient ihnen zustimmt. Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 31 Zusammenfassende Gedanken (2) • Ist eine Maßnahme nicht indiziert, stellt sich nicht mehr die Frage nach dem Patientenwillen, weil nicht indizierte Maßnahmen nicht angeboten und durchgeführt werden dürfen. • Therapiezieländerung ist kein Therapieabbruch. Das palliative Ziel rückt in den Vordergrund. • Eine Therapie nicht zu beginnen, ist ethisch und rechtlich gleichwertig damit, eine laufende Therapie auch durch aktive manuelle Tätigkeiten zu beenden. Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 32 Zusammenfassende Gedanken • Widersprüche zwischen den Bedürfnissen der Beteiligten sind unvermeidlich und müssen auf Augenhöhe bearbeitet werden. Dafür braucht es Reflexionsräume (Ethikberatung, Ethik-Café, Blitzlicht, Familienkonferenz,…). • Organisationsethische Perspektiven stellen ein Unterstützungspotential dar. • Unverzichtbar sind bei jeder Versorgung die Basismaßnahmen, der Respekt vor den Bedürfnissen und die psychosoziale Begleitung. Prof.Dr.K. Heimerl/Dr.phil. H. Jäckel 33 Danke für Ihre Aufmerksamkeit [email protected] [email protected]
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