Der Papst fordert Respekt vor dem Eigenwert der Natur - Welt

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8-2015 august
Kinderarbeit: Maulkorb für die Kinder selbst
Energie: Siegeszug von Wind und Sonne
ENZYKLIKA: Der Papst geißelt den Wachstumswahn
Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit
demokratie
Die bessere Wahl
Eine Milliarde Menschen mit Behinderungen weltweit
dürfen nicht vergessen werden. Deshalb bittet Dich
Adanech Hirko aus Äthiopien:
Setz ein
Zeichen
Für Menschen mit Behinderungen weltweit. Für
gleiche Rechte und Chancen. Für eine inklusive
Entwicklungsagenda.
2015 ist das Jahr der Entscheidung. Die UN verabschiedet die neue globale Entwicklungsagenda. Eine
Milliarde Menschen mit Behinderungen wurden hier
bisher nicht berücksichtigt. 80 Prozent leben in Entwicklungsländern meist ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Arbeit. Nur jetzt haben wir
die Chance, das zu ändern.
Erinnere Entwicklungsminister Dr. Gerd Müller
daran, dass Menschen mit Behinderungen in der
neuen Entwicklungsagenda konsequent berücksichtigt werden müssen!
Foto: CBM/Diemer
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editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Gesine Kauffmann
Redakteurin
es steht schlecht um die „Herrschaft des Volkes“: Im Westen greifen Wahlmüdigkeit und
Politikverdrossenheit um sich, in vielen anderen Ländern werden Oppositionelle und
Menschenrechtsaktivisten schikaniert. Und in den Staaten des Arabischen Frühlings hat
sich die Hoffnung auf eine Demokratisierung nicht erfüllt. Die einzige Ausnahme ist
Tunesien, doch die wirtschaftliche und soziale Krise gefährdet die bisherigen Erfolge,
schreibt Theodora Peter.
Warum hat die Demokratie als Leitbild ihren Glanz verloren? Jonas Wolff sieht vor allem
zwei Ursachen: Zum einen zeigen neue Mächte wie China, dass auch autoritäre Staaten
erfolgreich wirtschaften und politisch Einfluss nehmen können. Zum anderen haben
Nordamerika und Europa als Modell viel Glaubwürdigkeit verspielt. Der völkerrechtswidrige Krieg im Irak, das demokratieschädliche Management der Eurokrise und der
menschenverachtende Umgang mit Flüchtlingen haben dazu beigetragen.
Die Demokratie hat ihren Glanz verloren –
auch weil Nordamerika und Europa als Modell
viel Glaubwürdigkeit verspielt haben.
Wie eine Vorzeigedemokratie in düstere Zeiten
zurückfallen kann, hat Nicola Glass in Thailand erlebt.
Dort hat im vergangenen Jahr das Militär die Macht
übernommen – mit dem Segen einer Bewegung aus der
Mittelschicht, der Besitzstandswahrung wichtiger ist als
die Beteiligung der Mehrheit. Und Frederick Golooba-Mutebi erklärt, warum Ruanda trotz
seiner übermächtigen Regierungspartei keine Diktatur ist: Konsens statt Streit lautet dort
die Devise. Die Eliten sind nach dem Völkermord 1994 übereingekommen, gemeinsam
die Wirtschaft aufzubauen.
Auch Äthiopien wird mit harter Hand regiert. Trotzdem hat sich das Land am Horn von
Afrika zum Musterschüler beim Klimaschutz entwickelt und setzt auf den Ausbau
erneuerbarer Energien. Die sieht Michael Klare weltweit auf dem Vormarsch; das Zeitalter
der fossilen Brennstoffe sei vorbei, stellt er fest. Bernhard Emunds erklärt im Interview,
wo der Papst mit der Enzyklika „Laudato si“ neue Wege beschreitet. Und Cecibel Romero
beschreibt, wie New Yorks Ex-Bürgermeister Rudolph Giuliani der Regierung von El
Salvador Nachhilfe in Sicherheitspolitik erteilen will.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre,
| 8-2015
3
inhalt
Foto: Athit Perawongmetha/Reuters
4
12
Menschen wollen mitbestimmen,
wer sie wie regiert – das zeigt die
hohe Beteiligung an Wahlen wie
hier 2014 im indischen ­Jammu und
Kaschmir. Die Demokratie schien
lange weltweit auf dem Vormarsch.
Doch heute ist die ­Regierungsform,
in der die Macht vom Volke ausgeht,
nicht länger das unangefochtene
Vorbild.
Andrabi/hindustan times/getty images
Thailands etablierte Mittelschicht hält wenig vom Willen der
Mehrheit: Ihre Proteste gegen die gewählte Regierung Shinawatra
Anfang 2014 legten es auf einen Militärputsch geradezu an.
18
demokratie
12 Die große Ernüchterung
Starke neue Mächte, schwächelnde alte Modelle: Der globale Siegeszug der
Demokratie ist vorerst gestoppt
Jonas Wolff
18 Demokratie nach Thai-Art
Thailands Militärregierung will eine Verfassung, die die Volksvertreter entmachtet
Nicola Glass
22 „Die Kenianer werden für ihre Rechte kämpfen“
Gespräch mit der Aktivistin Regina Opondo
24 Erfolgsmodell im Härtetest
In Tunesien gefährdet die soziale Krise die Errungenschaften des Arabischen
Frühlings
Theodora Peter
27
Verordnete Harmonie
Der Konsens der Eliten ist für Ruandas Wohlergehen vorerst unverzichtbar
Frederick Golooba-Mutebi
30 Das Volk soll herrschen – doch nicht so!
Washington missfällt die vom Volk getragene Politik Boliviens
John Crabtree
Ein Teil der Auflage enthält
eine Beilage der Arbeitsgemeinschaft für
Entwicklungshilfe sowie eine Bestellkarte
.
von
8-2015 |
inhalt
Standpunkte
6 Die Seite Sechs
7 Leitartikel: Auf dem Weg zur Wahl-Autokratie.
Die Krise in Burundi war absehbar, die Geber
reagieren zu spät
Foto: Gregorio Borgia/Reuters
Papst Franziskus hat die Armen im Blick – hier während seines
­Besuchs in Paraguay. Mit der Enzyklika „Laudato si“ verlangt er
echten Klimaschutz und eine politische Steuerung der Wirtschaft.
42
Bernd Ludermann
8 Interview: „Sie wollen nicht, dass Kinder
produktiv tätig sind“
Gespräch mit Lourdes Cruz Sánchez von der
bolivianischen Organisation arbeitender Kinder
10 Kommentar: Kontrollen bei Käufern deutscher
Waffen machen Rüstungsexporte nicht sicher
Sebastian Drescher
10 Leserbriefe
11 Herausgeberkolumne: Die Entwicklungsarbeit
muss die Hochschulbildung in den Blick
nehmen
Claudia Warning
Journal
welt-blicke
34 Energie: Siegeszug von Wind und Sonne
Der Anteil erneuerbarer Energien an der weltweiten
Stromerzeugung wächst schneller als gedacht
Michael T. Klare
39 Fairer Handel: Marios Kampf für gute Preise
Eine Kaffeekooperative in Honduras ist fair und bio, das große
Geld winkt damit nicht
Martina Hahn
42 „Der Papst fordert Respekt vor dem Eigenwert der Natur“
Gespräch mit Bernhard Emunds von der katholischen Hochschule
Sankt Georgen über die Enzyklika „Laudato si“
45 Sicherheit: Konzept von der Stange
New Yorks ehemaliger Bürgermeister Rudolph Giuliani verkauft
armen Ländern Rezepte zur Verbrechensbekämpfung
48 E ntwicklungsfinanzierung: „Vertane Chance“
Gespräch mit Wolfgang Obenland
51 Berlin: Neuer Anstrich für die alte Asienpolitik
53 Brüssel: Migrantenabwehr mit allen Mitteln
53 Schweiz: Entwicklungshilfe für die Asiatische
Infrastruktur-Bank
55 Österreich: Engagement für Kinder in Darfur
56 Kirche und Ökumene: Bischof Tutu fordert
klare Haltung zu Palästina
57 Global Lokal: Entwicklungsminister Müller
setzt auf engagierte Kommunen
59 Personalia
Cecibel Romero
service
60 Filmkritik
60 Rezensionen
65 Termine
65 Impressum
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| 8-2015
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standpunkte die seite sechs
Reife Leistung
Klaus Stuttmann
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Beim Klimaschutz stehen die
Uhren seit 20 Jahren auf fünf vor
zwölf. Die Klimakonferenz 2009
in Kopenhagen war die letzte
Chance, die Katastrophe abzuwenden. Weil das Ergebnis nicht
entsprechend ausfiel, galt dasselbe dann für die nächste Konferenz in Cancún. Und dann für die
Konferenz 2011 in Durban – und
so weiter. Das Treffen Ende dieses
Jahres in Paris gilt aber nun wirklich als allerletzte Chance. Und
endlich hat auch die Politik den
Ernst der Lage erkannt. Die Gruppe der sieben größten Industrie­
länder hat angekündigt, bis
zum Jahr 2100 aus den fossilen
Energieträgern Kohle, Öl und Gas
auszusteigen. Die Umweltorganisation Germanwatch bezeichnete diese Zusage als „fast schon
sensationell“ – und das völlig zu
Recht: Endlich mal keine leeren
Versprechen und ungedeckten
Schecks auf die Zukunft, sondern
ein konkreter 85-Jahres-Plan.
Wer war’s?
„Alles hängt mit allem
zusammen.“
Entwicklungsminister Gerd Müller zu
den UN-Nachhaltigkeitszielen, die im
September beschlossen werden sollen.
„Ich bin vielleicht kein gu- ihm erwartet hätte, und ging
ter Politiker, aber unter den dabei auch äußerst fragwürschlechten noch der beste“, hat dige Koalitionen ein. „In der
er einmal in einem Interview Politik muss man Realist sein“,
gesagt. Ob Selbstironie oder sagte er dazu. Sein eigenes
Selbstbewusstsein diese Aus- Leben war nicht frei von Leid
sage bestimmte, sei dahinge- und Verlusten. Zeitweise stand
stellt. Sicher ist jedenfalls, dass er unter Hausarrest, musste
kein anderer die politischen ins Exil gehen und den Tod
Geschicke seines Heimatlan- von mehreren Kindern und
des so beeinflusst hat wie der Enkeln betrauern. Das hindernur 1,60 Meter große Kunst- te ihn nicht daran, insgesamt
liebhaber und Playboy. Mit fünf Mal mit Unterbrechunseinen sechs Ehefrauen hatte gen eine führende Rolle in
er 14 Kinder, daneben soll er seiner Heimat zu übernehmen
zahlreichen Konkubinen seine – zeitweise als frühes Beispiel
Gunst geschenkt haben. Filme, eines gewählten Autokraten.
Theater und die Musik waren Im Alter wurde es – auch aus
seine große Leidenschaft, und gesundheitlichen Gründen –
das nicht nur als Zuhörer oder ruhiger um ihn. Er starb kurz
Zuschauer. Er stand selbst vor seinem 90. Geburtstag im
vor und hinter der Kamera, Schlaf. Wer war’s?
schrieb Stücke und komponierte. Erzogen wurde er auf Auflösung aus Heft 7-2015: Gesucht
französischen Schulen, die po- war argentinische Bildhauer und
litische Laufbahn war ihm vor- Bürgerrechtler Adolfo María Pérez
herbestimmt. Er füllte sie an- Esquivel, der 1980 den Friedensnoders aus, als manch einer von belpreis erhielt. In den nächsten Jahrzehnten
werden die Treibhausgasemissionen allerdings noch deutlich
steigen. Ist das Ziel damit obsolet,
die Erderwärmung auf zwei Grad
zu begrenzen? Nein, versichern
die Fachleute im UN-Klimarat
pflichtgemäß und beleben dazu
vor der Konferenz in Paris eine
alte Idee neu: Man müsse in den
Berechnungen die „negativen
Emissionen“ einkalkulieren. Das
sind Treibhausgase, die man
durch allerlei technische Verfahren der Atmosphäre wieder
entzieht, nachdem der Mensch
sie vorher in diese hineingeblasen hat. Das Gerücht geht, dass
die UN-Experten diese Idee von
einem findigen Geschäftsmann
geklaut haben, der sich eine Diät
ausgedacht hat für Leute, die
sich nicht zu dick finden. Dabei
muss man sich erst einmal ein
stattliches Fettpolster anfressen,
um dann mittels eines ausgeklügelten Ernährungsplans wieder
auf das Wunschgewicht abzunehmen. So viel zupackender Elan
und Erfindungsreichtum wie
heute war selten in der internationalen Klimapolitik.
8-2015 |
leitartikel standpunkte
Auf dem Weg zur Wahl-Autokratie
Die Krise in Burundi war absehbar, doch die Geber reagieren zu spät
Von Bernd Ludermann
B
urundi gilt als Beispiel für gelungenen Friedensaufbau: Das kleine afrikanische Land hat
seit 2000 mit internationaler Hilfe einen blutigen Bürgerkrieg überwunden. Doch nun hat Staatspräsident Pierre Nkurunziza es in die Krise gestürzt:
Obwohl die Verfassung festlegt, dass der Staatschef
nur einmal wiedergewählt werden darf, kandidiert er
für eine dritte Amtszeit.
Diese Entscheidung war in seiner eigenen Partei
CNDD-FDD umstritten und hat Ende April eine Protestbewegung ausgelöst, besonders in der Hauptstadt Bujumbura. Gegen sie gehen die Polizei und
Milizen aus dem Umkreis der CNDD-FDD brutal vor.
Über 70 Menschen sind umgekommen und mehr als
140.000 in Nachbarländer geflohen. Unabhängige
Radios wurden geschlossen, Menschenrechtler in
den Untergrund gedrängt.
Die Regierung hält sich formal an Gesetz
und Verfassung, in der Praxis aber wird Opposition
nur als eine Art Dekoration geduldet.
Bernd Ludermann
.
ist Chefredakteur von
| 8-2015
Ein Rückfall in die Konfliktlinien des Bürgerkriegs ist das bisher nicht. Damals standen Hutu-Rebellen, darunter die CNDD-FDD, der von der Minderheit der Tutsi dominierten Armee gegenüber. Vorschriften für die Teilung der Macht zwischen beiden
Volksgruppen und Quoten für Ämter und Posten im
Staat haben seitdem den Gegensatz entschärft. Die
Armeeführung ist heute gemischt; die Entpolitisierung des Militärs gilt als wichtiger Erfolg des Friedensprozesses. Das Problem ist heute: Nkurunziza
und seine Getreuen wollen kompromisslos ihre
Macht ausbauen.
Dieser Trend ist nicht neu. Bereits 2007 wurde
der Generalsekretär der CNDD-FDD kaltgestellt und
ein Jahr später inhaftiert; 22 Parlamentarier der Partei protestierten – und wurden aus der Volksvertretung entfernt. Vor den Wahlen 2010 wurden Oppositionspolitiker bedroht und ermordet. Daraufhin
boykottierten die meisten der schwach organisierten Oppositionsparteien die Wahlen und überließen
der CNDD-FDD die Kontrolle über alle wichtigen
Staatsorgane. Seitdem ist Burundi auf dem Weg zur
„Wahl-Autokratie“: Die Regierung hält sich formal an
Gesetz und Verfassung; Nkurunziza hat sogar seine
Kandidatur dieses Jahr vom Verfassungsgericht billigen lassen, wozu das Gericht stark unter Druck gesetzt wurde. In der Praxis aber wird Opposition, ob
von Hutu oder Tutsi, nur als eine Art Dekoration geduldet.
Das Ergebnis ist eine gefährliche Krise. Die Armee ist gespalten; das belegt ein gescheiterter
Putschversuch vom Mai. Gleichzeitig üben Parteimilizen ohne staatliche Kontrolle Gewalt aus. Das kann
auf Dauer das Misstrauen zwischen Hutu und Tutsi
wieder schüren – bereits jetzt fliehen aus Burundi
vor allem Tutsi. Und es kursieren Gerüchte, dass
Kämpfer Schutz und Hilfe in Nachbarländern bekommen oder dort Rebellen unterstützen.
Diese Krise war absehbar – Burundi ist nun auch
ein Beispiel für gescheiterte Prävention. Dabei deckt
das Land rund die Hälfte seines Staatshaushaltes aus
Entwicklungshilfe; die Geber können Druck ausüben, indem sie die kürzen. Doch zu lange haben sie
ihre Hilfe trotz des autoritären Gebarens der Regierung fortgeführt. Sicher, der Wahlboykott der Opposition 2010 hat Einflussnahme von außen nicht
leichter gemacht. Aber Fachleute halten den Gebern
in Europa und Amerika vor, sie hätten aus Sorge um
die Stabilität in Burundi über die Aushöhlung demokratischer Rechte hinweggesehen. Generell drohen
westliche Geber am ehesten mit Hilfskürzungen,
wenn einer afrikanischen Regierung Korruption angelastet wird oder sie sich krass über die Grundsätze
fairer Wahlen hinwegsetzt. Bei Missachtung der bürgerlichen Freiheitsrechte tun sie das sehr selten.
Zu spät haben sie die Hilfe für Burundi jetzt eingeschränkt. Nkurunziza hat die gemäßigten Kräfte
nun geschwächt, er selbst gibt sich unbeugsam, und
auf informelle Gewalttäter wie die Milizen können
die Geber kaum einwirken. Deshalb setzen sie auf
Vermittlungsversuche afrikanischer Staaten. Die haben bisher erreicht, dass die Wahlen in Burundi ein
paar Wochen vertagt wurden: Das Parlament wurde
Ende Juni gewählt – die CNDD erhielt 77 Prozent der
Sitze –, die entscheidende Präsidentschaftswahl sollte am 21. Juli folgen. Doch Nkurunziza will diesen
Termin nicht weiter zur Debatte stellen und erst
recht nicht seine Kandidatur.
Und darauf dringen die Nachbarstaaten auch
kaum. Sie fürchten zwar eine Destabilisierung der
Region. Doch ihr Verhältnis zueinander ist gespannt.
Und in den meisten dominiert die Regierungspartei
und ist nur in Tansania zu geregelten Personalwechseln an der Spitze fähig. Die Staatschefs des Kongo
und Ruandas streben selbst eine weitere Amtszeit an,
die ihre Verfassungen noch verbieten. In Uganda hat
Yoweri Museveni ganz legal schon fünf Wahlen gewonnen. Für Nkurunzizas Wunsch, die Macht zu behalten, haben sie alle Verständnis.
7
8
standpunkte interview
„Sie wollen einfach nicht,
dass Kinder produktiv tätig sind“
Ein Gespräch über Kinderarbeit, begriffsstutzige Bürokraten und eurozentrische Weltbilder
Gepräch mit Lourdes Cruz Sánchez
Seit dem vergangenen Jahr gilt in
Bolivien ein neues Gesetz, das Kinderarbeit ab dem zehnten Lebensjahr unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat das
heftig kritisiert. Lourdes Cruz Sánchez von der bolivianischen Organisation arbeitender Kinder war
Ende Mai in Genf bei der 104. Internationalen
Arbeitskonferenz
dabei. Zusammen mit den anderen
Delegierten der Lateinamerikanischen Bewegung arbeitender Kinder (MOLACNATS) hat sie versucht,
das Gesetz zu erklären.
Wie war die Reise nach Europa?
Die meisten geplanten Aktionen sind erfolgreich verlaufen.
Aber auf der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO konnte ich
nicht das Wort ergreifen.
Und die Rede des bolivianischen
Arbeitsministers?
Zunächst hat er die bolivianische Gesetzgebung verteidigt.
Doch dann gab es einige sehr kritische Einwände. Bolivien verletze internationale Konventionen,
sei verantwortungslos. Darauf
gab der Arbeitsminister – vielleicht weil er neu im Amt ist – allem eine andere Perspektive und
betonte, dass die Kinderarbeit in
Zukunft abgeschafft werden solle.
Das ist die offizielle Regierungsposition und die Tendenz des neuen
Kinderarbeitsgesetzes.
„Laut Studien schneiden erwerbstätige
­Kinder, die gleichzeitig zur Schule gehen,
dort vergleichsweise gut ab.“
Aber es hat mich gestört. Ich
fühlte mich wie ein Fisch, der
zwar im Wasser ist, aber den man
trotzdem nicht schwimmen lässt.
All diese Dinge über dein Land zu
hören, aus dem Zusammenhang
gerissen und vielfach unwahr,
wie die immer wiederkehrende
Behauptung, dass arbeitende Kinder in Bolivien nicht die Schule
besuchen können ... und du darfst
selbst dazu nichts sagen. Ich
musste mir anhören, dass das
neue Gesetz ein Rückschritt ist.
Wo sie selbst rückschrittlich sind,
wenn sie die arbeitenden Kinder
verstecken, statt sie in das Blickfeld zu holen, um sie zu schützen.
Welche Rolle hat der Dachverband
bolivianischer Gewerkschaften gespielt?
Vorher hatten uns die Delegierten erklärt, sie seien mit dem
neuen Gesetz nicht einverstanden und dass sie sich damit auch
nicht näher beschäftigt hätten.
Wir meinten, dass sie dann besser
nichts dazu sagen sollten. Aber
sie forderten in ihrer Rede sogar
eine internationale ILO-Kommission, um das Gesetz in Ordnung
zu bringen.
das mit, und dann durften die anderen Delegierten aus Venezuela
und Paraguay nicht einmal mehr
in die Versammlung. Auch unsere
Regierung warnte mich, man
könnte uns aus der Konferenz herauswerfen.
Was ist härter: als Kind auf dem
Friedhof in Potosí zu arbeiten oder
die Interessen der arbeitenden Kinder bei der ILO zu vertreten?
Eindeutig die Vertretung der
Interessen der arbeitenden Kinder. Ich habe verstanden, dass sie
einfach nicht wollen, dass Kinder
produktiv tätig sind. Wir dagegen
verstehen „Gutes Leben“ als ein
harmonisches Leben in der Familie, in dem man sich gegenseitig
unterstützt und die Dinge teilt.
Aber für die Kritiker stehen die
materiellen Dinge im Mittelpunkt. Dass man wirtschaftlich
abgesichert ist. Und da sie alles
haben, was zum Leben benötigt
wird, ist die Arbeit von Kindern
nicht nötig. Hier bei uns ist die
Wirklichkeit ganz anders.
Und hinter den Kulissen?
Da haben wir mit einer ganzen Reihe von Journalisten, Konferenzteilnehmern und Regierungsvertretern reden können.
Manche sehen die bolivianische
Erfahrung positiv, weil der Schutz
arbeitender Kinder im Mittelpunkt steht und das Kindheitsverständnis ein anderes ist. Die meisten sind aber immer noch davon
überzeugt, dass Bolivien ein
schlechtes Vorbild ist, weil es Kinderarbeit legalisiert. Bis zur Erschöpfung haben wir zu erklären
versucht, dass es im Gesetz nicht
um Legalisierung, sondern um
den Schutz der Rechte der arbeitenden Kinder geht. Bei einer Diskussion während unserer Europareise gab es einen Vertreter der
ILO, der strikt deren Position vertreten hat: dass Kinderarbeit abgeschafft gehört, dass ein arbeitendes Kind nicht die Schule besucht und dass all die arbeitenden
Kinder ausgebeutet werden. Klar,
dass ich ihm meine Position entgegengesetzt habe. Ich habe auf
die ILO-Studien über Schule und
Arbeit in Bolivien hingewiesen,
die nie veröffentlicht wurden.
Konntet Ihr das nicht erklären?
Wir waren zum Schweigen
verdonnert. Deshalb haben wir
von MOLACNATS den Text „Hört
die arbeitenden Kinder an“ auf
kleine Plakate geschrieben. Aber
das Sicherheitspersonal bekam
Was steht in diesen Studien?
Selbstverständlich gibt es arbeitende Kinder, die nicht zur
Schule gehen. Aber was ist in diesen Fällen zu tun? Man muss ihnen den Zugang zum Unterricht
ermöglichen, nicht ihnen einfach
8-2015 |
Lourdes Cruz Sánchez kommt aus
einer Bergarbeiter­familie. Seit vielen
Jahren trägt sie zu deren Einkommen bei: Sie arbeitete erst auf dem
Friedhof, heute in einer eigenen
Nähwerkstatt. So hat sie ihre Schulbildung finanziert. Seit diesem Jahr
studiert die 17-Jährige Sozialarbeit.
terre des hommes
interview standpunkte
„Wir werden nicht zulassen, dass die ILO
nach Bolivien kommt und uns ein europäisches
Kindheitsideal aufzwingt.“
die Arbeit verbieten. Laut diesen
Studien schneiden die Kinder, die
erwerbstätig sind und gleichzeitig
die Schule besuchen, in der Schule
vergleichsweise gut ab. Warum?
Weil sie verantwortungsbewusst
sind und das Lernen ernst nehmen. Ich habe davon berichtet,
dass manche sehr gute Abschlüsse machen und zu den besten
Schülern ihrer Klassen gehören.
Im Verlauf der Debatte kam es sogar dazu, dass ich auf den Tisch
geschlagen habe. Einfach, weil
Dinge gesagt wurden, die ungerecht sind. Dass man uns Geld gegeben und entsprechend vorbereitet habe, damit wir so reden.
Ihr wart bei eurem Europabesuch
nicht nur auf Konferenzen und
Tagungen, sondern habt auch Jugendliche getroffen. Wie lief das?
In Brüssel waren wir in Schulen. Wir wollten die Kinder und
Jugendlichen davon überzeugen,
wie wichtig es ist, dass sie selbst
Verantwortung in ihrem Leben
übernehmen. Dass sie es nicht
den Erwachsenen allein überlassen, für sie zu entscheiden. Die
Kinder erzählten dann abends ihren Eltern davon. Und am nächsten Tag bekamen wir das Echo zu
hören: „Wie kann es sein, dass arbeitende Kinder unseren Kindern
solche Dinge erzählen?“ Aber es
gab auch viel Verständnis. Ein Vater war zufällig Mitarbeiter der
Entwicklungsabteilung in der EUKommission. Der lud uns zu einem Gespräch ein. Er hörte uns
richtig zu und ich glaube, er hat
uns verstanden. Er erklärte uns,
dass die ILO immer von einem
europäischen Kindheitsverständnis ausgehe. Aber keine Kultur
soll einer anderen aufgezwungen
werden. Bei meiner Europareise
habe ich mehr als zu Hause begriffen, wie anders die Arbeit –
auch von Kindern – in unseren
Kulturen verstanden wird. Nicht
vor allem als Einkommensquelle,
sondern viel mehr als Beitrag zur
Gemeinschaft und als Lernfeld.
Wolfgang Ammer
Wie wird es nun weitergehen?
Es ist etwas ganz anderes, deine Rechte in deinem eigenen
Land zu vertreten oder auf internationaler Ebene. Vor allem dann,
wenn viele Staaten gegen dich
sind. Und fernab von deiner Heimat fehlen die Menschen, die
dich sonst unterstützen. Es gibt
keine Regeln, die dich schützen.
Deshalb habe ich gesagt: Hier in
Genf können sie mich zum
Schweigen bringen, aber in meinem eigenen Land werde ich reden. Unsere dringendste Aufgabe
ist, dass das Kinder- und Jugendgesetz in der Praxis angewandt
wird. Deshalb ist unser Kampf
mit der Verabschiedung noch
nicht zu Ende, er ist sogar noch
anspruchsvoller geworden, weil
er inzwischen eine internationale
Dimension hat. Wir werden jedenfalls nicht zulassen, dass die
ILO nach Bolivien kommt und
uns ein europäisches Kindheitsideal aufzwingt.
Das Gespräch führte Peter Strack.
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9
10
standpunkte kommentar | leserbriefe
Besser gar nicht liefern
Kontrollen bei den Käufern deutscher Waffen machen Rüstungsexporte nicht sicherer
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel spricht von einer entscheidenden Verbesserung: Die Bundesregierung will für Rüstungsexporte
sogenannte Endverbleibskontrollen einführen. Damit soll geprüft
werden, ob deutsche Waffen wirklich nur dort landen, wohin sie laut
Genehmigung geliefert werden
dürfen und nicht weiter verschachert werden.
Bislang vertraut Deutschland dabei auf das Wort der Abnehmer.
Nicht selten mit dem Ergebnis,
dass etwa Sturmgewehre aus
deutscher Produktion dann doch
an Orten und in Konflikten auftauchten, an denen sie den Endverbleibserklärungen nach eigentlich nicht sein dürften, etwa
im Bürgerkriegsland Jemen oder
in den Unruhe-Provinzen in Mexiko. Rüstungsgegner und die Opposition weisen schon seit Jahren
auf diese Lücke in der Exportregelung hin.
Dass deutsche Behörden nun
in bestimmten Ländern vor Ort
kontrollieren sollen, ob die gelieferten Waffen noch an ihrem
Platz sind, ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Die Reform
bleibt jedoch Stückwerk. So ist bislang lediglich von Kriegs- und bestimmten Schusswaffen die Rede,
andere Rüstungsgüter wie Überwachungstechnologie und einzelne Bauteile, die erst im Ausland zu
Kriegsgerät verarbeitet werden,
bleiben außen vor – dabei haben
gerade letztere einen großen Anteil an den Gesamtexporten.
Unklar ist auch, wie umfangreich die Kontrollen ausfallen
werden. Laut dem beschlossenen
Eckpunkteplan sollen sie jedenfalls nicht die wirtschaftliche
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Rüstungsindustrie schmälern. Die Industrie dürften die geplanten Kontrollen somit kaum
beunruhigen. Sie könnte diese sogar als Argument nutzen, umstrittene Exporte wie etwa nach SaudiArabien weiterhin zu genehmigen: Mit den neuen Kontrollen
kann ja nichts mehr schiefgehen.
Aber genau diese Sicherheit
schafft die neue Regelung eben
nicht. Waffen sind keine gewöhnlichen Exportprodukte, die an einen Endverbraucher geliefert werden und dann dort bleiben, um
von deutschen Kontrolleuren in
Augenschein genommen zu werden. Waffen tauchen früher oder
später dort auf, wo sie gebraucht
werden, also wo Krieg herrscht.
Das gilt gerade für Kleinwaffen,
die oft wesentlich langlebiger und
stabiler sind als die politischen
Verhältnisse in manchen Drittstaaten. Das zeigt sich derzeit in
Libyen, von wo aus die Konflikte
in Afrika und dem Nahen Osten
befeuert werden – mit Waffen, die
vor Jahren auch aus der EU und
Deutschland an den damaligen
Machthaber al-Gaddafi geliefert
wurden. Kontrollen sind gut –
eine Absage an strittige Exportanträge ist im Zweifel aber immer
besser. (sdr)
Bus, Zug oder vielleicht auch im
Restaurant nicht einhaltbar. Aber
auch früher wurde die Distanzierung nicht eingehalten, zum
Beispiel wenn Kastenmänner Dalitfrauen vergewaltigt haben. Insofern ist die Argumentation, die
moderne Gesellschaft würde die
Diskriminierung von Dalits aufweichen, ebenfalls irreführend.
Manches erscheint mir schlicht
unbedarft. Ist es wirklich schädlich, wenn Kinder und Zuhörer
von Musik emotional angerührt
werden? Ist Musik schon deshalb
diskreditiert, weil sie mitunter instrumentalisiert wurde? „weltsichten“ stünde eine objektivere
Darstellung dieser bemerkenswerten Versuche mit konstruktiven Überlegungen gut an. Bis dahin finde ich es toll, dass einmal
der Norden vom Süden lernt: In
Nordrhein-Westfalen gibt es ein
Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ – mit allen Mängeln hier
und in Südamerika.
Zum Leitartikel „Eine unbequeme
Wahrheit“, welt-sichten 6/2015
Schwellenländer werden ihre fossilen Energieträger so lang zum
Aufbau ihrer Infrastruktur einsetzen, wie diese leichter zu beschaffen sind als die Alternativen. So
entpuppt sich das Erreichen des
2-Grad-Zieles durch Herunterfahren der Emissionen als Humbug.
Was wirklich geht, deuten Sie in
Ihrem Absatz über 1,2 Milliarden
Menschen ohne Strom an. Es erscheint den Menschen in Afrika
wie ein Wunder, wenn ihre Wohnungen, Schulen, Geschäfte nicht
mehr mit Kerosin beleuchtet werden, wenn sie zum Aufladen ihrer
Handys nicht mehr in die nächste
Stadt fahren müssen, wenn sie
durch eine Solarzelle mit Speicher
im Anschluss an TV und Computer zu Informationen aus aller
Welt kommen. So wird aus „Miniprojekten“ eine machtvolle Bewegung.
Sie beschreiben ohne Schönreden
den gegenwärtigen Zustand der
Energieversorgung der Welt und
die zukünftige Entwicklung. Die
Die Redaktion freut sich über Leser­
briefe, behält sich aber vor, sie zu
kürzen.
leserbriefe
Diskriminierung
nicht verschwunden
Zum Artikel „Einmal Dalit, immer
Dalit“, welt-sichten 6/2015
Ich erwartete, dass der Artikel
die Situation und Perspektive
der Dalits auf das moderne Indien benennt. Das tut er aber nur
am Rande; überwiegend ist er
eine Darstellung des Kastensystems. Falsch ist die Aussage im
Vorspann, das hinduistische Kastensystem sei in Indien „offiziell
längst abgeschafft“. Richtig ist,
dass die Verfassung Indiens die
Diskriminierung als „unberührbar“ verbietet und damit für abgeschafft erklärt. Keinesfalls aber ist
das Kastensystem als solches in
Indien abgeschafft.
Meines Wissens stimmt auch
die Aussage des Autors nicht, dass
das Gebot der rituellen Reinheit
an Bedeutung verloren habe.
Zwar ist, wie Martin Kämpchen
schreibt, die strikte Einhaltung
in der modernen Gesellschaft im
Ravinder Salooja, Heilbronn
Überheblich und
besserwisserisch
Zum Artikel „Musik als Blendwerk“,
weltsichten 6/2015
Dieser Artikel ärgert mich. Zwar
war ich noch nicht in Venezuela
und kenne nicht alle Hintergründe, auch wenn mich die Musik mit
Kindern und Jugendlichen seit
Jahren fasziniert, nicht zuletzt im
Blick auf Gewaltprävention. Allein
die Überschrift zeigt so viel Überheblichkeit, Häme, Besserwisserei,
dass eine seriöse Berichterstattung leider nicht zu erwarten ist.
Barbara Zahn, per Email
Emissionen
bleiben hoch
Georg Lohmann, welt-sichten.org
8-2015 |
herausgeberKolumne standpunkte
Mehr als lesen und schreiben lernen
Die Entwicklungszusammenarbeit muss die Hochschulbildung in den Blick nehmen
Indien setzt darauf, ebenso China und Äthiopien: Gut ausgebildete Akademiker und Akademikerinnen sind wichtig für die Entwicklung eines Landes. Das wird in der internationalen
Zusammenarbeit bis heute unterschätzt. Mehr Engagement ist nötig – schon deshalb, um auch
ärmeren Menschen den Gang zur Universität zu ermöglichen.
Von Claudia Warning
Grundschulbildung für alle Kinder stand im Jahr 2000 ganz
oben auf der Liste der Millenniumsentwicklungsziele. Seitdem
ist die Einschulungsrate weltweit
auf 90 Prozent gestiegen. Ein
schöner Erfolg, der aber nicht
dazu führen darf, in den Anstrengungen nachzulassen. Denn immer noch wird eins von zehn Kindern nicht erreicht. Und Primar-
Manch afrikanischer Student findet
seinen Weg in deutsche Hörsäle. Reisen in
umgekehrter Richtung sind selten.
Claudia Warning
leitet den Vorstandsbereich
„Internationale Programme und Inlandsförderung“ von Brot für die Welt
– Evangelischer Entwicklungsdienst.
| 8-2015
schulbildung ist längst nicht alles. Der Fokus darauf hat
vielerorts dazu geführt, dass der
Ausbau der tertiären Bildung vernachlässigt wurde. Gute Hochschulen sind selten in vielen Ländern des Südens, insbesondere in
Afrika. Und oft werden für das
Studium so hohe Gebühren verlangt, dass vielen Armen der Zugang verwehrt wird.
Eines aber hat sich in den vergangenen 15 Jahren herausgestellt: Eine qualitativ hochwertige
und für die Bevölkerung zugängliche Hochschulausbildung ist
eine wichtige Voraussetzung für
Entwicklung aus eigener Kraft.
Nur wenige Länder des Südens
haben frühzeitig darauf gesetzt.
Indien ist eines davon und ein gutes Beispiel dafür, dass sich das
auszahlt. Hoch qualifizierte Männer und Frauen stehen dort für
Wachstumssektoren wie IT und
die Pharmaindustrie sowie für
andere Branchen zur Verfügung.
Intellektuelle aus allen Wissensbereichen treiben die Entwicklung des Landes voran. Auch die
ausdifferenzierte Zivilgesellschaft
schöpft aus diesem Pool – dies ist
ein Grund für ihre Pluralität und
Reife.
Indiens Nachbar China hat
ebenfalls schon länger den Wert
guter Hochschulbildung erkannt
und investiert darin. Auch die
äthiopische Regierung baut derzeit ihr Hochschulnetz stark aus –
unter anderem mit deutschem
Know-how. In Bolivien sieht die
Situation dagegen ganz anders
aus. Gut ausgebildete Fachkräfte
sind Mangelware, und selbst die
staatlichen Aufgaben können
trotz verfügbarer Budgets nicht
immer sachgerecht ausgeführt
werden. In einigen Ländern Afrikas haben Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft eine lange Tradition. Mangels staatlicher Angebote haben sie zum Teil eine
Grundversorgung
aufgebaut.
Über klassische Fächer wie Medizin oder Theologie hinaus erweitern sie nach und nach ihr Lehrangebot. Die Nachfrage nach diesen Studienplätzen ist hoch, doch
die Qualität wird noch längere
Zeit kaum mit der des Nordens
mithalten.
Dort, wo Universitäten aufgebaut werden, fehlt es oft an Ausstattung, etwa an Bibliotheken,
Internetanbindung, Räumen und
Forschungsmaterial. Schlimmer
noch sind der Mangel an qualifizierten Lehrkräften und an Vernetzung sowie die geringe Teilnahme am weltweiten Wissensaustausch. Forschung und Publikationen aus dem Süden spielen
nur eine untergeordnete Rolle in
der internationalen akademischen Debatte. Süd-Perspektiven
kommen nicht angemessen zur
Geltung.
Immer mehr deutsche Universitäten und Forschungseinrichtungen haben das erkannt
und bauen Partnerschaften mit
ausländischen Hochschulen auf.
Manch ein afrikanischer Student
findet so mithilfe eines Stipendiums seinen Weg in deutsche Hörsäle. Reisen in umgekehrter Richtung sind allerdings selten. Studienaufenthalte in Ländern des Südens sind unüblich und haben
ein eher exotisches Image. Dabei
könnten europäische Universitäten und Studierende einen Beitrag zum Ausbau des Hochschulwesens im Süden leisten. Der Austausch von Lehrpersonal und
Studierenden, gemeinsame Lehre, Forschung oder Curricula-Entwicklung sind nur einige der zahlreichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit.
Ein gravierendes Problem
bleibt: Zu viele Universitäten
müssen ihren Betrieb zu großen Teilen aus Studiengebühren
bestreiten. Damit werden wirtschaftlich schwache Talente gänzlich ausgeschlossen oder ihre
Ausbildung belastet stark ihre Familien. So bleibt tertiäre Bildung
zu häufig ein Vorrecht der Eliten,
die ihre Kinder zudem oft zum
Studium ins Ausland schicken.
Bildung ist Aufgabe des Staates. Ja, das ist richtig, aber die
internationale Zusammenarbeit
kann die Regierungen des Südens dabei unterstützen, Qualität und Quantität der Ausbildung zu steigern. Der Fokus auf
die Primarschulbildung ist notwendig und berechtigt. Dennoch
muss die Entwicklungszusammenarbeit die tertiäre Bildung
verstärkt in den Blick nehmen. Es
gibt viele mögliche Ansatzpunkte und Kooperationspartner. Der
Kreativität sind keine Grenzen
gesetzt. 11
12
schwerpunkt demokratie
Di
Ernüch
Im Würgegriff: Polizisten nehmen
im März 2011 in Aserbaidschans
Hauptstadt Baku einen Anhänger
der Oppositionspartei Musavat fest.
Orhan Orhanov/Reuters
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
Der globale Siegeszug der Demokratie, der in den 1990er
Jahren unaufhaltsam schien, ist vorerst gestoppt. Das liegt
nicht nur an neuen Mächten wie Russland und China:
Europa und Nordamerika haben als Modell an
Glaubwürdigkeit verloren.
Von Jonas Wolff
e große
hterung
| 8-2015
D
er Optimismus war von kurzer Dauer. Als Anfang 2011 der tunesische Diktator Zine el-Abidine Ben Ali und wenig später sein ägyptischer Amtskollege Hosni Mubarak gestürzt wurden,
erwachte die Hoffnung, nun werde auch die arabische Welt von einer Welle der Demokratisierung erfasst. Die Region war weitgehend unberührt geblieben von der „dritten Welle“ von Demokratisierungsprozessen, wie sie der US-amerikanische Politologe
Samuel Huntington genannt hat.
Sie begann in den 1970er Jahren, als zunächst die
Diktaturen in Südeuropa fielen, in den 1980er Jahren
gefolgt von den autoritären Regierungen in Lateinamerika. In den frühen 1990er Jahren ergriff diese
Welle schließlich auch Mittel- und Osteuropa sowie
eine Reihe asiatischer und afrikanischer Länder. Ein
globaler Siegeszug der Demokratie deutete sich an.
Die kommunistische Systemalternative hatte sich
weitgehend selbst abgeschafft und beließ die liberale
Demokratie als das einzige globale Leitbild politischer Entwicklung.
Mehr noch: Unter dem Stichwort des „Demokratischen Friedens“ setzte sich die Idee durch, mit der
voranschreitenden Demokratisierung sei auch der
Weltfrieden endlich in greifbarer Nähe. Denn da Demokratien keine Kriege gegeneinander führten,
müsse man bloß den verbleibenden Autokratien helfen, zur Demokratie überzugehen. Entsprechend
wurde in den etablierten Demokratien des globalen
13
14
schwerpunkt demokratie
Nordwestens die Demokratieförderung zu einem
zentralen Ziel der Außen- und Entwicklungspolitik:
Politische Bedingungen für Entwicklungshilfe oder
auch für Handelspräferenzen, Menschenrechts- und
Rechtsstaatsdialoge sowie „Demokratiehilfe“ für
staatliche Institutionen und Gruppen der Zivilgesellschaft – all das sollte helfen, die Demokratie über
den Globus auszubreiten und zu festigen, und nebenbei den eigenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen dienen.
onen und Praktiken. Die Friedens- und Konfliktforschung ergänzte: Politische Transformationsprozesse, vor allem wenn sie in dieser Grauzone enden,
bergen ein besonderes Gewaltrisiko, sie enden mitunter in Krieg oder Bürgerkrieg. Die jüngsten Umbrüche in der arabischen Welt bestätigen diesen
skeptischen Blick.
Heute ist die Ernüchterung offenem Pessimismus gewichen. Bei seiner Gründung 1990 blickte das
US-amerikanische Journal of Democracy optimis-
Der Übergang weg von einem autokratischen
Regime führt selten direkt zur liberalen Demokratie,
sondern häufig in eine Grauzone.
Aber bereits gegen Mitte der 1990er Jahre setzte
Ernüchterung ein. Einerseits ebbte die zahlenmäßige Zunahme der Demokratien, die nach den Demokratie-Zählern von Freedom House und Polity (siehe
Kasten) seit Mitte der 1970er Jahre rasant vorangeschritten war, merklich ab. Andererseits wuchsen die
Zweifel an der Qualität der politischen Regime, die in
diesem Zuge entstanden waren: Wie demokratisch
waren sie tatsächlich?
Die Demokratieforschung reagierte und erfand
eine Unzahl von „Demokratien mit Adjektiv“ – zum
Beispiel „illiberale Demokratie“ –, um die real existierenden und auf unterschiedliche Weise mangelhaft scheinenden Demokratien zu charakterisieren.
Der Übergang weg von einem autokratischen Regime, so die Erkenntnis, führt nur in Ausnahmefällen direkt zur liberalen Demokratie. Stattdessen
mündet er häufig in einer Grauzone: Demokratische
Verfahren mischen sich auf unterschiedlichste Art
mit autoritären oder nicht demokratischen Instituti-
tisch auf „die gewaltige Chance der Menschheit, in
eine neue Ära der Freiheit einzutreten“. Das Heft
zum 25. Jubiläum erschien Anfang dieses Jahres unter der Leitfrage, ob die Demokratie auf dem Rückzug sei. Die Antworten fallen unterschiedlich aus:
Der US-Demokratieforscher Larry Diamond sieht
seit einigen Jahren eine „demokratische Rezession“
am Werk, andere sprechen von „Stagnation“ oder
„Netto-Stabilität“. Der empirische Befund ist weitgehend unstrittig: Seit ungefähr 2006 haben sich die
absolute Zahl und der weltweite Anteil der Demokratien nicht weiter erhöht (siehe Tabelle).
Doch als Niedergang erscheint dieser Trend nur,
wenn man ihn an der Erwartung aus den 1990er Jahren misst, die Demokratie schreite unaufhaltsam
voran – und wenn man die gegenwärtige Stagnation
nicht nur für eine vorübergehende Pause im Siegeszug der Demokratie hält. Dass diese pessimistische
Lesart mittlerweile sehr viel plausibler scheint als
die in den 1990er Jahren vorherrschende Idee, es
Stimmenauszählung in Cotonou
im März 2011. In Benin begann
1990 die Demokratisierungswelle
in Afrika; seit 1991 gab es hier
fünf ­Präsidentschaftswahlen.
pius utomi ekpei/afp/Getty Images
Die Vermessung der Demokratie
Es gibt eine Vielzahl von Verfahren, Demokratien zu identifizieren und
ihre Qualität zu bestimmen. Alle sind mit Vorsicht zu genießen und bestenfalls Annäherungen an ein komplexes Phänomen.
Am weitesten verbreitet sind zwei aus den USA stammende Indizes.
Laut dem Polity-Index gelten Regime als Demokratie, wenn die Regierung durch freie, faire und offene Wahlen bestimmt wird und sie vom
Parlament oder anderen Institutionen kontrolliert wird. Alle politischen Systeme seit 1800 werden auf einer Skala von -10 bis +10 verortet,
wobei grob Autokratien, Anokratien (Mischformen) und Demokratien
unterschieden werden. Die Bewertungen beruhen auf der subjektiven
Einschätzung der beteiligten Forscher. Der Fokus auf politische Institutionen macht den Polity-Index gut geeignet für breit vergleichende Studien. Die Kehrseite ist seine politische Schlagseite: Die USA waren demnach dank ausgeprägter Checks and Balances schon eine perfekte Demokratie, als weder Frauen noch alle Afroamerikaner wählen durften.
Das heutige Frankreich verfehlt dagegen die volle Punktzahl. Der Organisation Freedom House geht es nicht primär um Demokratie. Anhand
von zwei Indikatoren – bürgerliche Freiheiten und politische Rechte –
misst die Organisation in ihren jährlichen Berichten vielmehr, ob ein
Land frei, teilweise frei oder nicht frei ist. Viel stärker als bei Polity rückt
damit die Verfassungswirklichkeit ins Zentrum. Freie Länder gelten zugleich als „liberale Demokratien“ und teilweise freie Länder als „elektorale Demokratien“, falls die Qualität der Wahlen und die politischen
Rechte bestimmte Mindeststandards erfüllen. Die Bewertungen beruhen auf den Einschätzungen eines Expertenpools. Auch der Freedom
House Index besticht durch seine Reichweite, umstritten ist aber das
subjektive Bewertungsverfahren. Auch hier ist der Standard von USVorstellungen abgeleitet.
In Deutschland bewertet der von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebene Transformationsindex (BTI) unter anderem den Status der
Demokratie. Die fünf Kriterien dafür drücken ein anspruchsvolles Verständnis von liberaler Demokratie aus, das dem deutschen Modell sehr
nahe kommt: Staatlichkeit, politische Beteiligung, Rechtsstaatlichkeit,
die Stabilität demokratischer Institutionen und das Ausmaß politischer
und gesellschaftlicher Integration. Der BTI existiert allerdings erst seit
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
Sie stehen denn auch im Fokus einer neuen Debatte über eine mögliche Politik der „Autokratieförderung“ – in ausdrücklicher Konkurrenz zur westlichen Demokratieförderung. Die Forschung deutet
aber darauf hin, dass weder Russland noch China
autokratische Herrschaftssysteme systematisch fördern. Chinas Außen- und Entwicklungspolitik ist primär von Wirtschaftsinteressen geleitet und zielt auf
gute und verlässliche Beziehungen zu Regierungen
des globalen Südens ab – ob diese nun demokratisch
gewählt sind oder nicht. Der von der chinesischen
Führung deklarierte Respekt vor der Souveränität
anderer Staaten ist insofern nicht bloße Rhetorik.
Das ist im Fall Moskaus eindeutig anders – jedenfalls sobald es um die unmittelbare Nachbarschaft
Russlands geht. Aber auch die russische Außen- und
Entwicklungspolitik zielt weniger darauf ab, Autokratie als Herrschaftssystem zu fördern. Ihr geht es darum, politisch wohlgesonnene Regierungen zu unterstützen und gegebenenfalls solche zu unterminieren, deren Politik russischen Interessen zuwiderläuft.
D
gebe keine Alternative zur liberal-kapitalistischen
Demokratie, liegt nicht zuletzt an größeren weltpolitischen Verschiebungen. Sie deuten darauf hin, dass
die Weltordnung der Zukunft fortgesetzt vielfältig
und zunehmend multipolar sein dürfte. Kern dieser
These ist das viel diskutierte Phänomen aufstrebender Mächte. China mit seiner Wirtschaftsmacht und
seinem nicht demokratischen System ist dabei der
prominenteste Fall, Russland gegenwärtig der
schwierigste.
ie Idee einer neuen „östlichen“ Autokratieförderung ist auch in anderer Hinsicht fragwürdig: Die Muster der chinesischen und russischen Politik sind aus Geschichte und Gegenwart der
westlichen Außen- und Entwicklungspolitik nur allzu bekannt. Dies gilt für die Ausrichtung an wie auch
immer definierten „nationalen Interessen“ ebenso
wie für das Ergebnis: Wohlgesonnene Regierungen
werden gefördert, andere im Zweifel unterminiert,
auch wenn sie demokratisch gewählt sind. Die Vorstellung einer Konkurrenz zwischen Demokratien,
die die Demokratie fördern, und Autokratien, die das
Gegenteil tun, trägt folglich nicht sonderlich weit.
Dennoch: Die globalen Machtverschiebungen
verändern auch die Bedingungen für Demokratisierung. Die Möglichkeit für Länder des globalen Sü-
Anzahl demokratischer Länder
den 2000er Jahren und erfasst nur die breit definierte Gruppe der „Entwicklungs- und Transformationsländer“.
Bei allen Unterschieden stützen sich alle drei Indizes auf ein im
Kern liberales Demokratieverständnis, das Wahlwettbewerb, Machtkontrolle und individuelle Bürgerrechte betont. Eine Alternative bietet das
Varieties of Democracy-Projekt. Es untersucht zusätzlich, inwieweit einzelne Bürgerinnen und Bürger sich direkt beteiligen können (partizipative Demokratie), das politische System Foren für öffentliche Beratung
bietet (deliberative Demokratie) und politische Machtressourcen gleich
verteilt werden (egalitäre Demokratie). Auf dieser Basis zeigt sich beispielsweise, dass in Bolivien unter der Regierung von Evo Morales seit
2006 die Achtung der individuellen Bürgerrechte schlechter, aber die
Beteiligungsmöglichkeiten besser geworden sind.
(Jonas Wolff)
Polity Index: www.systemicpeace.org/polityproject.html
Freiheit in der Welt: www.freedomhouse.org
Transformationsindex: www.bti-project.de
Variety of Democracies: https://v-dem.net
| 8-2015
Freedom House
Polity IV
Bertelsmann Index
100
90
80
70
60
50
40
1990 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013
Quelle: Steven Levitsky und Lucan Way, The Myth of Democratic Recession, in:
Journal of Democracy, Jg. 26 (2015)
15
16
schwerpunkt demokratie
Links: Mit Folter und Menschenrechtsverletzungen in ihrem
­Militärgefängnis Guantánamo
haben die USA viel Glaubwürdigkeit
verspielt.
picture Alliance/DPA
Rechts: Afrika kann jetzt auch
Hilfe im ­Osten ­suchen: ­Chinas
­Premierminister Li Keqiang und
sein äthiopischer Amtskollege
­Hailemariam Desalegn weihen im
Mai 2014 eine Schnellstraße bei
­Addis Abeba ein. Sie wurde mit
­chinesischer Hilfe gebaut.
Sanyi Takele/Reuters
dens, auf chinesische Kredite, brasilianische Investitionen oder südafrikanische Unterstützung zurückzugreifen, verringert den Einfluss „des Westens“. Das
betrifft vor allem politisch und wirtschaftlich relativ
schwache Länder, die von westlichen Staaten mit
Vorliebe mit politischen Konditionen belegt werden.
Der Aufstieg neuer Mächte eröffnet den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas neue außenwirtschaftliche und außenpolitische Optionen.
W
ie das Beispiel Lateinamerikas zeigt, geht
damit keineswegs automatisch eine Abkehr von der Demokratie einher. Vielmehr
nimmt der politische Homogenisierungsdruck spürbar ab. Länder können leichter eigene Entwicklungspfade einschlagen. In diese Richtung wirken auch die
Erfolge Chinas bei Entwicklung und Armutsbekämpfung. Nur wenige Länder suchen das chinesische
Modell offen nachzuahmen. Dennoch schwächt sein
Erfolg die Losung der 1990er Jahre, Entwicklung sei
nicht ohne Demokratie und freie Marktwirtschaft zu
haben ist. Bestärkt wird das von der zunehmend prekären Leistung der demokratischen Staaten, von der
noch zu sprechen ist.
Kurz: Die liberale Demokratie hat ihre für selbstverständlich gehaltene Anziehungskraft verloren.
Passé ist jedenfalls die Vorstellung, dass autoritäre
Herrschaftssysteme strukturell instabil sind und sich
deshalb eher früher als später in Richtung Demokratie wandeln. Die vergleichende Regimeforschung
sucht entsprechend nicht mehr nach neuen „Demokratien mit Adjektiv“, sondern seit einigen Jahren
vermehrt nach Subtypen autoritärer Herrschaft.
Konzepte wie „kompetitiver“ oder „elektoraler“ Auto-
ritarismus spiegeln die Erkenntnis, dass ein autoritärer Staat nicht schon deshalb auf dem Weg in Richtung Demokratie ist, weil er zum Beispiel Wahlen
durchführt. Auch die Vorstellung, undemokratische
Herrschaftssysteme beruhten im Wesentlichen auf
der erfolgreichen Unterdrückung der Bevölkerung,
spiegelt nicht mehr den Forschungsstand: Heute
In Europa und den USA verlieren demokratische
Verfahren zunehmend an Substanz – nicht zuletzt
weil die soziale Ungleichheit wächst.
wird differenzierter untersucht, wie sich Autokratien
legitimieren und stabilisieren. Die Umbrüche in der
arabischen Welt zeigen nun zwar, dass die Stabilität
autoritärer Herrschaftssysteme nicht überschätzt
werden sollte. Sie bestätigen aber auch, dass von einer allgemeinen Ausrichtung des politischen Wandels auf die Demokratie keine Rede sein kann.
Die globalen Machtverschiebungen zeigen sich
auch in einer wachsenden Skepsis und mitunter im
offenen Widerstand gegen westliche Demokratieförderer. In den 1990er Jahren wurde es zunehmend
selbstverständlich, dass Regierungen, Entwicklungsagenturen und mehr oder minder unabhängige
nichtstaatliche Organisationen aus Westeuropa und
den USA mit eindeutig politischen Zielen in innergesellschaftliche Transformationsprozesse in anderen
Ländern eingreifen. Heute stellen nicht nur autoritäre Herrscher die Frage, auf welcher Legitimationsgrundlage sie das eigentlich tun.
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
U
Jonas Wolff
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter
der Hessischen Stiftung Friedens- und
Konfliktforschung (HSFK), lehrt an den
Universitäten Frankfurt am Main und
Kassel und ist Mitglied im Forschungsnetzwerk „Externe Demokratisierungspolitik (EDP)“.
| 8-2015
nd es bleibt nicht bei kritischen Fragen: Dutzende Länder rund um den Globus haben in
den vergangenen Jahren etwa die Möglichkeit
eingeschränkt, zivilgesellschaftliche Gruppen aus
dem Ausland zu finanzieren. Aus Sicht der selbst ernannten Demokratieförderer besonders unbequem:
Unter diesen Ländern finden sich auch demokratisch verfasste Staaten wie Indien und Indonesien,
Bolivien und Peru.
Das wachsende Selbstbewusstsein „der Anderen“
ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere betrifft den globalen Nordwesten selbst. „Der Westen“
und seine Politik der Demokratieförderung haben
empfindlich an Glaubwürdigkeit verloren. Der völkerrechtswidrige Krieg mit dem Ziel des Regimewechsels im Irak seit 2003 hat tiefe Spuren hinterlassen. Auch der globale „Krieg gegen den Terror“ hat
die Widersprüche westlicher Demokratie- und Menschenrechtspolitik verschärft – Abu Ghraib und Guantánamo, Massenüberwachung und Drohnenkrieg
stehen nur für die extremen Exzesse. Der Modellund Vorbildcharakter, den die etablierten Demokratien der sogenannten entwickelten Welt für sich beanspruchen, hat Schaden genommen. In Europa
sind hierfür – neben der Komplizenschaft im US-geführten Anti-Terror-Krieg – besonders das demokratieschädliche Management der Eurokrise und die
menschenverachtende Politik der Flüchtlingsabwehr verantwortlich.
Die Schwierigkeiten der westlichen Demokratieförderung verweisen mithin auf den Zustand der
Förderer selbst. Es wäre übertrieben, von einer offenen Krise der Demokratie in den USA oder Europa zu
sprechen. Aber Krisentendenzen und eine Erosion
demokratischer Verfahren, die zunehmend ihre Substanz verlieren, sind nicht zu übersehen. Zu diesem
Ergebnis kommt jedenfalls ein Band über „Demokratie und Krise“, den der Berliner Demokratieforscher
Wolfgang Merkel jüngst herausgegeben hat. Darin
wird betont, dass die seit Jahrzehnten zunehmende
sozioökonomische Ungleichheit politische Ungleichheit zur Folge hat und so ein Kernprinzip demokratischer Herrschaft untergräbt. Die unteren
Schichten werden an den Rand und in die „Selbstexklusion“ gedrängt, und eine winzige Elite genießt die
„Selbstbefreiung“ von der Sozialbindung ihres Wohlstands „bei gleichzeitigem maximalen politischen
Einfluss“, resümiert Merkel.
Dramatische Formen nimmt das in den EuroKrisenstaaten Südeuropas an. Dort verbindet sich
das Demokratiedefizit der EU mit der offen antidemokratischen Logik eines globalisierten Kapitalismus, die von einer außerhalb aller Verfassungen
operierenden Troika durchgesetzt wird. Demokratische Verfahren werden so weitgehend zur Farce, die
sozialen Grundlagen der Demokratie untergraben.
Aber rufen nicht Menschen quer über den Globus weiterhin nach Demokratie? Ist also weniger das
Leitbild als die reale Gestalt der Demokratie in Misskredit geraten? Diese Lesart ist nicht falsch. Das Problem ist aber, dass sich hinter dem Ruf nach Demokratie eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Vorstellungen verbergen. Nicht zufällig ist die Forderung
häufig mit der nach Würde und sozialer Gerechtigkeit verbunden. Das ist wohl kaum das gleiche wie
der Wunsch nach „marktkonformer“ Demokratie
(Angela Merkel).
Insofern ist es kein Widerspruch, dass die etablierten Demokratien Westeuropas und Nordamerikas selbst zum Ziel prodemokratischer Proteste werden, ob in Gestalt von Occupy Wall Street oder der
spanischen Indignados. Oder dass in Lateinamerika
verschiedene Experimente mit partizipativer und
direkter Demokratie die repräsentative Demokratie
ergänzen, aber mitunter auch herausfordern. Im
Idealfall, so ließe sich die Ernüchterung der Demokratieforscher positiv wenden, könnte an die Stelle
des globalen Leitbilds der neoliberalen Demokratie
eine Auseinandersetzung über vielfältige Formen
demokratischer Herrschaft treten.
ZUM WEITERLESEN
Thomas Carothers und Oren Samet-Marram: The New Global
Marketplace of Political Change; Carnegie Paper, April 2015,
http://carnegieendowment.org
Journal of Democracy, Jg. 26 Nr. 1 (2015): Is Democracy in
Decline?
Wolfgang Merkel (Hg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie; Springer VS,
Wiesbaden 2015
Jonas Wolff: Von Werten und Schurken. Menschenrechte,
Demokratie und die normative Grundlagen deutscher Außenpolitik; HSFK Standpunkte Nr. 3 (2013), www.hsfk.de
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18
schwerpunkt demokratie
Demokratie nach Thai-Art
Thailands etablierte Mittelschicht hält wenig vom Willen der Mehrheit: Ihre Protestbewegung
hat es auf den Militärputsch von 2014 geradezu angelegt. Die neuen Machthaber gehen nun
mit drakonischen Strafen gegen Oppositionelle vor.
Von Nicola Glass
D
Die gewählte Regierung muss weg
– ­dafür demonstriert diese Frau
im Februar 2014 vor dem Verteidigungsministerium in Bangkok.
­Premierministerin Yingluck Shinawatra hat ihren Amtssitz zeitweilig
dorthin verlegt.
Athit Perawongmetha/Reuters
as „Denkmal der Demokratie“ im Herzen
Bangkoks sieht Ende Juni nicht so aus wie
sonst. Es ist umhüllt mit einem schwarzen
Transparent, auf dem eine Protestnote prangt: „No
Coup!“ Davor haben sich ein gutes Dutzend junger
Leute versammelt. Sie protestieren gegen Thailands
Militär, das am 22. Mai 2014 die Macht an sich gerissen hat. Ihre friedliche Kundgebung müssen die Studenten und Aktivisten teuer bezahlen: 24 Stunden
später werden sie festgenommen. Ihr „Vergehen“ in
den Augen der regierenden Junta, die sich Nationalrat für Frieden und Ordnung (NCPO) nennt: Gefährdung der nationalen Sicherheit und Verstoß gegen
das Versammlungsverbot.
Das Kriegsrecht wurde am 1. April aufgehoben –
und durch noch striktere Regelungen ersetzt. Treffen
von mehr als fünf Personen im öffentlichen Raum
bleiben ebenso verboten wie Debatten über die verheerenden Zustände im Land. Nicht nur in Thailand
solidarisierten sich viele Menschen mit den Studenten, auch die Europäische Union, die Vereinten Nationen und Menschenrechtler haben das drakonische
Vorgehen scharf kritisiert. Der Druck zeigte offenbar
Wirkung: Das Militärgericht in Bangkok setzte die
Studenten Anfang Juli vorläufig auf freien Fuß. Das
Verfahren ist damit jedoch nicht beendet.
Der harsche Umgang mit Kritikern zeigt, wie sehr
die Menschenrechte seit dem vom damaligen Armeechef Prayuth Chan-ocha angeführten Putsch am
Boden liegen. Trotzdem wagen es kleine Gruppen immer wieder, sich dem Regime zu widersetzen. Eine
davon nennt sich „Resistant Citizen Group“ um den
Aktivisten Punsak Srithep. Im Februar hatte er mit
drei Mitstreitern eine „symbolische Wahl“ organisiert; daraufhin wurden die Männer vorübergehend
festgenommen.
Punsak Srithep setzt sich nicht nur für die Demokratie ein, sondern auch für die Aufklärung des Mordes an seinem Sohn. Dieser war während der blutigen
Unruhen in Bangkok im Mai 2010 erschossen worden, bei denen die Armee die Proteste der sogenannten „Rothemden“ niedergeschlagen hatte, die mehrheitlich Anhänger der Ex-Premierminister Thaksin
und Yingluck Shinawatra sind. „Meine Landsleute
müssen begreifen, dass man für Gerechtigkeit und
Demokratie kämpfen muss“, betont Punsak Srithep.
Ähnlich sahen es die Studenten, Akademiker und Aktivisten, die am diesjährigen Weltfrauentag mit einer
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
Demonstration Neuwahlen und die Freilassung aller
politischen Gefangenen gefordert hatten.
Indes ist allen bewusst, dass eine Rückkehr zur
Demokratie in immer weitere Ferne rückt. Prayuth
Chan-ocha, Junta-Chef und Premierminister in Personalunion, hatte schon kurz nach dem Putsch erklärt, dass Wahlen nur infrage kämen, wenn der „Reformprozess“ abgeschlossen sei. Im Klartext: Wann
es soweit ist, bestimmen allein die jetzigen Machthaber, unter deren Herrschaft das buddhistische Königreich innerhalb kurzer Zeit zur Diktatur verkommen
ist. Durch die systematische Verfolgung kritischer
Stimmen werde ein Klima der Angst geschaffen, kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Seit dem Putsch habe es Hunderte willkürlicher Festnahmen gegeben. Hinzu kämen Vorwürfe wegen Folter sowie unfaire Prozesse vor Militärgerichten.
Treffen von mehr als fünf Personen im
öffentlichen Raum sind verboten, ebenso Debatten
über die verheerenden Zustände im Land.
In den militärgerichtlichen Verfahren geht es
um angebliche Verstöße gegen die „nationale Sicherheit“. Die Organisation Thailändische Anwälte für
Menschenrechte sowie die in Genf ansässige Internationale Juristenkommission verurteilen das
scharf: „Nach internationalen Standards dürfen Zivilisten keiner Rechtsprechung durch Militärgerichte
unterworfen werden, vor allem nicht dort, wo – wie
im von Militärs regierten Thailand – Gerichtshöfen
die institutionelle Unabhängigkeit von der Exekutive fehlt.“ Unter die „nationale Sicherheit“ fällt auch
Das Militär soll die Macht abgeben:
Studierende wenden sich mit einer
Mahnwache vor dem „Denkmal der
Demokratie“ im Mai 2014 gegen
den Putsch.
Holger Grafen
| 8-2015
das seit Jahren politisch missbrauchte Gesetz gegen
Majestätsbeleidigung, laut dem Diffamierungen der
Monarchie mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden
können. Seit ihrer Machtergreifung hat die Armee
die Auslegung dieses Gesetzes noch verschärft: Die
Zahl der Anklagen und Verurteilungen wächst.
T
hailand galt einst als Vorbild für demokratische
Entwicklung in Südostasien. Wie kam es zu diesem Rückfall in dunkle Zeiten? Dem Militärputsch gingen monatelange Proteste gegen die Regierung von Premierministerin Yingluck Shinawatra
voran, die bei der Wahl im Juli 2011 einen Erdrutschsieg erzielt hatte. Die Oppositionsbewegung „Demokratisches Reformkomitee des Volkes“ (PDRC) wollte
sie aus dem Amt jagen. Ebenso wie ihr Bruder Thaksin, der 2006 als Regierungschef vom Militär gestürzt
worden war, konnte sich Yingluck auf die Stimmen
der Reisbauern im Norden und Nordosten sowie der
Arbeiter und Angestellten in den Städten stützen –
sehr zum Unmut der alteingesessenen Bangkoker
Mittelschicht, des Geldadels, des royalistischen Beamtenapparates und der Aristokratie. Die Angehörigen des konservativen Establishments, die um Einfluss und Pfründen fürchteten, empfanden es als Zumutung, dass die von ihnen verachteten ärmeren
Schichten wiederholt den Parteien Thaksins und dessen Clique neureicher Wirtschaftsbosse zur Macht
verholfen hatten.
Die Proteste gegen Yingluck entzündeten sich an
einem umstrittenen Amnestiegesetz, das ihre Partei
Puea Thai (Für Thais) durchdrücken wollte. Es sollte
unter anderem Thaksin die Rückkehr erlauben, der
2008 wegen Korruption zu zwei Jahren Haft verurteilt
worden war und im Exil lebt. Der Gesetzentwurf wurde in einer Marathonsitzung durchs Parlament gepeitscht. Das trieb Thaksins Erzfeinde auf die Straßen.
19
20
schwerpunkt demokratie
Die PDRC legte es darauf an, Gewalt und Chaos zu
schüren, um die Armee zum Eingreifen zu bewegen.
Als die Premierministerin im Dezember 2013 das Parlament für aufgelöst erklärte und Neuwahlen ausrief,
setzte sie die Proteste fort. „Ich pfeife auf Neuwahlen!“, sagte damals eine Demonstrantin. „Das ist keine Lösung für uns, stattdessen wollen wir, dass der
gesamte Shinawatra-Clan aus Thailand verschwindet.“ Eine Mitstreiterin ergänzte: „Die ganze Regierung ist korrupt und muss weg.“ Auf die Anmerkung,
die Yingluck-Regierung sei demokratisch gewählt,
entgegneten die Frauen bloß: „Ja, weil sie die Stimmen der armen Landbevölkerung gekauft hat. Das ist
keine Demokratie.“
Statt Neuwahlen forderte die PDRC die Einrichtung eines demokratisch nicht legitimierten „Volksrates“. Einige Akademiker kritisierten diese Pläne als
„faschistisch“, weil sie ausschließlich den Interessen
einer vergleichsweise kleinen, konservativen Elite
dienten. Kritiker sahen in den Korruptionsvorwürfen
nur einen Vorwand, um die Yingluck-Regierung zu
stürzen. Tatsächlich gehe es um den langfristigen
Machterhalt der konservativen Eliten des Landes.
V
iele vermuteten hinter der PDRC jene Kräfte,
die sowohl Wegbereiter für den Militärputsch
von 2006 gegen Thaksin waren als auch verantwortlich für das politische Chaos von 2008. Es
gipfelte in der Besetzung des Regierungssitzes und
des internationalen Flughafens durch die sogenannten „Gelbhemden“ der Volksallianz für Demokratie
(PAD), der Gegner Thaksins. Schon die PAD propagierte eine „neue Politik“, um das parlamentarische System drastisch zu beschneiden und der konservativen
Seite Macht und Privilegien zu sichern. Die Protestbewegung PDRC von 2013 galt als eine noch radikaler
auftretende Wiedergeburt. Ihr Anführer Suthep
Thaugsuban war früher eines der ranghöchsten Mitglieder der Demokratischen Partei (DP). Als Vize-Premierminister in der von der DP geführten Regierung
von Ende 2008 bis Mitte 2011 war er mitverantwortlich für die blutige Niederschlagung der Proteste der
„roten“ Thaksin-Anhänger im Frühjahr 2010.
Die DP unterstützte Suthep auch 2013-2014, da
sie sehr wohl wusste, dass sie an den Wahlurnen keine Chance gegen das Thaksin-treue Lager haben würde. Sie verweigerte sich im Februar 2014 bereits zum
zweiten Mal einer Wahl. Ihr Boykott von 2006 hatte
ebenfalls zu einer Staatskrise geführt, die in den
Putsch gegen Thaksin mündete.
Seit das Militär im Mai 2014 die Macht an sich gerissen hat, ist die PDRC von den Straßen verschwunden. Doch die politischen Ränkespiele halten an. Dass
es darum geht, das Netzwerk des Shinawatra-Clans
kaltzustellen, zeigt sich nicht zuletzt in dem fragwürdigen Prozess gegen Ex-Premierministerin Yingluck.
Die Justiz wirft ihr Pflichtverletzung in Zusammenhang mit einem staatlichen Reis-Subventionsprogramm vor, bei dem Milliarden US-Dollar versickert
sein sollen. Bei einem Schuldspruch drohen ihr bis zu
zehn Jahre Haft. Ein fünfjähriges Politikverbot hat ihr
schon im Januar das vom Militär eingesetzte Parla-
ment auferlegt. Die politische Demontage hat System: Anfang Mai vergangenen Jahres waren Yingluck
und neun ihrer Minister wegen Amtsmissbrauchs
vom Verfassungsgericht ihrer Posten enthoben worden. Der klägliche Rest ihrer Regierung wurde
schließlich zwei Wochen später vom Militär gestürzt.
Kritiker monierten, die Justiz mache sich zur Erfüllungsgehilfin des Militärregimes.
Die Militärjunta will mit einer neuen Verfassung
die Mehrheit der Wählerschaft entmündigen
und das Establishment an der Macht halten.
Dass die Junta und das mit ihr verbündete Establishment nicht daran denken, die Macht abzugeben, lässt sich auch am Entwurf für eine neue Verfassung ablesen. Darüber soll im Januar 2016 abgestimmt werden. Von 200 Senatoren – den Vertretern
des Oberhauses – werden 123 von den Militärs oder
deren Umfeld ernannt. Die übrigen 77 werden gewählt, wobei nur Kandidaten antreten dürfen, die
von Thailands alteingesessener Elite abgesegnet
wurden. Darüber hinaus ist vorgesehen, die Zahl der
Unterhaus-Abgeordneten zu senken.
Ein Proporz-System soll dafür sorgen, dass große
politische Parteien – wie bislang die Thaksin-treuen –
keine absoluten parlamentarischen Mehrheiten
mehr erzielen. Eine konservative Justiz und Technokratie soll Parteipolitiker zusätzlich kontrollieren, so
dass sie faktisch nichts mehr entscheiden können.
Das kommt einer Entmündigung der Mehrheit der
thailändischen Wählerschaft gleich. Auch soll festgeschrieben werden, dass der künftige Premierminister
beziehungsweise die künftige Premierministerin kein
gewähltes Mitglied des Parlaments zu sein braucht.
Der heutige Chef der Militärjunta, Prayuth Chanocha, hat einst in Anspielung auf die Wahlsiege der
Thaksin-treuen Parteien erklärt, zu viel Demokratie
habe das Land in die politische Dauerkrise gestürzt.
Geht es nach dem Willen der jetzigen Machthaber,
dann wird die neue Verfassung die Grundlage eines
Systems bilden, das die Militärs der Außenwelt als
„Thai-Style-Democracy“ verkaufen wollen. Es ist darauf angelegt, militärische Staatsstreiche zu legitimieren und die Herrschaft des konservativen Establishments zu befestigen – eine geschrumpfte Zahl gewählter Abgeordneter soll als Feigenblatt dienen. Inzwischen bezweifeln viele, dass es in absehbarer Zeit
überhaupt zu Wahlen kommt.
Um den Militärs die Stirn zu bieten, wäre ein
Volksaufstand nötig, initiiert von unabhängigen und
progressiven Kräften, die bereits jetzt den offenen
Widerstand wagen und nicht unter dem Banner einer
politischen Farbe auftreten. Ob es dazu kommt, in einem politisch zerrissenen Land und einem Klima der
Angst und Unterdrückung, ist fraglich. Zumal Thailands Armee bereits in der Vergangenheit keine Skrupel gezeigt hat, pro-demokratische Kundgebungen
blutig niederzuschlagen.
Nicola Glass
lebt seit 2002 als freie SüdostasienKorrespondentin in Bangkok. Sie
arbeitet hauptsächlich für den
öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie
für mehrere Printmedien.
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
21
Termine
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Magdeburg 3. September 2015
Hamburg 4. September 2015
Potsdam 16. September 2015
Rostock 21. September 2015
München 28. September 2015
Stuttgart 27. Oktober 2015
Weitere Termine folgen.
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Zukunftscharta
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22
schwerpunkt demokratie
„Die Kenianer
werden für ihre Rechte kämpfen“
Die Aktivistin Regina Opondo beklagt zunehmende Schikanen
Gespräch mit Regina Opondo
Die kenianische Regierung will zivilgesellschaftliche Organisationen stärker kontrollieren. Sie wirft
ihnen vor, zu stark vom Westen
beeinflusst zu sein. Regina Opondo
erklärt, was das für ihre Arbeit bedeutet, und warum sie und ihre
Mitstreiter trotzdem nicht aufgeben.
Frau Opondo, Sie setzen sich seit
rund zehn Jahren vor allem für gute
Regierungsführung ein. Was treibt
Sie an?
Mir sind die großen Ungerechtigkeiten in meiner Heimat schon
aufgefallen, als ich sehr jung war.
Ich fragte mich, warum manche
Menschen arm sind und andere
nicht. Warum manche Menschen
Wasser haben und andere nicht.
Ich selbst wurde mit dem Auto zur
Schule gebracht, andere Kinder
hatten noch nicht einmal Schuhe,
um damit in den Unterricht zu
kommen. Wieder andere konnten
sich die Grundschule nicht leisten,
obwohl sie doch unentgeltlich
und für alle offen sein sollte. Hinzu kam das politische Klima im
Kenia der 1980er Jahre. Das Regime des damaligen Präsidenten
Daniel arap Moi war diktatorisch,
und die Gesellschaft fing an, dagegen aufzubegehren. Ich hatte immer deutlicher das Gefühl, dass
mit dieser Welt etwas nicht stimmte. Und ich fragte mich schon sehr
früh, was ich tun könnte, um das
in Ordnung zu bringen.
„Die Regierung wirft uns vor, wir hätten den
Staatspräsidenten und seinen Vize vor den
Internationalen Strafgerichtshof gebracht.“
Kenia ist seit Anfang der 1990er
Jahre wieder ein Mehrparteienstaat und hat seit 2010 eine neue
Verfassung, die in vielen Punkten
vorbildlich ist. Viele Menschen
fürchten aber, dass das Land politisch in die 1980er Jahre zurück
fällt. Teilen Sie diese Sorge?
Das Risiko ist tatsächlich
hoch. Aber noch sind wir da nicht,
und das liegt nicht zuletzt daran,
dass sich die Kenianerinnen und
Kenianer verändert haben. Sie
sind sich ihrer Rechte bewusster
als damals. Ich glaube nicht, dass
sie sich etwas davon nehmen lassen werden, ohne darum zu
kämpfen.
Welchen Repressionen sieht sich
die Zivilgesellschaft im Moment
ausgesetzt?
Es gibt Versuche, Errungenschaften der neuen Verfassung
wieder außer Kraft zu setzen. Ein
Beispiel ist der gegenwärtige
Kampf um die Frauenquote von
einem Drittel in Parlamenten, im
Senat, in den Parlamenten der
Landkreise und in der öffentlichen Verwaltung. Außerdem beschneidet die Regierung den demokratischen Spielraum von Bürgerinnen und Bürgern immer
stärker: durch Gesetzesänderungen und Propaganda gegen Menschenrechtsaktivisten oder zivilgesellschaftliche Organisationen.
Deren Mitglieder werden eingeschüchtert und bedroht.
Können Sie Beispiele nennen?
Die Regierung hat ein Gesetz
zur Abänderung der Sicherheitsgesetze ins Parlament gebracht.
Kenia hat tatsächlich ein Problem
mit dem islamistischen Terrorismus. Aber nach der Vorlage der
Regierung wären die Versammlungs-, Meinungs- und Redefreiheit praktisch abgeschafft worden. Die Pressefreiheit sollte drastisch beschnitten werden. Viele
Punkte in dem Entwurf hat das
Parlament abgelehnt oder abgemildert, aber die drakonischen
Strafen gegen Medien etwa blieben bestehen. Auf „Diffamierung“
stehen umgerechnet 20.000 Euro
Strafe. Journalisten werden künftig wahrscheinlich versuchen,
sensible Themen zu meiden.
Wie wird der Spielraum von nichtstaatlichen Organisationen beschnitten?
Seit etwa zwei Jahren nimmt
der Druck auf uns stark zu. Dazu
gehört der Versuch, Freiräume
auch gesetzlich zu beschneiden.
Schon vor den jüngsten Präsidentschaftswahlen im März 2013
verabschiedete die Regierung ein
Gesetz über gemeinnützige Organisationen. An der Ausarbeitung
dieser Vorlage war die Zivilgesellschaft beteiligt. Damals waren
sich alle einig, dass die Organisationen einen klaren gesetzlichen
Rahmen brauchen, um effektiver
arbeiten und besser zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Das Gesetz wurde noch unter
dem vorigen Präsidenten Mwai
Kibaki verabschiedet, er hat es im
Januar 2013 unterzeichnet. Trotzdem trat es nie in Kraft. Seit Oktober 2013 versucht die jetzige Regierung unter Uhuru Kenyatta,
das Gesetz zu verändern. Eine der
neuen Regeln sollte sein, dass die
Organisationen nur noch 15 Prozent ihrer Finanzen aus dem Ausland beziehen dürfen. Faktisch
werden aber die meisten Hilfsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen zu fast 90
Prozent von ausländischen Gebern finanziert. Durch ein solches
Gesetz wäre die Szene also tot.
Dieser Punkt ging so nicht durch
das Parlament, aber noch ist nicht
abschließend darüber entschieden, wie der Staat die Organisationen künftig stärker kontrollieren
will.
8-2015 |
Die 36-jährige Kenianerin Regina
Opondo arbeitet für CRECO, einen
Dachverband von 23 zivilgesellschaftlichen Gruppen in Kenia.
CRECO hat lange für die Reform der
kenianischen Verfassung gekämpft
und setzt sich nun dafür ein, dass sie
umgesetzt wird.
Journalisten protestieren im
Dezember 2013 in Nairobi gegen
die drohende Beschneidung der
Pressefreiheit.
Thomas Mukoya/Reuters
Bettina Rühl
demokratie schwerpunkt
„Mir sind die Ungerechtigkeiten in meiner Heimat
schon aufgefallen, als ich sehr jung war. Und ich
fragte mich, was ich dagegen tun könnte.“
Nutzt die Regierung das Argument
des Kampfes gegen den Terrorismus auch gegen zivilgesellschaftliche Gruppen?
Ja. Ende vergangenen Jahres
hat die Aufsichtsbehörde der gemeinnützigen Organisationen bekannt gegeben, dass sie einer Reihe die Anerkennung entzogen
habe. 15 von ihnen unterstützten
angeblich den Terrorismus. Es
wurden keine Namen genannt,
wir wussten nicht, um welche Organisationen es ging. Dann hörten wir bis April nichts mehr.
Nach dem Anschlag auf die Universität von Garissa Anfang April
wurden die Konten von drei Organisationen eingefroren, weil sie
angeblich den Terrorismus fördern, dieses Mal wurden Namen
genannt. Die Organisationen
mussten der Polizei alle ihre Bü-
cher und Unterlagen übergeben.
Dann hat die kenianische Steuerbehörde ihre Büros durchsucht
mit der Begründung, sie hätten
Steuern hinterzogen. Am Ende
stellte sich heraus, dass die angeblichen Verbindungen zum Terrorismus nicht belegbar waren. Ein
Gericht urteilte Mitte Juni, dass
die Organisationen von der Liste
der Gruppen entfernt werden
müssen, die Terror unterstützen.
Ihre Konten sind aber immer
noch eingefroren, die Mitarbeiter
bekommen kein Gehalt und sie
haben ihre Krankenversicherung
verloren. Und bei so schwerwiegenden Vorwürfen besteht immer
die Gefahr, dass im öffentlichen
Bewusstsein etwas hängen bleibt.
Seit wann geht die Regierung denn
mit dieser Härte gegen die Zivilge-
sellschaft und Hilfsorganisationen
vor?
Zwischen Regierung und Zivilgesellschaft gibt es immer Spannungen, das ist ganz natürlich,
weil sie sich gegenseitig kontrollieren. Aber in Kenia wird die Repression seit den Wahlen 2013 immer stärker. Meiner Ansicht nach
hat das mit den Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs
(ICC) gegen Präsident Kenyatta
und Vizepräsident William Ruto
zu tun; das Verfahren gegen Kenyatta wurde inzwischen eingestellt. Hintergrund sind die ethnischen Ausschreitungen nach den
Wahlen 2007, bei denen mehr als
1000 Menschen getötet wurden.
Ich habe den Eindruck, dass die
Regierung und ihre Anhänger uns
Aktivisten vorwerfen, wir hätten
Menschen vor den ICC gebracht,
die in Kenia am Ruder sind. Meinem Eindruck nach sieht die Regierung ihre Chance, sich an uns
für das ICC-Verfahren zu rächen.
Wie läuft die Lobby-Arbeit gegen
die Repressionen der Regierung?
Wir organisieren Veranstaltungen, in denen wir über die geplanten Veränderungen im Gesetz über gemeinnützige Organisationen aufklären, wir fordern
von der Regierung Informationen
darüber, wie der Stand der Planungen ist. Eine von der Regierung eingesetzte Kommission hat
Vorschläge zur Änderung der Änderungen erarbeitet, aber ihr Bericht wurde bisher nicht veröffentlicht. Wir fordern zum Beispiel, dass die Ergebnisse nicht
länger geheim gehalten werden,
sondern öffentlich diskutiert werden können.
Das Gespräch führte Bettina Rühl.
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23
24
schwerpunkt demokratie
Erfolgsmodell im Härtetest
Nur in Tunesien hat der Arabische Frühling von 2011 eine Demokratie begründet.
Doch die wirtschaftliche und soziale Krise in dem nordafrikanischen Land stellt diese
Errungenschaft auf eine harte Probe.
Von Theodora Peter
R
und um den Platz des 14. Januar rauscht der Verkehr. Passanten drängen sich zwischen die Autos, um die Straße zu überqueren und die palmengesäumte Avenue Bourgiba zu erreichen. Die
pulsierende Geschäftsader der tunesischen Hauptstadt ist nach Habib Bourgiba benannt, dem Gründervater des modernen Tunesien. Äußerlich erinnert
nichts daran, dass hier Anfang 2011 der arabische
Frühling seinen Lauf nahm. Einzig sichtbarer Hinweis ist das neue Namensschild für den Platz, der von
„7. November“ – dem Tag der Machtergreifung des
Diktators Ben Ali – umgetauft worden ist auf „14. Januar“, das ist der Tag seiner Flucht 2011. „Ben Ali, hau
ab!“ riefen damals Hunderttausende Demonstranten ihrem ungeliebten Staatsoberhaupt zu.
Trotz der Massenproteste stürzte Tunesien damals nicht in ein Chaos. „Der Volksaufstand war keine Revolution, die alles plattgewalzt hat“, betont Lotfi
Larguet, Journalist und Rechtsprofessor in Tunis. Das
Land besaß bereits seit der Unabhängigkeit von
Frankreich und der ersten Verfassung von 1959 starke Institutionen und eine funktionierende Verwaltung. Hinzu kamen der im arabischen Vergleich relativ hohe Bildungsstand und etablierte soziale Organi-
sationen wie die Gewerkschaften. Dies ermöglichte
es, einen geordneten Übergangsprozess einzuleiten
hin zur Erarbeitung einer neuen Verfassung und freien Wahlen. Nach der Flucht Ben Alis wurde mit dem
Präsidenten der Abgeordnetenkammer vorübergehend ein Mann des alten Regimes an die Staatsspitze
gestellt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Dekrete zu unterzeichnen, die ihm das Bündnis der revolutionären Kräfte unterbreitete.
Mit der 2014 in Kraft getretenen Verfassung hat
Tunesien das modernste Grundgesetz in der arabischen Welt. Es verankert universelle Menschenrechte
wie die Gewissensfreiheit und die Gleichstellung der
Geschlechter und garantiert einen Rechtsstaat und
die Gewaltentrennung.
Dies gelang erst im zweiten Anlauf. Nachdem die
Islamisten der Ennahda-Partei 2011 die Wahlen in die
Verfassunggebende Versammlung gewonnen hatten,
wollten sie ihre Vorstellungen einer Staatsreligion
und der „komplementären“ Rolle der Frau in die neue
Verfassung packen. Der Protest dagegen trieb im August 2013 erneut Hunderttausende auf die Straße,
worauf der Verfassungsrat noch einmal über die Bücher musste. Der Bezug zu den Lehren des Islam blieb
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
Die Tunesier kämpfen für ihre
Demokratie: Sie wehren sich im Juni
2013 gegen eine islamisch geprägte
Verfassung (links) und beteiligen
sich im Oktober 2014 begeistert an
der Parlamentswahl (Mitte).
Afp/Getty Images; Reuters
Rechts: Die Richterin Kalthoum
­Kennou – hier (rechts) im Wahlkampf im November 2014 – hat als
einzige Frau für das Präsidentenamt
kandidiert. Mit 1,3 Prozent der
­Stimmen kam sie auf Platz elf.
Zoubeir Souissi/Reuters
zwar im neuen Text erhalten, aber in abgeschwächter
Form.
In der Verfassung finde sich nun „von allem etwas“, stellt der Jurist Larguet nüchtern fest. Dadurch
riskiere man Mehrdeutigkeiten bei der Auslegung.
„Vieles hängt nun von der Regierung und vom Verfassungsgericht ab, das noch installiert werden muss
und das eine historisch wichtige Rolle spielen wird.“
Auch muss die Verfassung erst noch in Ausführungsgesetze gegossen werden. Darüber hinaus müssen
auf kommunaler und regionaler Ebene demokratische Strukturen geschaffen werden.
Eine wichtige Nagelprobe hat die junge tunesische Demokratie bei den ersten freien Parlamentswahlen vom Oktober 2014 und den folgenden Präsidentschaftswahlen bestanden. Sie gingen transparent und ohne größere Zwischenfälle über die Bühne.
Als Siegerin ging daraus das säkular-liberale Bündnis
Nidaa Tounes hervor; die islamistisch geprägte Ennahda-Partei, die bis dahin stärkste politische Kraft,
verlor stark. Für den korrekten Ablauf sorgte die 2011
geschaffene unabhängige Wahlinstanz (Instance Supérieure Indépendante pour les Élections, ISIE), deren Aufbau vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) unterstützt wurde.
Sie sei im Vorfeld unter großem Druck gestanden,
erinnert sich ihr Präsident Chafik Sarsar. Alle politi-
| 8-2015
schen Lager hätten versucht, Einfluss auf Listengestaltung und Wahltermine zu nehmen. „Wahlweise
hat man uns Nähe zu den Islamisten oder zur extremen Linken vorgeworfen.“ Die ISIE unter Leitung des
Universitätsprofessors hat neun Mitglieder, die keiner Partei angehören und auch nach dem Ausscheiden kein politisches Mandat annehmen dürfen. Die
Wahlinstanz bemühte sich, breite Bevölkerungsschichten an die Urne zu bringen, etwa durch eine
grafische Gestaltung der Listen, so dass sie auch für
Analphabeten lesbar waren. Trotzdem lag die Beteiligung an der Stichwahl für die Präsidentschaft bei für
tunesische Verhältnisse bescheidenen 60 Prozent.
Vor allem die junge Generation beteiligte sich nur zurückhaltend.
G
erade bei den jungen, gut ausgebildeten Tunesierinnen und Tunesiern hat der arabische
Frühling viele Erwartungen geweckt, die bislang nicht eingelöst sind. Enttäuscht wurde insbesondere die Hoffnung auf Jobs und neue Perspektiven. Viele suchen nach wie vor ihr Glück in Europa.
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt laut Gewerkschaften
bei 31 Prozent. Unter den Hochschulabgängern beträgt die Arbeitslosenquote sogar 45 Prozent, zu den
350.000 Betroffenen kommen jedes Jahr 80.000 Diplomierte neu hinzu.
„Auch vier Jahre nach der Revolution verfügt Tunesien über keinen funktionierenden Plan zur Schaffung von Jobs“, kritisiert Salam Ayari, Generalsekretär
der 2010 gegründeten Union der Arbeitslosen mit
Diplomabschluss (Union des Chômeurs Diplomés,
UDC). Frustriert sind die jungen Akademiker auch
deshalb, weil ihre Generation maßgeblich zum Sturz
von Ben Ali beigetragen, sich ihre Lage aber abgesehen von der Meinungsfreiheit kaum verbessert hat.
„Wir haben zwar nun eine sogenannte partizipative
Demokratie, das heißt wir können unsere Vorschläge
einbringen, aber dann passiert trotzdem nichts“, bedauert Ayari. Die UDC fordert von der Regierung eine
nationale Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen
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26
schwerpunkt demokratie
Auch Terroranschläge
schwächen die junge Demo­
kratie: Präsident Beji Caid
Essebsi tritt nach dem Attentat
im Badeort Sousse Ende Juni vor
die Mikrofone der Journalisten.
Armine Landoulsi/Anadolu Agency/
Getty IMages
und die Bekämpfung der Korruption in Anstellungsverfahren.
Größter Arbeitgeber in Tunesien ist der Staat. Auf
die tausend neuen Stellen, die das Bildungsministerium jedes Jahr schafft, bewerben sich immer mehrere
zehntausend Kandidaten. Prekär ist die Lage auch im
Privatsektor: Wenn Unternehmen junge Arbeitslose
einstellen, übernimmt der Staat während eines Jahres einen Lohnanteil und gewährt Steuernachlässe.
Laut Ayari kommt es aber oft vor, dass die Unternehmen ihren Lohnanteil nicht auszahlen und den Angestellten nach einem Jahr durch einen neuen Arbeitslosen ersetzen, um vom staatlichen Förderprogramm zu profitieren. „So werden aber keine neuen
Stellen geschaffen.“
D
Theodora Peter
ist freie Journalistin in Bern und
Korrespondentin von welt-sichten.
ie Perspektivlosigkeit treibt zahlreiche junge
Männer radikalen Islamisten zu. Tunesier
stellen mit rund 3000 Personen das größte
Kontingent an ausländischen Dschihadisten auf den
Kriegsschauplätzen in Syrien und Irak. Mit ihrer guten Ausbildung sind sie gefragte Kader bei der Terrormiliz Islamischer Staat. Dass Tunesien selbst
nicht vor Terroranschlägen gefeit ist, haben das Attentat vom Frühling im Museum Bardo und der
jüngste Anschlag auf Touristen in Sousse gezeigt.
Auch der Abgeordnete Fathi Chamkhi von der linken Volksfront (Front populaire, FP) sieht sein Land in
einer Sackgasse. Wirtschaftlich hielten der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Europäische Union (EU) am alten „kolonialen System“ fest,
sagt er. Die Verschuldung Tunesiens und die damit
verknüpften Abhängigkeiten seien weiter gestiegen,
und das Defizit in der Handelsbilanz sei auf einem
historischen Höchststand. Weil die Eigenmittel des
Staats ständig sinken, schlägt Chamkhis Volksfront
eine Spezialsteuer auf das Vermögen der Reichen vor.
Auch solle der Staat als großer Grundstückbesitzer
100.000 Parzellen zu vernünftigen Preisen an Private verkaufen, um zu Geld zu kommen und gleichzeitig den Bausektor anzukurbeln.
„Es fehlt nicht an Ideen, aber uns läuft die Zeit davon“, seufzt Chamkhi. Seine Front populaire besetzt
nur 15 der 217 Sitze im Parlament und ist in der Regierung nicht vertreten. Es gebe Stimmen im Volk, die
sich angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Krise eine Rückkehr zu einem autoritären Regime
wünschten, stellt er besorgt fest. Zu Ben Alis Zeiten
lag das tunesische Wirtschaftswachstum bei fünf
Prozent, inzwischen ist es auf unter drei Prozent gesunken. Laut Weltbank müsste Tunesiens Wirtschaft
aber jährlich um sechs Prozent wachsen, um die Arbeitslosigkeit nur zu stabilisieren. 15 Prozent der rund
elf Millionen Tunesier leben in Armut.
Auch der Journalist und Jurist Lotfi Larguet sieht
in der wirtschaftlichen und sozialen Krise eine Gefahr für die junge Demokratie. Es sei beunruhigend
zu sehen, welche „ultraliberale“ Politik die Parteien
an der Macht betrieben. „Wie soll der Staat seine Aufgaben wahrnehmen, wenn man ihm die Mittel entzieht?“, fragt er. Dass es wie in Ägypten zu einem Militärputsch kommen könnte, schließt der Rechtsprofessor aber aus. Die Armeeführung habe 2011 eine
stabilisierende Rolle gespielt, betont Larguet, der als
Dozent auch an der Militärakademie unterrichtet. In
der Armee seien der „republikanische Geist“ und die
Ideologie der Neutralität besonders ausgeprägt.
„Man ist bereit, die Republik gegen alle zu verteidigen,
die sie infrage stellt“, sagt Larguet. Die Armeekasernen sind immer wieder Zielscheiben von islamistischen Anschlägen.
Bislang hält auch die Zivilgesellschaft Tunesiens
am demokratischen und säkularen Modell fest. Dafür
sorgen nicht zuletzt die Frauen, die laut Beobachtern
die Präsidenten-Stichwahl vom Dezember 2014 zugunsten des 88-jährigen säkularen Kandidaten Beji
Caid Essebsi entschieden haben.
Dies sieht auch Kalthoum Kennou so. Die Richterin hatte als Unabhängige und als einzige Frau bei
den Präsidentschaftswahlen kandidiert, mit 1,6 Prozent der Stimmen aber nur den elften Rang belegt.
Die Frauen hätten ihrer Kandidatur offenbar keine
Chance eingeräumt und taktisch gewählt, sagt Kennou. Trotzdem wertet sie den Versuch als Erfolg. Als
Kandidatin habe sie 15.000 Unterschriften gebraucht,
um zur Wahl antreten zu dürfen. „Ich wollte testen,
ob die Tunesier bereit sind, die Kandidatur einer
Frau zu unterstützen.“ Mit ihrer Kampagne habe sie
dazu beitragen wollen, die Tür für die Frauen ein
Stück weit aufzustoßen und die „psychologische Blockade“ gegenüber einer Frau als Staatsoberhaupt eines arabischen Landes aufzubrechen. Zudem habe
sie gegenüber dem Ausland bewiesen, „dass die Muslime nicht grundsätzlich gegen Frauen sind“.
Die Parteien hätten noch nicht begriffen, dass die
Frauen eine sichtbarere Präsenz brauchten, um
wahrgenommen und gewählt werden zu können,
sagt Kennou. Bei ihrer Reise durch die ärmeren Provinzen im Landesinneren habe sie aber vor allem eines festgestellt: „Die Menschen sehnen sich danach,
dass es mit dem Land aufwärts geht.“ Die Richterin ist
überzeugt, dass Tunesien die heikelste Phase hinter
sich hat. „Aber es bleibt noch viel zu tun.“
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
Verordnete Harmonie
Ruandas Regierung wird oft vorgeworfen, sie missachte die Grundregeln der Demokratie.
Doch diese Kritik geht fehl: Die Eliten haben eine Verständigung gefunden, die für das
Wohlergehen des Landes vorerst unverzichtbar ist.
Ruandas Präsident Paul
Kagame (zweiter von
rechts) erinnert Ende
März 2014 in Kigali an
den Völkermord an den
Tutsi vor 20 Jahren.
Hollandse Hoogte/laif
Von Frederick Golooba-Mutebi
R
uanda wird von Kritikern gerne leichtfertig als
Ein-Parteien-Staat abgetan. Die Regierungspartei, die Ruandische Patriotische Front (RPF), genieße ein Machtmonopol, heißt es. Andere Parteien
hätten keinen Platz, sich zu entfalten und zur politischen Entwicklung des Landes beizutragen. Doch
das verkennt wesentliche Merkmale des politischen
Systems, das nach dem Völkermord 1994 in Ruanda
entstanden ist. Es macht die ruandische Politik dem
Wesen nach demokratisch – wenn auch nicht im üblichen Sinn, wonach Demokratie gleichbedeutend ist
mit dem Gegensatz und dem Wettbewerb zwischen
mehreren Parteien.
Nach dem Bürgerkrieg und dem Genozid an den
Tutsi übernahm die RPF die Macht und begann, eine
| 8-2015
Regierung der nationalen Einheit aufzubauen. Sie
führte Gespräche mit allen Parteien, die vor dem Genozid an den gescheiterten Friedensverhandlungen
in Arusha im Norden Tansanias beteiligt gewesen
waren – aber nicht mit denen, die ideologisch oder
aktiv zum Völkermord beigetragen hatten. Die frühere Regierungspartei „Nationale Revolutionäre Bewegung für Entwicklung“ war damit ausgeschlossen.
Ohne Zweifel wurde nicht auf Augenhöhe verhandelt. Die RPF hatte mehr Personal, Geld und militärische Macht, als alle potenziellen politischen Partner oder Gegner aufbringen konnten. Sie war die
treibende Kraft und gab die Diskussionsrichtung vor.
Ihr Ziel war, ein neues Ruanda aufzubauen, in dem
institutionalisierte Diskriminierung und Ausgren-
27
28
schwerpunkt demokratie
Die Regierung will Kigali zur
IT-Metropole machen: Kinder
lernen in Ruanda im Rahmen der
„One Laptop per Child“-Initiative
in der S
­ chule, mit dem Computer
­umzugehen.
Sven Torfinn/laif
zung keinen Platz mehr haben sollten. Nach dem militärischen Sieg über die frühere Regierung hatte die
RPF zwei Möglichkeiten: einen Alleingang machen
oder eine Regierung bilden, die die frühere Opposition mit einschloss. Die RPF wählte den zweiten Weg
und nahm weitere vier Parteien mit an Bord. Das
markierte den Anfang dessen, was sich bis heute als
Ausrichtung auf Konsens fortsetzt.
Das Streben nach Konsens tragen alle Parteien
mit. Sie sind sich weitgehend einig, zu kooperieren,
statt dass wie früher der Gewinner allein die Macht
erhält und im Wettbewerb die Opposition zur Regierung auf Konfrontation geht. Das Ergebnis ist eine
Regierung, in der potenziell rivalisierende Parteien
auf unkonventionelle Art Hand in Hand arbeiten für
das gemeinsame Interesse, ein neues Ruanda aufzubauen. Zwar ist das neue Arrangement keineswegs
perfekt. Das zeigt sich etwa daran, dass frühere Minister und Regierungsbeamte, die nicht der RPF angehören, ins Exil geflohen sind. Trotzdem ist es eine
enorme Verbesserung gegenüber den Regierungen
aus der Zeit vor 1994, die etwa die Minderheit systematisch ausgeschlossen haben.
In der Praxis äußert sich die Option für Inklusion
auf unterschiedliche Weise. In den vergangenen 20
Jahren ist die Zahl der politischen Parteien von fünf
auf elf gestiegen – zugegeben, das ist langsamer als in
anderen Teilen der Region, weil neue Parteien in Ruanda strenge Auflagen erfüllen müssen, darunter
eine Mindestzahl von Unterschriften für die Satzung.
Von den elf registrierten Parteien sind acht im Parlament und in der Regierung vertreten. Die Verfassung
von 2003, die das Ergebnis landesweiter Beratungen
und einer Übereinkunft innerhalb der Elite war, verpflichtet die Parteien, die Macht zu teilen. Keine von
ihnen darf mehr als die Hälfte der Ministerposten
besetzen, egal wie überlegen sie den anderen ist.
V
on den acht Parteien, die gegenwärtig an der
Regierung beteiligt sind, gehören fünf zur
Sechs-Parteien-Koalition unter Führung der
RPF. Zwei operieren unter eigener Flagge und stellen
dennoch einige der wichtigsten Minister Ruandas, darunter den Premierminister Anastase Murekezi von
der Sozialdemokratischen Partei (PSD). Minister, die
nicht der RPF angehören, genießen ebenso viel Autorität und Handlungsspielraum wie ihre Kollegen.
Die Inklusion beschränkt sich aber nicht auf die
Vertretung im Parlament oder im Kabinett. Damit
auch Parteien, die keine Abgeordneten stellen, an der
politischen Entwicklung des Landes mitwirken können, hat Ruanda das in der Verfassung verankerte,
staatlich finanzierte Nationale Forum der Politischen
Organisationen (NFPO) geschaffen. Früher waren alle
Parteien gesetzlich zur Mitgliedschaft verpflichtet.
Nach einer Gesetzesänderung haben sie jetzt die
Möglichkeit, aus dem Forum auszusteigen.
Doch bisher hat das keine Partei genutzt. Zu attraktiv sind die Chance, sich mit den anderen Parteien für nationale Interessen einzusetzen, sowie das
Angebot, finanziell unterstützt zu werden und sich so
auf eine breitere Basis zu stellen. Das begünstigt insbesondere kleine Parteien. Jede der elf Parteien ist
mit vier Mitgliedern im NFPO vertreten, jeweils zwei
von ihnen sind Frauen. In dem Forum werden wichtige nationale Fragen diskutiert, bevor Entscheidungen getroffen werden. Dies geschieht wiederum im
Geiste der Konsenssuche.
Die Politik in Ruanda beruht heute also auf einer
Reihe von Grundsätzen, die zusammen ein „Abkommen innerhalb der Elite“ darstellen. Dazu gehört die
Selbstverpflichtung der großen politischen Parteien,
Macht und Verantwortung zu teilen. Ausgeschlossen
sind Parteien, die eine Übereinkunft ablehnen und
sie mit auf Gegnerschaft angelegten Auseinandersetzungen gefährden. Der Konsens der beteiligten Parteien umfasst unter anderem Folgendes: Sie sind
strikt gegen das ethnische Sektierertum früherer Regierungen. Der Hauptweg zu nationaler Versöhnung
und langfristiger politischer Stabilität ist für sie, Entwicklung zu fördern – nicht notwendigerweise, mit
Regierungsgegnern unabhängig von deren Überzeugung zu verhandeln. Sie suchen eine Alternative zu
dem in Afrika weit verbreiteten Muster, mit Hilfe von
Klientelgruppen und persönlichen Gefolgsleuten
Macht zu gewinnen. Dies führt bei Wahlen zu gewaltsamem Wettstreit und es werden dann eher Stimmen gekauft als Mehrheiten für politische Ideen, Programme und Strategien gesucht.
In Ruanda haben untereinander rivalisierende
Eliten beschlossen, Politik nicht mehr, wie vor dem
Genozid, als Austragung von Gegensätzen zu sehen.
Sie haben dieses Muster aufgegeben zugunsten eines auf Konsens gerichteten Systems, das der in den
Verträgen von Arusha vereinbarten Formel folgt.
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
GNE_70x80_Layout 1 13.05.2015 12:21 Seite 1
Dies ist die entscheidende politische Verständigung,
die ein stabiles Umfeld geschaffen und es der Regierung erlaubt hat, eine gemeinsame Vision der Elite
für den Aufbau des Landes auszuarbeiten. In diesem
neuen Ruanda sollen kein Individuum und keine
Gruppe aufgrund ethnischer, sozialer oder regionaler Herkunft ausgeschlossen werden. Der Kern der
Vereinbarung ist, dass institutionalisierte Ausgrenzung nie wieder akzeptiert werden soll.
M
anches spricht dafür, dass diese Absprachen trotz ihrer Schwächen und Mängel
noch immer notwendig sind. Erstens müssen zwanzig Jahre nach dem Genozid die Wunden in
der Gesellschaft noch immer heilen. Das ist nur in
einem Umfeld der fortgesetzten Konsenssuche
möglich, gestützt auf politische Stabilität. Zweitens
wurde die Führungsriege dank des politischen Arrangements nicht von Streit in der Elite abgelenkt
und konnte so einen ehrgeizigen Plan verfolgen: das
Land umzubauen und Wohlstand zu schaffen. Konventionelle Demokratien mit Wettstreit der Parteien,
die für einen Großteil der politischen Unruhe in der
Region der Großen Seen und anderswo verantwortlich sind, können es erheblich erschweren, solche
Ziele zu erreichen.
Ruandas Führung sucht eine Alternative
zu dem in Afrika verbreiteten Muster, mit Hilfe
von Klientelgruppen um die Macht zu rangeln.
Frederick Golooba-Mutebi
ist Wissenschaftler und Journalist.
Er lebt in Uganda und Ruanda und
schreibt politische Analysen zu dieser
Region.
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Ein genauer Blick auf die Ziele hilft, den Zusammenhang zu verstehen. Ruandas Strategie für wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung
(Economic Development and Poverty Reduction
Strategy, EDPRS) ist Teil der übergeordneten „Vision
2020“ und bereits in der zweiten Phase der Umsetzung. Der ehrgeizige Plan zeigt, was die Führungsriege anstrebt: Seit dem Startschuss der EDPRS 2008 ist
sie entschlossen, Ruanda zu einem Land mittleren
Einkommens zu machen und die Lebensqualität aller Ruander zu verbessern.
Die EDPRS hat vier Schwerpunkte: Rechenschaftspflicht, ökonomischer Wandel, Produktivität und Jugendbeschäftigung sowie ländliche Entwicklung. Zu
ihren Kernpunkten zählt, den Beitrag des Privatsektors zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) anzuheben und
ein durchschnittliches Wachstum von 11,5 Prozent
jährlich zu erreichen. Das BIP pro Kopf soll von 2012
bis 2020 fast verdoppelt, die Zahl der in extremer Armut lebenden Ruander knapp halbiert werden. Pro
Jahr sollen mehr als 200.000 neue Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft geschaffen werden.
Um all das zu erreichen und den Nutzen über
das Land zu verteilen, sollen fünf Städte abseits der
Hauptstadt zu „Wachstumspolen“ für ihre Region
werden. Verstärkte Investitionen sollen für die Einwohner Arbeitsplätze schaffen und die Abwanderung in die Großstädte aufhalten. Die „gezielte Urba-
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Weiterbildungsprogramm:
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Fokus: Development Cooperation & Humanitarian Aid
Zeitraum 31. August 2015 bis 01. April 2016
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nisierung“ soll das Wachstum der Städte koppeln an
das spezieller Wirtschaftssektoren, in denen die jeweilige Region Konkurrenzvorteile hat. Für Bukavu
im Nordwesten ist das zum Beispiel Tourismus und
in Nyagatare im Osten kommerzielle Landwirtschaft.
Die Regierung sieht ihre Rolle darin, die notwendige
Infrastruktur bereitzustellen und das Investitionsklima zu fördern.
Ruanda ist arm an natürlichen, finanziellen und
personellen Ressourcen. Die Fortschritte, die das
Land seit dem Regierungswechsel 1994 gemacht hat,
zeigen wie die Erfahrungen in ähnlich ressourcenarmen Staaten, die zu Ländern mit mittlerem Einkommen aufgestiegen sind: Erfolgreiche Entwicklung ist
nicht einfach eine Frage der Ressourcen. Die Politik
spielt eine entscheidende Rolle. Indonesien, Malaysia, Thailand und Vietnam belegen, dass politische
Stabilität und eine Führung, die ihre Ziele entschieden und unbeirrbar verfolgt, wichtiger sind als Ressourcen. Wie wichtig, zeigt sich an der ersten Phase
der nationalen Strategie zur Armutsbekämpfung in
Ruanda. In den Anfangstagen tat mancher skeptische Beobachter diesen Plan als zu ehrgeizig und unerreichbar ab. Doch fünf Jahre nach Beginn hat die
Regierung 90 Prozent ihrer Ziele erreicht.
Ob es Ruanda gelingt, seine Entwicklungsziele
und damit dauerhafte Stabilität zu erreichen, hängt
entscheidend davon ab, ob es den eingeschlagenen
Weg weitergeht. Er ist das Ergebnis einer 20 Jahre andauernden Konsensbildung. Von Gegnerschaft geprägter politischer Streit würde ein hohes Risiko für
politische Stabilität und wirtschaftlichen Wandel
darstellen. Für die Stabilität Ruandas ist entscheidend, ob es der Regierung gelingt, den Lebensstandard zu heben. Dazu ist es im Gegenzug nötig, dass
das Land stabil bleibt. Und das hängt von politischer
Stabilität ab, die wiederum wahrscheinlich ein Nebenprodukt der aktuellen Konsenspolitik ist.
Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.
29
30
schwerpunkt demokratie
Das Volk soll herrschen –
doch nicht so!
Die USA haben in Bolivien die Demokratisierung unterstützt.
Das hat den Aufstieg des heutigen Präsidenten Evo Morales
begünstigt – und dessen vom Volk getragene Politik mag
Washington gar nicht gefallen.
Von John Crabtree
U
m bedeutende Ankündigungen zu machen,
wählt Evo Morales, der linke Präsident Boliviens, oft den Tag der Arbeit am 1. Mai. Im Jahr
2013 gab er an diesem Tag in seiner Rede an die Nation die Ausweisung von USAID aus Bolivien bekannt.
Nach seinen Worten hatte die Entwicklungshilfebehörde der amerikanischen Regierung, die seit 1964
Programme in Bolivien umsetzte, sich einer „konspirativen Politik“ schuldig gemacht, die mit normalen
Regeln der internationalen Zusammenarbeit nicht
vereinbar seien.
USAID dementierte die, wie sie es nannte, „haltlosen Vorwürfe“. Die Entwicklungsagentur behauptete,
ihre Arbeit sei darauf gerichtet, den Lebensstandard
der Armen in Bolivien zu heben. Schon 2008 hatte
Morales die Ausweisung des US-Botschafters Philip
Goldberg angeordnet, weil der – so der Vorwurf - regierungsfeindliche Bewegungen in Santa Cruz im Osten Boliviens gefördert habe. 2009 musste auch die
amerikanische Drogenbekämpfungsbehörde (Drug
Enforcement Administration, DEA) das Land verlassen. Im Gegenzug wies Washington den bolivianischen Botschafter aus und entzog Bolivien die Handelspräferenzen, die Koka produzierende Andenländer erhielten, um dort legale Einkommensmöglichkeiten zu fördern.
Seit den 1980er Jahren hatte USAID eine bedeutende Rolle im von den USA angeführten „Drogenkrieg“ in Bolivien gespielt, vor allem in der Provinz
Chapare im Departement Cochabamba. Hier trat Evo
Morales zuerst in Erscheinung: als Gewerkschaftschef und politischer Führer der Kokabauern (cocaleros) in dem Gebiet. Damit befanden er und USAID
sich lange Zeit in entgegengesetzten Lagern. Als Morales vor der Präsidentschaftswahl 2002 (in der er nur
knapp unterlag) zu einer nationalen politischen Größe aufstieg, drohte der damalige US-Botschafter mit
dem Ende sämtlicher Hilfszahlungen, falls die Bolivianer es wagen sollten, für Morales zu stimmen.
Die Rolle von USAID in Bolivien ist von Linken
lange kritisiert worden. Paradoxerweise dürfte ihre
Unterstützung für Demokratiebestrebungen in den
1990er Jahren zusammen mit der Förderung für soziale Reformen dazu beigetragen haben, jenen politischen Freiraum zu öffnen, in dem Evo Morales zum
nationalen Führer werden und die Rolle der US-Behörde bei der Kokavernichtung angreifen konnte. So
lief die Drogenvernichtungspolitik am Ende den
amerikanischen Interessen in Bolivien zuwider.
Denn sie trug dazu bei, der Wahl einer Regierung den
Weg zu ebnen, die schon das Konzept der Vernichtung ablehnte.
Bis zum Ende des bolivianischen Militärregimes
wollte das US-Außenministerium vor allem die Ausbreitung des „Kommunismus“ in Bolivien verhindern. Als 1982 eine zivile Regierung an die Macht
kam, verschoben sich die Prioritäten: Jetzt sollten vor
allem das Problem der Armut angepackt und die demokratische Regierungsform gefestigt werden. Darüber hinaus waren die USA zunehmend besorgt wegen
des Anbaus, der Verarbeitung und des Vertriebs von
Drogen. Die Militärregierungen hatten Bolivien zwischen 1980 und 1982 im Bündnis mit örtlichen Drogenmafias regiert, und genau zu der Zeit wuchs der
Kokaanbau infolge der rasch steigenden Nachfrage
nach Kokain in den USA und anderen Industrieländern stark.
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
B
is in die 1990er Jahre finanzierte USAID im
Chapare, dem Zentrum des illegalen Anbaus
für Kokain, in erster Linie Alternativen zum
Koka-Anbau. Aufgrund der Gewinne aus dem Anbau
dieser Pflanze zog die von Tropenwald geprägte Provinz Zuwanderer aus allen Teilen Boliviens an – zwischen 1967 und 1987 wuchs die Bevölkerung dort um
das Zehnfache. Versuche, alternative Anbaupflanzen
zum Koka zu fördern, waren allerdings nie sonderlich erfolgreich. Deshalb unterstützte USAID die
zwangsweise Vernichtung von Koka im Chapare, die
Präsident Hugo Banzer Suárez, ein enger Verbündeter der USA, in seiner Amtszeit von 1997 bis 2001 mit
großem Eifer betrieb. Zwischen 1998 und 2002 gab
USAID für alternative Entwicklung in Drogen produzierenden Regionen 750 Millionen US-Dollar aus, eines ihrer größten Programme in Lateinamerika.
Damals begann USAID auch, die Demokratisierung in Bolivien zu fördern. Gleichzeitig unterstützte
sie Regierungen, die wegen ihrer wirtschaftsfreundlichen Politik und der Beschränkung der Macht von
linksgerichteten Gewerkschaften als enge Verbündete der USA galten. Solche Programme begannen in
der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, erreichten aber
unter Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada (1993-97)
ihren Höhepunkt. Mit dem 1993 vorgestellten „Plan
de Todos“ (Plan für alle) wollte Sánchez des Lozada
institutionelle Reformen auf den Weg bringen, die
Boliviens
Präsident Evo
Morales (oben
rechts) hat den
Koka-Anbau in
Grenzen erlaubt.
Er hat damit die
Drogenvernichtungspolitik der
USA in seinem
Land ­beendet
– rechts die Zerstörung eines
Kokafeldes im
Chapare 1998.
Reuters (2)
| 8-2015
das Fundament für liberale Wirtschaftsreformen bilden sollten.
USAID unterstützte zusammen mit multilateralen Institutionen wie der Weltbank damals verschiedene Dezentralisierungsinitiativen, allen voran den
Plan für Volksbeteiligung (Popular Participation, PP).
Mit diesem Plan wollte Sanchéz de Lozada die Lokalverwaltung ausbauen. In ganz Bolivien sollten Gemeindeverwaltungen geschaffen und lokale Strukturen eingeführt werden, mit deren Hilfe zivilgesellschaftliche Organisationen eine Aufsichtsfunktion
übernehmen sollten. Die US-Behörde wollte unter
anderem die Schulungsmöglichkeiten für lokale Beamte verbessern und Mechanismen zur Korruptionsvermeidung aufbauen. Auch eine Verfassungsreform
sowie Bildungs- und Landbesitzreformen gehen auf
Sánchez de Lozada zurück.
Inwieweit diese Reformen zu den politischen Unruhen beigetragen haben, die das Land zu Beginn des
neuen Jahrtausends erschütterten, ist umstritten. Popular Participation öffnete neue Räume und Ressourcen für lokale Politik, die für die Zentralregierung
immer weniger kontrollierbar war. Das wurde nirgends deutlicher als im Chapare, wo sich die Gewerkschaft der cocaleros geschickt eine Wählerbasis aufbaute und die Partei Movimiento al Socialismo (MAS)
gründete, die schließlich Morales an die Macht
brachte. Zudem bestärkten die Bildungs- und Landre-
31
32
schwerpunkt demokratie
formen die Forderungen nach Rechten für die Indigenen, was wenige Jahre später die Anziehungskraft der
MAS stärken sollte. Unbeabsichtigt unterstützte
USAID somit Programme, die am Ende die Entwicklung der MAS förderten.
Einen Beitrag zur Stabilisierung der bolivianischen Wirtschaft und Politik leisteten USAID und andere multilaterale wie bilaterale Geber in den Neunzigerjahren im Rahmen der Initiative zur Entschuldung Hochverschuldeter armer Länder (Heavily Indebted Poor Countries, HIPC); darunter erhielt
Bolivien großzügige Schuldenerleichterungen. Unmittelbar vor den Wahlen 2005 profitierte Bolivien
von einem Erlass von Schulden gegenüber der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Das
sollte, wie sich herausstellte, es der MAS wesentlich
leichter machen, den politischen Einfluss der Geber
von Entwicklungshilfe zurückzudrängen.
Allerdings beruhte der Aufstieg der MAS auch auf
anderen Triebkräften zu Beginn des neuen Jahrtausends. Er war Ausdruck von wachsendem Unmut in
der Bevölkerung gegenüber einer von Eliten gesteuerten Demokratie, in der zwar Wahlen stattfanden,
aber keine politischen Alternativen geboten wurden.
Außerdem erwiesen sich die mit dem „Plan für alle“
verbundenen Versprechen – vor allem dass die Liberalisierung der Wirtschaft Arbeitsplätze schaffen
würde – zunehmend als Illusion. Ende der Neunzigerjahre erlebte Bolivien zudem einen Konjunktureinbruch, der die wirtschaftliche Lage noch verschlechterte. Die große Unterstützung für die MAS bei den
Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 zeigte das Ausmaß des Protests gegen den Status quo und machte
die MAS zur wichtigsten Oppositionspartei.
Der Kampf gegen die von den USA
unterstützte Kokavernichtung wurde zum
Symbol für die Souveränität Boliviens.
In dem erdrutschartigen Sieg von Evo Morales
2005 zeigte sich, dass die neoliberalen Reformen daran gescheitert waren, Gruppen jenseits des politischen Establishments zu befrieden. Deren Widerstand äußerte sich immer schärfer in Protestbewegungen, die in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends die politische Landschaft erschütterten. Das
begann mit dem sogenannten Wasserkrieg in Cochabamba 1999, als soziale Bewegungen gegen Pläne mobil machten, die Wasser- und Abwasserversorgung in
Boliviens drittgrößter Stadt zu privatisieren. Eine
Vielzahl anderer Protestbewegungen der bis dato Ausgeschlossenen zog nach: Gruppen von Indigenen im
Hoch- und Tiefland, Rentner, landlose Bauern, im Osten gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und natürlich die cocaleros, deren Haupterwerbsquellen durch
die Zwangsvernichtung von Koka zerstört wurden.
Der MAS gelang es, diese verschiedenen sozialen
Bewegungen als vereinte Wählerschaft zusammen zu
bringen. Eine der stärksten einigenden Kräfte war der
Nationalismus: Das Land sollte nicht länger von den
Vereinigten Staaten, dem IWF, der Weltbank und der
Gebergemeinschaft bevormundet werden. Der
Kampf gegen die von den USA unterstützte Kokavernichtung im Chapare wurde zu einem Symbol für das
Bestreben, der Souveränität Boliviens Geltung zu verschaffen.
W
egen ihrer Rolle im Chapare geriet USAID
neben der DEA zwangsläufig in die Schusslinie der neuen Regierung. Und indem sie
ein enges Bündnis mit Kuba und Venezuela schmiedete, richtete die MAS von Anfang an ihre Attacken
gegen den amerikanischen „Imperialismus“, nicht
nur in Bolivien, sondern in ganz Lateinamerika.
Nach seinem Amtsantritt im Januar 2006 nahmen Morales und die MAS Reformen in Angriff – insbesondere die Renationalisierung ehemals staatlicher Unternehmen, die unter Sánchez de Lozada in
den 1990ern teilprivatisiert worden waren, und die
Reform der Verfassung. Beides bedeutete nicht unbedingt einen Konfrontationskurs mit Washington.
Zum einen war die amerikanische Investitionstätigkeit in Bolivien verhältnismäßig gering, zum anderen ist eine Verfassungsreform im Wesentlichen eine
innenpolitische Angelegenheit. Erst der Verdacht,
dass die US-Botschaft in die gewaltsamen Unruhen
verwickelt war, die sich im September 2008 in Santa
Cruz und anderen östlichen Departements an der
Forderung nach radikaler Autonomie von La Paz entzündeten, veranlasste die Regierung Morales, den
US-Botschafter auszuweisen.
Morales gab die repressiven Aspekte der von den
USA unterstützten Kokavernichtungspolitik auf und
regulierte die Kokaproduktion: Bauern durften nun
eine festgelegte Anbaufläche mit Koka bepflanzen,
aber nicht mehr. Zusammen mit dem traditionelleren Ansatz, Bauern zur Erzeugung alternativer landwirtschaftlicher Produkte zu bewegen, erwies sich
diese Politik als erfolgreich. Zahlen des UN-Büros für
Drogen- und Verbrechensbekämpfung in Wien zeigen, dass die Anbauflächen von 28.900 Hektar im
Jahr 2007 auf 23.100 Hektar 2013 geschrumpft sind.
Der wirtschaftspolitische Spielraum der Regierung Morales wurde enorm begünstigt vom Rück-
Ein Bauer
übermalt 2008
das Schild der
US-Hilfsagentur
USAID in
Cocha­bamba.
USAID muss
nach ­einem
Votum der
Bevölkerung die
Provinz ­Chapare
verlassen.
afp/getty Images
8-2015 |
demokratie schwerpunkt
gang der äußeren Verschuldung dank der Schuldenerlasse in der Zeit vor ihrem Amtsantritt, kombiniert
mit dem großen Einkommenszuwachs aus Erdgasverkäufen an Brasilien und Argentinien. Die verbesserte
Zahlungsbilanz und der solide Regierungshaushalt
machten Bolivien von ausländischen Geldgebern, insbesondere dem IWF und der Weltbank, unabhängig.
Zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie im
Jahr 1982 besaß eine Regierung die Freiheit, ihre wirtschaftspolitischen Strategien und Ziele selbst zu bestimmen. Der 2006 verabschiedete Fünfjahresplan
löste sich von den politischen Bedingungen, die früheren Regierungen auferlegt worden waren: Morales
konnte den Kurs der Privatisierungen und Kürzungen
des Staatshaushalts aus den 1990ern umkehren.
Seine Wiederwahl im Jahr 2009 mit 64 Prozent
der Stimmen und seine erneute Wiederwahl 2014 mit
61 Prozent zeigen, dass die Regierungspolitik insgesamt relativ erfolgreich war. Und sie bestätigen die
Wahrnehmung unter bolivianischen Wählern, dass
das Land seit 2006 für seine eigenen Interessen und
nicht mehr für die der USA oder der internationalen
Bankengemeinschaft eingetreten ist. Für ein Land,
das seit seiner Unabhängigkeit als politisch instabil
galt, ist das eine beachtliche Leistung. Man kann sagen, dass der Versuch von USAID, in den 1990er Jahren die Demokratie zu fördern, auf sie selbst zurückgefallen ist: Am Ende ist sie wohl Opfer ihres eigenen
Erfolgs geworden.
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.
John Crabtree
ist Politikwissenschaftler am Saint
Antony’s College in Oxford und am
Lateinamerika-Zentrum der Universität
Oxford. Er hat zahlreiche Studien zur
Politik in den Andenländern veröffentlicht, insbesondere zu Peru und
Bolivien.
bücher zum Thema
Danielle Resnick,
Nicolas van de Walle (Hg.)
Democratic Trajectories in Africa
Unravelling the Impact of Foreign Aid
UNU-WIDER Studies in Development
Economics, Oxford University Press,
Oxford 2013, 310 Seiten, ca. 83 Euro
Dieser Sammelband fragt, ob
man in Afrika südlich der Sahara
mit Entwicklungshilfe Demokratisierungsprozesse unterstützen
kann. Auf die Region entfällt die
meiste „Demokratisierungshilfe“,
mit der traditionelle westliche
Geber seit den 1990er Jahren speziell den Aufbau demokratischer
Regierungsformen fördern.
In dem Band wird aber betont,
dass sich auch „normale“ Wirtschaftshilfe auf die politische Szene im Partnerland auswirkt. Um
festzustellen, ob die Demokratie
begünstigt wird, dürfe man beides nicht in einen Topf werfen.
Außerdem müsse man die Folgen
für den Übergang zur Demokratie
unterscheiden von den Wirkungen auf ihre anschließende Festi-
| 8-2015
gung. Und es kommt auch darauf
an, in welcher Form Hilfe vergeben wird – ob sie etwa als Budgethilfe direkt in den Staatshaushalt
fließt.
Die Herausgeber setzen deshalb auf Fallstudien von sieben
afrikanischen Ländern, in denen
die Regierung frei gewählt wird.
Hier erweist sich die Demokratisierungshilfe vor allem bei der
Festigung und Vertiefung der
Demokratie als wirksam – etwa
wenn Medien, die Justiz und die
Zivilgesellschaft gefördert werden.
Sie sei aber oft wenig unter den
Gebern koordiniert und vernachlässige Parteien und Parlamente. Allgemeine Wirtschaftshilfe
wiederum verschaffe den Gebern
ein wichtiges Druckmittel gegen
Rückschritte bei der Demokratie:
Sie könnten mit Entzug der Hilfe
drohen. Das, so der Befund, tun
sie aber vor allem bei Korruption
und wenn Wahlen manipuliert
werden – kaum bei Verstößen gegen Menschenrechte und politische Freiheitsrechte. Budgethilfe
könne zudem die Rolle der Parlamente schwächen und in Ländern,
in denen ständig dieselbe Partei
Wahlen gewinnt, die Elite und die
herrschende Partei stärken. Die
Ziele, Wirtschaftshilfe effizienter
zu gestalten und sie für die Demokratie förderlich zu machen, können also in Konflikt geraten.
Die Autoren mahnen zu Recht,
genau hinzusehen. Das allerdings
wird dem Leser nicht leicht ge-
macht. Etwas weniger akademisches und statistisches Brimborium hätte es auch getan. (bl)
Jonas Wolff, Hans-Joachim Spanger,
Hans-Jürgen Puhle (Hg.)
Zwischen Normen und Interessen
Demokratieförderung als internationale Politik
Nomos Verlag, Baden-Baden 2012,
345 Seiten, 59 Euro
Dieser Band schaut auf Kalküle
der Geber: Wie und unter welchen Bedingungen versuchen
Industrie­länder, anderswo demokratische Regierungsformen zu
fördern? Im Zentrum stehen die
deutsche und die US-amerikanische Politik gegenüber Russland,
Weißrussland , Pakistan, Türkei
sowie Bolivien und Ecuador.
Ein Leitmotiv ist der Umgang
mit Zielkonflikten. Zum einen, betonen die Autoren, bergen Demokratisierungsprozesse oft die Gefahr, dass Gewalt ausbricht, die
Regierung gelähmt wird oder die
Mehrheit sich gegen Minderheiten wendet. Mit Demokratie verbundene Teilziele geraten somit
in Konflikt und stellen die Geber
vor die Wahl, zum Beispiel Wahlen oder der Gewaltverhütung
Vorrang zu geben. Zum anderen
steht ihre Demokratiehilfe oft im
Konflikt mit anderen außen- oder
wirtschaftspolitischen Interessen.
Daneben spielt das Machtverhältnis zwischen Geber- und Nehmerland eine wichtige Rolle. Aber
auch Normen und die eigene politische Kultur wirken sich aus.
Die Fallstudien gehen dem
komplizierten Wechselspiel dieser
Faktoren im Geberland, im Nehmerland und international nach.
Sie zeigen: Umfassende Demokratieförderung betreiben Deutschland wie die USA am ehesten gegenüber schwächeren Staaten, in
denen sie kaum sicherheits- und
wirtschaftspolitische Interessen
haben. Haben sie solche Interessen, dann setzen die sich in der
Regel durch, ohne den Einsatz
für Demokratie ganz auszuschalten. Und die Hemmungen, gegen
missliebige demokratische Regierungen vorzugehen, sind wesentlich größer als die, mit nützlichen
Autokraten zu kooperieren.
Dass die Studien bewusst unterschiedliche theoretische Ansätze benutzen, ist eine ihrer Stärken.
Eine Schwäche ist, dass Beispiele
aus Afrika fehlen – gerade weil
dort das Machtgefälle zu den Gebern groß ist. (bl)
33
34
welt-blicke xxx
Vorreiter: Afrikas größte Windfarm
steht in der äthiopischen Region
Tigray. Sie liefert seit Oktober 2013
Strom.
Kumerra Gemechu/Reuters
Siegeszug von Wind und Sonne
Der Anteil der Erneuerbaren an der weltweiten Stromerzeugung wächst
viel schneller als erwartet. Der Abschied von den fossilen Energieträgern
ist nicht mehr aufzuhalten.
Von Michael T. Klare
N
och ist es nicht sicher – doch das Jahr 2015
könnte für künftige Historiker einmal den
Wendepunkt markieren, nach dem die erneuerbaren Energien nicht mehr aufzuhalten waren
und die Welt sich aus der Abhängigkeit von fossilen
Brennstoffen zu befreien begann. Zwar werden Kohle, Öl und Erdgas den Energiemarkt noch jahrelang
beherrschen und die Erdatmosphäre durch den Ausstoß von Milliarden Tonnen Kohlendioxid weiter
aufheizen. Doch zum ersten Mal verschiebt sich das
Gleichgewicht zugunsten von Sonne, Wind und Biogas. Das wird die Weltwirtschaft verändern, so wie in
vorangegangenen Jahrhunderten, in denen Holz von
Kohle und Kohle von Öl als wichtigste Energieträger
abgelöst wurden.
Das Wirtschaftswachstum stützte sich natürlich
weltweit lange Zeit auf das ständig wachsende Angebot an fossilen Brennstoffen, in erster Linie Erdöl.
Angefangen mit den USA verschafften sich alle Länder, die die Techniken der Erdölförderung und Verarbeitung beherrschten, einen gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Vorsprung. Länder mit großen
Ölvorkommen wie Kuwait und Saudi-Arabien wurden sagenhaft reich. Konzerne, die dem Erdöl zum
Durchbruch verhalfen, sammelten ein immenses
Vermögen an und wurden sehr mächtig. Ölstaaten
und Energiekonzerne träumen deshalb gerne weiter
von einer Zukunft, in der sie eine bestimmende Rolle
spielen.
Doch ein erstaunlicher Anstieg bei der Installation von Windkraftanlagen und Sonnenkollektoren
legt die Vermutung nahe, dass die Vorherrschaft des
8-2015 |
energie welt-blicke
Erdöls nicht so dauerhaft sein wird wie gedacht. „Die
rasche Ausbreitung der Solartechnik könnte alles
verändern“, schrieb der Energieexperte Nick Butler
kürzlich in der „Financial Times“. „Es mehren sich die
Hinweise, dass uns eine tiefgreifende Wende bevor-
Äthiopien: Vorbildlich beim Klimaschutz
Äthiopien hat Anfang Juni als erstes der
am wenigsten entwickelten Länder seinen nationalen Klimaschutzplan beim
Klimasekretariat der Vereinten Nationen eingereicht – und nennt darin ehrgeizige Ziele: Bis 2030 will das ostafrikanische Land, das für 0,3 Prozent des weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen
verantwortlich ist, seine KohlendioxidEmissionen gegenüber 2010 um zwei
Drittel verringern. Erreicht werden soll
das unter anderem durch den Ausbau
erneuerbarer Energiequellen wie Sonne,
Wind und vor allem Wasserkraft sowie
mehr Energieeffizienz etwa bei Küchenherden.
Zur Deckung des Energiebedarfs errichtet beziehungsweise plant die äthiopische Regierung eine Reihe von Staudämmen am Blauen Nil. Dazu zählt der
„Große
Äthiopische
RenaissanceDamm“, über den nach jahrelangem
Streit im März mit den Nachbarstaaten
eine Einigung erzielt worden ist. Wenn er
2017 fertiggestellt ist, soll er 6000 Megawatt Strom erzeugen.
Die Regierung setzt zudem auf moderne und effiziente Technologien beim
Transportwesen, in der Industrie und im
Baugewerbe. Auf dem Weg zu einem
Land mit mittlerem Einkommen strebt
sie eine kohlenstoffneutrale Wirtschaft
an. Insgesamt braucht sie für ihre Pläne
150 Milliarden US-Dollar – ohne internationale Hilfe kann sie diesen Betrag
nicht aufbringen. Entwicklungsexperten loben die ambitionierten Ziele als
vorbildlich, sprechen aber auch von
„großen Herausforderungen“. Denn
mehr als drei Viertel der knapp 97 Millionen Äthiopier haben bislang keinen
Zugang zu Strom und nutzen vor allem
Holz zum Kochen und zum Heizen.
(gka)
steht, die Investitionen in die alten Energiesysteme
zunehmend fragwürdig erscheinen lassen.“ In der
Regel nimmt der Übergang von einem Energiesystem zu einem anderen mehrere Jahrzehnte in An-
Ölstaaten und Energiekonzerne träumen
gerne weiter von einer Zukunft, in der sie eine
beherrschende Rolle spielen.
spruch. Laut Vaclav Smil von der Universität Manitoba dauerte der Umstieg von Holz auf Kohle und von
Kohle auf Öl jeweils 50 Jahre. Ebenso lange werde die
Umstellung auf erneuerbare Energien dauern. „Dass
es mit der Energiewende nur schleppend vorangeht,
ist nicht verwunderlich“, schrieb er im Scientific
American, „das war zu erwarten.“
Doch dabei setzt Smil zwei Dinge voraus: Er
nimmt an, dass die Entscheidungen über EnergieInvestitionen weiter unter dem Gesichtspunkt der
Profitmaximierung getroffen werden, wie es in der
Vergangenheit der Fall war. Zudem geht er davon aus,
dass die erneuerbaren Energieträger erst in Jahrzehnten günstiger und leichter verfügbar werden als
| 8-2015
die fossilen Brennstoffe. Beide Voraussetzungen erweisen sich jedoch als unhaltbar. Die Sorge über den
Klimawandel verändert bereits die Rahmenbedingungen der Energiepolitik, und zugleich machen
Wind- und Solartechnik spektakuläre Fortschritte.
Dadurch schwindet der Kostenvorteil der fossilen
Brennstoffe.
Vier entscheidende Trends könnten die Umstellung auf die Erneuerbaren signifikant beschleunigen:
Weltweit wächst die Entschlossenheit, dem Klimawandel entgegenzutreten; Chinas Haltung zu Umwelt und Entwicklung ändert sich grundlegend; alternative Energien werden in den Entwicklungsländern
stärker akzeptiert; und die Preise für sie sinken.
E
rnsthafter Klimaschutz stößt auf weit verbreiteten und hartnäckigen Widerstand. Wie Naomi
Klein in ihrem jüngsten Buch „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“ nachweist, haben die
großen Energiekonzerne jahrelang viel Geld in die
Öffentlichkeitsarbeit gesteckt, um Zweifel an der Realität des Klimawandels zu schüren. Politiker, die
nicht selten dafür bezahlt wurden, sabotierten gesetzliche Verpflichtungen, die Kohlendioxid-Emissionen zu verringern. Auch viele Bürger wollten die
Lage nicht wahrhaben und sträubten sich gegen entsprechende Maßnahmen. Doch all das ändert sich
angesichts der immer verheerenden Auswirkungen
der Wetterextreme wie Hochwasser, Dürren und
stärkere Stürme, die im Alltag immer häufiger zu
spüren sind.
Das klarste Anzeichen des Wandels dieser Einstellungen sind die Klimaschutz-Zusagen der wirtschaftsstärksten Länder, die zurzeit den Vereinten
Nationen (UN) vorgelegt und Ende des Jahres auf der
Pariser Weltklimakonferenz diskutiert werden. Nach
einem Beschluss des vorangegangenen Gipfels müssen alle Unterzeichner des Rahmenübereinkommens der UN über Klimaänderungen (UN Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) detaillierte Aktionspläne einreichen, die sogenannten
„Beabsichtigten Nationalen Beiträge“ (Intended Nationally Determined Contributions, INDCs) zum weltweiten Kampf gegen den Klimawandel.
Diese Pläne sind zum großen Teil sehr strikt und
weitreichend. Und vor allem geben die Staaten jetzt
Zahlen für die beabsichtigte Reduzierung ihrer Kohlendioxid-Emissionen an, die noch vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen wären. Der amerikanische Plan etwa sieht vor, dass der CO2-Ausstoß in den
USA bis 2025 gegenüber dem Niveau von 2005 um
26 bis 28 Prozent sinken soll. Um das umzusetzen,
müssen zwar zahlreiche Hindernisse überwunden
werden, vor allem die starre Opposition der republikanischen Parlamentarier, die Interessen der Erdölindustrie vertreten. Doch das Weiße Haus gibt sich
überzeugt, dass die Regierung viele der vorgesehenen Maßnahmen ohne Beteiligung des Parlaments
durchsetzen kann. Das gilt etwa für die Obergrenzen
für Emissionen aus Kohlekraftwerken und für obligatorische Einsparungen beim Benzinverbrauch
von Autos und Lastwagen.
35
welt-blicke energie
Andere Länder verfolgen ähnlich hochgesteckte
Ziele. Mexiko will seinen Kohlendioxidausstoß bis
2026 deckeln und bis 2030 eine Verringerung um 22
Prozent anstreben. Das mexikanische Engagement
ist besonders bedeutsam, denn es ist die erste Klimaschutz-Zusage von Seiten eines großen Schwellenlandes. Die Obama-Regierung würdigte den Beitrag
als „aussagekräftig“ und „ambitioniert“.
Strom aus Solaranlagen ist seit 2010 gobal
um die Hälfte billiger geworden. Damit ist er
konkurrenzfähig zu Strom aus Öl und Gas.
Auch China ist offensichtlich entschlossen, seine
Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern. Das Land hat Ende Juni bei den UN seinen Klimaschutzplan eingereicht. Darin sind die Ziele festgeschrieben, auf die sich Präsident Xi Jinping vorigen November bei einem Treffen in Peking mit Präsident Obama geeinigt hatte: Der chinesische
Kohlendioxid-Ausstoß soll nach 2030 nicht weiter
zunehmen und der Anteil der alternativen Energiequellen am primären Energieverbrauch bis 2020 auf
20 Prozent steigen. Ferner will die Volksrepublik bis
2030 die CO2-Intensität ihrer Wirtschaft – also die
CO2-Emissionen pro Einheit des Bruttoinlandsprodukts – gegenüber 2005 um zwei Drittel verringern.
Es scheint sogar, als ob die chinesischen Politiker
den fossilen Brennstoffen noch schneller den Rücken kehren wollen, als sie angekündigt haben. Sie
Wieviel Strom braucht die Welt?
1974
müssen nämlich auf die Proteste der städtischen Bevölkerung reagieren, die unerträglichen Smogbelastungen ausgesetzt ist. Deshalb wurden ehrgeizige
Pläne bekanntgegeben, bei der Stromerzeugung anstelle von Kohle nach Möglichkeit Wasserkraft,
Atomenergie, Erdgas sowie Wind- und Solaranlagen
einzusetzen. „In den am meisten betroffenen Regionen des Landes streben wir beim Verbrauch von
Kohle ein Nullwachstum an“, erklärte Ministerpräsident Li Keqiang im März vor dem Nationalen Volkskongress, dem chinesischen Parlament.
Ebenso wie ihre amerikanischen Kollegen werden die chinesischen Politiker sich gegen den Widerstand der Kohle- und Erdölkonzerne und der lokalen Machteliten durchsetzen müssen. Doch ihre
offensichtliche Entschlossenheit, die Abhängigkeit
von Öl und Kohle zu verringern, weist auf ein
grundsätzliches Umdenken hin. Die Zukunft wird
deshalb wahrscheinlich ganz anders aussehen, als
es sich bis vor kurzem die meisten Experten vorgestellt haben.
So wurde etwa ein unablässiger Anstieg des Kohleverbrauchs vorhergesagt, doch tatsächlich haben
die Chinesen im Jahr 2014 zum ersten Mal seit vielen
Jahrzehnten weniger Kohle verbrannt als im Vorjahr.
Gleichzeitig stiegen die Investitionen in erneuerbare
Energien im selben Jahr um 33 Prozent auf insgesamt 83 Milliarden US-Dollar – mehr als irgendein
Land jemals innerhalb eines Jahres dafür ausgegeben hat. Wenn China weiter ein solches Tempo vorgibt und der Trend insgesamt anhält, wird die Energiewende viel schneller vonstatten gehen, als es zu
erwarten war.
Solarenergie-Kapazitäten
2011
Angaben in Gigawatt
2030
Stromproduktion
in Terawattstunden
400
4%
24%
5%
11%
36%
12%
27%
26%
16%
0,1%
6200
42%
37.000
22.126
18%
22%
24%
4%
1%
350
Europa
USA
China
300
Indien
Rest der Welt
17%
11%
250
200
Weltbevölkerung
in Milliarden Menschen
36
Kohle
150
100
4,0
7,0
8,2
50
Öl
Quelle: Weltbank, IEA, IRENA
Gas
Atomkraft
Wasserkraft
andere Erneuerbare
0
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
Quelle: IRENA
8-2015 |
energie welt-blicke
Ölquellen wie diese im
­irakischen Basra werden noch
eine Weile sprudeln. Doch für
die Stromerzeugung sind fossile
Energieträger nicht länger die
erste Wahl.
Essam Al-Sudani/Reuters
Die großen Erdölkonzerne wissen schon seit langem, dass die führenden Industrienationen – allen
voran die USA, Japan und Europa – sich zugunsten
der erneuerbaren Energien früher oder später von
den fossilen Brennstoffen verabschieden werden. Sie
glauben jedoch fest daran, dass die armen Länder,
die ihre Wirtschaftsentwicklung vorantreiben wollen, noch lange von Kohle, Öl und Gas abhängen werden, weil sie sich die Investitionen in alternative
Erneuerbare Energien im Aufwind
Angaben in Gigawatt
400
350
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Quelle: IRENA
Angaben in Gigawatt
Weltweiter Zuwachs an Kraftwerkskapazität aus Erneuerbaren
Windenergie-Kapazitäten
| 8-2015
Energien nicht leisten können. Deshalb haben ExxonMobil und andere Ölkonzerne eine Menge Geld
in neue Raffinerien, Pipelines und andere Anlagen
gesteckt.
Doch zu ihrer großen Überraschung scheinen
nun auch arme Länder ihren zunehmenden Energiebedarf lieber mit Sonne und Wind decken zu wollen.
Das Interesse der Länder des Globalen Südens an alternativen Energien bestätigt der Bericht „Global
Trends in Renewable Energy Investment 2015“, den
die Frankfurt School of Finance and Management
und das UN-Umweltprogramm gemeinsam erstellt
haben. Darin wird festgestellt, dass die Entwicklungsländer – ohne China – im Jahr 2014 für erneuerbare Energien sehr viel mehr als im Vorjahr ausgegeben haben: insgesamt 30 Milliarden US-Dollar.
Wenn man China mitrechnet, haben die Entwicklungs- und Schwellenländer fast genauso viel in die
Erneuerbaren investiert wie die hochentwickelten
Länder. Einen deutlichen Anstieg gab es in Brasilien
(7,6 Milliarden US-Dollar), Indien (7,4 Milliarden)
und Südafrika (5,5 Milliarden); auch Chile, Indonesien, Kenia, Mexiko und die Türkei investierten je eine
Milliarde US-Dollar. Wenn man bedenkt, wie wenig
das diesen Ländern noch vor einigen Jahren wert
war, ist dies ein deutliches Indiz für eine Zeitenwende.
Eine entscheidende Rolle spielen die Preise.
Glaubt man den Fürsprechern von Kohle und Öl,
dann könnte man meinen, für die armen Länder
gebe es wegen der relativ geringeren Kosten für fossile Brennstoffe gar keine Alternative dazu. Dabei
sinken die Preise bei den regenerierbaren Energien,
140
Wasserkraft
Photovoltaik
Solarthermie
Biomasse
120
Wind
Geothermie
Tideenergie
58%
100
Anteil der Erneuerbaren
an der Kapazität von
neu gebauten Kraftwerken
80
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0
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Quelle: IRENA
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38
welt-blicke energie
Fabrik für Solarzellen in Shanghai.
Chinas Regierung will angesichts
der Luftverschmutzung in den
Städten den Ausstieg aus der
­Kohleverstromung beschleunigen.
Mick Ryan/Cultura Travel/Getty IMages
insbesondere bei Solaranlagen, so schnell, dass ungeachtet der seit Mitte 2014 um die Hälfte gesunkenen Ölpreise kein Zweifel daran besteht, in welche
Richtung die Entwicklung geht: Die fossilen Brennstoffe bieten den ärmeren Ländern keinen garantierten Preisvorteil mehr. So sind die Kosten für Solarzel-
Arme Länder haben gute Gründe, die Erneuerbaren
vorzuziehen – auch weil sie am stärksten
unter den Folgen der Erderwärmung leiden.
Michael T. Klare
ist Professor für Friedensforschung
am Hampshire College. Seine jüngstes
Buch von 2012 „The Race for What’s
Left“ behandelt die Jagd nach knappen
Rohstoffen. Der Beitrag ist im Original
bei TomDispatch.com erschienen.
len seit 2009 um drei Viertel gefallen; weltweit ist
die Stromgewinnung aus Solaranlagen seit 2010 um
die Hälfte billiger geworden. Die Sonnenenergie ist
selbst bei den derzeit extrem niedrigen Preisen für
Erdöl und Erdgas konkurrenzfähig.
Darüber hinaus haben die Entwicklungsländer
gute Gründe, die Erneuerbaren vorzuziehen. Das hat
mit ganz anderen Kosten zu tun: Aus den neuesten
Berichten des UN-Weltklimarats geht deutlich hervor, dass die schädlichen Folge des Klimawandels die
armen Länder auf der Südhalbkugel der Erde früher
und sehr viel stärker treffen als die Länder im Norden. Sie müssen etwa damit rechnen, dass die Niederschläge zurückgehen, und sich auf mehr und längere Dürreperioden einstellen. Damit wird die Versorgung von Hunderten von Millionen Menschen
mit Lebensmitteln infrage gestellt. Wenn die erneuerbaren Energien zugleich immer erschwinglicher
werden, liegt es nahe, dass die Energiewende früher
als erwartet stattfinden wird, und zwar gerade in den
Regionen, in denen die Erdölkonzerne in der Zukunft
noch Gewinne machen wollten.
In der Summe scheinen all diese relativ unerwarteten Entwicklungen nur eine Schlussfolgerung zuzulassen: Wir stehen am Beginn einer globalen Energiewende, die alle bisherigen politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Prognosen auf den Kopf
stellen könnte. Diese Wende wird sich nicht über
Nacht vollziehen, und sie wird sich gegen den erbitterten Widerstand der Kohle- und Erdölproduzenten
behaupten müssen. Dennoch scheint der Trend sich
zu beschleunigen. Selbst wenn noch ein paar Jahrzehnte vergehen sollten, ist der Zeitrahmen von einem halben Jahrhundert, mit dem Experten wie
Vaclav Smil bisher gerechnet haben, wohl nicht mehr
zutreffend. Die fossilen Brennstoffe und mit ihnen
die Konzerne, die Politiker und die Ölstaaten, die so
lange von ihnen profitiert haben, werden ihre beherrschende Rolle sehr viel schneller verlieren und
von den Anbietern der alternativen Energien überholt werden.
Allerdings: Selbst wenn die Investitionen in grüne Technologien dramatisch zunehmen, ist es leider
höchst unwahrscheinlich, dass der globale Temperaturanstieg auf zwei Grad Celsius begrenzt werden
kann. Es rechnet auch kaum jemand damit, dass auf
dem Weltklimagipfel Ende 2015 genügend starke
Schritte beschlossen werden, um diese Grenze einzuhalten. Die meisten Wissenschaftler halten sie
aber für das Maximum dessen, was der Planet verkraften kann, ohne dass Klimakatastrophen jenseits
aller bisherigen Erfahrungen eintreten. Unsere Kinder und Enkel werden also unter wesentlich widrigeren Umständen leben müssen als wir.
In dem Maße, in dem die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels stärker und im Alltag
sichtbarer werden, wird allerdings auch die Motivation zunehmen, die Erderwärmung aufzuhalten. So
werden auch die Produktion und der Verbrauch fossiler Brennstoffe immer schärferen Beschränkungen unterworfen werden. Das heißt die Energiewende beginnt eine unaufhaltsame Dynamik zu entfalten.
Die meisten Menschen, die heute leben, werden
die neue Epoche der erneuerbaren Energien noch erleben. Wie in der Vergangenheit wird es beim Umstieg auf andere Energieträger Gewinner und Verlierer geben. Es ist anzunehmen, dass die Länder und
die Unternehmen, die sich an die Spitze der Entwicklung und der Nutzung grüner Technologien stellen,
in den kommenden Jahrzehnten davon profitieren
werden. Die anderen, die weiter auf fossile Brennstoffe setzen, werden ihren Reichtum und ihre
Macht schwinden sehen. Doch je früher die Wende
stattfindet, desto besser ist es für den Planeten. Aus dem Englischen von Anna Latz.
8-2015 |
fairer handel welt-blicke
Marios
Kampf für
gute Preise
Fair gehandelter Kaffee ist nicht automatisch
Bio. Eine Kaffeekooperative in Honduras
schafft beides – doch reich wird sie damit
auch nicht.
Text: Martina Hahn, Fotos: Santiago Engelhardt
Chemie und Gensaat kommen beim
Kaffeebauern Mario Enrique nicht in
den Boden. Für diese Überzeugung
hat er lange streiten müssen – auch
mit seiner Ehefrau.
| 8-2015
D
er Wandel, sagt Mario Enrique Perez und tippt sich
dabei mit dem Zeigefinger
an die Stirn, „der beginnt hier
oben“. Vom „cambio de chip“, dem
Wechsel der Festplatte in den
Köpfen der Kaffeebauern, weg
von Chemiekeule und Gen-Saat,
hin zu Bio-Dünger und Kompost,
spricht er gerne und oft. Es ist das
Credo des 62-Jährigen, auch sein
ganz persönlicher Kampf. Den
hatte er anfangs nicht nur mit
den Mitgesellschaftern seiner Kooperative auszufechten, mit denen er Bio-Kaffee anbaut. Sondern auch mit Joselinda Manueles, seiner Frau.
Beide stehen im Garten ihrer
Finca, inmitten von Kaffeepflanzen und Bäumen, an denen pralle
Mandarinen, Zitronen und Mangos hängen. Es ist angenehm kühl
auf 1200 Meter Höhe. Schon des-
wegen wächst hier, im Hochland
von Honduras, rund um Marcala,
der beste Arabica des Landes.
„Cascabel“, Klapperschlange, haben Mario und Joselinda ihre Finca genannt und wie zum Nachdruck ein totes Reptil in ein Glas
eingelegt. Die Schlange darin
spritzt kein Gift mehr. Ebenso wenig wie Mario.
Doch die wenigsten Kaffeebauern in Honduras setzen auf
Bio. Die meisten versprühen Pestizide, Fungizide, Kunstdünger –
„und kultivieren damit den Tod“,
schimpft Joselinda, während sie
fast zärtlich über ein tiefgrünes
Blatt streicht. Wie jeden Morgen
prüft sie die Kaffeebäumchen,
wässert und düngt mit einem Mix
aus Kuhmist und Urin, wo die
Blätter blass und die Zweiglein
kraftlos wirken. Auch sie hat sich
lange gewehrt: „Ich war der größte Gegner von Bio, ich war ignorant.“ Als Mario 2007 verkündete,
er wolle die Finca nach den Regeln des Ökolandbaus beackern,
schnitt sie ihn tagelang. Auch aus
Sorge: „Ich hatte Angst, dass wir
weniger ernten und nichts mehr
zu essen haben würden.“
Diese Angst hat sie verloren.
Seit die Familie Bio-Kaffee anbaut,
haben sich der Ertrag erhöht und
das Einkommen verdoppelt. Die
Ausgaben sind um die Hälfte gesunken, denn Chemikalien sind
teuer. Die 800 Kaffeebauern der
Kooperative COMSA bekommen
für ihre Bohnen nicht nur einen
Biozuschlag. Sie haben mit Fairtrade International einen Vertrag geschlossen und erhalten
von den Aufkäufern aus Europa
auch einen fairen Preis. „Früher
bestimmte allein der Zwischenhändler mit seiner manipulierten
Waage, was wir bekommen“, sagt
Mario Enrique Perez. Wer nicht
organisiert ist, in Honduras noch
immer jeder zweite Kaffeebauer,
ist bis heute von diesen lokalen
„coyotes“ abhängig.
Die zahlten im April, zum
Ende der zurückliegenden Ernte,
nur 100 oder 110 US-Dollar pro
45-Kilo-Sack, obwohl der konventionelle Rohkaffee an der Börse
mit knapp 130 US-Dollar gehandelt wurde. COMSA jedoch bekam
für seine biofairen Bohnen 190
US-Dollar von den Käufern aus
Übersee: 140 US-Dollar, weil das
der Fairtrade-Mindestpreis ist, 30
für die Bioqualität sowie 20 als
Fairtrade-Prämie. Umgerechnet
1,3 Millionen Euro Prämie kamen
dadurch zusammen. Mit diesem
Geld schickt die Kooperative Kinder an die Uni, finanziert Mittagessen an den Schulen und Kurse
39
40
welt-blicke fairer handel
im Ökolandbau oder kauft Röstmaschinen zur Wertschöpfung
vor Ort.
Rund 80 Prozent der KaffeeErnte können die Bauern von
COMSA zu biofairen Konditionen
und damit zu einem höheren
Preis verkaufen. Der Markt ist da:
Immer mehr Konsumenten in
Europa achten darauf, dass nicht
nur das Biosiegel, sondern auch
das Logo eines fairen Anbieters
auf der Kaffeepackung abgedruckt ist. Zwei von drei Fairtrade-Kaffees sind inzwischen auch
Bio. Das findet Mario nur konsequent: „Was hilft uns Produzenten ein fairer Preis, wenn wir wegen der giftigen Pestizide krank
werden, wenn die Natur stirbt
und unsere Böden auslaugen?“
Bei Wilfredo Olivera holt er
sich jedoch eine Rüge ab. „Die Mikroorganismen und Proteine sind
okay, aber es fehlt an Mineralien“,
moniert der Biologe. In seinem
kleinen Labor auf der Finca Fortaleza, der Lehrfarm von COMSA,
können die Mitglieder der Kooperative kostenlos die Qualität ihrer
Böden untersuchen lassen. Enthalten sie genügend Mineralien
und Bakterien? Zu viele Metalle?
Rückstände von Pestiziden? „Wir
können den Boden erst richtig bearbeiten, wenn wir wissen, in welchem Zustand er ist“, sagt Olivera.
Der Biodünger riecht übel,
aber er wirkt
Nicht weit vom Prüflabor holt
sich Mario die fehlenden Mineralien aus einer großen, überdachten Halle. Auf Regalen sind Behälter mit eigenem Saatgut aufgereiht, COMSA ist unabhängig von
den Saatgutkonzernen. Daneben
stehen eine große Kompostieranlage, Mineraliendepots und mehrere blaue Plastiktonnen. Mario
hebt einen Deckel, es riecht übel,
doch der Mix aus Küchen- und
Feldabfällen, zermahlenen Steinen und Wasser liefert ihm einen
potenten Bio-Dünger, den er in
eine Flasche füllt.
Höhere Erträge, bessere Böden, weniger Wasser – diese Aspekte habe der faire Handel lange
vernachlässigt und ausschließlich auf soziale Komponenten gesetzt, sagen Kritiker. Nachhaltig-
keitsinitiativen wie Utz Certified
oder Rainforest Alliance achten
stärker auf höhere Erträge und
Umweltschutz. Allerdings zahlen
beide weder einen festen Mindestpreis für die Ernte noch eine
faire Prämie. Das macht sie günstig und bei Lebensmittelkonzernen wie Nestlé oder Mars sowie
bei den Verbrauchern in Deutschland beliebter.
COMSA liefert weder an Utz
noch an die Rainforest Alliance.
Die sozialen Aspekte des fairen
Handels seien nicht verhandelbar, sagt der Chef der Kooperative,
Rodolfo Penalba. Erst der Einstieg
in den fairen Handel habe vielen
Kleinbauern den Umstieg auf Öko
ermöglicht. „Für unsere Biobohnen bekommen wir pro Pfund 30
Cent mehr als für konventionellen Kaffee, und mit diesem garantierten Festpreis können wir
besser planen, Bio-Berater engagieren oder aus unseren eigenen
Reihen ausbilden lassen.“ Zudem
können die Kleinbauern über die
Prämie eventuelle Verluste in der
Umstellungsphase von konventionell auf bio ausgleichen.
Im Lager von COMSA stapeln
sich die Kaffeesäcke bis zur Decke.
In der einen Ecke steht eine digitale Waage, die Bauern bekommen eine Quittung für die gelieferte Ware, 5000 Tonnen während der vergangenen Ernte. In
der anderen Ecke sortieren Frauen die trockenen Bohnen. Die
grünen gehen in den Export, die
schwarzen landen in heimischer
Billigware, es duftet stark nach
Eine einzige schlechte Bohne
verdirbt den Kaffee. Deshalb prüfen
die Mitglieder der Kooperative
zweimal: beim Sortieren (oben)
und im Testlabor (unten).
Der Biologe Wilfredo Olivera
untersucht eine Probe des
Bodens, auf dem die Sträucher
wachsen (rechts).
8-2015 |
fairer handel welt-blicke
liegt auch daran, dass sie neben
Kaffee auch Obst und Gemüse anbauen. Damit hatten sie trotz der
Ausfälle durch den Pilz ein Einkommen. Was sie nicht selbst
aßen, verkaufte Joselinda auf
dem Markt in Marcala. Fünf Lempira, umgerechnet 20 Cent, bekommt sie für einen Pfirsich. 40
Cent für sechs Tomaten.
Die Zertifizierungen kommen
die Bauern teuer zu stehen
Martina Hahn
ist freie Journalistin mit den Themenschwerpunkten nachhaltiger
Konsum, fairer Handel und Entwicklungspolitik. Sie ist Mitautorin
des Ratgebers „Fair einkaufen –
aber wie?“ (Brandes & Apsel).
| 8-2015
Kaffee. „Eine einzige schlechte
Bohne kann die ganze Lieferung
verderben“, sagt Rodolfo.
Bei der letzten Ernte war jede
siebte Bohne schlecht, das sind
fast 15 Prozent. Für sie bekamen
die Bauern keinen guten Preis,
in guten Jahren liegt der Ausfall
bei zwei Prozent. Verursacht hat
die Verluste La Roya, ein Pilz, der
Kaffeepflanzen zerstört, und in
den vergangenen drei Jahren
viele Plantagen in Mittelamerika
heimgesucht hat. „Es war auch
für uns hart, doch Fairtrade federt
die Rückschläge durch den garantierten Preis und die Prämie ab“,
erklärt Penalba. Zudem erhielten
die betroffenen Bauern Bio-Dünger und gesunde Setzlinge. „Der
Pilz kann nur wachsen, wo Böden
und Pflanzen schwach sind“, erklärt Biologe Wilfredo Olivera.
Bei Mario Enrique Perez und
Joselinda Manueles stehen Schüsseln mit Tortillas, Bohnenmus,
Möhren und Kürbis auf dem großen Holztisch. „Alles aus dem eigenen Garten“, sagt Joselinda,
selbst das Hühnerfleisch stammt
von der Finca. Dass La Roya die Familie nicht in den Bankrott trieb,
Die wichtigste Einnahmequelle in
Honduras bleibt jedoch der Anbau und der Export von Kaffee.
Acht Millionen Menschen leben
in dem mittelamerikanischen
Land, einer Million davon gibt der
Kaffee Arbeit. Er trägt 37 Prozent
zum Bruttoinlandsprodukt bei
und ist das wichtigste Agrarexportgut; Bananen sind auf Platz
zwei gerutscht. Rund sechs Millionen Zentner Rohkaffee wurden
zuletzt in Honduras produziert,
doppelt so viel wie zur Jahrtausendwende. Doch nur ein Prozent
davon wird laut Kaffeeinstitut im
Land getrunken. Die meisten Kaffeebohnen landen in Deutschland, in den USA und in Japan.
Rohkaffeehändler wie die
Hamburg Coffee Company und
die Verbraucher wollen einen
Nachweis, dass die Fairtrade-Prämie in soziale Projekte fließt, dass
keine Kinder mitarbeiten und der
Boden keine Gifte enthält. Diese
Nachweise liefern bei COMSA fünf
verschiedene Zertifizierer, jeder
Markt verlangt ein eigenes Siegel.
„Das macht fünf separate Rechnungen“, kritisiert Kaffeebauer
Mario. Damit Röster wie Wertform oder Darboven, aber auch
Handelsketten wie Rewe oder Edeka das Fairtrade-Siegel auf die Verpackung drucken können, zahlt
COMSA rund 2500 Euro im Jahr
an das Auditunternehmen FLOCert. Für das Bio-Siegel kommen
weitere 17.000 Euro an den Zertifizierer Bio Latina hinzu.
Das verschafft den COMSABauern einen Zugang zu neuen Märkten und verhilft ihnen
zu einer besseren Organisation.
„Durch die Dokumentation wissen
wir, wo wir heute stehen, wie wir
wirtschaften, wo wir besser werden können“, sagt Kooperativen-
Chef Rodolfo Penalba. Manche
Mitglieder haben erst durch die
Zertifizierung einen Kredit von
der Bank bekommen – sie hatten
die Ernte quasi schon verkauft,
einen Abnehmer, eine Sicherheit.
Die Kosten für die Zertifizierungen sind aber auch vielen
Bauern ein Dorn im Auge. Sie finden, dass ein kürzeres Audit mit
weniger Experten nicht unbedingt oberflächlicher sein muss.
Auch Penalba würde eine Kontrolle von Bio und Fair aus einer
Hand begrüßen. „Die doppelten
Kosten sind kein geringer Posten
im Budget.“ Mario Enrique Perez
wird deutlicher: „Das Geld sollte
bei uns, den Produzenten, bleiben. Wir brauchen es.“
Denn der einzelne Kaffeebauer macht auch im fairen System
keinen nennenswerten Gewinn.
Der Mindestpreis decke nur die
Produktionskosten – „für viele ein
Nullsummenspiel“, sagt Penalba.
Ist der faire Preis fair? „Nein“, sagt
Mario Enrique Perez. Zwar bleiben
ihm über den fairen Handel rund
30 Prozent des Endverkaufspreises. Bei Bauern, die an den konventionellen Handel liefern, sind
es nur sieben bis zehn Prozent.
Dennoch landet auch bei ihm das
Gros des Profits beim Röster und
beim Handel. Von der jüngsten
Ernte blieben seiner Familie unter
dem Strich 1000 US-Dollar.
Könnte Fairtrade nicht einfach den Mindestpreis erhöhen?
Nein, sagt COMSA-Chef Penalba.
„Das geht erst, wenn Verbraucher
bereit sind, für den Kaffee mehr
zu bezahlen.“ Dass die Menschen
sein Produkt genießen, hat ihn
bei seinem ersten Besuch in Hamburg vor einigen Jahren stolz gemacht. „Ich spürte so etwas wie
Wertschätzung unserer Bohnen.“
Bis er ernüchtert im Supermarkt
den Preis für die Pfund-Packung
sah – so viel höher als das, was die
Kaffeebauern erhalten. Fair wäre
ein Erntepreis von 220 US-Dollar
pro Sack, „das würde niemanden
strangulieren, nicht die Aufkäufer, nicht die Röster, nicht den
Handel, auch nicht die Endkunden“, meint der COMSA-Chef.
„Dann könnten wir endlich von
unserem Kaffee leben“, sagt auch
Mario Enrique Perez. 41
42
welt-blicke weltwirtschaft
„Der Papst fordert Respekt
vor dem Eigenwert der Natur“
Mit der jüngsten Enzyklika bezieht der Vatikan nachholend Stellung zur Ökologie
Gespräch mit Bernhard Emunds
Papst Franziskus hat Mitte Juni in
seiner Enzyklika „Laudato si“ die
Begrenztheit des Planeten betont
und Respekt für die Natur angemahnt. Damit rennt er bei europäischen Katholiken offene Türen ein,
nicht aber in den USA, erklärt der
Wirtschafts- und Sozialethiker
Bernhard Emunds.
Die Enzyklika wurde vor ihrer Veröffentlichung Medien zugespielt,
offenbar weil sie an der Spitze der
Kirche umstritten war. Worin liegt
das Anstößige?
Das ist nicht einfach zu beantworten. Was in der Enzyklika gesagt wird, ist in den Kirchen in
Deutschland mit einigen Abstrichen Konsens. Anstößig ist es für
einige sehr konservative Gruppen in den USA.
Die dominieren in den USA die katholische Kirche?
Die Amtskirche. In den 1980er
Jahren stand sie teilweise sozialpolitischen Kreisen der Demokratischen Partei nahe. Mittlerweile
ist das Gros der Bischöfe sehr
nahe an den ultrakonservativen
Strömungen der Republikaner bis
hin zur Tea Party. Das hat zum ei-
„Der Papst sieht eine Maschinerie am Werk,
die immerfort die Gewinne, den Konsum
und den Abfall steigert.“
nen mit den Bischöfen zu tun, die
Johannes Paul II. in seinem Ponitifikat (1978-2005) ernannt hat,
und zum anderen mit der immer
stärkeren Polarisierung in den
USA zwischen Konservativen und
Liberalen. Für konservative Katholiken ist, wer von Sozialpolitik
spricht, schon Sozialist. Auch der
Papst soll sich aus der Politik heraushalten. Vor allem soll er den
Klimawandel nicht als menschengemacht bezeichnet und
eine ökologische Transformation
fordern. Über Jahrzehnte haben
diese Kreise Druck auf den Vatikan gemacht, um das zu verhin-
dern – auch mit sehr viel Geld.
Das ist jetzt gescheitert. Mit der
Enzyklika kommt es zu einer
nachholenden
Ökologisierung
des Vatikans.
Ist ihr Ton des heiligen Zorns für
manche im Klerus starker Tobak?
Über weite Strecken ist die
Enzyklika einfach ein starker
Text! Franziskus formuliert wortgewaltig. Zum Teil ist der Stil
für päpstliche Verlautbarungen
erfrischend unprätentiös. Aber
inhaltlich, mit seiner umweltpolitischen Positionierung rennt der
Papst offene Türen ein, in Europa
und auch weltweit. Er deutet die
Umweltkrise als eine Krise des
Verhältnisses der Gesellschaft zur
Natur, mit der viele Verteilungsund Gerechtigkeitsfragen verbunden sind. Laudato Si ist eine
öko-soziale Enzyklika.
Zeichnet sich damit ein neues katholisches Naturverständnis ab?
Nicht im Grundsatz. Der berühmte Imperativ „Macht Euch
die Erde untertan“ aus der Genesis, dem ersten Buch Mose, wurde
lange so missverstanden, dass wir
die Natur beherrschen sollen und
ganz für unsere Zwecke ausbeuten können. Seit Jahrzehnten ist
stattdessen in der Theologie von
einem Auftrag die Rede, die Erde
zu hüten und zu bewahren. Papst
Franziskus geht in der Enzyklika
allerdings einen Schritt weiter:
Er betont sehr stark den Respekt
vor dem Eigenwert der Natur und
kommt so zu einer grundlegenden Kritik der Beherrschens und
der gewinngetriebenen Aneignung von Natur – zum Beispiel
der Privatisierung von Boden und
Wasser.
Ist das in der Bibel begründet oder
eher in einem romantischen Naturbegriff?
Die Enzyklika nutzt einzelne
Begriffe und Passagen aus der Bibel, um Naturverbundenheit auszudrücken und stellenweise sogar
eine Natur-Mystik zu entwerfen.
Letzteres ist sicher nicht allen zugänglich. Angesichts eines weiten
Gebirges oder eines schattigen Tales an Gott zu denken und zu sagen „Das ist mein Geliebter für
mich!“, fällt mir persönlich eher
schwer. Eine Schwäche des Textes
liegt meiner Meinung nach in
dem sehr harmonischen Bild der
Natur, der wir uns verbunden wissen sollen. Ihre Gewalt, ihre Zerstörungskraft, ein manchmal brutaler Überlebenskampf zwischen
Tieren – all das wird ausgeblendet.
Zerstörerisch wirkt anscheinend
nur der Mensch, der in die Natur
eingreift. Überzeugend und entscheidend ist aber die Aussage:
Wir müssen uns auf das Tempo
natürlicher Prozesse einlassen.
Man darf die Natur nicht ausreizen bis zum Letzten. Wir müssen
uns die Zeit nehmen, pflegend mit
ihr umzugehen.
Franziskus kritisiert auch die moderne Technik: Sie habe wichtige
Errungenschaften gebracht, sei
aber auf Beherrschung der Natur
und auf Macht ausgerichtet. Woher
kommt diese Kritik?
Von dem deutschen Theologen Romano Guardini. Über ihn
wollte Pater Bergoglio promovieren. Dazu war er in den 1980er
Jahre auch hier in Sankt Georgen.
Laut Guardini hat die enorme
Steigerung der technischen Möglichkeiten im 20. Jahrhundert zu
einer grundlegenden Verände-
8-2015 |
Bernhard Emunds
ist Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie
und Leiter des Oswald von NellBreuning-Instituts an der katholischen Hochschule Sankt Georgen
in Frankfurt am Main. Zu seinen
Fachgebieten gehört Finanzethik.
Die Lage der armen Länder im
Blick: Papst Franziskus besucht im
Juli ein Armenviertel in ­Paraguays
­Hauptstadt Asunción.
Gregorio Borgia/Reuters
St. Georgen
weltwirtschaft welt-blicke
„Konservative Katholiken in den USA
wollten nicht, dass der Papst den Klimawandel
als menschengemacht bezeichnet.“
rung im Naturverhältnis des Menschen geführt. Die Natur ist dem
Menschen zum formlosen Stoff
geworden, den er völlig frei nutzen und gestalten kann. Da gibt es
keine ethischen Grenzen mehr –
und keine Einbindung in das Maß
der Natur. Das ist ein entscheidender Gedanke in der Enzyklika.
Aber diese ideengeschichtliche
Sicht verbindet der Papst mit der
Kritik, dass eine Wirtschaft, die
sich der politischen Steuerung
entzogen hat, immer neue technische Mittel einsetzt, um im Gewinninteresse die Natur auszunutzen. Für Papst Franziskus wird
damit eine Maschinerie angeworfen, die immerfort die Gewinne,
den Konsum und den Abfall steigert – der Planet wird bis zum letzten ausgebeutet und zugemüllt.
Diese Maschinerie muss gestoppt
werden. Deshalb fordert der Papst
einen Primat der Politik über die
Wirtschaft.
Die Gentechnik beurteilt Franziksus dann aber zurückhaltend: Er
kritisiert nicht den Eingriff in das
Genom oder seine Umweltrisiken,
sondern die sozialen Auswirkungen.
Richtig. Das passt eigentlich
nicht zu dem, was er vorher entwickelt hat. Meine vielleicht etwas
einfache Erklärung dafür ist: Er
musste den konservativen katholischen Kreisen in den USA auch
irgendwo entgegenkommen. Denen hat die sehr harsche Kritik
seines Vorgängers Papst Benedikt
XVI. an der Gentechnik nicht gefallen.
Ist seine harte Kritik am Gewinnstreben in der Kirche konsensfähig
– zumindest außerhalb der USA?
Nein, obwohl eine Privatwirtschaft, die sich ausschließlich am
Gewinn orientiert, schon lange
von den Päpsten kritisiert wird.
Papst Franziskus spitzt das gerne
zu. Mit harscher Kritik an „dieser“
Wirtschaft hat er schon vorher Widerwillen hervorgerufen, etwa
mit dem Apostolischen Schreiben
„Evangelii Gaudium“ von 2013,
nicht zuletzt in den Wirtschaftsredaktionen der großen deutschen
Zeitungen.
Und ist diese Kritik nicht ein bisschen grobschlächtig – etwa wenn
der Papst beklagt, dass das Finanzwesen die Herrschaft ergriffen hat?
Zum Teil. Der Begriff Finanzen
kommt in der Enzyklika nur negativ vor. Es fehlt ein Verständnis,
dafür, was die Finanzwirtschaft
für die Realwirtschaftet leistet
oder leisten kann. Nun ist Laudato si aber keine Enzyklika über finanzethischen Themen. So bleibt
das Bild hier etwas holzschnittartig. Das gilt auch für einen zweiten wichtigen Aspekt: In der Enzyklika ist immer wieder von Macht
die Rede, auch im Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Aber die Strukturen
dahinter werden nicht beleuchtet.
Was der Papst damit meint, bleibt
unklar: Wer sind die Machthaber
und wie funktioniert es, dass sie
Macht ausüben und behalten?
Markiert die Enzyklika ein neues
Verhältnis der Kirche zur Wissenschaft? Sie ist ja stark wissenschaftlich beeinflusst.
Ja, der Konsens der Umweltwissenschaften über die ökologi-
| 8-2015
43
44
welt-blicke weltwirtschaft
schen Probleme wird sorgfältig
aufgegriffen.
Aber der Papst kritisiert zugleich
die „Zersplitterung des Wissens“,
sozusagen die Fachidiotie der akademischen Disziplinen.
Diese Kritik finden Sie auch
bei seinem Vorgänger, Papst Benedikt XVI: Wir fragen nach immer
mehr Details, aber nicht nach der
Gesamtausrichtung. Das ist eine
überzeugende Perspektive! Doch
Franziskus beschreitet auch hier
neue Wege: Für Papst Benedikt
war die Kirche im Besitz der über-
„Eine zentrale Botschaft ist: Die notwendige
ökologische Wende darf auf keinen Fall die
Entwicklungsländer weiter belasten.“
wölbenden Wahrheit, während
andere durch die Sünde abgelenkt
wurden, die Wahrheit zu erkennen. Die Theologie von Papst
Franziskus ist dagegen nicht apologetisch und missionierend, sondern eine Einladung zum Dialog.
Er sagt ausdrücklich, dass es verschiedene Ansätze gibt, die Wirklichkeit zu verstehen: Ich bringe
mit der Theologie eine Perspektive ein. Ich erhebe nicht den Anspruch, die Wahrheit des Ganzen
zu sagen, sondern lade alle ein,
ihre eigene Perspektive einzubringen. Die Aufgabe der ökologischen Transformation und des
Wandels im Naturverhältnis ist so
groß, dass es möglichst vieler
Stimmen und Sichtweisen bedarf.
Das ist ein ganz anderes Selbstverständnis als der Anspruch: In Details lernen wir gerne von den
Wissenschaften, aber worum es in
der aktuellen Krise im Kern geht,
das wissen nur wir.
Franziskus ruft zu einem gemeinsamen Suchprozess auf?
Genau. Und das löst er insofern ein, als er an verschiedenen
Stellen die Ortskirchen und die
verschiedenen Bischofskonferenzen zitiert. Es mag Protestanten
überraschen, aber das ist in einer
Enzyklika etwas Neues. Darüber
hinaus zitiert er einen orthodoxen Patriarchen und einen islami-
schen Sufi-Theologen. Damit zeigt
er selbst die dialogische Haltung,
die er einfordert.
Franziskus erhebt einige klare Forderungen wie nach einer Kreislaufwirtschaft und dem Abschied vom
Wachstum. Was halten Sie davon?
Diese Forderungen kommen
nicht unvermittelt, sondern passen zu den grundsätzlichen Aussagen. Natürlich haben sie nicht
den gleichen Geltungsanspruch –
wer dem Papst hier in welchen
Punkten folgen mag, ist eine offene Frage. Hinter der Forderung
nach einer Kreislaufwirtschaft
stehe ich zum Beispiel voll.
Schwieriger finde ich die Passage,
in der der Papst sagt, dass die
Wirtschaft in den Industrieländern schrumpfen muss, damit
arme Länder Raum zum Wachsen
haben. Ich würde sagen, wir brauchen eine ökologische Transformation, in der bestimmte Bereiche schrumpfen, aber andere
wachsen müssen – etwa die Reparatur von Geräten oder die Bereitstellung neuer umweltschonender Technologien. Ob im Ergebnis
die Wirtschaft insgesamt wächst
oder schrumpft, ist aus ökologischer Sicht nicht so wichtig. Aber
auch wenn ich dem Papst hier
nicht folge, finde ich es doch gut,
dass er sich so klar und unmissverständlich äußert. Er legt den
Finger auf die wunden Punkte –
auch wenn seine Lösungsideen
nicht jeden überzeugen werden.
Zahlreiche Umweltverbände sind
von der Enzyklika begeistert. Haben Sie auch kritische Stimmen
gehört?
Ja, aus wirtschaftsliberalen
Kreisen. Die sagen, dass die harsche Kritik an der kapitalistischen
Wirtschaft völlig außer Acht lässt,
welche großen Fortschritte sie im
Kampf gegen die Armut gebracht
hat, zum Beispiel in China und Indien. Man kann sich natürlich
auch über den Aufruf zu Verhaltensänderungen der Einzelnen
lustig machen – etwa, das Auto
einmal stehen zu lassen. Im
Grunde ist das der Vorwurf des
Anti-Modernismus: Der Papst lasse sich auf eine moderne Wirtschaft nicht ein.
Trifft das zu?
Man erkennt schon eine Distanz zu bestimmten Zügen der Gegenwart westlicher Gesellschaften,
besonders zu Komfort und Konsum und zu einer globalen Wirtschaft, die sich die Politik untertan
macht. Zugleich setzt die Enzyklika aber auf kreative Reaktionen
der Menschen. Die Hoffnung, dass
wir uns dagegen aufbäumen und
das Problem doch in den Griff bekommen, schwingt im Text mit.
Die ist natürlich selbst ein Kind
der Moderne. Man kann nicht sagen, der Papst vertritt anti-modernistische Positionen.
Ist die Enzyklika stark von einer
Süd-Perspektive geprägt?
Ja. Wenn wir uns von den Details lösen, sind die zentralen Anliegen klar: Die Enzyklika hat eine
öko-soziale Stoßrichtung und ist
eine theologische Einladung zum
Dialog. Und dann ist der Text eminent politisch. Der Papst will vor
der Pariser Klimakonferenz erstens ganz klar sagen, dass die Politiker jetzt handeln und die Verringerung der globalen Treibhausgas-Emissionen beschließen müssen. Zweitens: Die Beschlüsse, die
jetzt nötig sind, um den ökologischen Strukturwandel voranzubringen und den Klimawandel
abzubremsen, dürfen auf keinen
Fall die Entwicklungsländer weiter
belasten. Die reichen Industrieländer müssen die Lasten tragen.
Diese Botschaft ist natürlich von
der Perspektive des Südens auf
ökologische Fragen geprägt.
Hat das damit zu tun, dass Franziskus der erste Papst aus einem Land
des Südens ist?
Nein. Seit Johannes XXIII. haben die Päpste immer wieder die
Perspektive der Entwicklungsländer aufgegriffen. In der Enzyklika „Populorum progressio“ hat
sich Paul VI. 1967 für eine neue
Weltwirtschaftsordnung
stark
gemacht. Papst Franziskus überträgt diese Tradition nun auf
das Umwelt-Thema. Es wäre eine
billige Kritik, zu sagen, dass hier
jemand aus einer provinziellen
Perspektive heraus schreibt.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
8-2015 |
sicherheit welt-blicke
Sicherheitskonzept
von der Stange
New Yorks ehemaliger Bürgermeister Rudolph Giuliani gilt als Mann mit „Null
Toleranz“ gegenüber Verbrechen. Diesen Ruf will er nun in armen Ländern zu Geld
machen.
Von Cecibel Romero
D
ieses Land ist wunderschön, es müsste eigentlich Touristen anziehen“, schwärmte Rudolph
Giuliani. „Liebend gern würde ich hier einen
Golfplatz bauen.“ Der ehemalige Bürgermeister von
New York wusste wohl nicht, dass es in El Salvador
schon zwei Golfplätze gibt – aber kaum jemand spielt
darauf. Touristen kommen schon gar nicht, das Land
gilt als eines der gefährlichsten der Welt. Genau deshalb kam Giuliani. Seit 2002, unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus dem New Yorker Rathaus, betreibt er die Beratungsfirma Giuliani Partners LLC,
die sich als Spezialist für Notfall- und Krisenmanagement anpreist. Im Mai wurde er nach El Salvador eingeladen, um einen Plan zu präsentieren, der das Land
zu dem machen soll, was bislang nur eine Schwärmerei Giulianis ist: ein Paradies für Touristen.
Schon eine Woche vor seiner Ankunft wurden die
Erwartungen geschürt. Giuliani werde ein Konzept
präsentieren, mit dem „die Probleme des Landes innerhalb von neun Monaten geregelt werden können“,
versprach Jorge Daboub, der Vorsitzende der Nationalen Vereinigung der Privatwirtschaft (ANEP). Mitglieder des Unternehmerverbands hatten Giuliani im
Jahr zuvor bei einer ähnlichen Präsentation im Nachbarland Guatemala gesehen, waren begeistert und
hatten danach beschlossen, ihn ebenfalls unter Vertrag zu nehmen. Seine Firma sollte eine Analyse der
Sicherheitslage in El Salvador erarbeiten und daraus
Handlungsanweisungen für die Politik ableiten.
Die Lage ist ernst: In den ersten drei Monaten
dieses Jahres wurden in dem knapp sechs Millionen
Einwohner zählenden zentralamerikanischen Land
im Durchschnitt jeden Tag vierzehn Menschen ermordet. Den größten Teil der Toten stellen junge
Männer von der Mara Salvatrucha und Barrio 18,
zwei großen Jugendbanden, die zusammen rund
70.000 Mitglieder haben. Sie fechten blutige Kriege
Mitglieder der „Mara 18“ mit
­Messern und Mobiltelefonen, die sie
sich illegal im Gefängnis beschafft
haben. Die Politik der „harten Hand“
hat sie noch stärker gemacht.
Ulises Rodriguez/Reuters
| 8-2015
45
46
welt-blicke sicherheit
um Einflussgebiete für Drogenhandel und Schutzgelderpressung aus. Aber auch Polizisten, Staatsanwälte oder ganz normale Bürger werden unter zum
Teil grausamen Umständen umgebracht.
Nicht nur El Salvador leidet unter solch überbordender Gewalt, den Nachbarn Guatemala und Honduras geht es ähnlich. Das so genannte nördliche
zentralamerikanische Dreieck gilt als weltweit gewalttätigste und unsicherste Region außerhalb von
Kriegsgebieten. Es ist eine für den internationalen
Drogenhandel strategisch wichtige Brücke; mehr als
80 Prozent des in Südamerika produzierten Kokains
quert diese Länder auf dem Weg nach Mexiko und in
die USA. Zum Drogenhandel sind längst weitere Betätigungsfelder des organisierten Verbrechens gekommen: eine regelrechte Entführungsindustrie;
Syndikate, die grenzüberschreitend gestohlene Autos verschieben; Schlepperbanden, die illegale Migranten in den Norden schleusen und viele Frauen in
Bordelle zwingen.
E
inmal im Jahr lädt der Unternehmerverband
ANEP nicht nur seine Mitglieder, sondern auch
den Präsidenten des Landes in eines der teuren
Hotels der Hauptstadt, um der Regierung seine Sicht
auf das Land vorzustellen, verbunden mit Vorschlägen, wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik zu gestalten sei. Laut Umfragen ist das Hauptproblem der
Verbandsmitglieder die Kriminalität: Sie zwinge die
Unternehmen zu hohen Ausgaben für die Sicherheit
und mache El Salvador für Investitionen aus dem
Ausland unattraktiv. Ein Mann, der in seiner Zeit als
Bürgermeister von New York (1994 bis 2001) mit seiner Null-Toleranz-Politik die Kriminalitätsrate um
mehr als die Hälfte heruntergedrückt hat, ist da interessant – auch wenn Menschenrechtsorganisationen ihn wegen seiner zum Teil rabiaten Methoden
kritisiert hatten. Doch den Unternehmerverband interessieren Zahlen, und die sprechen für Giuliani: 66
Prozent weniger Morde, 40 Prozent weniger Vergewaltigungen, 72 Prozent weniger Überfälle, 73 Prozent weniger Eigentumsdelikte.
In El Salvador zog Giuliani 1500 Zuhörer an. Die
gesamte Wirtschaftselite war gekommen: die Besitzer
von Banken, Handelshäusern, Sicherheitsunternehmen und Fabriken. Dazu Minister, Parlamentsabgeordnete aller Parteien, Staatsanwälte und Richter. Nur
2011 hatte die ANEP-Veranstaltung ähnlich viel Zulauf.
Damals war der ehemalige kolumbianische Präsident
Álvaro Uribe zu Gast und auch er sprach darüber, wie
er mit harter Hand gegen Gewalt vorgegangen war.
Freilich herrscht in Kolumbien ein Bürgerkrieg, während in El Salvador eine ehemalige Guerilla-Organisation an der Regierung ist, und auch die Verhältnisse in
New York sind nicht eben vergleichbar.
Präsident Salvador Sánchez Cerén, der zu Beginn
der Veranstaltung am Ehrentisch Platz genommen
hatte, nahm von Giuliani ein dickes Dokument in
Empfang, das den Titel „El Salvador hat eine Zukunft!“ trägt. Dann verabschiedete er sich, ließ aber
die Mitglieder seines Sicherheitskabinetts für den
Vortrag zurück. Die hörten zunächst sehr allgemein
gehaltene Ratschläge: Um Kriminalität zu bekämpfen, so Giuliani, „braucht man eine Strategie, einen
Plan und politischen Willen“. Und man müsse die zur
Verfügung stehenden Mittel „dort einsetzen, wo sie
am meisten benötigt werden“. Oberste Priorität müsse dabei die territoriale Kontrolle durch den Staat
haben. Als er New York als Bürgermeister übernommen habe, erzählte er, hätten Drogenhändler die
Stadt im Griff gehabt. „Heute kontrollieren sie keine
einzige Straße mehr, sie sind einfach verschwunden.“
Die Regierung reagiert verhalten auf Giulianis
Vorschläge. Er sehe keinen Anlass, sich über die
Ratschläge zu freuen, sagt der Sicherheitsminister.
Um zu wissen, wo mit der Arbeit zu beginnen sei,
empfahl er dringend eine unter seiner Ägide von der
New Yorker Polizei entwickelte computergestützte
Datenbank, ergänzt um ein Netz von Überwachungskameras. Damit könne man die Schwerpunkte der
Kriminalität erfassen, um dann gezielt Polizeikräfte
einzusetzen. Bislang wird das System vor allem in
US-amerikanischen Großstädten angewendet. In El
Salvador aber werden 57 Prozent aller Morde in nur
dünn besiedelten ländlichen Gegenden begangen.
Giulianis Analyse fußt auf der Befragung von Polizeichefs, des Generalstaatsanwalts und einiger
Richter. Sein Team hat zudem ein paar Gefängnisse
besucht, und Giuliani erntete tosenden Applaus, als
er ein Mobiltelefon aus der Hosentasche zog und
sagte: „Die Regierung muss die Gefängnisse neu
strukturieren. Warum zum Teufel haben Gefangene
in Haftanstalten Mobiltelefone? Warum nimmt man
sie ihnen nicht ab?“ Das Problem ist in El Salvador
lange bekannt. Die Gefängnisse sind mit derzeit über
8-2015 |
sicherheit welt-blicke
Rudolph Giuliani rät Anfang Mai
in El Salvador, seine Rezepte für
New York nachzuahmen. Dort
konnte Giuliani als Bürgermeister
die Verbrechensrate senken.
Jose Cabezas/Reuters
29.000 Häftlingen heillos überbelegt, ausgelegt sind
sie für knapp über 8000. Das schlecht ausgebildete
und schlecht bezahlte Wachpersonal ist völlig überfordert, das Leben in den Haftanstalten wird in der
Regel von den Gefangenen selbst organisiert. Sie hatten nie Probleme, Wachleute zu bestechen, um an
Drogen und Mobiltelefone zu kommen. Vor allem
Schutzgelderpressungen werden häufig aus dem Gefängnis heraus organisiert.
Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter müssten
enger zusammenarbeiten, forderte Giuliani. So lange sich diese Institutionen noch nicht einmal einig
seien über statistische Daten von Morden und anderen Delikten, könnten sie auch nicht am selben
Strang ziehen. „Sie müssen sich zusammensetzen;
sie brauchen dieselben Kriterien und Maßstäbe, um
Delinquenten ins Gefängnis zu bringen.“ Ferner
müsse man das Jugendstrafrecht verschärfen, eine
Datenbank mit genetischen Fingerabdrücken von
Straftätern aufbauen und die kriminalistischen Fähigkeiten der Polizei verstärken, um nicht nur auf
manipulierbare Zeugen angewiesen zu sein.
Danach aber werde alles besser: Wenn es erst einmal gelungen sei, die Kriminalität niederzukämpfen,
könne man in einem zweiten Schritt an Sozialprogramme denken. „Dann werden neue Arbeitsplätze
entstehen, bessere Wohnquartiere und bessere Schulen.“ Giuliani wiederholte wortwörtlich Sätze, mit denen er schon im Oktober vergangenen Jahres Unternehmer im Nachbarland Guatemala begeistert hatte.
Angesichts solcher Konzepte von der Stange fiel
die Reaktion der Regierung verhalten aus. „Die Problematik in El Salvador ist anders als in anderen Ländern“, sagte Sicherheitsminister Benito Lara. „Ich
sehe keinen Anlass, mich über Ratschläge zu freuen,
die ohne länderspezifische Erfahrung erteilt werden,
und schon gar nicht werde ich sagen: Das wird nun
gemacht.“ Nahezu alle Vorschläge Giulianis seien zu-
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Cecibel Romero
ist freie Journalistin in San Salvador.
dem bereits umgesetzt. So habe man längst die zehn
Gemeinden identifiziert, in denen am meisten Gewaltverbrechen begangen werden, und konzentriere
dort die polizeilichen Anstrengungen. Was noch fehle, das scheitere am Geld und an den technologischen Möglichkeiten.
T
atsächlich wird das, was Giuliani „Null Toleranz“
nennt, in El Salvador, Guatemala und Honduras
seit fünfzehn Jahren unter dem Namen „Harte
Hand“ praktiziert. Gefährliche Armenviertel werden
nachts durchsucht, jungen Leuten, die man auf
Grund ihrer Kleidung und ihrer Tätowierungen für
Mitglieder von Jugendbanden hält, werden verhaftet.
Der Kriminalität ist man dadurch nicht Herr geworden. Im Gegenteil: Die vorher nur lose miteinander
verbundenen Banden organisierten sich in den Gefängnissen straffer und operieren heute viel professioneller.
Der Jesuit José María Tojeira, ehemals Rektor der
Zentralamerikanischen Universität von San Salvador, hält Giulianis Vorschlag deshalb für „Zeitverschwendung“. Man könne nicht sinnvoll über eine
Bekämpfung der Gewalt diskutieren, ohne die im
Land herrschende „Ungerechtigkeit, die ins Auge
springende soziale Ungleichheit und die schwachen
staatlichen Institutionen“ anzusprechen. Tojeira ist
Mitglied eines von der Regierung einberufenen Sicherheitsrates, in dem Vertreter von sechzig wissenschaftlichen, sozialen und religiösen Institutionen,
Parteien und Verbänden einen Aktionsplan ausgearbeitet haben. Er enthält 130 Vorschläge, die in vielem
mit Giulianis Konzept übereinstimmen, anders als
dieses aber mehr Gewicht auf die Verbrechensprävention legen. Das Problem: Die Umsetzung dieser
Vorschläge würde zwei Milliarden US-Dollar kosten,
rund die Hälfte des jährlichen Staatsetats.
Auch Vertreter des Unternehmerverbands ANEP
sitzen in diesem Sicherheitsrat und haben die Vorschläge mitgetragen. Eine Steuererhöhung zur Finanzierung des Plans aber lehnen sie ab, obwohl die
Steuereinnahmen des Staats und der Gemeinden
derzeit zusammen bei gerade einmal 16,6 Prozent
des Bruttoinlandprodukts betragen. Wieviel sich
ANEP das Gutachten von Giuliani hat kosten lassen,
ist nicht bekannt. Im Vertrag sei vereinbart worden,
darüber Stillschweigen zu wahren. Als Berater des
Bürgermeisters von Mexiko-Stadt im Jahr 2003 hatte Giuliani vier Millionen US-Dollar kassiert, hat das
mexikanische Nachrichtenmagazin „Proceso“ herausgefunden.
Der Tag, an dem er seine Vorschläge in El Salvador präsentierte, war außergewöhnlich: 35 Menschen wurden ermordet. Im gesamten Monat Mai
waren es 635 – im Durchschnitt zwanzig am Tag. New
York hat gut zwei Millionen Einwohner mehr das das
kleine zentralamerikanische Land. 1993, als Giuliani
das Bürgermeisteramt übernahm, hat es dort in einem durchschnittlichen Monat 125 Tötungsdelikte
gegeben. In El Salvador gab Giuliani Ratschläge zur
Lösung eines Problems, das er in dieser Dimension
nie kennengelernt hat.
47
48
journal
entwicklungsfinanzierung
„Addis Abeba war eine vertane Chance“
Der Aktionsplan zur Entwicklungsfinanzierung überzeugt Wolfgang Obenland nicht
sen wird. Wir setzen uns als nichtstaatliche Organisationen dafür
ein, dass in diesem Rahmen weiter über die Aufwertung der UN
im Steuerbereich geredet wird.
Die Vereinten Nationen werten die
Ergebnisse der Konferenz in Addis
Abeba als wichtigen Schritt auf
dem Weg in eine nachhaltige Zukunft für alle. Die Zivilgesellschaft
dagegen ist unzufrieden. Der globale Norden habe kompromisslos
seine Interessen durchgesetzt, sagt
der Finanz- und Steuerexperte
Wolfgang Obenland. Es habe aber
auch ermutigende Signale gegeben.
Welches ist das wichtigste Ergebnis
der Konferenz?
Wir sind sehr enttäuscht. In
Addis Abeba ging es ja auch um
die Finanzierung der geplanten
Nachhaltigkeitsziele (SDGs). Ein
großer Baustein ist es, die Steuereinnahmen in den Entwicklungsund Schwellenländern zu erhöhen. Da geht es auch um eine bessere internationale Zusammenarbeit, um Steuervermeidung und
Steuerhinterziehung von transnationalen Konzernen zu unterbinden. Die Diskussionen darüber
laufen derzeit in der Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und
bei den G20. Ärmere Länder sind
nicht beteiligt. Deshalb lag die
Forderung auf dem Tisch, das
Steuerkomitee der Vereinten Nationen zu einer zwischenstaatlichen Kommission aufzuwerten.
Doch das hat nicht stattgefunden.
Die Regierungen haben sich auf
einen Formelkompromiss geeinigt. Das Komitee bekommt ein
paar mehr Ressourcen und wird
sich häufiger treffen, aber das war
es dann auch.
Ein Bündnis von 30 Organisationen
und Ländern, auch Deutschland,
hat in Addis eine Initiative für mehr
Steuereinnahmen in armen Ländern gestartet. Ist das hilfreich?
Auf jeden Fall. Es ist gut, wenn
mehr Geld in diesen Bereich fließt.
Aber die Probleme im globalen
Steuersystem kommen nicht daher, dass die Finanzämter im Süden nicht ausreichend ausgestattet wären. Das ist nur der kleinere
Teil des Problems. Der größere ist,
dass die globalen Regeln im Umgang mit transnationalen Konzernen nicht funktionieren und dass
daran nichts geändert wird.
Wo verliefen die Konfliktlinien?
Vor allem zwischen den G77,
dem Zusammenschluss von
Schwellen- und Entwicklungsländern, und dem globalen Norden.
Die G77 waren relativ geschlossen,
auch Schwellenländer wie Indien, das im Rahmen der G20 an
der Stärkung der internationalen
Steuerkooperation beteiligt ist,
haben sich für eine Aufwertung
Hat man das Problem vertagt?
Auch wenn wir kurzfristig
nicht erfolgreich waren, sind wir
trotzdem zuversichtlich. Denn der
Mechanismus, der die Verwirklichung des Aktionsplans von Addis kontrollieren soll, ist gestärkt
worden. Es soll jedes Jahr ein Forum bei den UN geben, das sich
eine Woche lang mit Fragen der
Entwicklungsfinanzierung befas-
Wolfgang Obenland ist Fachmann
für Finanz- und Steuerfragen bei der
Organisation Global Policy Forum
in Bonn.
privat
des UN-Gremiums stark gemacht.
Dagegen haben sich vor allem die
USA, Großbritannien und Japan
mit aller Macht gewehrt. Und sie
haben sich durchgesetzt.
Gab es aus Ihrer Sicht auch erfreuliche Ergebnisse in Addis?
Die muss man mit der Lupe
suchen. Zu Entschuldung, Handel
sowie Wirtschaft und Menschenrechten gab es nichts Neues. Die
größte Neuerung sind Vereinbarungen zum Technologietransfer.
Dazu wurden bei den UN ein Multi-Stakeholder-Forum mit Vertretern von Industrie, Privatwirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, ein Task-Team der UN
sowie eine Plattform für den Technologieaustausch eingerichtet.
In welcher Atmosphäre fanden die
Verhandlungen statt?
Sie waren in vielen Bereichen
hochgradig konfrontativ. Ich hab
es selten erlebt, dass Konflikte so
offen zutage getreten sind. Die
Regierungen des Nordens waren
nicht bereit, auf die G77 zuzugehen.
Welches Signal geht von Addis Abeba für die folgenden Konferenzen
zu den SDGs und zum Klima aus?
Wir glauben, dass der Süden
hier stärker auftreten wird. Der
globale Norden versucht, seine
Dominanz im internationalen
System zu verteidigen. Jeder Versuch, die internationalen Strukturen demokratischer zu machen,
wird konsequent blockiert. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass
das endlos gut geht. Die globalen
Kräfteverhältnisse in der Wirtschaft haben sich fundamental
gewandelt und das muss irgendwann einen Ausdruck auf politischer Ebene finden.
War Addis eine vertane Chance?
Ja. Allerdings waren einige der
Themen, um die es ging, relativ
neu. Und internationale Verhandlungen sind zäh. Wir haben das
erste Spiel verloren, aber wir werden nicht das ganze Turnier aufgeben. Ermutigend ist, dass die
Zivilgesellschaft so gut zusammengearbeitet hat und so geschlossen aufgetreten ist. Jede
Stellungnahme wurde intern abgesprochen zwischen Dutzenden,
wenn nicht Hunderten Organisationen. Das gibt mir Hoffnung,
dass wir auch in Zukunft viel erreichen können.
Das Gespräch führte
Gesine Kauffmann.
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und die Vorsitzende
der Afrikanischen Union Nkosazana Dlamini-Zuma
erklären die Ergebnisse der Konferenz von Addis.
reuters
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journal
49
klimaklage
Urteil: Klimaschutz
Ein Gerichtsentscheid in den Niederlanden sorgt für frischen Wind
Österreich: Klimaklage als
„Notwehr“ geplant
In Österreich prüfen die drei
großen Umweltorganisationen
Greenpeace Österreich, Global
2000 und WWF einen Prozess
In der Schweiz erwägt die Grüne
Partei, die Regierung auf höhere
Klimaschutzziele zu verpflichten.
Das Urteil in den Niederlanden
zeige, dass es möglich sei, auf gerichtlichem Weg politische Entscheide zu beeinflussen, sagt Urs
Scheuss, der Fachsekretär für Umweltpolitik bei den Grünen. Im
vergangenen Jahr hatte der Bundesrat erklärt, den Treibhausgasausstoß bis 2020 um 20 Prozent
zu reduzieren. Die Grünen hatten
40 Prozent gefordert. Derzeit analysiere man das Urteil aus Den
Haag und prüfe, inwieweit es auf
die Schweizer Rechtslage übertragbar sei, sagt Scheuss. Spätestens im Herbst will die Partei über
das weitere Vorgehen informieren.
Die Juristin Astrid Epiney von
der Universität Freiburg sagt indes, eine Klage nach niederländischem Muster sei in der Schweiz
unzulässig. Ein Kläger müsse in
seinen individuellen Interessen
betroffen sein; das sei aber nur
Deutschland: Eine Klage wäre
aussichtslos
Auch in Deutschland hätte eine
Klage gegen die Bundesregierung
nach Einschätzung von Klimaschützern keine Chance. Zwar seien vergleichbare Schritte auch im
deutschen Rechtssystem durchaus gangbar, sagt der Klimaexperte Christoph Bals von der Organisation Germanwatch. Doch solange die Bundesregierung an ihrem
Ziel festhalte, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren, sei die Klimapolitik schwer
als illegal anfechtbar. Selbst wenn
Deutschland nur deutlich über 30
Prozent erreiche, könnte Berlin
immer noch argumentieren, man
liege gut im Rennen. In den Niederlanden liegt das Ziel mit angestrebten 17 Prozent Emissionseinsparungen weit niedriger. Zudem
sei, so Bals, „die direkte Gefährdungslage deutlich größer“. Ein
großer Teil des Landes liegt unter
dem Meeresspiegel.
Solche direkten Gefahren seien in Deutschland nicht gegeben.
Sollten sich jedoch für die Wirtschaft künftig indirekte Risiken
als Folge der Klimakrise verschärfen, könnte das die Aussicht einer
Klage verbessern. Dazu könnte es
kommen, wenn beispielsweise
deutsche Energieunternehmen
als Mitverursacher der Klimaschäden belangt würden.
(hc/kam/maz/rld)
ept
1188>>2200 55ept
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Change
Schweiz: Die Grünen wollen im
Herbst entscheiden
dann der Fall, „wenn er in besonderer Weise und damit mehr als
alle anderen betroffen ist“.
www.theater–bonn.de
www.theater–bonn.de
Auf den 70 Seiten des Urteils übernimmt der Richter die Argumente
der Kläger, der Staat habe bislang
zu wenig unternommen, erkennbare Gefahren aus dem Klimawandel für seine Bürger abzuwehren. Die Niederlande hätten sich
verpflichtet, den Ausstoß von
Treibhausgasen bis 2020 um mindestens 25 Prozent im Vergleich
zu 1990 zu vermindern, doch die
bisher veranlassten Maßnahmen
würden allenfalls 17 Prozent bringen. Die möglichen Mehrkosten
einer wirksamen Gefahrenabwehr
könne die hochentwickelte Wirtschaft des Landes tragen. Dies sei
zumutbar, um größere Schäden
als Folge einer zu laschen Klimapolitik abzuwenden.
In verschiedenen Ländern
bereiten Umweltorganisationen
und Klimaschutzinitiativen ähnliche Klagen vor, etwa in Norwegen, den Philippinen und einigen
US-Staaten. In Belgien wurde
ein Verfahren im April förmlich
in Gang gesetzt, 9000 Bürger
und Bürgerinnen beteiligen sich
daran. Die britische Umweltorganisation ClientEarth, die sich
mit ihrer weniger umfassenden
Klage gegen die Londoner Regierung gegen Luftverschmutzung
des Verkehrs durch die Instanzen
streitet, nannte das Haager Urteil
„eine mächtige Stütze“.
nach dem Vorbild der Niederlande. Reinhard Uhrig, Energieexperte bei Global 2000, bezeichnet einen solchen Schritt als „Notwehr“,
sollte Österreich bei der Pariser
Klimakonferenz enttäuschen. Im
Herbst soll ein nationaler Klimagipfel stattfinden, von dem sich
die Umweltorganisationen erhoffen, dass Wien eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz einnimmt.
Wenn Österreich den Klimaschutz ernst nehme, müsse man
sich ambitioniertere Ziele setzen,
als international vorgegeben.
Der Klimawandel, so die drei
Organisationen, sei in Österreich
in Form von Schneemangel, Waldbränden oder Überschwemmungen längst angekommen; er verursache bereits jährliche Kosten
von über einer Milliarde Euro.
Gleichzeitig müsse das Land jedes
Jahr 15 Milliarden Euro für Importe von Kohle, Öl und Gas auslegen.
Climate
Fast zwei Jahre nach Eingabe ihrer
Strafanzeige bekam ein Netzwerk
von 900 engagierten Niederländern Recht: Ende Juni verurteilte
ein Gericht in Den Haag die Regierung dazu, mehr für den Klimaschutz zu tun. In anderen Ländern
wird nun an ähnlichen Klagen gearbeitet – mit unterschiedlichen
Aussichten auf Erfolg.
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| 8-2015
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journal
nothilfe
„Die lokalen Helfer sind frustriert“
Bernd Eichner über Licht und Schatten der humanitären Hilfe für Nepal
was die Menschen vor Ort brauchen. Das liegt auch daran, dass
die gutgemeinten Initiativen auf
die Bilder hereinfallen, die der
professionelle Hilfsapparat produziert. Die Arbeit großer Organisationen ist von Spenden abhängig, und die steigen mit dem Ausmaß der Zerstörung. Die Menschen vor Ort werden deshalb oft
als hilflose Opfer dargestellt.
Nach dem Erdbeben in Nepal war
die weltweite Hilfsbereitschaft
groß. Bernd Eichner von der Hilfsorganisation Medico International
erklärt, warum manche Initiativen
mehr schaden als helfen – und warum die Bedürfnisse der Menschen
vor Ort ignoriert werden.
Herr Eichner, Sie waren in Nepal
und haben den Ablauf des internationalen Hilfseinsatzes kritisiert.
Was ist schief gelaufen?
Zunächst: Eine ganze Menge
ist gut gelaufen. Das zeigt sich vor
allem daran, dass in Nepal auf die
erste Katastrophe keine zweite
gefolgt ist, dass also beispielsweise keine Hungersnot ausgebrochen ist. Das größte Problem liegt
im standardisierten Vorgehen
vieler großer Organisationen. Einer Hungersnot in Ostafrika wird
mit ähnlichen Mustern begegnet
wie einem Beben in Südasien. Das
führt oft dazu, dass die Bemühungen der Hilfsorganisationen den
lokalen Bedarf nicht widerspiegeln. Manchmal werden zudem
die einheimischen Strukturen der
Selbsthilfe überrollt.
Wie bei anderen Katastrophen gab
es auch in Nepal neben der professionellen Hilfe viele private Initiati-
Bernd Eichner ist Pressereferent
der Hilfsorganisation Medico
International in Frankfurt/Main.
medico international
ven aus dem Ausland. Wie beurteilen Sie die?
Die schaden oft mehr als sie
helfen. Ein Beispiel sind die obligatorischen Altkleider-Lieferungen, die auch jetzt wieder in Nepal auftauchen. Erstens ist es
nicht so, dass Leute nach einem
Erdbeben keine Kleider mehr am
Leib hätten, und zweitens legen
sie keinen Wert darauf, abgetragene westliche Klamotten aufzutragen. Hier herrschen einfach
falsche Vorstellungen darüber,
Mitsprache: Dorfbewohner und Aktivisten diskutieren
mit Regierungsbeamten über die Verteilung der Hilfe.
medico international
Was sagen Ihre nepalesischen Partnerorganisationen dazu?
Die sind teilweise richtig frustriert. Sie sehen zwar die Notwendigkeit, sich mit den internationalen Organisationen zu koordinieren, beschweren sich aber,
dass ihre Arbeit nicht wertgeschätzt wird. Vor allem haben sie
das Gefühl, zu Opfern gemacht
zu werden. Ein Beispiel: Als wir
mit unseren Partnern im ländlichen Gebiet rund um das Epizentrum des Bebens unterwegs waren, wurden wir von einer aufgebrachten Dorfgemeinschaft empfangen. Die Leute beschwerten
sich über die Haltung der internationalen Helfer. Als diese eine Woche nach dem Erdbeben im Dorf
angekommen waren, wunderten
sie sich darüber, dass die Dorfgemeinschaft die Verletzten bereits
versorgt oder in das nächste Krankenhaus gebracht hatte. Die ausländischen Helfer dachten also,
dass das Dorf die Verletzten ihrem Schicksaal überlässt, um sich
dann von außen retten zu lassen.
Diese Einstellung der ausländischen Helfer fanden viele sehr
verstörend.
Wie kann man es besser machen?
Wir glauben, dass die Projekte
von den Leuten vor Ort entworfen
und umgesetzt werden müssen.
Nur wer selbst Teil der Gesellschaft ist, hat Einblick in die
Strukturen und Machtverhältnisse und kennt die Ursachen der
Probleme. Das heißt aber nicht,
dass wir auf Hilfe von außen ver-
zichten sollten. Eine plötzliche
Katastrophe unterscheidet sich
von einer länger anhaltenden Krise dadurch, dass die lokalen Kapazitäten zur Selbsthilfe überfordert sind. Gute Nothilfe muss
diese Kapazitäten stärken und
nicht durch einen von außen eingeführten Apparat ersetzen.
Ende Juni hat die internationale
Gemeinschaft auf einer Geberkonferenz in Kathmandu Hilfe für den
Wiederaufbau zugesagt. Sind Sie
mit den Ergebnissen zufrieden?
Die Konferenz hat grundsätzlich ein positives Signal ausgesendet, dass die internationale
Gemeinschaft den Wiederaufbau
unterstützt. Die Probleme zeigen
sich aber im Detail und oft erst
im Nachhinein. Unsere Partnerorganisationen fordern, dass die
drei Milliarden US-Dollar gestrichen werden, die Nepal der asiatischen Entwicklungsbank, dem
Internationalen Währungsfonds
IWF und der Weltbank schuldet.
Das ist leider nicht passiert, stattdessen handelt es sich bei den vier
Milliarden US-Dollar die jetzt vor
allem von den Nachbarländern
Indien und China sowie der Europäischen Union und multilateralen Finanzinstitutionen bereitgestellt werden, größtenteils um
neue Kredite. Das birgt die Gefahr,
dass Nepal noch abhängiger vom
Ausland wird. Die Hilfe der Staatengemeinschaft erfolgt in den
seltensten Fällen aus purer Nächstenliebe. Vor allem die Hilfsbereitschaft von China und Indien
ist auch Ausdruck des politischen
Konkurrenzkampfes um geostrategischen Einfluss. Wir wissen
nicht, an welche Bedingungen die
Kredite geknüpft sind und werden
erst im Laufe des nächsten Jahres
sehen, ob mit dem Geld das Bildungs- und Gesundheitswesen
aufgebaut wird oder hauptsächlich neue Staudämme, die Strom
nach Indien liefern.
Das Gespräch führte Moritz Elliesen.
8-2015 |
berlin journal
berlin
Auf die Regierungen fixiert
Kritik an den Afrika-Leitlinien der Bundesregierung
Vor einem Jahr hat die Bundesregierung neue Leitlinien für ihre Afrikapolitik verabschiedet. Die sollten helfen, besser auf Konflikte zu
reagieren und mehr für den Frieden zu tun. Doch die Politik folgt
weiter den falschen Ansätzen, sagen Kritiker.
Sie wünschen sich von Deutschland vor allem mehr Engagement
für die Versöhnungsarbeit nach
Konflikten. Zudem müssten zivilgesellschaftliche Gruppen stärker
gefördert werden, so Vertreter
verschiedener afrikanischer Organisationen bei einer Veranstaltung des Hilfswerks Brot für die
Welt in Berlin.
In den afrikapolitischen Leitlinien hatte sich Berlin unter anderem vorgenommen, umfassender, schneller und entschiedener
auf Konflikte in Afrika zu reagieren. Zudem sollten regionale Zusammenschlüsse bei Vermittlungen und Friedensverhandlungen
gestärkt werden.
Die Politik sei jedoch zu stark
auf staatliche Strukturen und Akteure fixiert, kritisierte Wolfgang
Heinrich, Referatsleiter für Menschenrechte und Frieden bei Brot
für die Welt. Gerade in fragilen
Staaten fehle diesen meist die Legitimation. Ethnische Gruppen
sowie traditionelle und religiöse
Netzwerke blieben bei der Bewältigung der Krisen dagegen außen
vor. Auch bringe der regionale Ansatz keine wirkliche Verbesserung, wie sich im Fall der gescheiterten
Friedensverhandlungen
für Südsudan zeige.
Die teils fatale Rolle von
Nachbarstaaten betonte auch Peter Tibi vom Friedensinstitut Reconcile im Südsudan, das die Beteiligung religiöser Gruppierungen an den Friedensverhandlungen koordiniert. Tibi kritisierte
insbesondere die Rolle von Uganda und Sudan bei den Verhandlungen, die von der ostafrikanischen Staatengemeinschaft IGAD
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betreut wurden. „Hier wird Benzin ins Feuer geschüttet statt
Wasser“, sagte er auch mit Blick
auf Waffen, die über die Grenzen
ins Land sickerten.
Im Tagesgeschäft geht die
Prävention unter
Die geringen Bemühungen seiner
Regierung und der ausländischen
Geldgeber für eine nachhaltige
Versöhnung im Bürgerkriegsland Liberia beklagte Lancedell
Matthews von der New African
Agency for Research and Development. Die Regierung sei vor allem
an Investitionen interessiert, für
die Integration früherer Kämpfer
oder die Umsiedlung der Opfer
fehle aber das Geld. Deutschland
sollte sich dafür einsetzen, dass
mehr in die Heilung der Konflikte als für das „Herumdoktern“ an
den Symptomen investiert werde.
Der Forderung, die Bundesregierung müsse stärker präventiv
als reaktiv handeln und der Verbreitung von Kleinwaffen aus
deutscher Fertigung Einhalt gebieten, erteilte ein Vertreter des
Auswärtigen Amts jedoch einen
Dämpfer. Um auf Frühwarnsigna-
le besser reagieren zu können, sei
unter Außenminister Frank-Walter Steinmeier eine Abteilung für
Sicherheit und Krisenprävention
eingerichtet worden, sagte der
stellvertretende Referatsleiter für
das südliche Afrika, Horst Gruner.
Aber das Tagesgeschäft sei meist
von den akuten Krisen bestimmt.
Hinsichtlich der Eindämmung
von Kleinwaffen führe Berlin Gespräche mit mehreren Ländern –
auch was den Krieg in Südsudan
betreffe. Aber die Frage der Waffenkontrolle gehe weit über Afrika hinaus, so Gruner. Marina Zapf
berlin
Neuer Anstrich für die alte Asienpolitik
Das Entwicklungsministerium legt eine Strategie vor
Unter dem Motto „Asiens Dynamik nutzen“ hat Entwicklungsminister Gerd Müller ein neues Strategiepapier für
den Kontinent vorgestellt. Die Schwerpunkte liegen beim
Umwelt- und Klimaschutz, vor allem in großen Schwellenländern wie Indien und China.
In Lahore in Pakistan prüft ein Auszubildender seine
Metallarbeit. Berufliche Bildung ist ein Schwerpunkt
der deutschen Zusammenarbeit mit Pakistan.
florian kopp/lineair
Deutschland ist in 20 Ländern
Asiens und des Pazifiks aktiv und
vergibt nach eigenen Angaben
jährlich knapp zwei Milliarden
Euro an Zuschüssen und verbilligten Krediten. „Asiens große Herausforderung liegt darin, einen
nachhaltigen
Wachstumspfad
einzuschlagen, der alle Menschen
mitnimmt und die Umwelt
schont“, sagte Müller Mitte Juni in
Berlin. „Dafür bieten wir unsere
Erfahrungen und unser Knowhow an.“
Müller betonte, dass Partnerschaften mit China und Indien
für deren Mitwirkung bei den
neuen globalen Nachhaltigkeitsund Klimazielen unabdingbar
seien. Beide Länder sowie Indonesien erhalten Mittel für eine klimaschonendere Energieversorgung. Indien etwa erhält verbilligte Kredite zur Anbindung von
Wind- und Solarkraftwerken an
das Stromnetz.
Weil China zunehmend selbst
zum Entwicklungshelfer wird,
soll das Land zukünftig stärker in
Süd-Süd- oder Süd-Süd-Nord-Ko-
51
52
journal berlin
operationen eingebunden werden. Dazu scheint Peking auch
bereit. So will China OECD-Mitglied werden und trat vor kurzem
dem OECD Development Center
bei, dem entwicklungspolitischen
Institut der Industrieländerorganisation, dem auch Brasilien, Indien und Südafrika bereits angehören.
Die Regierung plant ein neues
Vorhaben für Arbeitsschutz
In anderen asiatischen Wachstumsländern setzt das Strategiepapier auf Bewährtes, wie etwa
den Aufbau von Strukturen zur
beruflichen Bildung. Mit Blick auf
die große Kluft zwischen Arm
und Reich in vielen Ländern Asiens will Deutschland auch auf Regierungen einwirken, sich für
menschenwürdige Arbeitsplätze,
existenzsichernde Einkommen
sowie für Sozial- und Umweltstandards einzusetzen, etwa in
der Textilindustrie. Um solche
Standards „länderübergreifend“
zu fördern, will Müller sein Textilbündnis nutzen. Zur Einhaltung
von Arbeits- und Sozialstandards
ist ein neues Regionalvorhaben
mit Kambodscha, Pakistan und
Bangladesch geplant.
Den Kampf gegen Hunger,
unter dem noch 500 Millionen
Menschen in Asien vor allem in
den ländlichen Räumen im Süden
des Kontinents leiden, will
Deutschland mit dem Ausbau
von Wertschöpfungsketten in der
Landwirtschaft unterstützen, vor
allem in Afghanistan, Indien und
Kambodscha. Für Regionen, die
besonders verletzlich für die Folgen des Klimawandels sind, will
Müller bestehende Pläne für Aufforstungs- und Waldschutzprogramme umsetzen, etwa entlang
des Mekong oder in der Mongolei.
Beim Einsatz erneuerbarer Ener-
gien sollen die neun Länder Indien, Indonesien, Afghanistan, Pakistan, Vietnam, Bangladesch,
Mongolei, Nepal und Sri Lanka
unterstützt werden.
Unter dem Strich bündelt das
Strategiepapier bereits bestehende Politikansätze, hebt dabei aber
deutlich die Schwerpunkte Klimawandel und Umweltschutz
hervor. Das Entwicklungsministerium zollt damit der Tatsache
Rechnung, dass die großen Länder Asiens, verantwortlich für
zwei Drittel der Treibhausgase,
für globale Vereinbarungen unverzichtbar sind.
Marina Zapf
berlin
Entwicklungsziele – eine unvollendete Aufgabe
Die UN legen ihren letzten Fortschrittsbericht zu den Millenniumszielen vor
Den Hunger und die Armut auf der
Welt deutlich verringern – dazu
waren vor 15 Jahren die acht Millenniumsentwicklungsziele (MDG)
der Vereinten Nationen (UN) ausgerufen worden. In ihrem letzten
Fortschrittsbericht ziehen die UN
eine positive Bilanz. Entwicklungsexperten sind skeptisch.
Die MDGs lieferten den Beweis,
dass globale Anstrengungen mit
festen Leitplanken Großes erreichen können. Wie nie zuvor hätten sie in den vergangenen 15 Jahren einen Trend zur Bekämpfung
der Armut gesetzt, heißt es im
Fortschrittsbericht 2015. Daraus
lasse sich Mut schöpfen, dass es
gelingen könne, extreme Armut
weltweit völlig auszumerzen.
Der Fortschrittsbericht 2015
ist die letzte Jahresbilanz der
MDGs und liefert damit den Ausgangspunkt für die neuen Nachhaltigkeitsziele (SDG), die die UN
im Herbst beschließen wollen.
Derzeit wird über 17 Ziele verhandelt, die für alle Länder gleichermaßen gelten sollen. Sie umfassen soziale, ökologische und ökonomische Aspekte nachhaltiger
Entwicklung.
Im Trend hat die Welt mit Hilfe der MDGs trotz widriger wirt-
schaftlicher Bedingungen bedeutsame Fortschritte gemacht.
So wurde der Anteil der Armen,
die mit weniger als 1,25 US-Dollar
am Tag auskommen müssen, um
mehr als die Hälfte auf 14 Prozent
der Weltbevölkerung reduziert.
Auch der Anteil der Hungernden
und die Rate der Kindersterblichkeit sei in der Zeit um mehr als
die Hälfte gesenkt worden.
Doch, so gießt etwa der Entwicklungsexperte Jens Martens
vom Global Policy Forum Wasser
in den Wein, seien Erfolgsmeldungen wie die Halbierung der
Armut auch irreführend. Denn
arm sei auch, wer mit 1,26 Dollar
am Tag sein Dasein friste. Gemessen an einzelstaatlichen Definitionen von Armut litten weltweit
nicht 836 Millionen Menschen
unter Armut, wie der UN-Bericht
angebe, sondern 2,5 Milliarden –
auch in Industrienationen.
Bei Bildung muss mehr auf
Qualität geachtet werden
Ein großer Teil der Erfolge gegen
Armut entfalle überdies auf China, so Martens. In Afrika sei die
Armut seit 1990 anteilig nur von
47 auf 41 Prozent gesunken. In absoluten Zahlen erlebe der Kontinent einen Anstieg von 287 auf
403 Millionen Arme. Ähnlich
müsse beim Zustand der Bildung
mehr auf Qualität geachtet werden als auf die Zahlen: Wenn heute neun von zehn Kindern die
Grundschule besuchten, heiße
das noch nicht, dass sie am Ende
lesen und schreiben könnten, da
oft die Lehrer fehlten.
Vergleichbare Defizite wollen
die UN mittels einer mehrschichtigen Bewertung in den SDG abbauen. Umso komplexer wird es,
Fortschritte zu messen. So wird
die Erhebung von Daten mit neuen Technologien sowie deren statistische Auswertung auch eine
Kernaufgabe sein, betonte Richard Dictus, Vertreter des UNEntwicklungsprogramms UNDP
in Deutschland, der den Bericht
in Berlin vorstellte. „Was gemessen wird, wird erledigt“, sagte er.
Das sei eine wichtige Lehre aus
den Millenniumszielen.
Einige Ziele hingegen wurden
in den vergangenen 15 Jahren
nicht erreicht, darunter die Beteiligung von Frauen an Wirtschaft
und Politik. Zudem stehe die Welt
noch vor einer riesigen „unvollendeten Agenda“, denn die Ungleichheit zwischen Arm und
Reich wachse sowohl zwischen
Nord und Süd wie innerhalb ar-
mer Länder, sagte Dictus. Dies sei
zusätzlich zu gegenwärtigen Konflikten ein Quell der Instabilität.
Deshalb, so die Forderung von
Jens Martens, müssten die SDGs
unbedingt Schritte gegen illegale
Abflüsse von Kapital aus Entwicklungsländern entwickeln – Geld,
das ihnen durch Steuervermeidung abhanden komme und
nicht in das Gemeinwohl investiert werden könne. Zumal die
staatliche Entwicklungshilfe ihre
Zusagen nicht erfülle: auch ein
verfehltes Ziel.
Marina Zapf
Bei der Bildung zählt die Qualität:
Ein Junge in Burundi in einem
­Lesecamp außerhalb der Schule.
Frank May/Picture Alliance
8-2015 |
brüssel | schweiz journal
brüssel
Migrantenabwehr mit allen Mitteln
Die EU-Chefs wollen mehr Kontrollen in den Herkunftsländern fördern
Die EU-Regierungschefs haben beschlossen, die EU-Entwicklungspolitik zu verschärften Grenzkontrollen in Herkunfts- und Transitländern einzusetzen und Abschiebungen zu beschleunigen.
Es sei die schwierigste Verhandlung gewesen, die er bisher mitgemacht habe, sagte der EU-Ratspräsident Donald Tusk nach dem EUGipfel am 26. Juni. Das bezog sich
jedoch nur auf die zwischen den
EU-Regierungen strittige Frage,
welches Land wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Schnell einig
waren sich die Regierungen hingegen, dass die EU-Entwicklungspolitik darauf auszurichten sei,
Zuwanderung aus dem Süden bereits in den Herkunftsländern zu
kontrollieren.
Insbesondere für die sogenannte „Rückübernahme irregulärer Migranten“ durch die Herkunfts- und Transitländer seien
„alle Instrumente“ der EU einzusetzen. Dazu sollten Handelsabkommen „als Anreiz“ für Rücknahmeabkommen genutzt werden, heißt
es im Gipfelbeschluss. Mit „entwicklungspolitischen Instrumenten“ solle der Aufbau lokaler Kapazitäten zur Grenzkontrolle, Schleuserbekämpfung und Wiedereingliederung verstärkt werden.
Wie das im Detail zu machen
wäre, überlassen die Chefs ihren
Ministern und der EU-Kommission. Entwicklungsminister Gerd
Müller hatte bereits Ende Mai einen Sonderfonds vorschlagen,
der aus bestehenden Geldtöpfen
wie dem Europäischen Entwicklungsfonds
gespeist
werden
könnte. Anfang Juni hatte der
stellvertretende Generaldirektor
der Entwicklungsabteilung der
Kommission, Marcus Cornaro,
eine ähnliche Überlegung angestellt und einen Treuhandfonds
aus Mitteln der EU-Entwicklungspolitik und Beiträgen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen, an
dem sich zudem auch andere Institutionen beteiligen könnten.
Auch dies liefe auf eine Umwid-
Nothilfe für die Sahel-Länder
Ende Juni hat die EU-Kommission der Zentralafrikanischen Republik weitere 72 Millionen Euro Nothilfe zugesagt, vor allem aus
dem Europäischen Entwicklungsfonds
(EEF). Seit Beginn der Staatskrise 2013 hat
Brüssel 377 Millionen Euro für das Land am
Südrand der Sahara aufgewandt, zumeist
aus dem EEF, der eigentlich für längerfristige Vorhaben und Programme da ist. Andere Sahel-Länder haben ebenfalls erhebliche
humanitäre Hilfe aus dem Fonds erhalten.
Für Mali sind 615 Millionen Euro bis 2020
vorgesehen. Mitte Juni wurde Burkina Faso
zur Stabilisierung nach dem vereitelten Mi-
litärputsch eine Übergangshilfe von 120
Millionen Euro für die nächsten 18 Monate
zugesagt. 21 Millionen Euro sagte die Kommission für Vertriebene der nigerianischen
Terrormiliz Boko Haram in Nigeria, Niger,
Kamerun und Tschad zu. Und Anfang Juli
verständigte sich Brüssel mit Vertretern
westafrikanischer Regionalorganisationen
auf weitere Hilfen aus dem EEF bis 2020 in
Höhe von insgesamt 1,15 Milliarden Euro.
Etwa ein Drittel davon wird für Militäroperationen gegen Boko Haram und für die
Friedenssicherung in Niger, Mali und
Tschad gebraucht. (hc)
mung von Mitteln der Entwicklungspolitik hinaus, die im laufenden mittelfristigen Finanzplan festgeschrieben sind.
ConcordEurope, der Dachverband europäischer Entwicklungsorganisation, kritisiert, dass der
EU-Gipfel Migration offenbar als
Aufgabe der Sicherheitspolitik
sehe. Brüssel sollte stattdessen in
eine Entwicklungspolitik investieren, die in den Herkunftsländern
würdige Arbeit und soziale Sicherheit fördert, damit Auswanderung
nicht zur Notwendigkeit werde.
Ätzende Kritik an den EU-Regierungen und dem Ministerrat
kam vom langjährigen Chef der
für Entwicklung zuständigen Generaldirektion in der Kommission, Dieter Frisch. Flucht vor Armut und Konflikten sei eine Folge
ausbleibender Entwicklung. Dennoch seien in den letzten Jahren
ständig mehr der knappen Mittel
für eine Entwicklungspolitik, die
dem vorbeugen solle, für die Sicherheitspolitik und die Bewältigung von Konfliktfolgen abgezweigt worden. Die zuerst 2003
als „vorläufig“ dem Europäischen
Entwicklungsfonds entnommenen Mittel zur Ausstattung von
Truppen der Afrikanischen Union
etwa hätten sich bis heute auf
zwei Milliarden Euro fast verzehnfacht – Geld, das nun nicht mehr
für Entwicklungsaufgaben verfügbar sei.
Heimo Claasen
schweiz
Entwicklungshilfe für die Asiatische Infrastruktur-Bank
Schweizer Hilfswerke hoffen auf eine neue Alternative zur Weltbank
Die Schweiz beteiligt sich mit 660
Millionen Franken (632 Mio. Euro)
an der von China initiierten Asian
Infrastructure Investment Bank
(AIIB). Ein Teil soll dem Budget der
Schweizer Entwicklungshilfe ent-
| 8-2015
nommen werden. Bei den Hilfswerken sorgt das für Stirnrunzeln.
Die AIIB soll dem wachsenden Finanzierungsbedarf für Infrastrukturprojekte in Asien nachkom-
men und damit die wirtschaftliche Entwicklung der Region fördern. Im Mittelpunkt stehen
Investitionen in die Energieversorgung, die Transportinfrastruktur, den Telekommunikationssek-
tor, die städtische und ländliche
Entwicklung sowie in Umweltvorhaben.
An der neuen internationalen
Bank beteiligen sich 57 Staaten.
China hat mit gut 26 Prozent der
53
54
journal schweiz
Anteile eine Mehrheit und wird
die Präsidentschaft übernehmen.
Indien ist mit 7,5 Prozent und
Russland mit 5,9 Prozent dabei.
Deutschland ist mit 4,1 Prozent
der viertgrößte Geldgeber und
das wichtigste nichtasiatische
Mitgliedsland. Die Schweiz hat
mit ihrer Beteiligung einen Stimmenanteil von 0,875 Prozent und
sieht ihr Engagement als Chance
für Schweizer Unternehmen.
Von der Schweizer Beteiligung
in Höhe von 660 Millionen Franken muss ein Fünftel, also 132 Millionen Franken (126 Millionen
Euro), tatsächlich einbezahlt werden. Dieses Geld wird laut dem
Staatssekretariat für Wirtschaft
(SECO) größtenteils bei der internationalen Zusammenarbeit gespart. Wie viel tatsächlich der Ent-
wicklungshilfe belastet wird,
hängt vom Entwicklungsausschuss der Industrieländerorganisation OECD ab: Der Ausschuss
muss entscheiden, zu welchem
Anteil die AIIB-Beiträge der offiziellen Entwicklungshilfe angerechnet werden können.
Die Hilfswerke warten noch ab
mit einem Urteil
Da die Finanzierungsmodalitäten
und die Sozial- und Umweltrichtlinien der AIIB noch nicht geklärt
sind, halten sich die Schweizer
Hilfsorganisationen mit Kritik
noch zurück. An die Regierung in
Bern aber stellen sie klare Forderungen. Die Alliance Sud etwa, die
Arbeitsgemeinschaft von sechs
großen Hilfswerken, erwartet,
dass der Bundesrat sich für sehr
hohe Sozial- und Umweltstandards bei der Vergabe von AIIBKrediten einsetzt: „Sollte sich die
Schweiz mit dieser Forderung
nach strikten Safeguards nicht
durchsetzen können, hat sie unter den Geldgebern der Bank
nichts mehr zu suchen.“
Damit die Beiträge an die AIIB
als Entwicklungsausgaben gelten
können, müsste die neue Bank ihren Fokus klar auf armutsreduzierende Projekte in den ärmsten
Ländern der Region legen, erklärt
Alliance Sud. Der Schweizer Beitrag dürfe aber nicht auf Kosten
der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit oder der humanitären Hilfe gehen. Sonst müsse
die Schweiz ihr Engagement für
andere multilaterale Entwicklungsbanken einschränken.
Trotz der Vorbehalte will Alliance Sud der AIIB ihre Berechtigung nicht absprechen, vor allem
wenn sie sich als Alternative zur
Weltbank und zur Asiatischen
Entwicklungsbank aufstelle: Kapitalbedürftige Staaten würden
durch die Konkurrenz bei der Kreditaufnahme „potenziell weniger
erpressbar und von den Interessen der klassischen Industrieländer unabhängiger“. Außerdem sei
die AIIB nicht als Ausdruck der
„Weltmacht-Ansprüche“ Chinas zu
sehen, sondern eher als Signal Pekings, sich multilateral einbinden
zu lassen. Das sei wichtig, da die
internationale chinesische Zusammenarbeit bislang vor allem
bilateral stattfinde und internationale Standards ignoriere.
Rebecca Vermot
schweiz
Eine Lobby für die Friedensförderung
Neue parlamentarische Gruppe will Schweizer Engagement stärken
Friedensförderung sei kein Anhängsel der Verteidigungspolitik, betont die Sozialdemokratin Evi Allemann.
Lukas Lehmann/keystone
Eine Gruppe von Parlamentariern
will der Friedensförderung mehr
Gewicht geben und sie in der Öffentlichkeit bekannter machen.
Die Ko-Präsidentin der Gruppe
schlägt vor, das Budget für diesen
Politikbereich zu verdoppeln.
Die Schweiz genießt den Ruf eines
Landes, das sich stark für interna-
tionale
Friedensbemühungen
einsetzt. Die zuständige Abteilung Menschliche Sicherheit ist
derzeit in acht Schwerpunktländer und -regionen tätig, vor allem
in Osteuropa und in Afrika. Dennoch sei die Friedensförderung
als Politikbereich nur selten öffentlich präsent, sagt Evi Allemann, Parlamentsabgeordnete
der Sozialdemokraten. Deshalb
sei die neue parlamentarische
Gruppe notwendig. Allemann ist
Ko-Präsidentin der Gruppe.
Bislang gab es keine innenpolitische Lobby für die Friedensförderung. Das sei in anderen Bereichen der Schweizer Außenbeziehungen nicht so, sagt Allemann
und verweist auf die internationale Zusammenarbeit und die
Handelspolitik. Die parlamentarische Gruppe wolle das ändern.
Die Friedensförderung sei wichtig, damit sich die Schweizer Bevölkerung mit dem Staat und der
Außenpolitik identifizieren könne. Ziel sei es, den betreffenden
Entscheidungsträgern den Rücken zu stärken und eine Grundlage für konstruktive Kritik zu
schaffen.
Die Friedensförderung sei weder nur eine Unterrubrik der Internationalen Zusammenarbeit
noch ein Anhängsel der Verteidigungspolitik, sondern eine zentrale Aufgabe der Schweizer Außenpolitik. Deshalb müsse ihr
„bei Zielkonflikten in den Außen-
beziehungen die notwendige Priorität eingeräumt werden“, fordert Allemann. Der Abteilung für
Menschliche Sicherheit stehen
für ihre Aufgaben jährlich 80 Millionen Franken (gut 76 Millionen
Euro) zur Verfügung. Das sind
knapp 2,5 Prozent des aktuellen
Budgets der internationalen Zusammenarbeit – „viel zu wenig“,
sagt die Parlamentarierin. Sie fordert, das Budget für die Friedensförderung müsse mindestens verdoppelt werden.
Die Lobbygruppe plant Veranstaltungen zu Aufgaben der Friedensförderung wie Mediation,
Demokratisierung und Vergangenheitsaufarbeitung. Dabei will
sie sich eng an der politischen Tagesordnung des Parlaments orientieren. Zu den Mitgliedern der
parlamentarischen Gruppe gehören Vertreter der Sozialdemokraten, der Grünliberalen, der Freisinnigen und der Christdemokraten. Das Sekretariat führt die
Schweizerische Friedensstiftung
swisspeace in Bern.
Kathrin Ammann
8-2015 |
österreich | kirche und ökumene journal
österreich
Engagement für die Kinder in Darfur
Österreich fördert Gespräche zwischen den Rebellengruppen
Kinder sollen nicht mehr für den
bewaffneten Kampf in der sudanesischen Konfliktregion Darfur rekrutiert werden. Darauf haben sich
Ende Mai Vertreter der drei größten bewaffneten Rebellengruppen
auf einer Konferenz in der Friedensburg Schlaining geeinigt.
Anführer des Justice and Equality Movement (JEM) und der zwei
Fraktionen des Sudan Liberation
Movement SLM-AW und SLM-MM
unterzeichneten das Abkommen.
Die Vereinten Nationen waren
durch Leila Zerrougui vertreten,
die Sonderbeauftragte für Kinder
in bewaffneten Konflikten. Das
Konferenzergebnis biete eine
Möglichkeit, das Vertrauen zu gewinnen und eine Gesprächsbasis
zu schaffen, sagte Zerrougui.
Alle drei Parteien stehen auf
einer schwarzen Liste der UN, weil
sie seit langem Kinder als Soldaten einsetzen. Zerrougui ist überzeugt, dass sich das mit dem Abkommen von Schlaining ändern
werde. Bernadette Knauder vom
Österreichischen
Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) weist aber darauf hin,
dass man die Einhaltung über
mehrere Jahre beobachten müsse.
Dem Abkommen waren vertrau-
ensbildende Gespräche in Schlaining vorausgegangen. Das ÖSFK
hatte die Konferenz in Kooperation mit der Darfur-Friedensmission der UN und der Afrikanischen
Union organisiert; die Austrian
Development Agency (ADA) hatte
die Finanzierung übernommen.
Seit 2009 gibt es Aktionspläne
der am Konflikt beteiligten Parteien, das Rekrutieren von Kindern
zu beenden. Das ÖSFK engagiert
sich seit 2012 dafür. Damals konnte mit dem JEM ein Aktionsplan zu
Kinderrechten vereinbart werden.
Inzwischen hat sich das ÖSFK als
Kompetenzzentrum zu Kinderschutz im bewaffneten Konflikt
und als Ort der Begegnung für
Konfliktparteien etabliert.
2014 wurden bei der sudanesischen Kommission für Entwaffnung, Demobilisierung und
Reintegration 450 ehemalige Kindersoldaten registriert, darunter
61 Mädchen. Allein im Sommer
2014 sollen aber laut Rebellen die
vom sudanesischen Geheimdienst
kontrollierten Rapid Support Militias mehr als 3000 Kinder zwischen 15 und 17 Jahren zwangsrekrutiert haben. Bernadette Knau-
der hofft, dass bei einer weiteren
Konferenz auch die sudanesische
Regierung an den Tisch geholt und
zur Einhaltung der Kinderrechte
verpflichtet werden kann. Konkrete Pläne gebe es dafür noch keine.
„Das Treffen in Österreich
weckt Hoffnung auf weitere Friedensentwicklungen“, sagt Dominique Mair, bei der ADA für Friedensförderung zuständig. In der
Vereinbarung von Schlaining erklären sich die Rebellengruppen
bereit, mit der sudanesischen Regierung in Verhandlungen zu treten. Ralf Leonhard
Wien vertagt Stufenplan
Österreichs Auslandskatastrophenfonds
wird ab 2016 auf 20 Millionen Euro vervierfacht. Darauf haben sich Außenminister Sebastian Kurz und Finanzminister
Hans-Jörg Schelling (beide ÖVP) unmittelbar vor der politischen Sommerpause Mitte Juli geeinigt. Nicht eingelöst hat die Regierung ihre Zusage, bis Sommer einen
Stufenplan zur Erhöhung der Entwicklungshilfe vorzulegen. Österreich liegt bei
nur 0,26 Prozent des Bruttonationaleinkommens, obwohl der zuständige Außenminister wie auch Bundeskanzler Werner
Faymann (SPÖ) sich wiederholt zum Ziel
von 0,7 Prozent bekannt haben. Die im
Dachverband Globale Verantwortung zusammengeschlossenen Entwicklungsorganisationen demonstrierten daher beim
Ministerrat, um die Regierung daran zu
erinnern. Als „Serviceleistung“ für die Regierung präsentierten sie einen Plan zur
Erhöhung der Hilfe bis zum Jahr 2030. Um
das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, müssten
sich die Leistungen von derzeit gut 860
Millionen Euro auf mehr als 3,1 Milliarden
Euro fast vervierfachen. (rld)
kirche und ökumene
Schmerzhafte Beziehungen
Kirchen beleuchten ihre Rolle während der Apartheid
Mehrere Jahre lange haben 23 protestantische Kirchen und Missionswerke aus Namibia, Südafrika und
Deutschland ihre Rolle in Kolonialismus und Apartheid aufgearbeitet. Jetzt liegen Ergebnisse vor.
Viel zu lange haben deutsche Kirchen und Missionswerke das
Apartheidregime in Südafrika un-
| 8-2015
terstützt oder zumindest nicht
hinterfragt. Erst in den 1970er Jahren hat sich hierzulande die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein
solches System nicht mit dem
christlichen Glauben vereinbar
ist. „Für viele sind die Wunden der
Apartheid, wie sie auch in Kirchen
praktiziert wurde, noch frisch“,
sagte Kobus Gerber von der Nie-
derdeutschen Reformierten Kirche in Südafrika bei der Vorstellung der Forschungsergebnisse
Ende Juni in Berlin. Deshalb sei es
notwendig, Schuld beim Namen
zu nennen. Und Jacob Lebaleng
Selwane, Bischof der ELCSA, der
größten evangelisch-lutherischen
Kirchen im Südlichen Afrika,
warnte: „Das Biest der Apartheid
ist noch lange nicht tot. Es hat nur
seine Gestalt gewandelt.“
Vor der Auseinandersetzung
mit der eigenen Rolle während der
Apartheid war bereits die koloniale Vergangenheit der evangelischen Kirchen im südlichen Afrika erforscht worden. 2004, zum
100. Jahrestag des Völkermords
und Kolonialkriegs in Namibia,
55
56
journal kirche und ökumene
hatte die rheinische Landeskirche
sich verpflichtet, ihre Rolle in dieser Zeit aufzuarbeiten. Rheinische
Missionare und Siedler zählten zu
den ersten Weißen im südlichen
Afrika. Die Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD) griff das landeskirchliche Projekt auf.
Es folgte ein Studienprozess,
an dem Theologen und Historiker
aus Deutschland, Südafrika und
Namibia beteiligt waren. Er beendete die Sprachlosigkeit, die vorher in den Kirchen und Werken
angesichts der eigenen Verstrickung in die Machtverhältnisse
im südlichen Afrika geherrscht
hatte. „Wir stehen gemeinsam in
der Pflicht, die Rolle der Kirchen
und Missionsgesellschaften zur
Zeit des Kolonialismus und der
Apartheid kritisch zu diskutieren“,
sagte die Auslandsbischöfin der
EKD Petra Bosse-Huber. „Dies gilt
auch für die noch weiterhin zu
führenden Diskussionen um die
Anerkennung des Völkermords an
Hereros, Nama und Damara 1904
bis 1908 und um deren kirchenpolitische Konsequenzen.“
Die Zusammenarbeit der beteiligten Kirchen geht nach Abschluss des Studienprozesses wei-
ter. Vereinbart wurden gemeinsame Konsultationen bis zum Reformationsjubiläum 2017.
Katja Dorothea Buck
Der Sammelband „Umstrittene Beziehungen. Protestantismus zwischen
dem südlichen Afrika und Deutschland
von den 1930er Jahren bis in die Apartheidzeit“ ist im Harrassowitz Verlag
Wiesbaden erschienen (Preis 68 Euro).
kirche und ökumene
Ein Minenfeld für deutsche Christen
Der südafrikanische Bischof Tutu mahnt eine klarere Haltung zu Palästina an
Den Palästinensern geschehe Unrecht, und die Kirchen in Deutschland sollten ihr Schweigen dazu
brechen. Das hat der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu
Ende April in einem offenen Brief
an den Deutschen Evangelischen
Kirchentag gefordert. Eine Antwort hat der prominente AntiApartheidkämpfer bisher nicht bekommen. Das enttäuscht vor allem
die Palästina-Unterstützer in den
deutschen Kirchen.
In seinem Brief nimmt Tutu kein
Blatt vor den Mund. „Unsere
christlichen Schwestern und Brüder im Heiligen Land haben nichts
von ausgewogenen Synodenerklärungen, die in gleicher Weise Sympathie mit dem Unterdrücker und
den Unterdrückten zum Ausdruck
bringen. Sie erwarten von uns alle
erdenkliche Hilfe, ihre kollektive Freiheit zurückzugewinnen“,
schreibt er in einem offenen Brief
an den Deutschen Evangelischen
Kirchentag (DEKT). Persönlich adressierte Kopien davon erhielten
außerdem der Ratsvorsitzende der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich BedfordStrohm, sowie der Vorsitzende der
Arbeitsgemeinschaft Christlicher
Kirchen (ACK), Bischof Karl-Heinz
Wiesemann.
Obwohl der Brief schon Ende
April verschickt worden war, hat
keiner der Adressaten bisher darauf geantwortet. Dabei bezeichnen viele Theologen in Deutsch-
land den Erzbischof aus Kapstadt
als großes Vorbild. Seit einigen
Jahren nutzt Tutu sein Renommee, um die israelische Besatzungspolitik international anzuprangern. Bei diesem Thema wird
es in Deutschland aber kompliziert. Der Brief sei zu kurzfristig
eingegangen, heißt es beim DEKT.
Man wolle sich die nötige Zeit
nehmen, um inhaltlich qualifiziert antworten zu können. Das
dauere wohl bis zur Sommerpause Ende Juli. Der EKD-Ratsvorsitzende dagegen wird nicht auf das
Schreiben antworten, ist aus dem
Kirchenamt in Hannover zu hören. Der Brief sei ja in erster Linie
an den Kirchentag gerichtet gewesen und nicht an den EKD-Rat. Mit
der gleichen Begründung wird es
auch von der ACK keine persönliche Antwort geben.
Das Kairos-Papier von 2009
wurde kontrovers diskutiert
Seit Jahren versuchen christliche
Initiativen in Deutschland, das
Thema Gerechtigkeit und Frieden
in Palästina stärker in den Blick
der Kirchenhierarchie zu bringen,
wie zum Beispiel das Kairos-Palästina-Solidaritätsnetzwerk,
Pax
Christi oder der Sabeel-Freundeskreis. Vergeblich hatten sie versucht, Veranstaltungen zum Kairos-Palästina-Papier ins offizielle
Programm des diesjährigen Kirchentags zu bringen. Das KairosDokument, das 2009 palästinensische Christen als Hilferuf an alle
Kirchen in der Welt geschickt hat-
Trotz palästinensischer Flagge beim Eröffnungsgottesdienst: Der Kirchentag hat Tutus Brief nicht aufgegriffen.
Patrick Seeger/picture Alliance/DPA
ten, war in Deutschland kontrovers diskutiert worden. Vor allem
der Vorschlag, israelische Waren
aus den besetzten Gebieten zu
boykottieren hatte für starken Gegenwind gesorgt.
Diskussionen über Israel und
Palästina arten unter deutschen
Christen schnell zu Grabenkämpfen aus – allerdings mit ungleicher Ausgangslage. In vielen Landeskirchen gibt es Sonderpfarrer
für den jüdisch-christlichen Dialog, die ihre Kirchen in Fragen der
christlich-jüdischen Beziehungen
beraten. Die Kairos-Palästina-Unterstützer
arbeiten
dagegen
durchweg ehrenamtlich und
müssen mit scharf formulierten
Briefen Gehör in der Kirchenleitung suchen.
Der Kirchentag in Stuttgart
wäre nun in den Augen der KairosUnterstützer ein gutes Forum gewesen, dem Thema noch einmal
eine neue kirchliche Öffentlichkeit zu geben. Doch die Verantwortlichen des Kirchentags lehnten alle Veranstaltungsvorschläge
ab. Sie berufen sich vor allem auf
Verfahrensregeln. Beim Kirchentag würden nicht Papiere, sondern Themen diskutiert, sagt Silke
Lechner, Studienleiterin beim
DEKT auf Anfrage. „Außerdem ist
eines unserer Grundprinzipien,
dass ein Thema nicht von einer
Organisation vorbereitet wird,
sondern von bunt gemischten
Gruppen, in denen verschiedene
Positionen vertreten sind. Da
8-2015 |
kirche und ökumene | global lokal journal
muss man sich schon im Vorfeld
immer wieder untereinander abstimmen.“
Der Kirchentag weist die
Vorwürfe zurück
Den Vorwurf, dass sich die Kirchentagsleitung am Thema Palästina aus inhaltlichen Gründen
nicht die Finger verbrennen wollte, lässt die Studienleiterin des
DEKT nicht so stehen. In Stuttgart
habe es sehr wohl Veranstaltungen dazu gegeben, aber eben in
anderer Form, sagt Lechner. „Wir
wollen immer beide Perspektiven
zu Wort kommen lassen.“ Wenn
man zu einseitig Position beziehe,
gefährde man unnötig das jüdisch-christliche Gespräch.
Genau diese Kritik kann Ulrich Duchrow, Theologie-Professor in Heidelberg und selbst seit
langem in der Kairos-PalästinaBewegung engagiert, nicht nachvollziehen. „Es geht uns um Frieden und Gerechtigkeit für beide –
Israel und Palästina. Wir wissen
sehr wohl, dass diese Völker nur
gemeinsam eine Zukunft haben.“
Deswegen suche man in der Kairos-Palästina-Bewegung bewusst
den Austausch mit jüdischen
Theologen. „Propheten und Thora
sprechen eine sehr deutliche
Sprache in Hinblick auf Unrecht
und wie damit umzugehen ist.
Genau an dem Punkt können Juden und Christen sehr gut zusammenkommen.“
Katja Dorothea Buck
kirche und ökumene – kurz notiert
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
wirbt für eine offene Begegnung der Religionen und plädiert für den Abschied vom „Geist
der Kleinlichkeit“. Religiöse Pluralität sei der
„Normalfall“, heißt es in einem neuen Grundlagentext des Rates der EKD. Der Rat plädiert
für ein Miteinander, das mehr ist als achselzuckende oder zähneknirschende Toleranz.
Zugleich grenzt er sich von der Vorstellung
ab, dass alle Religionen im Kern gleich seien.
Gemeinsam hätten sie jedoch die Aufgabe,
für die Religionsfreiheit einzutreten. Wer die
eigene Wahrheit ohne Absolutheitsanspruch
bekenne und zugleich für sein Gegenüber offen sei, zeige: Religion mache nicht engstirnig oder fanatisch, sondern dialogfähig. Gemeinsam könnten die Religionen feiern und
sich für eine gerechte und friedliche Weltgesellschaft einsetzen, heißt es in dem Text. (Luisa Seelbach)
www.ekd.de/EKD-Texte/christlicher_glaube
Aufgrund höherer Spenden und Erbschaften
sind die Erträge der Christoffel-Blindenmission
(CBM) 2014 um 4,8 Millionen Euro auf 67,4
Millionen Euro gestiegen. Man habe das zusätzliche Geld vollständig in Projekte investiert, sagte Geschäftsführer Rainer Brockhaus
Anfang Juli in Berlin. 32,5 Millionen Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsländern seien im vergangenen Jahr unterstützt worden, acht Millionen mehr als im
Vorjahr. Zudem habe die CBM ihre Pro­
gramm­arbeit stärker auf bestimmte Länder
und Themen fokussiert. Im vergangenen Jahr
war die augenmedizinische Hilfe ein Schwerpunkt. Zusammen mit Partnern vor Ort wurden unter anderem mehr Augenuntersuchungen an Schulen durchgeführt und mehr
Medikamente gegen Flussblindheit verteilt.
Derzeit unterstützt die CBM 672 Projekte in
65 Ländern.
(kb)
www.cbm.de/jahresbericht
global lokal
Gerd Müller setzt auf Kommunen
Das Entwicklungsministerium will mehr Süd-Engagement der Städte
„Entwicklungspolitik fängt zu Hause an“, sagt der zuständige Minister Gerd Müller. Auf der Bundeskonferenz der kommunalen Entwicklungspolitik Ende Juni in Hannover versprach er den Städten
und Gemeinden mehr Geld dafür.
Die tun sich trotzdem oft schwer in
der Nord-Süd-Arbeit.
Müller betonte vor rund 250
Vertretern von Städten, Ländern
und der Zivilgesellschaft, dass
Deutschlands Entwicklungspolitik auf die Kommunen angewiesen sei. Nationale und internationale Entwicklungsziele wie der
auf dem G7-Gipfel von Elmau verkündete Ausstieg aus der fossilen
Energieerzeugung müssten auf
der lokalen Ebene angegangen
werden. Diese sei das Fundament
für den Kampf gegen Umweltzer-
| 8-2015
störung und Klimawandel. Derzeit sind aber nur etwa 400 der
rund 11.000 deutschen Städte
und Gemeinden in Partnerschaften mit Kommunen in Afrika, Asien oder Lateinamerika entwicklungspolitisch aktiv.
Das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) will deshalb kommunale Nord-Süd-Partnerschaften mehr als bisher unterstützen
und den entsprechenden Haushaltstitel verdoppeln. Im Jahr 2015
hat das BMZ für kommunale Entwicklungsprojekte rund zehn Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Der niedersächsische Ministerpräsident Stefan Weil (SPD)
mahnte in, kommunale NordSüd-Aktivitäten hätten große
Vorzüge, könnten aber staatliche
und internationale Regelungen
nicht ersetzen. Die Spannung
zwischen kommunaler und nationaler Ebene beschäftigte auch
die Kommunalvertreter. Denn
die gestiegenen Erwartungen an
die lokale Ebene werten diese
zwar auf, setzen die Kommunen
aber auch unter Druck. Sabine
Drees vom Deutschen Städtetag
sagte, die kommunale Entwicklungszusammenarbeit sei häufig
unterfinanziert und könne daher
nicht immer den Erwartungen
entsprechen.
Kommunen können zwar für
Projekte im Süden Fördergelder
bei der Servicestelle Kommunen
in der Einen Welt beantragen.
Personalkosten und einen Eigenanteil von rund zehn Prozent
der Fördersumme müssen die
Stadtverwaltungen aber selbst
beisteuern. Für chronisch klamme Städte und Gemeinden ist das
aussichtlos, und selbst finanziell
gut gestellte Kommunen tun sich
schwer, das politisch durchzusetzen. Angesichts begrenzter Kapazitäten plädierten kritische Stimmen denn auch für mehr Qualität
bei den kommunalen Nord-SüdProjekten, statt vorrangig ihre
Zahl zu erhöhen.
Knappe Ressourcen führen
aber auch dazu, dass Städte die internationale Zusammenarbeit als
Geschäftsmodell entdecken. So
berichtete der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters, wie städtische Betriebe mit dem Export von
Fachkenntnissen und erprobten
Technologien für das Abfallmanagement in Kölns Partnerstädten Rio de Janeiro und Peking Einnahmen erzielt hätten, die weiteren Projekten zugutekommen.
Claudia Mende
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journal global lokal
global lokal
Lernen in der globalisierten Welt
Die Kultusminister beschließen einen neuen Orientierungsrahmen
Globale Zusammenhänge verstehen, fremde Sichtweisen auf die
Welt einnehmen – das ist das Ziel
des neuen Orientierungsrahmens
für den Unterricht an deutschen
Schulen. Verbindlich sind die Vorschläge darin allerdings nicht.
Der von der Ständigen Konferenz
der Kultusminister der Länder
und dem Bundesentwicklungsministerium herausgegebene Orientierungsrahmen ist eine Referenzgröße für die Lehrplangestaltung
in den Bundesländern und die
Schulbuchverlage. Er gilt für alle
Schultypen bis zum mittleren
Schulabschluss und soll dazu beitragen, die schulische Bildung von
eurozentrischen Sichtweisen zu
befreien und interkulturell zu öffnen. Erstmals umfasst der Orientierungsrahmen alle Schulfächer,
auch Kunst, Musik und Sport, ab
der Grundschule sowie den Bereich Berufliche Bildung. Dabei
folgt er dem Leitbild nachhaltiger
Entwicklung: Junge Menschen
sollen die notwendigen Kompetenzen erhalten, um sich in ihrem
späteren Leben globalen Herausforderungen wie dem Klimawan-
del zu stellen. Die Schüler und
Schülerinnen sollen sich stärker
mit anderen Perspektiven auseinandersetzen.
In den Fächern Politik und
Wirtschaft, aber auch in den
Fremdsprachen sollen mehr Texte von Autoren aus Afrika, Asien
und Lateinamerika gelesen werden. Das Fach Geschichte soll
beim Thema Kolonialismus die
Sichtweisen der kolonisierten
Länder stärker berücksichtigen.
In Kunst und Musik sollen außereuropäische Stilrichtungen behandelt werden.
Bis die neuen Unterrichtsziele
umgesetzt sind, wird es noch dauern. Hauptproblem sei, dass angesichts von Pflichtthemen und
Prüfungsvorgaben die Zeit fehle,
die Inhalte aus dem Orientierungsrahmen vertiefend zu bearbeiten, sagt der Pädagoge Martin
Geisz aus Hessen, der als Autor
und Berater mitgewirkt hat. Für
ihn bietet der neue Rahmen aber
auch Chancen für Umwelt- und
Entwicklungsorganisationen. Sie
könnten sich darauf berufen, um
mit ihren Themen in die Schulen
zu kommen. Claudia Mende
global lokal
Festes Schuhwerk empfohlen
Ein Theaterstück über Flüchtlinge wirft den Zuschauer mitten ins Geschehen
In den Nachrichten sehen wir die
Bilder von verzweifelten Flüchtlingen im Mittelmeer. Aber was erleben die Menschen, wenn sie ihre
Heimat verlassen? In einem außergewöhnlichen
Theaterprojekt
macht sich der Zuschauer mit ihnen auf den Weg.
Rajana ist von Somalia nach
Deutschland geflohen. Sie spricht
über einen Kopfhörer zu mir: „Ich
suche einen Menschen, dem ich
vertrauen kann. Hilf mir, jemanden zu finden“, sagt sie. In Düsseldorf-Oberbilk, im sogenannten „Maghreb-Viertel“ der Stadt,
am Rande eines Spielplatzes
fällt mein Blick auf eine Frau mit
langem Gewand, Kopftuch und
strahlendem Lächeln, die mich
zuvor von ihrem Reisebüro in
eine Wohnzimmer-Moschee geführt hat. Soll ich sie um Hilfe für
Rajana fragen? Oder soll ich mich
an den Polizisten neben ihr wenden? Ich besuche die Theateraufführung „Dorthin wo Milch und
Honig fließen“ – besser gesagt:
Ich nehme daran teil, denn es ist
eine interaktive Inszenierung zu
„Fluchtspuren“.
„Wir arbeiten erstmals mit einem solchen künstlerischen Format“, erklärt Thomas Klein von Engagement Global, dem BMZ-Service für Entwicklungsinitiativen,
der dieses Projekt zusammen mit
dem Eine-Welt-Forum Düsseldorf,
dem Eine Welt-Netz NRW und der
Exile-Kulturkoordination auf die
Beine gestellt hat. Die Inszenierung haben die Theaterregisseurinnen Charlott Dahmen und Karin Frommhagen übernommen.
Beide entwickeln seit Jahren innovative künstlerische Formate für
gesellschaftspolitische Themen
wie Flucht und Migration.
„Dorthin wo Milch und Honig
fließen“ beginnt über den Dächern von Düsseldorf – auf dem
Parkdeck am Hauptbahnhof. Die
Veranstalter empfehlen festes
Schuhwerk. Wir werden auf eine
etwa zweistündige „Fußreise“ vorbereitet, geführt von der Stimme
eines Flüchtlings, der seine Le-
bensgeschichte erzählt und uns
zu verschiedenen Spielorten lotst.
Wir erhalten einen Audioguide,
eine Skizze ohne Straßennamen
und eine Handynummer für den
Notfall. „Hören Sie auf Rajana!
Dann finden Sie den Weg“, versichert eine Theatermitarbeiterin.
Zuhören hilft nicht nur bei der
Orientierung, sondern lässt uns
mitfühlen mit den Flüchtlingen.
Rajana erzählt, wie ihre Eltern bei
einem Raketenangriff in Mogadischu getötet wurden, wie sie und
zwei überlebende Schwestern
bei einer anderen Familie aufwuchsen – als Arbeitssklavinnen
gehalten, geschlagen und brutal
Die Zuschauerinnen und Zuschauer müssen ihren Weg
selbst finden – dorthin wo Milch und Honig fließen. Als
Hilfen gibt es einen Audioguide und eine Handynummer.
©MEYER ORIGINALS; [email protected]
8-2015 |
global lokal | personalia journal
vergewaltigt. Mit 20 Jahren flüchtete sie und erreichte nach sieben
Jahren Deutschland. Ihre Lebensgeschichte fesselt mich so, dass
ich bei jeder Routenbeschreibung
stehen bleibe, die Pausentaste
drücke und mich erst wieder in
der deutschen Gegenwart orientieren muss, um den richtigen
Weg einzuschlagen. Der führt
mich in ein Reisebüro und eine
Wohnzimmer-Moschee, auf einen
Schulhof und vor eine Gefängnismauer, ich finde mich in einer
Flüchtlingsberatung und einem
Boxclub wieder, am Ende geht es
in das Café Salam. An all diesen
Spielorten wird Rajanas Geschichte konkret und nachvollziehbar.
Erst am Ende der Reise löst sich
die Anspannung
Auch die anderen „Theaterläufer“
folgen den Spuren von Flüchtlingen. Insgesamt sind es vier verschiedene Routen: die von Rajana
aus Somalia, Burhan aus Afghanistan, Sami aus dem Irak und
Halima aus Syrien. Ihre Namen
wurden geändert, aber die Geschichten sind authentisch – ausgewählt aus vielen Lebenswegen,
die in Interviews mit Flüchtlingen recherchiert wurden. Die
Wege kreuzen sich an drei Orten.
In der Flüchtlingsberatungsstelle
STAY, der auch die Eintrittsgelder
gespendet werden, fragen wir
nach den Asylmöglichkeiten. Rajanas Beschneidung und Vergewaltigungen sind kein Asylgrund,
aber wegen des Krieges in Somalia hätten sie, ihr Mann und ihre
kleine Tochter gute Chancen auf
Anerkennung, sagt eine Mitarbeiterin. Doch die zu erhalten, ist gar
nicht so einfach, wie sich beim
nächsten gemeinsamen Stopp
zeigt, dem „Box-Papst“ – einer
Kneipe mit Boxring im Hinterhof. Hier inszenieren vier Schauspieler in wechselnden Rollen die
Befragungen im Ausländeramt
als erbitterten Schlagabtausch
„Frage. Doppelpunkt. Wie heißen
Sie? Antwort. Doppelpunkt.“ –
„Warum sind Sie verhaftet worden?“ – „Warum sind Sie nach
Deutschland eingereist?“ Im
Stakkato folgt eine Frage der
nächsten – wie Schläge in die Magengrube.
Erst am Ende der Fußreise im
Café Salam beim marokkanischen
Minztee und Gespräch mit den
Schauspielern und mit Stadtteilbewohnern löst sich die Anspannung. An der Theke sehe ich den
Polizisten vom Spielplatz – Zufall?
Nein, es ist Dirk Sauerborn, Kontaktbeamter für interkulturelle
Angelegenheiten. Bärbel Röben
Anzeige
Weitere Aufführungen des Theaterstücks in Düsseldorf gibt es am 9. und
12. September jeweils um 12.00 Uhr
und am 16. und 17. September jeweils
um 17.30 Uhr.
www.engagement-global.de/theater
UNHCR
einen neuen Vorsitzenden: Der
badische Landesbischof Jochen
Cornelius-Bundschuh folgt auf
den Kasseler Bischof Martin
Hein. Die FEST zählt unter
anderem zu den führenden
deutschen Friedensforschungsinstituten in Deutschland.
personalia
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)
Thomas Manz ist neuer Repräsentant der FES in Brasilien. Das
Büro hat seinen Sitz in São Paulo.
Bastian Schulz hat zum 1. Juli das
regionale Gewerkschaftsprojekt
Subsahara-Afrika mit Sitz in Johannesburg/Südafrika übernommen. Sein Vorgänger Gerd Botterweck ist in Ruhestand gegangen.
FriEnt
Michael Hippler vom katholischen Hilfswerk Misereor ist seit
Mai Co-Vorsitzender des Lenkungsausschusses der Arbeitsgruppe Frieden und Entwicklung
FriEnt. Er löst Wolfgang Heinrich
von Brot für die Welt ab. Hippler
leitet bei Misereor die Zentral-
| 8-2015
stelle für Entwicklungshilfe. Für
Brot für die Welt sitzt nun Julia
Duchrow, die Referatsleiterin
Menschenrechte und Frieden,
im FriEnt-Lenkungsausschuss.
Brot für die Welt / Misereor
Alicia Kolmans von Misereor und Carolin Callenius von
Brot für die Welt haben die
beiden Hilfswerke verlassen
und leiten seit Juli gemeinsam
das Forschungszentrum für
Globale Ernährungssicherung
und Ökosystemforschung an
der Universität Hohenheim.
Kolmans und Callenius waren
bereits bei Misereor und Brot für
die Welt zuständig für Fragen
der Ernährungssicherung.
Der Vertreter
des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR)
in Deutschland,
Hans ten Feld,
ist Ende Juni in
den Ruhestand gegangen. Der
niederländische Diplomat stand
35 Jahre in den Diensten der
Vereinten Nationen, zunächst
beim UN-Entwicklungsprogramm und dann in mehreren Ländern beim UNHCR.
FEST
Die Forschungsstätte der
Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg hat
Schweiz
Fastenopfer
Die neue Fachverantwortliche
Bildung und Theologie beim
katholischen Hilfswerk Fastenopfer heißt Sonja Kaufmann. Neu in
den Fastenopfer-Stiftungsrat gewählt wurde unter anderem Peter
Niggli, bis Ende Juli Geschäftsleiter von Alliance Sud.
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service filmkritik
filmkritik
Klimawandel als Schicksal
Der Dokumentarfilm des Schweizer Regisseurs Matthias von Gunten schlägt einen weiten Bogen vom
Norden Grönlands bis zu einem kleinen Inselstaat im
Pazifik. Die Menschen in Thule und in Tuvalu bekommen die Folgen der globalen Erderwärmung besonders deutlich zu spüren.
ThuleTuvalu
Schweiz 2014, Regie und Drehbuch:
Matthias von Gunten, 96 Minuten
Kinostart: 13. August 2015
Der Inuit Rasmus lebt mit seiner Familie am nördlichsten bewohnten Ort der Erde. Das Eis vor Thule, erklärt er, sei in den 1990er Jahren noch zwei Meter dick
gewesen – nun sind es nur noch 30 Zentimeter. Die
Bucht sei früher bereits im Oktober zugefroren, zuletzt sei es erst im Januar soweit gewesen. Am Strand
einer Tuvalu-Insel zeigt derweil der Fischer und Kanubauer Patrick, wie das steigende Meer Palmen unterspült, das Grundwasser versalzt und Gemüseäcker
unfruchtbar macht, während der jährliche Regen ausbleibt und das Trinkwasser knapp wird.
Der Film besticht durch seine klare Erzählstruktur. Er wechselt zwischen den beiden Schauplätzen,
wobei die Montage manchmal so geschickt gestaltet
ist, dass man den Ortswechsel kaum bemerkt. Etwa
wenn Rasmus Jagdgerät im Meer säubert und nach
dem Filmschnitt Patrick sein Fischernetz auswirft.
So beschaulich die imposanten Naturaufnahmen
aus dem hohen Norden und dem vorgeblichen Südseeparadies auch wirken, sie sind geprägt von der
Ironie des Schicksals: Ausgerechnet die industriefernen Regionen leiden am stärksten unter den Langzeitfolgen der Industrialisierung.
Von Gunten kommt ohne Off-Kommentar und
Experten aus. Hintergrundinformationen liefern
eingeblendete Schrifttafeln. Auf einer liest man, dass
der Meeresspiegel weltweit um sieben Meter steigt,
falls das gesamte Eis Grönlands schmelzen sollte.
Die Eismassen, die bei Thule schwinden, tragen also
maßgeblich dazu bei, dass Tuvalu früher oder später
überspült wird. Der höchst Punkt der polynesischen
Inselgruppe liegt nur vier Meter über dem Meer. In
den vergangenen 20 Jahren ist das Wasser dort bereits um 19 Zentimeter gestiegen. Kein Wunder, dass
sich viele Einwohner Sorgen machen. Wer es sich
leisten kann, wandert nach Neuseeland aus – wie die
Lehrerin Foini mit ihrer Familie.
Doch was wird aus den ärmeren Bewohnern?
Viele Gläubige hoffen auf Gottes Hilfe und verweisen
auf das Bibelwort, laut dem nach der Sintflut keine
zweite Flut mehr folgen soll. Der 71-jährige Vevea, der
sechs Frauen und 21 Kinder hat, ist pragmatischer
und fordert eine Evakuierung an einen sicheren Ort.
Die Regierung des ebenfalls bedrohten Inselstaats
Kiribati macht schon Nägel mit Köpfen: Sie hat beschlossen, das Territorium aufzugeben und die Einwohner umzusiedeln.
Im direkten Vergleich trifft die Erderwärmung
die Tuvalesen härter als die Grönländer. Die traditionellen Inuitjäger, die heute noch ihre Familien mit
der Jagdbeute ernähren können, müssen vermutlich
den Beruf wechseln. Rasmus etwa wird vielleicht Fischer, weil vor Nordgrönland nun mehr Fische als
Robben und Narwale auftauchen. Sie können zumindest bleiben. Die polynesischen Inselbewohner dagegen können nicht mehr lange nachts mit der Lampe fliegende Fische fangen. Sie werden bald gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen. Auf sie warten
dann in Neuseeland schlecht bezahlte Aushilfsjobs
in Fastfood-Restaurants wie bei Foinis Kindern. Ihre
traditionellen Riten und Gesänge vermissen diese
Klimaflüchtlinge schon heute. Sie werden nicht die
letzten sein: Weltweit leben rund 150 Millionen Menschen in Gebieten, die der steigende Meerespegel
bedroht. Reinhard Kleber
rezensionen
Blick zurück im Schmerz
Die brasilianische Autorin Beatriz Bracher beleuchtet
in ihrem Roman die Folgen der Militärdiktatur (1964
bis 1985) für den Einzelnen und die Gesellschaft.
Beatriz Bracher
Die Verdächtigung
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2015,
169 Seiten, 18 Euro
Den Pensionär Gustavo quälen die Erinnerungen
und eine diffuse Vorstellung von Schuld. Er hat viel
Zeit zur Reflexion und auch einen Anlass: Eine
Schriftstellerin möchte ihn als Opfer der Diktatur interviewen, um an zeithistorisches Material zu gelangen. Das setzt Gustavo unter Druck. Wie soll er 30
Jahre nach dieser Zeit über individuelle und gesellschaftliche Traumata sprechen? Seine innere Auseinandersetzung vollzieht sich in einem langen Mo-
nolog, der keine zeitlich lineare Abfolge kennt und
breiten Raum bietet für Anspielungen, Zitate und
fiktionale Texte anderer Romanfiguren.
Angesichts seines Schicksals könnte sein Interviewbeitrag durchaus zum Lamento geraten: 1970
war er gefangen genommen und gefoltert worden.
Seine Verfolger wollten Informationen über andere
Untergrundkämpfer und Organisationsstrukturen.
Dabei war Gustavo mehr Sympathisant als Aktivist,
er hatte lediglich ein oder zwei untergetauchte Genossen versteckt. Noch während er im Foltergefängnis war, wurde sein Schwager, ein gewaltbereiter
Kämpfer, von Soldaten ermordet. Seine Frau musste
8-2015 |
rezensionen service
Brasilien fluchtartig verlassen und starb im französischen Exil. Sein Vater erlitt einen Schlaganfall. Körperlich versehrt kam er frei und lebte fortan mit der
Ahnung, dass alle anderen ihn als Verräter betrachten.
Obwohl diese als „Kainsmal“ empfundene Verdächtigung im Monolog zunächst nur kurz aufblitzt,
wird rasch klar, dass es sich um ein dauerhaftes
Schuldgefühl handelt. Aus den oft weit ausholenden,
dann wieder kursorisch-sprunghaften Erinnerungen lässt sich herauslesen, wie sehr es Gustavo in
den folgenden Jahrzehnten beschäftigt. Hinzu kommen der Schmerz über den Zerfall der Familie, die
Angst vor erneuter Verfolgung und die Vorsicht bei
Meinungsäußerungen im beruflichen Umfeld. Später beobachtet er das fortwährende Leid bei anderen
Personen, etwa bei einer Lehrerin, die in Panik gerät,
als sie hört, wie eine Glühlampe zerbirst.
Beatriz Bracher liefert einen Text mit vielschichtiger Struktur und häufig wechselnden Perspektiven.
Neben Gustavos Gedanken tauchen Evaluierungen
des Schulunterrichts auf, Fragmente des autobiographisch gefärbten Romans seines jüngeren Bruders,
provokante Lyrik seines Neffen sowie Auszüge aus
brasilianischer Literatur und journalistischen Texten, die sich mit Verfolgung und Gewalt befassen.
Bemerkenswert sind die rasanten Wechsel: Eben
noch sinniert der Romanheld über die Kindheitserinnerungen des Bruders, schon verspürt er aufgrund
eines kleinen inhaltlichen Schwenks große seelische
Not: „Und auf einmal bringt einer (…) alles zum Einstürzen, die Geschichte meines Zimmers und meine
persönliche Geschichte, die gleichzeitig auch die Geschichte meiner Familie ist, die auf einmal ins Wanken gerät, weil sich dort in der Vergangenheit etwas
verändert hat.“
Brasilien hat sich spät der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Militärdiktatur gestellt. Der vorliegende Roman zeigt eindrucksvoll, dass die individuelle
Selbstvergewisserung, die schon viel länger abläuft,
ein langwieriger und schmerzhafter Prozess ist.
Thomas Völkner
Update für Solidaritätsbewegte
Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes fassen wichtige Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre
in Zentralamerika zusammen. Sie schließen damit viele Informationslücken – über soziale Bewegungen jedoch erfährt man nur wenig.
Ina Hilse, Kirstin Büttner (Hg.)
Engagiert – resistent – bedroht
Handlungsspielräume und
Perspektiven sozialer Bewegungen
in Mittelamerika
Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015,
212 Seiten, 14,80 Euro
| 8-2015
Die Regale mit Sachbüchern über Zentralamerika
sind seit den 1990er Jahren ziemlich ausgedünnt.
Nach der Überflutung des Marktes mit politischen
Analysen und selbstverliebten Erlebnisberichten aus
Nicaragua, El Salvador und Guatemala während der
bewegten Dekade mit Revolutionen und Bürgerkriegen herrscht nun Ebbe. In Nicaragua wurden 1990
die Sandinisten abgewählt, und es begann ein politischer Roll-Back unter dem Vorzeichen des Marktliberalismus. El Salvador ist seit 1992 befriedet, Guatemala seit 1996. Honduras dient nicht mehr als Flugzeugträger der USA, auf dem konterrevolutionäre
Truppen für den Krieg gegen Nicaragua ausgebildet
wurden.
Was ist seitdem passiert? Zwar schweigen die
Kriegswaffen, doch El Salvador, Honduras und Guatemala gehören heute zu den Ländern mit dem
höchsten Ausmaß von Gewalt. Jugendbanden, entstanden aus Kindern, die in kalifornischen Vorstädten aufgewachsen sind und mit ihren Eltern in die
Heimat abgeschoben wurden, bekriegen einander
und terrorisieren ihre Wohngegenden mit Schutzgelderpressung. Die aus Mexiko überschwappende
Drogenkriminalität hat Institutionen und Gesellschaft durchsetzt. Gewalt gegen Frauen prägt den
Alltag.
Der vorliegende Sammelband richtet sich an
jene, die mit der Region schon einmal zu tun hatten
und ein Minimum an Vorkenntnissen mitbringen.
Er fasst anschaulich und knapp die Ereignisse der
vergangenen Jahre aus einer regime- und marktkritischen Perspektive zusammen: Eine Art „Update“ für
ehemals Solidaritätsbewegte. Und das ist hilfreich.
Gaby Küppers, Fachfrau der Grünen Fraktion im Europarlament für Lateinamerika und Handelspolitik,
erklärt das Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika. Sie macht
anschaulich, wer davon profitiert – nämlich Großkonzerne vor allem in Europa – und prophezeit, dass
die Bauern und Kleinproduzenten die Verlierer des
Freihandels sein werden.
Dass die evangelikalen Kirchen, allen voran die
Pfingstkirchen mit Mutterhäusern in den USA, Zentralamerika erobert haben, ist keine Neuigkeit. Aber
der Theologe Michael Ramminger stellt nicht nur die
unterschiedlichen Strömungen dar, sondern liefert
auch Erklärungen, warum die katholische Kirche
binnen weniger Jahrzehnte zwischen 30 und 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren hat und der konservative Protestantismus reiche Ernte hält.
Belize und Panama gehören zwar geographisch,
nicht aber historisch zu Zentralamerika. Belize war
bis 1981 eine britische Kolonie, Panama bis 1903 eine
Provinz von Kolumbien. Trotzdem werden auch diese beiden Länder gewürdigt, über die auch Lateinamerika-Kenner meistens wenig wissen. Ein kritisches Kapitel über die Auswirkungen des in den vergangenen Jahren sprunghaft gewachsenen Tourismus in der Region rundet den Rundumschlag ab.
Das Buch schließt in vielerlei Hinsicht Lücken – doch
den Anspruch, über die sozialen Bewegungen und
deren Perspektiven in Zentralamerika zu informieren, löst es nur sehr beschränkt ein.
Ralf Leonhard
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service rezensionen
Ohne Macht – und ohne Geld
Syrien-Krieg, Nahost-Konflikt und Ebola: Angesichts
zahlreicher globaler Krisen wäre eine funktionsfähige
UNO wichtiger denn je. Der Genfer Journalist Andreas
Zumach attestiert ihr einen bedauernswerten Zustand, sieht aber auch Auswege aus der Krise.
Andreas Zumach
Globales Chaos – machtlose UNO
Ist die Weltorganisation überflüssig
geworden?
Rotpunktverlag, Zürich 2015,
264 Seiten, 22 Euro.
Vor 70 Jahren wurden die Vereinten Nationen (UN)
gegründet – die internationale Organisation soll den
Frieden auf der Welt langfristig sichern. Doch allein
die Katastrophen und Kriege des vergangenen Jahres haben deutlich gemacht, in welcher tiefen Krise
sie steckt. Schon das Ende des Ost-West-Konfliktes
hatte den UN nicht, wie erhofft, zu mehr Durchsetzungsvermögen verholfen. Vielmehr wurden ihre
Charta und ihre völkerrechtlichen Errungenschaften
nach 1990 weitaus häufiger und gravierender verletzt als in den Zeiten des Kalten Krieges. Diese Entwicklung beschreibt Andreas Zumach in seinem lesenswerten Buch.
Als „Sündenfälle“ des Westens nennt er den Kosovokrieg der NATO sowie den Irakkrieg der USA und
Großbritanniens. Russland habe 2008 in Georgien
und durch die Annexion der Krim gegen die UNCharta verstoßen. Ferner hätten die USA nach dem 11.
September 2001 mit ihrem Krieg gegen den Terror
begonnen, völker- und menschenrechtliche Prinzipien auszuhöhlen.
Dabei wird eine starke und handlungsfähige
Weltorganisation heute mehr gebraucht denn je. Das
zeigen die vielen Konflikte und globalen Anforderungen der vergangenen Jahre, bei denen die UN jedoch kaum mehr eine politische Rolle übernehmen.
Sie scheinen oft überfordert, von den Mitgliedsstaaten ausgebremst oder blockiert. Zumach beschreibt
diesen Eindruck mit Blick auf den Syrienkrieg, den
Kampf gegen den Islamischen Staat (IS), die Ukrainekrise, den Nahost-Konflikt und den Ausbruch von
Ebola.
Das Versagen der Weltorganisation ist aber nicht
ihrer Inkompetenz zuzuschreiben, so Zumach. Die
UN arbeiten so gut oder so schlecht, wie die Mitgliedsstaaten dies wünschen. Im Sicherheitsrat verhinderten „rivalisierende Interessen der Vetomächte“ häufig ein Eingreifen. Im Ukraine-Konflikt etwa
griffen die UN nicht ein, so Zumach, weil dies von
den Konfliktparteien nicht gewünscht wird – die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSZE) solle sich darum kümmern. In anderen Fällen, etwa im Krieg gegen den IS, handelten die
USA ohne UN-Mandat.
Zudem sei die Weltorganisation hoffnungslos
unterfinanziert, weil Mitgliedsstaaten ihre Beiträge
zurückhalten, um Druck auszuüben. Ein Beispiel ist
laut Zumach das Versagen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Fall Ebola: Die Mitgliedsstaaten
seien dafür verantwortlich, dass die WHO seit Jahrzehnten unter Geldmangel leidet. So sei sie in immer
größere finanzielle Abhängigkeit von Pharmakonzernen und Privatstiftungen geraten, die vor allem
ihre eigenen Interessen verfolgen.
Für Zumach liegt auf der Hand, wie das System
verbessert werden kann: Mit Hilfe von Strukturreformen wie dem Verzicht auf das Vetorecht im Sicherheitsrat, durch eine zuverlässige Finanzierung und
eine starke Koalition von Mitgliedsländern, die multilateral Reformvorschläge verfolgen und umsetzen,
wenn die Blockierer im Sicherheitsrat nicht mitziehen. Einige Vorbilder dafür gibt es bereits: Zumach
nennt die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, die Vereinbarung des Kyoto-Protokolls zum Klimaschutz sowie die Konventionen zur Kontrolle des konventionellen Waffenhandels, zum Verbot von Antipersonenminen und von
Streumunition.
Eine kleine Geschichte der UNO, eine Liste der
bei den UN registrierten Hilfsorganisationen und
ein Organigramm runden das Buch ab. Es ist unverzichtbares Nachschlagewerk für alle, die sich für das
UN-System und dessen Rolle in der Friedenspolitik
interessieren.
Klaus Jetz
Wie Frieden schaffen?
Die deutschen Friedensforscher plädieren in ihrem
diesjährigen Gutachten für mehr Konfliktprävention
und den Aufbau der Zivilgesellschaft in gefährdeten
Ländern. Ein Schwerpunkt liegt auf den Konflikten im
Nahen Osten.
Janet Kursawe u.a. (Hg.)
Friedensgutachen 2015
Lit-Verlag, Münster 2015, 235 Seiten,
12,90 Euro
Die Herausgeber des diesjährigen Friedensgutachtens begrüßen, dass Bundespräsident Joachim Gauck
mit seinem Ruf nach mehr Verantwortung Deutschlands in der Welt den Raum für eine grundlegende
Kursbestimmung der deutschen Außenpolitik geöffnet hat. Diese dürfe sich nicht auf „militärische Imperative“ beschränken, betonen sie. Es gehe vielmehr
darum, Wege zu finden, „wie den aktuellen Konflikten friedenspolitisch verantwortungsvoll zu begegnen sei“. Die Herausgeber verstehen ihr Gutachten
als Beitrag zu einer differenzierten Analyse der internationalen Lage – und so enthalten die 15 Beiträge
nicht nur abstrakte Theorien, sondern auch praktische Ratschläge an die Politik.
Der erste Teil des Gutachtens setzt sich mit
grundlegenden friedenspolitischen Fragen auseinander. So untersuchen Matthias Dembinski und
Thorsten Gromes den Nutzen humanitärer Interventionen: Können sie die Gewalt tatsächlich stoppen
und was passiert, wenn die ausländischen Truppen
8-2015 |
rezensionen service
wieder abziehen? Die Autoren wollen mit ihrem Forschungsprojekt eine Entscheidungsgrundlage für
humanitäre Auslandseinsätzen schaffen, denn bislang liegen dazu noch keine verlässlichen Daten vor.
Markus Bayer, Felix Bethke und Daniel Lambach
zeigen in ihrem Beitrag, dass weder gewaltsame Aufstände noch ausländische Militäreinsätze Diktaturen in demokratische Systeme verwandeln können.
Sie plädieren für eine deutsche Außenpolitik, die
präventiv handelt und auf den Aufbau der Zivilgesellschaft setzt. Für Prävention ist es im UkraineKonflikt bereits zu spät. Trotzdem dürfe Deutschland nicht militärisch auf die Krise reagieren, meint
Wolfgang Zeller. Sein Vorschlag: Die Bundesregierung solle weiter an der Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens arbeiten und auf Kriegsrhetorik
verzichten. Langfristig könne aber nur ein russischeuropäischer Dialog zu Sicherheitsfragen helfen, der
beide Seiten ernst nimmt.
Im zweiten Teil des Gutachtens analysieren die
Autoren gegenwärtige Konfliktherde. Im Mittelpunkt steht der Nahe Osten, hier geht es insbesonde-
re um den Islamischen Staat (IS), Kurdistan und den
Israel-Palästina Konflikt. Besonders spannend sind
die beiden Beiträge zum IS. Jochen Hippler gibt einen Einblick in das Innenleben der Gruppe. Er zeigt,
dass sie längst mehr ist als eine Terrororganisation:
Sie herrscht über ein Gebiet, in dem acht Millionen
Menschen leben, regelt Justiz und Wirtschaft, und
greift dabei auf das Know-how ehemaliger irakischer
und syrischer Staatsangestellter zurück. Und Susanne Schröter geht der Frage nach, was junge Frauen
aus dem Westen dazu bewegt, sich den männlichen
Gotteskriegern anzuschließen.
Die Beiträge des Buches sind nahezu durchgehend interessant und lesenswert. Das liegt vor allem
daran, dass sie sich mit aktuellen und zum Teil noch
weitgehend unerforschten Phänomenen und Problemen auseinandersetzen. Es fehlt allerdings ein roter Faden. Wie die einzelnen Themen miteinander
zusammenhängen und ob sich die vielfältigen Anforderungen zu einer kohärenten Friedenspolitik zusammenfügen lassen, bleibt am Ende offen.
Moritz Elliesen
Weniger wäre mehr
Der französische Ökomom Serge Latouche rechnet mit
dem Wachstumswahn ab – unterhaltsam und einleuchtend. Praktische Vorschläge für Alternativen
kommen leider zu kurz.
Serge Latouche
Es reicht! Abrechnung mit dem
Wachstumswahn
Oekom Verlag, München 2015
201 Seiten, 14,95 Euro
| 8-2015
Degrowth: Das ist kein neues Konzept. Schon in den
1970er Jahren dachte etwa der französische Sozialphilosoph André Gorz über den Wert der Arbeit
nach, wie sie organisiert ist, was sie mit uns macht
und ob man sie nicht anders aufteilen könnte. Wie
wir anders arbeiten könnten, das ist ein Pfeiler der
Überlegungen rund um Degrowth, das sich mit
Wachstumsrücknahme übersetzen lässt. Einer der
führenden Verfechter ist der ebenfalls aus Frankreich stammende Serge Latouche, emeritierter Wirtschaftsprofessor aus Paris.
Worum genau geht es? Latouche macht sich die
Mühe vorzurechnen, was allen Menschen bewusst
sein sollte, die bei klarem Verstand sind, was die
meisten aber, vor allem in den Industrieländern, ignorieren: Die Ressourcen des Planeten Erde sind
endlich, aber die Menschen verbrauchen sie weiter
in rasantem Tempo und tun so, als könne das so bleiben. Autos, Fernreisen, Kleidung, Fleisch: Man arbeitet hart und belohnt sich dafür mit Konsum. Soll es
das gewesen sein?
Aus dieser Sackgasse will Latouche die Leserinnen und Leser führen, und das tut er unterhaltsam
und bissig auf knappem Raum. Mit prägnanten Verweisen auf vorrangig französische und italienische
Denker skizziert das Buch, worum es geht: Dass sich
„im Norden wie im Süden autonome, sparsame, solidarische Gesellschaften“ entwickeln. Dass lokale Produktion dominiert und nicht die Haltung der Konsu-
menten, alles zu jeder Zeit haben zu können. Dass
die Alleinherrschaft der Autoindustrie gebrochen
wird. Dass Bürgersinn ein wichtigerer gesellschaftlicher Wert wird als Wettbewerb – um nur einige Punkte zu nennen, die mal sachlich, mal mit polemischen
Spitzen und auch vereinzelt unsachlich vorgetragen
werden.
Was soll dieser vom Verlag mit einigen Jahren
Verspätung aus dem französischen übertragene Essay für eine bessere Welt erreichen? Wer nur ein wenig darüber nachdenkt, muss schon sagen: Serge Latouche hat nach wie vor Recht! Alle bisherigen, halbherzigen politischen Projekte einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise genügen nicht, der Begriff
„Nachhaltigkeit“ ist zum skandalösen Gummiwort
verkommen. Keine Regierung in Deutschland ist bisher bereit, den Wählerinnen und Wählern wirklich
einmal etwas zuzumuten, was nur im Entferntesten
nach Verzicht aussehen könnte. Denn die zucken
schon zusammen, wenn ein fleischfreier Tag pro Woche in Kantinen vorgeschlagen wird. Düstere Aussichten.
Deshalb sollte das Konzept des „Degrowth“ in
Schulen zum Pflichtthema werden, nicht nur ein
kleiner Kreis, sondern alle sollten darüber nachdenken, wie sie leben wollen und wie das gutgehen soll.
Leider mangelt es in Latouches Buch an derlei praktischen Vorschlägen, wie Wachstumsrücknahme
machbar ist. Das Fazit gerät zum intellektuellen Sahnehäubchen, statt noch einmal konkreter zu werden,
Optionen aufzuzeigen anhand von Projekten, und
Ansätzen, die motivieren. Zum Einstieg ins Thema
lässt sich das Buch dennoch empfehlen, mit kleinen
Abstrichen. Felix Ehring
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service rezensionen
kurzrezensionen
Indonesiens
schweres Erbe
Vor 50 Jahren, im Oktober 1965,
begann in Indonesien ein grausames Massaker. Die indonesische
Armee verübte einen Massenmord an Kommunisten und deren Sympathisanten, Hunderttausende Menschen kamen ums
Leben. Viele Überlebende saßen
Jahre im Gefängnis, oft ohne Gerichtsverfahren. Vorangegangen
war ein Putschversuch der soge-
nannten „Bewegung 30. September“, für den die kommunistische
Partei mitverantwortlich gemacht wurde. An der Spitze der
Armee stand damals General Haji
Mohamed Suharto, der das Land
später von 1967 bis 1998 auf der
Grundlage einer neoliberalen
„Neuen Ordnung“ mit harter
Hand regierte und im Westen hohes Ansehen genoss.
In Indonesien sind Historiker, Aktivisten und Künstler seit
etwa 15 Jahren damit beschäftigt,
die blutige Vergangenheit auf-
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zuarbeiten. Die deutsche Journalistin Anett Keller, die lange in
Indonesien gelebt hat, hat deren
Analysen und Initiativen in einem politisches Lesebuch zusammengetragen. Zu Wort kommen
ausschließlich indonesische Autorinnen und Autoren. Protokolle
von Opfern machen klar, welches
Leid die Massaker über die Menschen gebracht haben und welche
Spuren sie in der Gesellschaft und
in den Seelen der Einzelnen bis
heute hinterlassen haben. Stellvertretend sei die Tänzerin Darmi
zitiert, die mit einem Kommunisten verheiratet war und nach
der Ermordung ihres Mannes unzählige Erniedrigungen erdulden
musste: „Aus mir ist eine leere
Hülle geworden. Das ist die Last,
die ich tragen muss, bis zu meinem letzten Atemzug.“
Über dieses dunkle Kapitel
der indonesischen Vergangenheit
ist im Ausland wenig bekannt;
das ändert sich erst langsam, unter anderem dank der Filme des
Regisseurs Joshua Oppenheimer:
„The Act of Killing“(2013) und „The
Look of Silence“, der im Oktober
in die deutschen Kinos kommt.
Kellers Lesebuch verschafft Zugang zu den Ereignissen von 1965
und ihren Folgen auf unterschiedlichen Ebenen und hilft damit, eine Wissenslücke zu schließen. (gka)
Anett Keller (Hg.)
Indonesien 1965 ff.
Die Gegenwart eines Massenmordes
Regiospectra Verlag, Berlin 2015, 214
Seiten, 19,90 Euro
Wie werden wir
zukunftsfähig?
Die internationale Gemeinschaft
will im September neue Nachhaltigkeitsziele verabschieden und
damit einen neuen Orientierungsrahmen für die Entwicklungspolitik bis 2030 setzen. Die
Ziele sollen, anders als ihre Vorgänger, die Millenniumsentwicklungsziele, für alle Länder gelten
– arme wie reiche gleichermaßen.
Auch die Deutschen müssen sich
also überlegen, wie sie diese Ziele
auf nationaler Ebene erreichen
können.
Über das „zukunftsfähige
Deutschland“ haben sich Umweltund Entwicklungsorganisationen
bereits unter anderem mit zwei
Studien gleichnamigen Titels Gedanken gemacht. Darauf greift
der vorliegende Sammelband zurück, mit dem die Herausgeber
Jörg Hübner und Günter Renz
von der Evangelischen Akademie
Bad Boll die gesellschaftliche Debatte beflügeln wollen. Darin werden zunächst noch einmal die
Entstehung und die Wirkung der
beiden Studien rekapituliert; es
folgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem ihnen zugrundeliegenden Modell für eine
Transformation zu einer „öko-fairen“ Gesellschaft. Diese sei keineswegs ein linearer und politisch gestaltbarer rationaler Prozess, warnt der Soziologe KarlWerner Brand. Sie weise vielmehr
in vieler Hinsicht eine „chaotische Entwicklungsdynamik“ auf.
Gerechtere Verhältnisse müssten
erkämpft werden, und ließen sich
immer nur zeitweise „in einer
prekären Balance von Machtverhältnissen, kulturellen Lebensverhältnissen und politischen
Ordnungsmodellen stabilisieren“.
Ferner geht es um die oft beklagte, aber nicht weniger wichtige Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Handeln sowie um einzelne Aspekte der Nachhaltigkeit
etwa in der Mobilität, der Ernährung und der Bodennutzung. Die
einzelnen Beiträge sind zuvor bereits zum Teil in anderen Publikationen erschienen. Doch dieser
Band liefert eine gelungene Mischung aus grundsätzlichen
Überlegungen und konkreten
Handlungsfeldern. (gka)
Jörg Hübner, Günter Renz (Hg.)
Gut – besser – zukunftsfähig
Nachhaltigkeit und Transformation als
gesellschaftliche Herausforderung
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2015,
156 Seiten, 19,99 Euro
8-2015 |
termine service
termine – veranstaltungen
Ammersbek
18. bis 20. September 2015
Den Fokus verschieben
Neue Ansätze in der Bildungsarbeit zu Afrika
Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst
Bildungsstelle Nord
Kontakt: Tel. 040-6052559
www.brot-fuer-die-welt.de
Bad Boll
2. bis 5. September 2015
Die Jesuitenmission und die erste
große Begegnung mit China
Philosophische Sommerakademie
Evangelische Akademie Bad Boll
Kontakt: Tel. 07164-790
www.ev-akademie-boll.de
Hamburg
31. August bis 4. September 2015
Sehnsucht nach Gemeinschaft
Glück und Genossenschaften
Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg
Kontakt: Tel. 040-3895270
www.umdenken-boell.de
Kochel am See
18. bis 20. September 2015
Frauennetzwerke für den Frieden –
engagiert, aber ignoriert?
Zur Geschichte und Zukunft einer Bewegung
25. bis 27. September 2015
Unser ferner Nachbar?
Akteure und Krisenherde in der
Sicherheitspolitik in Afrika
Georg-von-Vollmar-Akademie
Kontakt: Tel. 08851-780
www.vollmar-akademie.de
Leipzig
15. bis 20. September 2015
Wirtschaft anders machen
Sommerwerkstatt
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen
Kontakt: Tel. 0351-4943311
www.weiterdenken.de
Schmitten
11. bis 12. September 2015
Noch eben kurz die Welt retten?
Führungsverantwortung in
einer Welt im Wandel
Evangelische Akademie Arnoldshain
Kontakt: Tel. 069-17415260
www.evangelische-akademie.de
Speyer
16. bis 18. September 2015
Jahrestagung der Gesellschaft
für Evaluation
Evaluation und Wissensgesellschaft
Kontakt: Tel. 06131-3926869
www.degeval.de
Wittenberg
30. bis 31. August 2015
Reformation und Israel
Versuche einer protestantischisraelischen Annäherung
Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt
Kontakt: Tel. 03491-49880
www.ev-akademie-wittenberg.de
Würzburg
31. August bis 3. September 2015
Zivile Konfliktbearbeitung
im Transcend-Verfahren nach
Johan Galtung
Akademie Frankenwarte
Kontakt: Tel. 0931-804640
www.frankenwarte.de
Impressum www.welt-sichten.org
Redaktion:
Bernd Ludermann (bl, verantw.),
Tillmann Elliesen (ell), Gesine Kauffmann (gka),
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Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der
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Felsberg
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Herausgeber: Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (VFEP), Hans Spitzeck (Vorsitzender), Brot
für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, CarolineMichaelis-Straße 1, 10115 Berlin
Preis der Einzel-Nr.: 5,50 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten
Preis im Jahresabonnement: 49,20 Euro, ermäßigt 36,90 Euro.
Preisänderungen vorbehalten.
Mitglieder im VFEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt
– Evangelischer Entwicklungsdienst (Berlin), Christoffel-Blindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern), Kindernothilfe
(Duisburg), Misereor (Aachen)
ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“
und „eins Entwicklungspolitik“.
| 8-2015
Dienstag, 11. August
23:20-00:10, ARTE
Mit 90 die Welt retten
Wollen wir wirklich weiter
einkaufen, konsumieren
und Geld anhäufen, damit
die Wirtschaftskrise überwunden wird? Shirley und
Hinda, beide knapp 90, fahren quer durch die USA, um
Menschen davon zu überzeugen, dass es nie zu spät
ist, die Notbremse zu ziehen.
© Viggo Knudsen, ZDF
Bundesweit
11. bis 25. September 2015
Faire Woche
Fairer Handel schafft
Transparenz
Forum Fairer Handel, TransFair, Weltladendachverband
Kontakt: Tel. 030-28040908
www.fairewoche.de
tv-tipps
ISSN 1865-7966 „welt-sichten“
Freitag, 14. August
08:50-10:20, ARTE
Abgekartet – Welthandel auf
hoher See
Weltweit verkehren 53.000
Handelsschiffe auf den internationalen Wasserwegen.
Sie befördern insgesamt
acht Milliarden Tonnen Güter pro Jahr und damit 90
Prozent des Welthandelsvolumens. Wer kontrolliert das
und wer profitiert davon?
radio-tipps
Montag, 17. August
08:30-08:58, SWR2
Slum-City
Favela-Bewohner aus
Brasilien, der amerikanische Stadtforscher Mike
Davis und Architekten aus
Afrika und Indien erzählen von ihren Versuchen,
Slums in traditionelle
Städte zu integrieren.
Dienstag, 25. August
19:30-20:00, Deutschlandradio Kultur
Feature: Tank, Trog, Teller
Die Zukunft der Bioenergie
Weitere TV- und Hörfunk-Tipps
unter www.welt-sichten.org
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service termine
termine – kulturtipps
Digital und global: Kunst für alle Sinne
Wenn Wolken durchs Museum
schweben – das Karlsruher ZKM hat
sich ein 300-Tage-Kulturproramm
vorgenommen.
ZKM
Vor 300 Jahren legte der Markgraf
von Baden-Durlach, Karl Wilhelm,
den Grundstein für seine neue
Residenz – die heutige Großstadt
Karlsruhe. Das Zentrum für Kunst
und Medientechnologie (ZKM)
beteiligt sich am Stadtjubiläum
Görlitz
mit dem großangelegten Kunstereignis „Globale“, das die kulturellen Effekte von Globalisierung
und Digitalisierung aufgreift. Insgesamt 300 Tage lang werden Installationen, Kunstwerke an der
Schnittstelle zur Naturwissen-
Hamburg
schaft, Performances im Stadtzentrum, Konzerte, Kabarett, Vorträge und Konferenzen geboten.
Zu den Highlights in diesem Sommer zählen die echte Wolke, die
der japanische Architekt Tetsuo
Kondo im Museum des ZKM aufsteigen lässt, sowie das entwurzelte Haus des argentinischen
Künstlers Leandro Erlich, das an
den Stahlseilen eines Krans über
dem Marktplatz schwebt.
Der Kölner Aktionskünstler
und Umweltaktivist HA Schult beteiligt sich mit einer Rallye, bei
der er die Themen Luftverschmutzung und Wasserknapp-
Nürnberg
heit in den Mittelpunkt stellt. Er
reist mit einem elektrisch betriebenen Auto von Paris nach Peking
und will unterwegs aus Flüssen
und Seen Wasser entnehmen. Daraus sollen biokinetische Bilder
entstehen – die Besucher des
ZKM können bis Ende September
die Ergebnisse begutachten. Den
Abschluss der „Globale“ bildet im
April 2016 das Symposium „Next
Society“, das sich kritisch mit dem
Zustand der Erde auseinandersetzt und die Frage aufwirft, wie
die Weltbevölkerung künftig leben will.
Karlsruhe
bis 17. April 2016
Zentrum für Kunst und
Medientechnologie
Kontakt: Tel. 0721-81000
www.zkm.de
Schweiz
bis 3. Januar 2016
Kaffee. Ein globaler Erfolg
Kaffee ist das beliebteste Getränk
der Deutschen. Jede und jeder
Einzelne trinkt durchschnittlich
165 Liter im Jahr. Bis die Kaffeebohne als fertiges Heißgetränk
in der Tasse landet, legt sie
einen weiten Weg zurück. Die
Ausstellung widmet sich den
verschiedenen Facetten dieses
Produktionsweges. An zehn Länderstationen werden die sozialen,
ökologischen und wirtschaftlichen Folgen des Kaffeeanbaus
gezeigt. Auf einem „Kaffeepfad“
können verschiedene Pflanzen
begutachtet werden. Ebenso
vielfältig wie die Produktion ist
der Genuss von Kaffee. Auch das
will die Ausstellung den Besucherinnen und Besuchern näher
bringen – unter anderem können
an sechs epochentypischen Kaffeetischen verschiedene Formen
der Zubereitung und Trink-Zeremonien nachvollzogen werden.
bis 20. September 2015
When we share more than ever
Die Ausstellung widmet sich
dem Sammeln und Nutzen von
Fotografien. Sie will zeigen, wie
der Austausch digitaler Fotos
an die Geschichte des analogen
Knipsens anknüpft. Seit Mitte
des 19. Jahrhunderts dient die Fotografie dazu, visuelle Eindrücke
festzuhalten zu kommunizieren.
Portale wie Facebook und professionelle Bilddatenbanken lösen
andere Formen der Archivierung
dabei nur ab. Die Schau zeigt
mehr als 200 historische Werke
aus der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe und
stellt ihnen zwölf zeitgenössische Positionen gegenüber. Die
Künstlerinnen und Künstler
reflektieren in ihren Arbeiten
den Gebrauch der digitalen
Fotografie und die Mechanismen neuer Medien. Zusätzlich
beschäftigen sie sich mit dem
Internet als neuem Bildarchiv.
bis Juni 2016
Museo Mundial
Das Naturhistorische Museum
zeigt zehn interaktive Installationen zu Themen wie Sklaverei,
Überfischung und Textilproduktion, die aus dem entwicklungspolitischen Projekt zum Globalen Lernen „Museo Mundial“
hervorgegangen sind. So klärt
ein „interaktiver Kleiderschrank“
über die Arbeitsverhältnisse in
der globalen Textilproduktion
auf. Das „Jeans-Puzzle“ macht
deutlich, wer wie viel an dem
beliebten Kleidungsstück verdient. Ein Fotobuch zeigt die oft
prekären Arbeitsbedingungen in
der Textilindustrie in Asien. Ein
„Schilderwald“ setzt sich mit dem
Thema Geschlechtergerechtigkeit
auseinander, hier werden unter
anderem Plakate von weltweiten Demonstrationen für die
Rechte der Frauen gezeigt. Das
Museum als Lernort: Es will zum
Nach- und Umdenken anregen.
bis 18. Oktober 2015
Steve McCurry – Fotografien
aus dem Orient
Als die Sowjetunion 1979 in
Afghanistan einmarschierte,
schmuggelte der Fotograf Steve
McCurry, verkleidet als Mudschahed, die ersten Bilder aus
dem besetzten Land. Einige
Jahre später entstand in einem
pakistanischen Flüchtlingslager
das Bild von einem afghanischen
Mädchen mit grünen Augen –
diese Aufnahme machte ihn
weltweit berühmt. Seitdem ist
McCurrys Faszination für Asien
ungebrochen, besonders interessieren ihn der öffentliche Raum
und die Verschmelzung des
Alltags mit dem religiösen Leben.
Seine Fotos erzählen Geschichten
von verschwindenden Kulturen
und den Folgen der Globalisierung. Die Schau zeigt viele
bislang unveröffentlichte Werke.
Senckenberg Museum für Naturkunde
Kontakt: Tel. 03581-4760-5220
www.senckenberg.de
Museum für Kunst und Gewerbe
Kontakt: Tel. 040-428134-880
www.mkg-hamburg.de
Naturhistorisches Museum
Kontakt: Tel. 0711-932768-64
www.finep.org
Museum für Gestaltung
Kontakt: Tel. 0041-43-446-67-67
www.museum-gestaltung.ch
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kritisch
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-Abonnement jemandem eine Freude – wir bedanken uns dafür mit einem Buch. Sie haben die
Wahl: Lesen Sie den preisgekrönten Roman
„Hinter dem Paradies“ aus Ägypten oder den
Geschichtenzyklus „Das schlafwandelnde
Land“ aus Mosambik, in dem sich ein Junge
und ein alter Mann in einem ausgebrannten
Autobus aus ihrem Leben erzählen.
at
die besser ie
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Im nächsten Heft
Das projekt
Entwicklung
Viele kluge Köpfe suchen neue,
nachhaltige Entwicklungsmodelle.
Doch woher stammt das Projekt
„Entwicklung“ und was macht
es so erfolgreich? Wird aus Sicht
zweier Inder der technische Fortschritt die Umweltprobleme lösen
oder muss sich auch Asien vom
unbegrenzten Konsum verabschieden? Wo finden sich Ansätze
einer Gemeinwohl-Ökonomie?
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Sie schenken Denkanstöße:
analysiert, hinterfragt, erklärt
und macht neugierig. Die Zeitschrift bietet
Reportagen, Interviews und Berichte über
die Länder des Südens und globale Fragen.
Jeden Monat direkt ins Haus.
Afrikanische Schlepper werden
gern für illegale Zuwanderung
nach Südeuropa verantwortlich
gemacht. Doch auch die italienische Mafia verdient daran gut.
Mia Couto
Das schlafwandelnde Land
Unionsverlag, 2014
239 Seiten
Mansura Eseddin
Hinter dem Paradies
Unionsverlag, 2014
185 Seiten
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