5,50 € | 7,80 sFr www.welt-sichten.org 8-2015 august Kinderarbeit: Maulkorb für die Kinder selbst Energie: Siegeszug von Wind und Sonne ENZYKLIKA: Der Papst geißelt den Wachstumswahn Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit demokratie Die bessere Wahl Eine Milliarde Menschen mit Behinderungen weltweit dürfen nicht vergessen werden. Deshalb bittet Dich Adanech Hirko aus Äthiopien: Setz ein Zeichen Für Menschen mit Behinderungen weltweit. Für gleiche Rechte und Chancen. Für eine inklusive Entwicklungsagenda. 2015 ist das Jahr der Entscheidung. Die UN verabschiedet die neue globale Entwicklungsagenda. Eine Milliarde Menschen mit Behinderungen wurden hier bisher nicht berücksichtigt. 80 Prozent leben in Entwicklungsländern meist ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Arbeit. Nur jetzt haben wir die Chance, das zu ändern. Erinnere Entwicklungsminister Dr. Gerd Müller daran, dass Menschen mit Behinderungen in der neuen Entwicklungsagenda konsequent berücksichtigt werden müssen! Foto: CBM/Diemer ÄHLT! Z T F I R H NTERSC U E N I E D EN.ORG H C I E Z N TZ-EI WWW.SE editorial Liebe Leserinnen und Leser, Gesine Kauffmann Redakteurin es steht schlecht um die „Herrschaft des Volkes“: Im Westen greifen Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit um sich, in vielen anderen Ländern werden Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten schikaniert. Und in den Staaten des Arabischen Frühlings hat sich die Hoffnung auf eine Demokratisierung nicht erfüllt. Die einzige Ausnahme ist Tunesien, doch die wirtschaftliche und soziale Krise gefährdet die bisherigen Erfolge, schreibt Theodora Peter. Warum hat die Demokratie als Leitbild ihren Glanz verloren? Jonas Wolff sieht vor allem zwei Ursachen: Zum einen zeigen neue Mächte wie China, dass auch autoritäre Staaten erfolgreich wirtschaften und politisch Einfluss nehmen können. Zum anderen haben Nordamerika und Europa als Modell viel Glaubwürdigkeit verspielt. Der völkerrechtswidrige Krieg im Irak, das demokratieschädliche Management der Eurokrise und der menschenverachtende Umgang mit Flüchtlingen haben dazu beigetragen. Die Demokratie hat ihren Glanz verloren – auch weil Nordamerika und Europa als Modell viel Glaubwürdigkeit verspielt haben. Wie eine Vorzeigedemokratie in düstere Zeiten zurückfallen kann, hat Nicola Glass in Thailand erlebt. Dort hat im vergangenen Jahr das Militär die Macht übernommen – mit dem Segen einer Bewegung aus der Mittelschicht, der Besitzstandswahrung wichtiger ist als die Beteiligung der Mehrheit. Und Frederick Golooba-Mutebi erklärt, warum Ruanda trotz seiner übermächtigen Regierungspartei keine Diktatur ist: Konsens statt Streit lautet dort die Devise. Die Eliten sind nach dem Völkermord 1994 übereingekommen, gemeinsam die Wirtschaft aufzubauen. Auch Äthiopien wird mit harter Hand regiert. Trotzdem hat sich das Land am Horn von Afrika zum Musterschüler beim Klimaschutz entwickelt und setzt auf den Ausbau erneuerbarer Energien. Die sieht Michael Klare weltweit auf dem Vormarsch; das Zeitalter der fossilen Brennstoffe sei vorbei, stellt er fest. Bernhard Emunds erklärt im Interview, wo der Papst mit der Enzyklika „Laudato si“ neue Wege beschreitet. Und Cecibel Romero beschreibt, wie New Yorks Ex-Bürgermeister Rudolph Giuliani der Regierung von El Salvador Nachhilfe in Sicherheitspolitik erteilen will. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre, | 8-2015 3 inhalt Foto: Athit Perawongmetha/Reuters 4 12 Menschen wollen mitbestimmen, wer sie wie regiert – das zeigt die hohe Beteiligung an Wahlen wie hier 2014 im indischen Jammu und Kaschmir. Die Demokratie schien lange weltweit auf dem Vormarsch. Doch heute ist die Regierungsform, in der die Macht vom Volke ausgeht, nicht länger das unangefochtene Vorbild. Andrabi/hindustan times/getty images Thailands etablierte Mittelschicht hält wenig vom Willen der Mehrheit: Ihre Proteste gegen die gewählte Regierung Shinawatra Anfang 2014 legten es auf einen Militärputsch geradezu an. 18 demokratie 12 Die große Ernüchterung Starke neue Mächte, schwächelnde alte Modelle: Der globale Siegeszug der Demokratie ist vorerst gestoppt Jonas Wolff 18 Demokratie nach Thai-Art Thailands Militärregierung will eine Verfassung, die die Volksvertreter entmachtet Nicola Glass 22 „Die Kenianer werden für ihre Rechte kämpfen“ Gespräch mit der Aktivistin Regina Opondo 24 Erfolgsmodell im Härtetest In Tunesien gefährdet die soziale Krise die Errungenschaften des Arabischen Frühlings Theodora Peter 27 Verordnete Harmonie Der Konsens der Eliten ist für Ruandas Wohlergehen vorerst unverzichtbar Frederick Golooba-Mutebi 30 Das Volk soll herrschen – doch nicht so! Washington missfällt die vom Volk getragene Politik Boliviens John Crabtree Ein Teil der Auflage enthält eine Beilage der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe sowie eine Bestellkarte . von 8-2015 | inhalt Standpunkte 6 Die Seite Sechs 7 Leitartikel: Auf dem Weg zur Wahl-Autokratie. Die Krise in Burundi war absehbar, die Geber reagieren zu spät Foto: Gregorio Borgia/Reuters Papst Franziskus hat die Armen im Blick – hier während seines Besuchs in Paraguay. Mit der Enzyklika „Laudato si“ verlangt er echten Klimaschutz und eine politische Steuerung der Wirtschaft. 42 Bernd Ludermann 8 Interview: „Sie wollen nicht, dass Kinder produktiv tätig sind“ Gespräch mit Lourdes Cruz Sánchez von der bolivianischen Organisation arbeitender Kinder 10 Kommentar: Kontrollen bei Käufern deutscher Waffen machen Rüstungsexporte nicht sicher Sebastian Drescher 10 Leserbriefe 11 Herausgeberkolumne: Die Entwicklungsarbeit muss die Hochschulbildung in den Blick nehmen Claudia Warning Journal welt-blicke 34 Energie: Siegeszug von Wind und Sonne Der Anteil erneuerbarer Energien an der weltweiten Stromerzeugung wächst schneller als gedacht Michael T. Klare 39 Fairer Handel: Marios Kampf für gute Preise Eine Kaffeekooperative in Honduras ist fair und bio, das große Geld winkt damit nicht Martina Hahn 42 „Der Papst fordert Respekt vor dem Eigenwert der Natur“ Gespräch mit Bernhard Emunds von der katholischen Hochschule Sankt Georgen über die Enzyklika „Laudato si“ 45 Sicherheit: Konzept von der Stange New Yorks ehemaliger Bürgermeister Rudolph Giuliani verkauft armen Ländern Rezepte zur Verbrechensbekämpfung 48 E ntwicklungsfinanzierung: „Vertane Chance“ Gespräch mit Wolfgang Obenland 51 Berlin: Neuer Anstrich für die alte Asienpolitik 53 Brüssel: Migrantenabwehr mit allen Mitteln 53 Schweiz: Entwicklungshilfe für die Asiatische Infrastruktur-Bank 55 Österreich: Engagement für Kinder in Darfur 56 Kirche und Ökumene: Bischof Tutu fordert klare Haltung zu Palästina 57 Global Lokal: Entwicklungsminister Müller setzt auf engagierte Kommunen 59 Personalia Cecibel Romero service 60 Filmkritik 60 Rezensionen 65 Termine 65 Impressum Kommentieren Sie die Artikel im Internet: www.welt-sichten.org | 8-2015 5 standpunkte die seite sechs Reife Leistung Klaus Stuttmann 6 Beim Klimaschutz stehen die Uhren seit 20 Jahren auf fünf vor zwölf. Die Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen war die letzte Chance, die Katastrophe abzuwenden. Weil das Ergebnis nicht entsprechend ausfiel, galt dasselbe dann für die nächste Konferenz in Cancún. Und dann für die Konferenz 2011 in Durban – und so weiter. Das Treffen Ende dieses Jahres in Paris gilt aber nun wirklich als allerletzte Chance. Und endlich hat auch die Politik den Ernst der Lage erkannt. Die Gruppe der sieben größten Industrie länder hat angekündigt, bis zum Jahr 2100 aus den fossilen Energieträgern Kohle, Öl und Gas auszusteigen. Die Umweltorganisation Germanwatch bezeichnete diese Zusage als „fast schon sensationell“ – und das völlig zu Recht: Endlich mal keine leeren Versprechen und ungedeckten Schecks auf die Zukunft, sondern ein konkreter 85-Jahres-Plan. Wer war’s? „Alles hängt mit allem zusammen.“ Entwicklungsminister Gerd Müller zu den UN-Nachhaltigkeitszielen, die im September beschlossen werden sollen. „Ich bin vielleicht kein gu- ihm erwartet hätte, und ging ter Politiker, aber unter den dabei auch äußerst fragwürschlechten noch der beste“, hat dige Koalitionen ein. „In der er einmal in einem Interview Politik muss man Realist sein“, gesagt. Ob Selbstironie oder sagte er dazu. Sein eigenes Selbstbewusstsein diese Aus- Leben war nicht frei von Leid sage bestimmte, sei dahinge- und Verlusten. Zeitweise stand stellt. Sicher ist jedenfalls, dass er unter Hausarrest, musste kein anderer die politischen ins Exil gehen und den Tod Geschicke seines Heimatlan- von mehreren Kindern und des so beeinflusst hat wie der Enkeln betrauern. Das hindernur 1,60 Meter große Kunst- te ihn nicht daran, insgesamt liebhaber und Playboy. Mit fünf Mal mit Unterbrechunseinen sechs Ehefrauen hatte gen eine führende Rolle in er 14 Kinder, daneben soll er seiner Heimat zu übernehmen zahlreichen Konkubinen seine – zeitweise als frühes Beispiel Gunst geschenkt haben. Filme, eines gewählten Autokraten. Theater und die Musik waren Im Alter wurde es – auch aus seine große Leidenschaft, und gesundheitlichen Gründen – das nicht nur als Zuhörer oder ruhiger um ihn. Er starb kurz Zuschauer. Er stand selbst vor seinem 90. Geburtstag im vor und hinter der Kamera, Schlaf. Wer war’s? schrieb Stücke und komponierte. Erzogen wurde er auf Auflösung aus Heft 7-2015: Gesucht französischen Schulen, die po- war argentinische Bildhauer und litische Laufbahn war ihm vor- Bürgerrechtler Adolfo María Pérez herbestimmt. Er füllte sie an- Esquivel, der 1980 den Friedensnoders aus, als manch einer von belpreis erhielt. In den nächsten Jahrzehnten werden die Treibhausgasemissionen allerdings noch deutlich steigen. Ist das Ziel damit obsolet, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen? Nein, versichern die Fachleute im UN-Klimarat pflichtgemäß und beleben dazu vor der Konferenz in Paris eine alte Idee neu: Man müsse in den Berechnungen die „negativen Emissionen“ einkalkulieren. Das sind Treibhausgase, die man durch allerlei technische Verfahren der Atmosphäre wieder entzieht, nachdem der Mensch sie vorher in diese hineingeblasen hat. Das Gerücht geht, dass die UN-Experten diese Idee von einem findigen Geschäftsmann geklaut haben, der sich eine Diät ausgedacht hat für Leute, die sich nicht zu dick finden. Dabei muss man sich erst einmal ein stattliches Fettpolster anfressen, um dann mittels eines ausgeklügelten Ernährungsplans wieder auf das Wunschgewicht abzunehmen. So viel zupackender Elan und Erfindungsreichtum wie heute war selten in der internationalen Klimapolitik. 8-2015 | leitartikel standpunkte Auf dem Weg zur Wahl-Autokratie Die Krise in Burundi war absehbar, doch die Geber reagieren zu spät Von Bernd Ludermann B urundi gilt als Beispiel für gelungenen Friedensaufbau: Das kleine afrikanische Land hat seit 2000 mit internationaler Hilfe einen blutigen Bürgerkrieg überwunden. Doch nun hat Staatspräsident Pierre Nkurunziza es in die Krise gestürzt: Obwohl die Verfassung festlegt, dass der Staatschef nur einmal wiedergewählt werden darf, kandidiert er für eine dritte Amtszeit. Diese Entscheidung war in seiner eigenen Partei CNDD-FDD umstritten und hat Ende April eine Protestbewegung ausgelöst, besonders in der Hauptstadt Bujumbura. Gegen sie gehen die Polizei und Milizen aus dem Umkreis der CNDD-FDD brutal vor. Über 70 Menschen sind umgekommen und mehr als 140.000 in Nachbarländer geflohen. Unabhängige Radios wurden geschlossen, Menschenrechtler in den Untergrund gedrängt. Die Regierung hält sich formal an Gesetz und Verfassung, in der Praxis aber wird Opposition nur als eine Art Dekoration geduldet. Bernd Ludermann . ist Chefredakteur von | 8-2015 Ein Rückfall in die Konfliktlinien des Bürgerkriegs ist das bisher nicht. Damals standen Hutu-Rebellen, darunter die CNDD-FDD, der von der Minderheit der Tutsi dominierten Armee gegenüber. Vorschriften für die Teilung der Macht zwischen beiden Volksgruppen und Quoten für Ämter und Posten im Staat haben seitdem den Gegensatz entschärft. Die Armeeführung ist heute gemischt; die Entpolitisierung des Militärs gilt als wichtiger Erfolg des Friedensprozesses. Das Problem ist heute: Nkurunziza und seine Getreuen wollen kompromisslos ihre Macht ausbauen. Dieser Trend ist nicht neu. Bereits 2007 wurde der Generalsekretär der CNDD-FDD kaltgestellt und ein Jahr später inhaftiert; 22 Parlamentarier der Partei protestierten – und wurden aus der Volksvertretung entfernt. Vor den Wahlen 2010 wurden Oppositionspolitiker bedroht und ermordet. Daraufhin boykottierten die meisten der schwach organisierten Oppositionsparteien die Wahlen und überließen der CNDD-FDD die Kontrolle über alle wichtigen Staatsorgane. Seitdem ist Burundi auf dem Weg zur „Wahl-Autokratie“: Die Regierung hält sich formal an Gesetz und Verfassung; Nkurunziza hat sogar seine Kandidatur dieses Jahr vom Verfassungsgericht billigen lassen, wozu das Gericht stark unter Druck gesetzt wurde. In der Praxis aber wird Opposition, ob von Hutu oder Tutsi, nur als eine Art Dekoration geduldet. Das Ergebnis ist eine gefährliche Krise. Die Armee ist gespalten; das belegt ein gescheiterter Putschversuch vom Mai. Gleichzeitig üben Parteimilizen ohne staatliche Kontrolle Gewalt aus. Das kann auf Dauer das Misstrauen zwischen Hutu und Tutsi wieder schüren – bereits jetzt fliehen aus Burundi vor allem Tutsi. Und es kursieren Gerüchte, dass Kämpfer Schutz und Hilfe in Nachbarländern bekommen oder dort Rebellen unterstützen. Diese Krise war absehbar – Burundi ist nun auch ein Beispiel für gescheiterte Prävention. Dabei deckt das Land rund die Hälfte seines Staatshaushaltes aus Entwicklungshilfe; die Geber können Druck ausüben, indem sie die kürzen. Doch zu lange haben sie ihre Hilfe trotz des autoritären Gebarens der Regierung fortgeführt. Sicher, der Wahlboykott der Opposition 2010 hat Einflussnahme von außen nicht leichter gemacht. Aber Fachleute halten den Gebern in Europa und Amerika vor, sie hätten aus Sorge um die Stabilität in Burundi über die Aushöhlung demokratischer Rechte hinweggesehen. Generell drohen westliche Geber am ehesten mit Hilfskürzungen, wenn einer afrikanischen Regierung Korruption angelastet wird oder sie sich krass über die Grundsätze fairer Wahlen hinwegsetzt. Bei Missachtung der bürgerlichen Freiheitsrechte tun sie das sehr selten. Zu spät haben sie die Hilfe für Burundi jetzt eingeschränkt. Nkurunziza hat die gemäßigten Kräfte nun geschwächt, er selbst gibt sich unbeugsam, und auf informelle Gewalttäter wie die Milizen können die Geber kaum einwirken. Deshalb setzen sie auf Vermittlungsversuche afrikanischer Staaten. Die haben bisher erreicht, dass die Wahlen in Burundi ein paar Wochen vertagt wurden: Das Parlament wurde Ende Juni gewählt – die CNDD erhielt 77 Prozent der Sitze –, die entscheidende Präsidentschaftswahl sollte am 21. Juli folgen. Doch Nkurunziza will diesen Termin nicht weiter zur Debatte stellen und erst recht nicht seine Kandidatur. Und darauf dringen die Nachbarstaaten auch kaum. Sie fürchten zwar eine Destabilisierung der Region. Doch ihr Verhältnis zueinander ist gespannt. Und in den meisten dominiert die Regierungspartei und ist nur in Tansania zu geregelten Personalwechseln an der Spitze fähig. Die Staatschefs des Kongo und Ruandas streben selbst eine weitere Amtszeit an, die ihre Verfassungen noch verbieten. In Uganda hat Yoweri Museveni ganz legal schon fünf Wahlen gewonnen. Für Nkurunzizas Wunsch, die Macht zu behalten, haben sie alle Verständnis. 7 8 standpunkte interview „Sie wollen einfach nicht, dass Kinder produktiv tätig sind“ Ein Gespräch über Kinderarbeit, begriffsstutzige Bürokraten und eurozentrische Weltbilder Gepräch mit Lourdes Cruz Sánchez Seit dem vergangenen Jahr gilt in Bolivien ein neues Gesetz, das Kinderarbeit ab dem zehnten Lebensjahr unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat das heftig kritisiert. Lourdes Cruz Sánchez von der bolivianischen Organisation arbeitender Kinder war Ende Mai in Genf bei der 104. Internationalen Arbeitskonferenz dabei. Zusammen mit den anderen Delegierten der Lateinamerikanischen Bewegung arbeitender Kinder (MOLACNATS) hat sie versucht, das Gesetz zu erklären. Wie war die Reise nach Europa? Die meisten geplanten Aktionen sind erfolgreich verlaufen. Aber auf der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO konnte ich nicht das Wort ergreifen. Und die Rede des bolivianischen Arbeitsministers? Zunächst hat er die bolivianische Gesetzgebung verteidigt. Doch dann gab es einige sehr kritische Einwände. Bolivien verletze internationale Konventionen, sei verantwortungslos. Darauf gab der Arbeitsminister – vielleicht weil er neu im Amt ist – allem eine andere Perspektive und betonte, dass die Kinderarbeit in Zukunft abgeschafft werden solle. Das ist die offizielle Regierungsposition und die Tendenz des neuen Kinderarbeitsgesetzes. „Laut Studien schneiden erwerbstätige Kinder, die gleichzeitig zur Schule gehen, dort vergleichsweise gut ab.“ Aber es hat mich gestört. Ich fühlte mich wie ein Fisch, der zwar im Wasser ist, aber den man trotzdem nicht schwimmen lässt. All diese Dinge über dein Land zu hören, aus dem Zusammenhang gerissen und vielfach unwahr, wie die immer wiederkehrende Behauptung, dass arbeitende Kinder in Bolivien nicht die Schule besuchen können ... und du darfst selbst dazu nichts sagen. Ich musste mir anhören, dass das neue Gesetz ein Rückschritt ist. Wo sie selbst rückschrittlich sind, wenn sie die arbeitenden Kinder verstecken, statt sie in das Blickfeld zu holen, um sie zu schützen. Welche Rolle hat der Dachverband bolivianischer Gewerkschaften gespielt? Vorher hatten uns die Delegierten erklärt, sie seien mit dem neuen Gesetz nicht einverstanden und dass sie sich damit auch nicht näher beschäftigt hätten. Wir meinten, dass sie dann besser nichts dazu sagen sollten. Aber sie forderten in ihrer Rede sogar eine internationale ILO-Kommission, um das Gesetz in Ordnung zu bringen. das mit, und dann durften die anderen Delegierten aus Venezuela und Paraguay nicht einmal mehr in die Versammlung. Auch unsere Regierung warnte mich, man könnte uns aus der Konferenz herauswerfen. Was ist härter: als Kind auf dem Friedhof in Potosí zu arbeiten oder die Interessen der arbeitenden Kinder bei der ILO zu vertreten? Eindeutig die Vertretung der Interessen der arbeitenden Kinder. Ich habe verstanden, dass sie einfach nicht wollen, dass Kinder produktiv tätig sind. Wir dagegen verstehen „Gutes Leben“ als ein harmonisches Leben in der Familie, in dem man sich gegenseitig unterstützt und die Dinge teilt. Aber für die Kritiker stehen die materiellen Dinge im Mittelpunkt. Dass man wirtschaftlich abgesichert ist. Und da sie alles haben, was zum Leben benötigt wird, ist die Arbeit von Kindern nicht nötig. Hier bei uns ist die Wirklichkeit ganz anders. Und hinter den Kulissen? Da haben wir mit einer ganzen Reihe von Journalisten, Konferenzteilnehmern und Regierungsvertretern reden können. Manche sehen die bolivianische Erfahrung positiv, weil der Schutz arbeitender Kinder im Mittelpunkt steht und das Kindheitsverständnis ein anderes ist. Die meisten sind aber immer noch davon überzeugt, dass Bolivien ein schlechtes Vorbild ist, weil es Kinderarbeit legalisiert. Bis zur Erschöpfung haben wir zu erklären versucht, dass es im Gesetz nicht um Legalisierung, sondern um den Schutz der Rechte der arbeitenden Kinder geht. Bei einer Diskussion während unserer Europareise gab es einen Vertreter der ILO, der strikt deren Position vertreten hat: dass Kinderarbeit abgeschafft gehört, dass ein arbeitendes Kind nicht die Schule besucht und dass all die arbeitenden Kinder ausgebeutet werden. Klar, dass ich ihm meine Position entgegengesetzt habe. Ich habe auf die ILO-Studien über Schule und Arbeit in Bolivien hingewiesen, die nie veröffentlicht wurden. Konntet Ihr das nicht erklären? Wir waren zum Schweigen verdonnert. Deshalb haben wir von MOLACNATS den Text „Hört die arbeitenden Kinder an“ auf kleine Plakate geschrieben. Aber das Sicherheitspersonal bekam Was steht in diesen Studien? Selbstverständlich gibt es arbeitende Kinder, die nicht zur Schule gehen. Aber was ist in diesen Fällen zu tun? Man muss ihnen den Zugang zum Unterricht ermöglichen, nicht ihnen einfach 8-2015 | Lourdes Cruz Sánchez kommt aus einer Bergarbeiterfamilie. Seit vielen Jahren trägt sie zu deren Einkommen bei: Sie arbeitete erst auf dem Friedhof, heute in einer eigenen Nähwerkstatt. So hat sie ihre Schulbildung finanziert. Seit diesem Jahr studiert die 17-Jährige Sozialarbeit. terre des hommes interview standpunkte „Wir werden nicht zulassen, dass die ILO nach Bolivien kommt und uns ein europäisches Kindheitsideal aufzwingt.“ die Arbeit verbieten. Laut diesen Studien schneiden die Kinder, die erwerbstätig sind und gleichzeitig die Schule besuchen, in der Schule vergleichsweise gut ab. Warum? Weil sie verantwortungsbewusst sind und das Lernen ernst nehmen. Ich habe davon berichtet, dass manche sehr gute Abschlüsse machen und zu den besten Schülern ihrer Klassen gehören. Im Verlauf der Debatte kam es sogar dazu, dass ich auf den Tisch geschlagen habe. Einfach, weil Dinge gesagt wurden, die ungerecht sind. Dass man uns Geld gegeben und entsprechend vorbereitet habe, damit wir so reden. Ihr wart bei eurem Europabesuch nicht nur auf Konferenzen und Tagungen, sondern habt auch Jugendliche getroffen. Wie lief das? In Brüssel waren wir in Schulen. Wir wollten die Kinder und Jugendlichen davon überzeugen, wie wichtig es ist, dass sie selbst Verantwortung in ihrem Leben übernehmen. Dass sie es nicht den Erwachsenen allein überlassen, für sie zu entscheiden. Die Kinder erzählten dann abends ihren Eltern davon. Und am nächsten Tag bekamen wir das Echo zu hören: „Wie kann es sein, dass arbeitende Kinder unseren Kindern solche Dinge erzählen?“ Aber es gab auch viel Verständnis. Ein Vater war zufällig Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung in der EUKommission. Der lud uns zu einem Gespräch ein. Er hörte uns richtig zu und ich glaube, er hat uns verstanden. Er erklärte uns, dass die ILO immer von einem europäischen Kindheitsverständnis ausgehe. Aber keine Kultur soll einer anderen aufgezwungen werden. Bei meiner Europareise habe ich mehr als zu Hause begriffen, wie anders die Arbeit – auch von Kindern – in unseren Kulturen verstanden wird. Nicht vor allem als Einkommensquelle, sondern viel mehr als Beitrag zur Gemeinschaft und als Lernfeld. Wolfgang Ammer Wie wird es nun weitergehen? Es ist etwas ganz anderes, deine Rechte in deinem eigenen Land zu vertreten oder auf internationaler Ebene. Vor allem dann, wenn viele Staaten gegen dich sind. Und fernab von deiner Heimat fehlen die Menschen, die dich sonst unterstützen. Es gibt keine Regeln, die dich schützen. Deshalb habe ich gesagt: Hier in Genf können sie mich zum Schweigen bringen, aber in meinem eigenen Land werde ich reden. Unsere dringendste Aufgabe ist, dass das Kinder- und Jugendgesetz in der Praxis angewandt wird. Deshalb ist unser Kampf mit der Verabschiedung noch nicht zu Ende, er ist sogar noch anspruchsvoller geworden, weil er inzwischen eine internationale Dimension hat. Wir werden jedenfalls nicht zulassen, dass die ILO nach Bolivien kommt und uns ein europäisches Kindheitsideal aufzwingt. Das Gespräch führte Peter Strack. | 8-2015 9 10 standpunkte kommentar | leserbriefe Besser gar nicht liefern Kontrollen bei den Käufern deutscher Waffen machen Rüstungsexporte nicht sicherer Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel spricht von einer entscheidenden Verbesserung: Die Bundesregierung will für Rüstungsexporte sogenannte Endverbleibskontrollen einführen. Damit soll geprüft werden, ob deutsche Waffen wirklich nur dort landen, wohin sie laut Genehmigung geliefert werden dürfen und nicht weiter verschachert werden. Bislang vertraut Deutschland dabei auf das Wort der Abnehmer. Nicht selten mit dem Ergebnis, dass etwa Sturmgewehre aus deutscher Produktion dann doch an Orten und in Konflikten auftauchten, an denen sie den Endverbleibserklärungen nach eigentlich nicht sein dürften, etwa im Bürgerkriegsland Jemen oder in den Unruhe-Provinzen in Mexiko. Rüstungsgegner und die Opposition weisen schon seit Jahren auf diese Lücke in der Exportregelung hin. Dass deutsche Behörden nun in bestimmten Ländern vor Ort kontrollieren sollen, ob die gelieferten Waffen noch an ihrem Platz sind, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Reform bleibt jedoch Stückwerk. So ist bislang lediglich von Kriegs- und bestimmten Schusswaffen die Rede, andere Rüstungsgüter wie Überwachungstechnologie und einzelne Bauteile, die erst im Ausland zu Kriegsgerät verarbeitet werden, bleiben außen vor – dabei haben gerade letztere einen großen Anteil an den Gesamtexporten. Unklar ist auch, wie umfangreich die Kontrollen ausfallen werden. Laut dem beschlossenen Eckpunkteplan sollen sie jedenfalls nicht die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Rüstungsindustrie schmälern. Die Industrie dürften die geplanten Kontrollen somit kaum beunruhigen. Sie könnte diese sogar als Argument nutzen, umstrittene Exporte wie etwa nach SaudiArabien weiterhin zu genehmigen: Mit den neuen Kontrollen kann ja nichts mehr schiefgehen. Aber genau diese Sicherheit schafft die neue Regelung eben nicht. Waffen sind keine gewöhnlichen Exportprodukte, die an einen Endverbraucher geliefert werden und dann dort bleiben, um von deutschen Kontrolleuren in Augenschein genommen zu werden. Waffen tauchen früher oder später dort auf, wo sie gebraucht werden, also wo Krieg herrscht. Das gilt gerade für Kleinwaffen, die oft wesentlich langlebiger und stabiler sind als die politischen Verhältnisse in manchen Drittstaaten. Das zeigt sich derzeit in Libyen, von wo aus die Konflikte in Afrika und dem Nahen Osten befeuert werden – mit Waffen, die vor Jahren auch aus der EU und Deutschland an den damaligen Machthaber al-Gaddafi geliefert wurden. Kontrollen sind gut – eine Absage an strittige Exportanträge ist im Zweifel aber immer besser. (sdr) Bus, Zug oder vielleicht auch im Restaurant nicht einhaltbar. Aber auch früher wurde die Distanzierung nicht eingehalten, zum Beispiel wenn Kastenmänner Dalitfrauen vergewaltigt haben. Insofern ist die Argumentation, die moderne Gesellschaft würde die Diskriminierung von Dalits aufweichen, ebenfalls irreführend. Manches erscheint mir schlicht unbedarft. Ist es wirklich schädlich, wenn Kinder und Zuhörer von Musik emotional angerührt werden? Ist Musik schon deshalb diskreditiert, weil sie mitunter instrumentalisiert wurde? „weltsichten“ stünde eine objektivere Darstellung dieser bemerkenswerten Versuche mit konstruktiven Überlegungen gut an. Bis dahin finde ich es toll, dass einmal der Norden vom Süden lernt: In Nordrhein-Westfalen gibt es ein Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ – mit allen Mängeln hier und in Südamerika. Zum Leitartikel „Eine unbequeme Wahrheit“, welt-sichten 6/2015 Schwellenländer werden ihre fossilen Energieträger so lang zum Aufbau ihrer Infrastruktur einsetzen, wie diese leichter zu beschaffen sind als die Alternativen. So entpuppt sich das Erreichen des 2-Grad-Zieles durch Herunterfahren der Emissionen als Humbug. Was wirklich geht, deuten Sie in Ihrem Absatz über 1,2 Milliarden Menschen ohne Strom an. Es erscheint den Menschen in Afrika wie ein Wunder, wenn ihre Wohnungen, Schulen, Geschäfte nicht mehr mit Kerosin beleuchtet werden, wenn sie zum Aufladen ihrer Handys nicht mehr in die nächste Stadt fahren müssen, wenn sie durch eine Solarzelle mit Speicher im Anschluss an TV und Computer zu Informationen aus aller Welt kommen. So wird aus „Miniprojekten“ eine machtvolle Bewegung. Sie beschreiben ohne Schönreden den gegenwärtigen Zustand der Energieversorgung der Welt und die zukünftige Entwicklung. Die Die Redaktion freut sich über Leser briefe, behält sich aber vor, sie zu kürzen. leserbriefe Diskriminierung nicht verschwunden Zum Artikel „Einmal Dalit, immer Dalit“, welt-sichten 6/2015 Ich erwartete, dass der Artikel die Situation und Perspektive der Dalits auf das moderne Indien benennt. Das tut er aber nur am Rande; überwiegend ist er eine Darstellung des Kastensystems. Falsch ist die Aussage im Vorspann, das hinduistische Kastensystem sei in Indien „offiziell längst abgeschafft“. Richtig ist, dass die Verfassung Indiens die Diskriminierung als „unberührbar“ verbietet und damit für abgeschafft erklärt. Keinesfalls aber ist das Kastensystem als solches in Indien abgeschafft. Meines Wissens stimmt auch die Aussage des Autors nicht, dass das Gebot der rituellen Reinheit an Bedeutung verloren habe. Zwar ist, wie Martin Kämpchen schreibt, die strikte Einhaltung in der modernen Gesellschaft im Ravinder Salooja, Heilbronn Überheblich und besserwisserisch Zum Artikel „Musik als Blendwerk“, weltsichten 6/2015 Dieser Artikel ärgert mich. Zwar war ich noch nicht in Venezuela und kenne nicht alle Hintergründe, auch wenn mich die Musik mit Kindern und Jugendlichen seit Jahren fasziniert, nicht zuletzt im Blick auf Gewaltprävention. Allein die Überschrift zeigt so viel Überheblichkeit, Häme, Besserwisserei, dass eine seriöse Berichterstattung leider nicht zu erwarten ist. Barbara Zahn, per Email Emissionen bleiben hoch Georg Lohmann, welt-sichten.org 8-2015 | herausgeberKolumne standpunkte Mehr als lesen und schreiben lernen Die Entwicklungszusammenarbeit muss die Hochschulbildung in den Blick nehmen Indien setzt darauf, ebenso China und Äthiopien: Gut ausgebildete Akademiker und Akademikerinnen sind wichtig für die Entwicklung eines Landes. Das wird in der internationalen Zusammenarbeit bis heute unterschätzt. Mehr Engagement ist nötig – schon deshalb, um auch ärmeren Menschen den Gang zur Universität zu ermöglichen. Von Claudia Warning Grundschulbildung für alle Kinder stand im Jahr 2000 ganz oben auf der Liste der Millenniumsentwicklungsziele. Seitdem ist die Einschulungsrate weltweit auf 90 Prozent gestiegen. Ein schöner Erfolg, der aber nicht dazu führen darf, in den Anstrengungen nachzulassen. Denn immer noch wird eins von zehn Kindern nicht erreicht. Und Primar- Manch afrikanischer Student findet seinen Weg in deutsche Hörsäle. Reisen in umgekehrter Richtung sind selten. Claudia Warning leitet den Vorstandsbereich „Internationale Programme und Inlandsförderung“ von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst. | 8-2015 schulbildung ist längst nicht alles. Der Fokus darauf hat vielerorts dazu geführt, dass der Ausbau der tertiären Bildung vernachlässigt wurde. Gute Hochschulen sind selten in vielen Ländern des Südens, insbesondere in Afrika. Und oft werden für das Studium so hohe Gebühren verlangt, dass vielen Armen der Zugang verwehrt wird. Eines aber hat sich in den vergangenen 15 Jahren herausgestellt: Eine qualitativ hochwertige und für die Bevölkerung zugängliche Hochschulausbildung ist eine wichtige Voraussetzung für Entwicklung aus eigener Kraft. Nur wenige Länder des Südens haben frühzeitig darauf gesetzt. Indien ist eines davon und ein gutes Beispiel dafür, dass sich das auszahlt. Hoch qualifizierte Männer und Frauen stehen dort für Wachstumssektoren wie IT und die Pharmaindustrie sowie für andere Branchen zur Verfügung. Intellektuelle aus allen Wissensbereichen treiben die Entwicklung des Landes voran. Auch die ausdifferenzierte Zivilgesellschaft schöpft aus diesem Pool – dies ist ein Grund für ihre Pluralität und Reife. Indiens Nachbar China hat ebenfalls schon länger den Wert guter Hochschulbildung erkannt und investiert darin. Auch die äthiopische Regierung baut derzeit ihr Hochschulnetz stark aus – unter anderem mit deutschem Know-how. In Bolivien sieht die Situation dagegen ganz anders aus. Gut ausgebildete Fachkräfte sind Mangelware, und selbst die staatlichen Aufgaben können trotz verfügbarer Budgets nicht immer sachgerecht ausgeführt werden. In einigen Ländern Afrikas haben Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft eine lange Tradition. Mangels staatlicher Angebote haben sie zum Teil eine Grundversorgung aufgebaut. Über klassische Fächer wie Medizin oder Theologie hinaus erweitern sie nach und nach ihr Lehrangebot. Die Nachfrage nach diesen Studienplätzen ist hoch, doch die Qualität wird noch längere Zeit kaum mit der des Nordens mithalten. Dort, wo Universitäten aufgebaut werden, fehlt es oft an Ausstattung, etwa an Bibliotheken, Internetanbindung, Räumen und Forschungsmaterial. Schlimmer noch sind der Mangel an qualifizierten Lehrkräften und an Vernetzung sowie die geringe Teilnahme am weltweiten Wissensaustausch. Forschung und Publikationen aus dem Süden spielen nur eine untergeordnete Rolle in der internationalen akademischen Debatte. Süd-Perspektiven kommen nicht angemessen zur Geltung. Immer mehr deutsche Universitäten und Forschungseinrichtungen haben das erkannt und bauen Partnerschaften mit ausländischen Hochschulen auf. Manch ein afrikanischer Student findet so mithilfe eines Stipendiums seinen Weg in deutsche Hörsäle. Reisen in umgekehrter Richtung sind allerdings selten. Studienaufenthalte in Ländern des Südens sind unüblich und haben ein eher exotisches Image. Dabei könnten europäische Universitäten und Studierende einen Beitrag zum Ausbau des Hochschulwesens im Süden leisten. Der Austausch von Lehrpersonal und Studierenden, gemeinsame Lehre, Forschung oder Curricula-Entwicklung sind nur einige der zahlreichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Ein gravierendes Problem bleibt: Zu viele Universitäten müssen ihren Betrieb zu großen Teilen aus Studiengebühren bestreiten. Damit werden wirtschaftlich schwache Talente gänzlich ausgeschlossen oder ihre Ausbildung belastet stark ihre Familien. So bleibt tertiäre Bildung zu häufig ein Vorrecht der Eliten, die ihre Kinder zudem oft zum Studium ins Ausland schicken. Bildung ist Aufgabe des Staates. Ja, das ist richtig, aber die internationale Zusammenarbeit kann die Regierungen des Südens dabei unterstützen, Qualität und Quantität der Ausbildung zu steigern. Der Fokus auf die Primarschulbildung ist notwendig und berechtigt. Dennoch muss die Entwicklungszusammenarbeit die tertiäre Bildung verstärkt in den Blick nehmen. Es gibt viele mögliche Ansatzpunkte und Kooperationspartner. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. 11 12 schwerpunkt demokratie Di Ernüch Im Würgegriff: Polizisten nehmen im März 2011 in Aserbaidschans Hauptstadt Baku einen Anhänger der Oppositionspartei Musavat fest. Orhan Orhanov/Reuters 8-2015 | demokratie schwerpunkt Der globale Siegeszug der Demokratie, der in den 1990er Jahren unaufhaltsam schien, ist vorerst gestoppt. Das liegt nicht nur an neuen Mächten wie Russland und China: Europa und Nordamerika haben als Modell an Glaubwürdigkeit verloren. Von Jonas Wolff e große hterung | 8-2015 D er Optimismus war von kurzer Dauer. Als Anfang 2011 der tunesische Diktator Zine el-Abidine Ben Ali und wenig später sein ägyptischer Amtskollege Hosni Mubarak gestürzt wurden, erwachte die Hoffnung, nun werde auch die arabische Welt von einer Welle der Demokratisierung erfasst. Die Region war weitgehend unberührt geblieben von der „dritten Welle“ von Demokratisierungsprozessen, wie sie der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington genannt hat. Sie begann in den 1970er Jahren, als zunächst die Diktaturen in Südeuropa fielen, in den 1980er Jahren gefolgt von den autoritären Regierungen in Lateinamerika. In den frühen 1990er Jahren ergriff diese Welle schließlich auch Mittel- und Osteuropa sowie eine Reihe asiatischer und afrikanischer Länder. Ein globaler Siegeszug der Demokratie deutete sich an. Die kommunistische Systemalternative hatte sich weitgehend selbst abgeschafft und beließ die liberale Demokratie als das einzige globale Leitbild politischer Entwicklung. Mehr noch: Unter dem Stichwort des „Demokratischen Friedens“ setzte sich die Idee durch, mit der voranschreitenden Demokratisierung sei auch der Weltfrieden endlich in greifbarer Nähe. Denn da Demokratien keine Kriege gegeneinander führten, müsse man bloß den verbleibenden Autokratien helfen, zur Demokratie überzugehen. Entsprechend wurde in den etablierten Demokratien des globalen 13 14 schwerpunkt demokratie Nordwestens die Demokratieförderung zu einem zentralen Ziel der Außen- und Entwicklungspolitik: Politische Bedingungen für Entwicklungshilfe oder auch für Handelspräferenzen, Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialoge sowie „Demokratiehilfe“ für staatliche Institutionen und Gruppen der Zivilgesellschaft – all das sollte helfen, die Demokratie über den Globus auszubreiten und zu festigen, und nebenbei den eigenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen dienen. onen und Praktiken. Die Friedens- und Konfliktforschung ergänzte: Politische Transformationsprozesse, vor allem wenn sie in dieser Grauzone enden, bergen ein besonderes Gewaltrisiko, sie enden mitunter in Krieg oder Bürgerkrieg. Die jüngsten Umbrüche in der arabischen Welt bestätigen diesen skeptischen Blick. Heute ist die Ernüchterung offenem Pessimismus gewichen. Bei seiner Gründung 1990 blickte das US-amerikanische Journal of Democracy optimis- Der Übergang weg von einem autokratischen Regime führt selten direkt zur liberalen Demokratie, sondern häufig in eine Grauzone. Aber bereits gegen Mitte der 1990er Jahre setzte Ernüchterung ein. Einerseits ebbte die zahlenmäßige Zunahme der Demokratien, die nach den Demokratie-Zählern von Freedom House und Polity (siehe Kasten) seit Mitte der 1970er Jahre rasant vorangeschritten war, merklich ab. Andererseits wuchsen die Zweifel an der Qualität der politischen Regime, die in diesem Zuge entstanden waren: Wie demokratisch waren sie tatsächlich? Die Demokratieforschung reagierte und erfand eine Unzahl von „Demokratien mit Adjektiv“ – zum Beispiel „illiberale Demokratie“ –, um die real existierenden und auf unterschiedliche Weise mangelhaft scheinenden Demokratien zu charakterisieren. Der Übergang weg von einem autokratischen Regime, so die Erkenntnis, führt nur in Ausnahmefällen direkt zur liberalen Demokratie. Stattdessen mündet er häufig in einer Grauzone: Demokratische Verfahren mischen sich auf unterschiedlichste Art mit autoritären oder nicht demokratischen Instituti- tisch auf „die gewaltige Chance der Menschheit, in eine neue Ära der Freiheit einzutreten“. Das Heft zum 25. Jubiläum erschien Anfang dieses Jahres unter der Leitfrage, ob die Demokratie auf dem Rückzug sei. Die Antworten fallen unterschiedlich aus: Der US-Demokratieforscher Larry Diamond sieht seit einigen Jahren eine „demokratische Rezession“ am Werk, andere sprechen von „Stagnation“ oder „Netto-Stabilität“. Der empirische Befund ist weitgehend unstrittig: Seit ungefähr 2006 haben sich die absolute Zahl und der weltweite Anteil der Demokratien nicht weiter erhöht (siehe Tabelle). Doch als Niedergang erscheint dieser Trend nur, wenn man ihn an der Erwartung aus den 1990er Jahren misst, die Demokratie schreite unaufhaltsam voran – und wenn man die gegenwärtige Stagnation nicht nur für eine vorübergehende Pause im Siegeszug der Demokratie hält. Dass diese pessimistische Lesart mittlerweile sehr viel plausibler scheint als die in den 1990er Jahren vorherrschende Idee, es Stimmenauszählung in Cotonou im März 2011. In Benin begann 1990 die Demokratisierungswelle in Afrika; seit 1991 gab es hier fünf Präsidentschaftswahlen. pius utomi ekpei/afp/Getty Images Die Vermessung der Demokratie Es gibt eine Vielzahl von Verfahren, Demokratien zu identifizieren und ihre Qualität zu bestimmen. Alle sind mit Vorsicht zu genießen und bestenfalls Annäherungen an ein komplexes Phänomen. Am weitesten verbreitet sind zwei aus den USA stammende Indizes. Laut dem Polity-Index gelten Regime als Demokratie, wenn die Regierung durch freie, faire und offene Wahlen bestimmt wird und sie vom Parlament oder anderen Institutionen kontrolliert wird. Alle politischen Systeme seit 1800 werden auf einer Skala von -10 bis +10 verortet, wobei grob Autokratien, Anokratien (Mischformen) und Demokratien unterschieden werden. Die Bewertungen beruhen auf der subjektiven Einschätzung der beteiligten Forscher. Der Fokus auf politische Institutionen macht den Polity-Index gut geeignet für breit vergleichende Studien. Die Kehrseite ist seine politische Schlagseite: Die USA waren demnach dank ausgeprägter Checks and Balances schon eine perfekte Demokratie, als weder Frauen noch alle Afroamerikaner wählen durften. Das heutige Frankreich verfehlt dagegen die volle Punktzahl. Der Organisation Freedom House geht es nicht primär um Demokratie. Anhand von zwei Indikatoren – bürgerliche Freiheiten und politische Rechte – misst die Organisation in ihren jährlichen Berichten vielmehr, ob ein Land frei, teilweise frei oder nicht frei ist. Viel stärker als bei Polity rückt damit die Verfassungswirklichkeit ins Zentrum. Freie Länder gelten zugleich als „liberale Demokratien“ und teilweise freie Länder als „elektorale Demokratien“, falls die Qualität der Wahlen und die politischen Rechte bestimmte Mindeststandards erfüllen. Die Bewertungen beruhen auf den Einschätzungen eines Expertenpools. Auch der Freedom House Index besticht durch seine Reichweite, umstritten ist aber das subjektive Bewertungsverfahren. Auch hier ist der Standard von USVorstellungen abgeleitet. In Deutschland bewertet der von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebene Transformationsindex (BTI) unter anderem den Status der Demokratie. Die fünf Kriterien dafür drücken ein anspruchsvolles Verständnis von liberaler Demokratie aus, das dem deutschen Modell sehr nahe kommt: Staatlichkeit, politische Beteiligung, Rechtsstaatlichkeit, die Stabilität demokratischer Institutionen und das Ausmaß politischer und gesellschaftlicher Integration. Der BTI existiert allerdings erst seit 8-2015 | demokratie schwerpunkt Sie stehen denn auch im Fokus einer neuen Debatte über eine mögliche Politik der „Autokratieförderung“ – in ausdrücklicher Konkurrenz zur westlichen Demokratieförderung. Die Forschung deutet aber darauf hin, dass weder Russland noch China autokratische Herrschaftssysteme systematisch fördern. Chinas Außen- und Entwicklungspolitik ist primär von Wirtschaftsinteressen geleitet und zielt auf gute und verlässliche Beziehungen zu Regierungen des globalen Südens ab – ob diese nun demokratisch gewählt sind oder nicht. Der von der chinesischen Führung deklarierte Respekt vor der Souveränität anderer Staaten ist insofern nicht bloße Rhetorik. Das ist im Fall Moskaus eindeutig anders – jedenfalls sobald es um die unmittelbare Nachbarschaft Russlands geht. Aber auch die russische Außen- und Entwicklungspolitik zielt weniger darauf ab, Autokratie als Herrschaftssystem zu fördern. Ihr geht es darum, politisch wohlgesonnene Regierungen zu unterstützen und gegebenenfalls solche zu unterminieren, deren Politik russischen Interessen zuwiderläuft. D gebe keine Alternative zur liberal-kapitalistischen Demokratie, liegt nicht zuletzt an größeren weltpolitischen Verschiebungen. Sie deuten darauf hin, dass die Weltordnung der Zukunft fortgesetzt vielfältig und zunehmend multipolar sein dürfte. Kern dieser These ist das viel diskutierte Phänomen aufstrebender Mächte. China mit seiner Wirtschaftsmacht und seinem nicht demokratischen System ist dabei der prominenteste Fall, Russland gegenwärtig der schwierigste. ie Idee einer neuen „östlichen“ Autokratieförderung ist auch in anderer Hinsicht fragwürdig: Die Muster der chinesischen und russischen Politik sind aus Geschichte und Gegenwart der westlichen Außen- und Entwicklungspolitik nur allzu bekannt. Dies gilt für die Ausrichtung an wie auch immer definierten „nationalen Interessen“ ebenso wie für das Ergebnis: Wohlgesonnene Regierungen werden gefördert, andere im Zweifel unterminiert, auch wenn sie demokratisch gewählt sind. Die Vorstellung einer Konkurrenz zwischen Demokratien, die die Demokratie fördern, und Autokratien, die das Gegenteil tun, trägt folglich nicht sonderlich weit. Dennoch: Die globalen Machtverschiebungen verändern auch die Bedingungen für Demokratisierung. Die Möglichkeit für Länder des globalen Sü- Anzahl demokratischer Länder den 2000er Jahren und erfasst nur die breit definierte Gruppe der „Entwicklungs- und Transformationsländer“. Bei allen Unterschieden stützen sich alle drei Indizes auf ein im Kern liberales Demokratieverständnis, das Wahlwettbewerb, Machtkontrolle und individuelle Bürgerrechte betont. Eine Alternative bietet das Varieties of Democracy-Projekt. Es untersucht zusätzlich, inwieweit einzelne Bürgerinnen und Bürger sich direkt beteiligen können (partizipative Demokratie), das politische System Foren für öffentliche Beratung bietet (deliberative Demokratie) und politische Machtressourcen gleich verteilt werden (egalitäre Demokratie). Auf dieser Basis zeigt sich beispielsweise, dass in Bolivien unter der Regierung von Evo Morales seit 2006 die Achtung der individuellen Bürgerrechte schlechter, aber die Beteiligungsmöglichkeiten besser geworden sind. (Jonas Wolff) Polity Index: www.systemicpeace.org/polityproject.html Freiheit in der Welt: www.freedomhouse.org Transformationsindex: www.bti-project.de Variety of Democracies: https://v-dem.net | 8-2015 Freedom House Polity IV Bertelsmann Index 100 90 80 70 60 50 40 1990 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Quelle: Steven Levitsky und Lucan Way, The Myth of Democratic Recession, in: Journal of Democracy, Jg. 26 (2015) 15 16 schwerpunkt demokratie Links: Mit Folter und Menschenrechtsverletzungen in ihrem Militärgefängnis Guantánamo haben die USA viel Glaubwürdigkeit verspielt. picture Alliance/DPA Rechts: Afrika kann jetzt auch Hilfe im Osten suchen: Chinas Premierminister Li Keqiang und sein äthiopischer Amtskollege Hailemariam Desalegn weihen im Mai 2014 eine Schnellstraße bei Addis Abeba ein. Sie wurde mit chinesischer Hilfe gebaut. Sanyi Takele/Reuters dens, auf chinesische Kredite, brasilianische Investitionen oder südafrikanische Unterstützung zurückzugreifen, verringert den Einfluss „des Westens“. Das betrifft vor allem politisch und wirtschaftlich relativ schwache Länder, die von westlichen Staaten mit Vorliebe mit politischen Konditionen belegt werden. Der Aufstieg neuer Mächte eröffnet den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas neue außenwirtschaftliche und außenpolitische Optionen. W ie das Beispiel Lateinamerikas zeigt, geht damit keineswegs automatisch eine Abkehr von der Demokratie einher. Vielmehr nimmt der politische Homogenisierungsdruck spürbar ab. Länder können leichter eigene Entwicklungspfade einschlagen. In diese Richtung wirken auch die Erfolge Chinas bei Entwicklung und Armutsbekämpfung. Nur wenige Länder suchen das chinesische Modell offen nachzuahmen. Dennoch schwächt sein Erfolg die Losung der 1990er Jahre, Entwicklung sei nicht ohne Demokratie und freie Marktwirtschaft zu haben ist. Bestärkt wird das von der zunehmend prekären Leistung der demokratischen Staaten, von der noch zu sprechen ist. Kurz: Die liberale Demokratie hat ihre für selbstverständlich gehaltene Anziehungskraft verloren. Passé ist jedenfalls die Vorstellung, dass autoritäre Herrschaftssysteme strukturell instabil sind und sich deshalb eher früher als später in Richtung Demokratie wandeln. Die vergleichende Regimeforschung sucht entsprechend nicht mehr nach neuen „Demokratien mit Adjektiv“, sondern seit einigen Jahren vermehrt nach Subtypen autoritärer Herrschaft. Konzepte wie „kompetitiver“ oder „elektoraler“ Auto- ritarismus spiegeln die Erkenntnis, dass ein autoritärer Staat nicht schon deshalb auf dem Weg in Richtung Demokratie ist, weil er zum Beispiel Wahlen durchführt. Auch die Vorstellung, undemokratische Herrschaftssysteme beruhten im Wesentlichen auf der erfolgreichen Unterdrückung der Bevölkerung, spiegelt nicht mehr den Forschungsstand: Heute In Europa und den USA verlieren demokratische Verfahren zunehmend an Substanz – nicht zuletzt weil die soziale Ungleichheit wächst. wird differenzierter untersucht, wie sich Autokratien legitimieren und stabilisieren. Die Umbrüche in der arabischen Welt zeigen nun zwar, dass die Stabilität autoritärer Herrschaftssysteme nicht überschätzt werden sollte. Sie bestätigen aber auch, dass von einer allgemeinen Ausrichtung des politischen Wandels auf die Demokratie keine Rede sein kann. Die globalen Machtverschiebungen zeigen sich auch in einer wachsenden Skepsis und mitunter im offenen Widerstand gegen westliche Demokratieförderer. In den 1990er Jahren wurde es zunehmend selbstverständlich, dass Regierungen, Entwicklungsagenturen und mehr oder minder unabhängige nichtstaatliche Organisationen aus Westeuropa und den USA mit eindeutig politischen Zielen in innergesellschaftliche Transformationsprozesse in anderen Ländern eingreifen. Heute stellen nicht nur autoritäre Herrscher die Frage, auf welcher Legitimationsgrundlage sie das eigentlich tun. 8-2015 | demokratie schwerpunkt U Jonas Wolff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), lehrt an den Universitäten Frankfurt am Main und Kassel und ist Mitglied im Forschungsnetzwerk „Externe Demokratisierungspolitik (EDP)“. | 8-2015 nd es bleibt nicht bei kritischen Fragen: Dutzende Länder rund um den Globus haben in den vergangenen Jahren etwa die Möglichkeit eingeschränkt, zivilgesellschaftliche Gruppen aus dem Ausland zu finanzieren. Aus Sicht der selbst ernannten Demokratieförderer besonders unbequem: Unter diesen Ländern finden sich auch demokratisch verfasste Staaten wie Indien und Indonesien, Bolivien und Peru. Das wachsende Selbstbewusstsein „der Anderen“ ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere betrifft den globalen Nordwesten selbst. „Der Westen“ und seine Politik der Demokratieförderung haben empfindlich an Glaubwürdigkeit verloren. Der völkerrechtswidrige Krieg mit dem Ziel des Regimewechsels im Irak seit 2003 hat tiefe Spuren hinterlassen. Auch der globale „Krieg gegen den Terror“ hat die Widersprüche westlicher Demokratie- und Menschenrechtspolitik verschärft – Abu Ghraib und Guantánamo, Massenüberwachung und Drohnenkrieg stehen nur für die extremen Exzesse. Der Modellund Vorbildcharakter, den die etablierten Demokratien der sogenannten entwickelten Welt für sich beanspruchen, hat Schaden genommen. In Europa sind hierfür – neben der Komplizenschaft im US-geführten Anti-Terror-Krieg – besonders das demokratieschädliche Management der Eurokrise und die menschenverachtende Politik der Flüchtlingsabwehr verantwortlich. Die Schwierigkeiten der westlichen Demokratieförderung verweisen mithin auf den Zustand der Förderer selbst. Es wäre übertrieben, von einer offenen Krise der Demokratie in den USA oder Europa zu sprechen. Aber Krisentendenzen und eine Erosion demokratischer Verfahren, die zunehmend ihre Substanz verlieren, sind nicht zu übersehen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls ein Band über „Demokratie und Krise“, den der Berliner Demokratieforscher Wolfgang Merkel jüngst herausgegeben hat. Darin wird betont, dass die seit Jahrzehnten zunehmende sozioökonomische Ungleichheit politische Ungleichheit zur Folge hat und so ein Kernprinzip demokratischer Herrschaft untergräbt. Die unteren Schichten werden an den Rand und in die „Selbstexklusion“ gedrängt, und eine winzige Elite genießt die „Selbstbefreiung“ von der Sozialbindung ihres Wohlstands „bei gleichzeitigem maximalen politischen Einfluss“, resümiert Merkel. Dramatische Formen nimmt das in den EuroKrisenstaaten Südeuropas an. Dort verbindet sich das Demokratiedefizit der EU mit der offen antidemokratischen Logik eines globalisierten Kapitalismus, die von einer außerhalb aller Verfassungen operierenden Troika durchgesetzt wird. Demokratische Verfahren werden so weitgehend zur Farce, die sozialen Grundlagen der Demokratie untergraben. Aber rufen nicht Menschen quer über den Globus weiterhin nach Demokratie? Ist also weniger das Leitbild als die reale Gestalt der Demokratie in Misskredit geraten? Diese Lesart ist nicht falsch. Das Problem ist aber, dass sich hinter dem Ruf nach Demokratie eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Vorstellungen verbergen. Nicht zufällig ist die Forderung häufig mit der nach Würde und sozialer Gerechtigkeit verbunden. Das ist wohl kaum das gleiche wie der Wunsch nach „marktkonformer“ Demokratie (Angela Merkel). Insofern ist es kein Widerspruch, dass die etablierten Demokratien Westeuropas und Nordamerikas selbst zum Ziel prodemokratischer Proteste werden, ob in Gestalt von Occupy Wall Street oder der spanischen Indignados. Oder dass in Lateinamerika verschiedene Experimente mit partizipativer und direkter Demokratie die repräsentative Demokratie ergänzen, aber mitunter auch herausfordern. Im Idealfall, so ließe sich die Ernüchterung der Demokratieforscher positiv wenden, könnte an die Stelle des globalen Leitbilds der neoliberalen Demokratie eine Auseinandersetzung über vielfältige Formen demokratischer Herrschaft treten. ZUM WEITERLESEN Thomas Carothers und Oren Samet-Marram: The New Global Marketplace of Political Change; Carnegie Paper, April 2015, http://carnegieendowment.org Journal of Democracy, Jg. 26 Nr. 1 (2015): Is Democracy in Decline? Wolfgang Merkel (Hg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie; Springer VS, Wiesbaden 2015 Jonas Wolff: Von Werten und Schurken. Menschenrechte, Demokratie und die normative Grundlagen deutscher Außenpolitik; HSFK Standpunkte Nr. 3 (2013), www.hsfk.de 17 18 schwerpunkt demokratie Demokratie nach Thai-Art Thailands etablierte Mittelschicht hält wenig vom Willen der Mehrheit: Ihre Protestbewegung hat es auf den Militärputsch von 2014 geradezu angelegt. Die neuen Machthaber gehen nun mit drakonischen Strafen gegen Oppositionelle vor. Von Nicola Glass D Die gewählte Regierung muss weg – dafür demonstriert diese Frau im Februar 2014 vor dem Verteidigungsministerium in Bangkok. Premierministerin Yingluck Shinawatra hat ihren Amtssitz zeitweilig dorthin verlegt. Athit Perawongmetha/Reuters as „Denkmal der Demokratie“ im Herzen Bangkoks sieht Ende Juni nicht so aus wie sonst. Es ist umhüllt mit einem schwarzen Transparent, auf dem eine Protestnote prangt: „No Coup!“ Davor haben sich ein gutes Dutzend junger Leute versammelt. Sie protestieren gegen Thailands Militär, das am 22. Mai 2014 die Macht an sich gerissen hat. Ihre friedliche Kundgebung müssen die Studenten und Aktivisten teuer bezahlen: 24 Stunden später werden sie festgenommen. Ihr „Vergehen“ in den Augen der regierenden Junta, die sich Nationalrat für Frieden und Ordnung (NCPO) nennt: Gefährdung der nationalen Sicherheit und Verstoß gegen das Versammlungsverbot. Das Kriegsrecht wurde am 1. April aufgehoben – und durch noch striktere Regelungen ersetzt. Treffen von mehr als fünf Personen im öffentlichen Raum bleiben ebenso verboten wie Debatten über die verheerenden Zustände im Land. Nicht nur in Thailand solidarisierten sich viele Menschen mit den Studenten, auch die Europäische Union, die Vereinten Nationen und Menschenrechtler haben das drakonische Vorgehen scharf kritisiert. Der Druck zeigte offenbar Wirkung: Das Militärgericht in Bangkok setzte die Studenten Anfang Juli vorläufig auf freien Fuß. Das Verfahren ist damit jedoch nicht beendet. Der harsche Umgang mit Kritikern zeigt, wie sehr die Menschenrechte seit dem vom damaligen Armeechef Prayuth Chan-ocha angeführten Putsch am Boden liegen. Trotzdem wagen es kleine Gruppen immer wieder, sich dem Regime zu widersetzen. Eine davon nennt sich „Resistant Citizen Group“ um den Aktivisten Punsak Srithep. Im Februar hatte er mit drei Mitstreitern eine „symbolische Wahl“ organisiert; daraufhin wurden die Männer vorübergehend festgenommen. Punsak Srithep setzt sich nicht nur für die Demokratie ein, sondern auch für die Aufklärung des Mordes an seinem Sohn. Dieser war während der blutigen Unruhen in Bangkok im Mai 2010 erschossen worden, bei denen die Armee die Proteste der sogenannten „Rothemden“ niedergeschlagen hatte, die mehrheitlich Anhänger der Ex-Premierminister Thaksin und Yingluck Shinawatra sind. „Meine Landsleute müssen begreifen, dass man für Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen muss“, betont Punsak Srithep. Ähnlich sahen es die Studenten, Akademiker und Aktivisten, die am diesjährigen Weltfrauentag mit einer 8-2015 | demokratie schwerpunkt Demonstration Neuwahlen und die Freilassung aller politischen Gefangenen gefordert hatten. Indes ist allen bewusst, dass eine Rückkehr zur Demokratie in immer weitere Ferne rückt. Prayuth Chan-ocha, Junta-Chef und Premierminister in Personalunion, hatte schon kurz nach dem Putsch erklärt, dass Wahlen nur infrage kämen, wenn der „Reformprozess“ abgeschlossen sei. Im Klartext: Wann es soweit ist, bestimmen allein die jetzigen Machthaber, unter deren Herrschaft das buddhistische Königreich innerhalb kurzer Zeit zur Diktatur verkommen ist. Durch die systematische Verfolgung kritischer Stimmen werde ein Klima der Angst geschaffen, kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Seit dem Putsch habe es Hunderte willkürlicher Festnahmen gegeben. Hinzu kämen Vorwürfe wegen Folter sowie unfaire Prozesse vor Militärgerichten. Treffen von mehr als fünf Personen im öffentlichen Raum sind verboten, ebenso Debatten über die verheerenden Zustände im Land. In den militärgerichtlichen Verfahren geht es um angebliche Verstöße gegen die „nationale Sicherheit“. Die Organisation Thailändische Anwälte für Menschenrechte sowie die in Genf ansässige Internationale Juristenkommission verurteilen das scharf: „Nach internationalen Standards dürfen Zivilisten keiner Rechtsprechung durch Militärgerichte unterworfen werden, vor allem nicht dort, wo – wie im von Militärs regierten Thailand – Gerichtshöfen die institutionelle Unabhängigkeit von der Exekutive fehlt.“ Unter die „nationale Sicherheit“ fällt auch Das Militär soll die Macht abgeben: Studierende wenden sich mit einer Mahnwache vor dem „Denkmal der Demokratie“ im Mai 2014 gegen den Putsch. Holger Grafen | 8-2015 das seit Jahren politisch missbrauchte Gesetz gegen Majestätsbeleidigung, laut dem Diffamierungen der Monarchie mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können. Seit ihrer Machtergreifung hat die Armee die Auslegung dieses Gesetzes noch verschärft: Die Zahl der Anklagen und Verurteilungen wächst. T hailand galt einst als Vorbild für demokratische Entwicklung in Südostasien. Wie kam es zu diesem Rückfall in dunkle Zeiten? Dem Militärputsch gingen monatelange Proteste gegen die Regierung von Premierministerin Yingluck Shinawatra voran, die bei der Wahl im Juli 2011 einen Erdrutschsieg erzielt hatte. Die Oppositionsbewegung „Demokratisches Reformkomitee des Volkes“ (PDRC) wollte sie aus dem Amt jagen. Ebenso wie ihr Bruder Thaksin, der 2006 als Regierungschef vom Militär gestürzt worden war, konnte sich Yingluck auf die Stimmen der Reisbauern im Norden und Nordosten sowie der Arbeiter und Angestellten in den Städten stützen – sehr zum Unmut der alteingesessenen Bangkoker Mittelschicht, des Geldadels, des royalistischen Beamtenapparates und der Aristokratie. Die Angehörigen des konservativen Establishments, die um Einfluss und Pfründen fürchteten, empfanden es als Zumutung, dass die von ihnen verachteten ärmeren Schichten wiederholt den Parteien Thaksins und dessen Clique neureicher Wirtschaftsbosse zur Macht verholfen hatten. Die Proteste gegen Yingluck entzündeten sich an einem umstrittenen Amnestiegesetz, das ihre Partei Puea Thai (Für Thais) durchdrücken wollte. Es sollte unter anderem Thaksin die Rückkehr erlauben, der 2008 wegen Korruption zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war und im Exil lebt. Der Gesetzentwurf wurde in einer Marathonsitzung durchs Parlament gepeitscht. Das trieb Thaksins Erzfeinde auf die Straßen. 19 20 schwerpunkt demokratie Die PDRC legte es darauf an, Gewalt und Chaos zu schüren, um die Armee zum Eingreifen zu bewegen. Als die Premierministerin im Dezember 2013 das Parlament für aufgelöst erklärte und Neuwahlen ausrief, setzte sie die Proteste fort. „Ich pfeife auf Neuwahlen!“, sagte damals eine Demonstrantin. „Das ist keine Lösung für uns, stattdessen wollen wir, dass der gesamte Shinawatra-Clan aus Thailand verschwindet.“ Eine Mitstreiterin ergänzte: „Die ganze Regierung ist korrupt und muss weg.“ Auf die Anmerkung, die Yingluck-Regierung sei demokratisch gewählt, entgegneten die Frauen bloß: „Ja, weil sie die Stimmen der armen Landbevölkerung gekauft hat. Das ist keine Demokratie.“ Statt Neuwahlen forderte die PDRC die Einrichtung eines demokratisch nicht legitimierten „Volksrates“. Einige Akademiker kritisierten diese Pläne als „faschistisch“, weil sie ausschließlich den Interessen einer vergleichsweise kleinen, konservativen Elite dienten. Kritiker sahen in den Korruptionsvorwürfen nur einen Vorwand, um die Yingluck-Regierung zu stürzen. Tatsächlich gehe es um den langfristigen Machterhalt der konservativen Eliten des Landes. V iele vermuteten hinter der PDRC jene Kräfte, die sowohl Wegbereiter für den Militärputsch von 2006 gegen Thaksin waren als auch verantwortlich für das politische Chaos von 2008. Es gipfelte in der Besetzung des Regierungssitzes und des internationalen Flughafens durch die sogenannten „Gelbhemden“ der Volksallianz für Demokratie (PAD), der Gegner Thaksins. Schon die PAD propagierte eine „neue Politik“, um das parlamentarische System drastisch zu beschneiden und der konservativen Seite Macht und Privilegien zu sichern. Die Protestbewegung PDRC von 2013 galt als eine noch radikaler auftretende Wiedergeburt. Ihr Anführer Suthep Thaugsuban war früher eines der ranghöchsten Mitglieder der Demokratischen Partei (DP). Als Vize-Premierminister in der von der DP geführten Regierung von Ende 2008 bis Mitte 2011 war er mitverantwortlich für die blutige Niederschlagung der Proteste der „roten“ Thaksin-Anhänger im Frühjahr 2010. Die DP unterstützte Suthep auch 2013-2014, da sie sehr wohl wusste, dass sie an den Wahlurnen keine Chance gegen das Thaksin-treue Lager haben würde. Sie verweigerte sich im Februar 2014 bereits zum zweiten Mal einer Wahl. Ihr Boykott von 2006 hatte ebenfalls zu einer Staatskrise geführt, die in den Putsch gegen Thaksin mündete. Seit das Militär im Mai 2014 die Macht an sich gerissen hat, ist die PDRC von den Straßen verschwunden. Doch die politischen Ränkespiele halten an. Dass es darum geht, das Netzwerk des Shinawatra-Clans kaltzustellen, zeigt sich nicht zuletzt in dem fragwürdigen Prozess gegen Ex-Premierministerin Yingluck. Die Justiz wirft ihr Pflichtverletzung in Zusammenhang mit einem staatlichen Reis-Subventionsprogramm vor, bei dem Milliarden US-Dollar versickert sein sollen. Bei einem Schuldspruch drohen ihr bis zu zehn Jahre Haft. Ein fünfjähriges Politikverbot hat ihr schon im Januar das vom Militär eingesetzte Parla- ment auferlegt. Die politische Demontage hat System: Anfang Mai vergangenen Jahres waren Yingluck und neun ihrer Minister wegen Amtsmissbrauchs vom Verfassungsgericht ihrer Posten enthoben worden. Der klägliche Rest ihrer Regierung wurde schließlich zwei Wochen später vom Militär gestürzt. Kritiker monierten, die Justiz mache sich zur Erfüllungsgehilfin des Militärregimes. Die Militärjunta will mit einer neuen Verfassung die Mehrheit der Wählerschaft entmündigen und das Establishment an der Macht halten. Dass die Junta und das mit ihr verbündete Establishment nicht daran denken, die Macht abzugeben, lässt sich auch am Entwurf für eine neue Verfassung ablesen. Darüber soll im Januar 2016 abgestimmt werden. Von 200 Senatoren – den Vertretern des Oberhauses – werden 123 von den Militärs oder deren Umfeld ernannt. Die übrigen 77 werden gewählt, wobei nur Kandidaten antreten dürfen, die von Thailands alteingesessener Elite abgesegnet wurden. Darüber hinaus ist vorgesehen, die Zahl der Unterhaus-Abgeordneten zu senken. Ein Proporz-System soll dafür sorgen, dass große politische Parteien – wie bislang die Thaksin-treuen – keine absoluten parlamentarischen Mehrheiten mehr erzielen. Eine konservative Justiz und Technokratie soll Parteipolitiker zusätzlich kontrollieren, so dass sie faktisch nichts mehr entscheiden können. Das kommt einer Entmündigung der Mehrheit der thailändischen Wählerschaft gleich. Auch soll festgeschrieben werden, dass der künftige Premierminister beziehungsweise die künftige Premierministerin kein gewähltes Mitglied des Parlaments zu sein braucht. Der heutige Chef der Militärjunta, Prayuth Chanocha, hat einst in Anspielung auf die Wahlsiege der Thaksin-treuen Parteien erklärt, zu viel Demokratie habe das Land in die politische Dauerkrise gestürzt. Geht es nach dem Willen der jetzigen Machthaber, dann wird die neue Verfassung die Grundlage eines Systems bilden, das die Militärs der Außenwelt als „Thai-Style-Democracy“ verkaufen wollen. Es ist darauf angelegt, militärische Staatsstreiche zu legitimieren und die Herrschaft des konservativen Establishments zu befestigen – eine geschrumpfte Zahl gewählter Abgeordneter soll als Feigenblatt dienen. Inzwischen bezweifeln viele, dass es in absehbarer Zeit überhaupt zu Wahlen kommt. Um den Militärs die Stirn zu bieten, wäre ein Volksaufstand nötig, initiiert von unabhängigen und progressiven Kräften, die bereits jetzt den offenen Widerstand wagen und nicht unter dem Banner einer politischen Farbe auftreten. Ob es dazu kommt, in einem politisch zerrissenen Land und einem Klima der Angst und Unterdrückung, ist fraglich. Zumal Thailands Armee bereits in der Vergangenheit keine Skrupel gezeigt hat, pro-demokratische Kundgebungen blutig niederzuschlagen. Nicola Glass lebt seit 2002 als freie SüdostasienKorrespondentin in Bangkok. Sie arbeitet hauptsächlich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie für mehrere Printmedien. 8-2015 | demokratie schwerpunkt 21 Termine • • • • • • Magdeburg 3. September 2015 Hamburg 4. September 2015 Potsdam 16. September 2015 Rostock 21. September 2015 München 28. September 2015 Stuttgart 27. Oktober 2015 Weitere Termine folgen. BRING DICH EIN. Beiträge einreichen und anmelden unter www.zukunftstour.de | 8-2015 Zukunftscharta EINEWELT - UNSERE VERANTWORTUNG 22 schwerpunkt demokratie „Die Kenianer werden für ihre Rechte kämpfen“ Die Aktivistin Regina Opondo beklagt zunehmende Schikanen Gespräch mit Regina Opondo Die kenianische Regierung will zivilgesellschaftliche Organisationen stärker kontrollieren. Sie wirft ihnen vor, zu stark vom Westen beeinflusst zu sein. Regina Opondo erklärt, was das für ihre Arbeit bedeutet, und warum sie und ihre Mitstreiter trotzdem nicht aufgeben. Frau Opondo, Sie setzen sich seit rund zehn Jahren vor allem für gute Regierungsführung ein. Was treibt Sie an? Mir sind die großen Ungerechtigkeiten in meiner Heimat schon aufgefallen, als ich sehr jung war. Ich fragte mich, warum manche Menschen arm sind und andere nicht. Warum manche Menschen Wasser haben und andere nicht. Ich selbst wurde mit dem Auto zur Schule gebracht, andere Kinder hatten noch nicht einmal Schuhe, um damit in den Unterricht zu kommen. Wieder andere konnten sich die Grundschule nicht leisten, obwohl sie doch unentgeltlich und für alle offen sein sollte. Hinzu kam das politische Klima im Kenia der 1980er Jahre. Das Regime des damaligen Präsidenten Daniel arap Moi war diktatorisch, und die Gesellschaft fing an, dagegen aufzubegehren. Ich hatte immer deutlicher das Gefühl, dass mit dieser Welt etwas nicht stimmte. Und ich fragte mich schon sehr früh, was ich tun könnte, um das in Ordnung zu bringen. „Die Regierung wirft uns vor, wir hätten den Staatspräsidenten und seinen Vize vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht.“ Kenia ist seit Anfang der 1990er Jahre wieder ein Mehrparteienstaat und hat seit 2010 eine neue Verfassung, die in vielen Punkten vorbildlich ist. Viele Menschen fürchten aber, dass das Land politisch in die 1980er Jahre zurück fällt. Teilen Sie diese Sorge? Das Risiko ist tatsächlich hoch. Aber noch sind wir da nicht, und das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Kenianerinnen und Kenianer verändert haben. Sie sind sich ihrer Rechte bewusster als damals. Ich glaube nicht, dass sie sich etwas davon nehmen lassen werden, ohne darum zu kämpfen. Welchen Repressionen sieht sich die Zivilgesellschaft im Moment ausgesetzt? Es gibt Versuche, Errungenschaften der neuen Verfassung wieder außer Kraft zu setzen. Ein Beispiel ist der gegenwärtige Kampf um die Frauenquote von einem Drittel in Parlamenten, im Senat, in den Parlamenten der Landkreise und in der öffentlichen Verwaltung. Außerdem beschneidet die Regierung den demokratischen Spielraum von Bürgerinnen und Bürgern immer stärker: durch Gesetzesänderungen und Propaganda gegen Menschenrechtsaktivisten oder zivilgesellschaftliche Organisationen. Deren Mitglieder werden eingeschüchtert und bedroht. Können Sie Beispiele nennen? Die Regierung hat ein Gesetz zur Abänderung der Sicherheitsgesetze ins Parlament gebracht. Kenia hat tatsächlich ein Problem mit dem islamistischen Terrorismus. Aber nach der Vorlage der Regierung wären die Versammlungs-, Meinungs- und Redefreiheit praktisch abgeschafft worden. Die Pressefreiheit sollte drastisch beschnitten werden. Viele Punkte in dem Entwurf hat das Parlament abgelehnt oder abgemildert, aber die drakonischen Strafen gegen Medien etwa blieben bestehen. Auf „Diffamierung“ stehen umgerechnet 20.000 Euro Strafe. Journalisten werden künftig wahrscheinlich versuchen, sensible Themen zu meiden. Wie wird der Spielraum von nichtstaatlichen Organisationen beschnitten? Seit etwa zwei Jahren nimmt der Druck auf uns stark zu. Dazu gehört der Versuch, Freiräume auch gesetzlich zu beschneiden. Schon vor den jüngsten Präsidentschaftswahlen im März 2013 verabschiedete die Regierung ein Gesetz über gemeinnützige Organisationen. An der Ausarbeitung dieser Vorlage war die Zivilgesellschaft beteiligt. Damals waren sich alle einig, dass die Organisationen einen klaren gesetzlichen Rahmen brauchen, um effektiver arbeiten und besser zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Das Gesetz wurde noch unter dem vorigen Präsidenten Mwai Kibaki verabschiedet, er hat es im Januar 2013 unterzeichnet. Trotzdem trat es nie in Kraft. Seit Oktober 2013 versucht die jetzige Regierung unter Uhuru Kenyatta, das Gesetz zu verändern. Eine der neuen Regeln sollte sein, dass die Organisationen nur noch 15 Prozent ihrer Finanzen aus dem Ausland beziehen dürfen. Faktisch werden aber die meisten Hilfsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen zu fast 90 Prozent von ausländischen Gebern finanziert. Durch ein solches Gesetz wäre die Szene also tot. Dieser Punkt ging so nicht durch das Parlament, aber noch ist nicht abschließend darüber entschieden, wie der Staat die Organisationen künftig stärker kontrollieren will. 8-2015 | Die 36-jährige Kenianerin Regina Opondo arbeitet für CRECO, einen Dachverband von 23 zivilgesellschaftlichen Gruppen in Kenia. CRECO hat lange für die Reform der kenianischen Verfassung gekämpft und setzt sich nun dafür ein, dass sie umgesetzt wird. Journalisten protestieren im Dezember 2013 in Nairobi gegen die drohende Beschneidung der Pressefreiheit. Thomas Mukoya/Reuters Bettina Rühl demokratie schwerpunkt „Mir sind die Ungerechtigkeiten in meiner Heimat schon aufgefallen, als ich sehr jung war. Und ich fragte mich, was ich dagegen tun könnte.“ Nutzt die Regierung das Argument des Kampfes gegen den Terrorismus auch gegen zivilgesellschaftliche Gruppen? Ja. Ende vergangenen Jahres hat die Aufsichtsbehörde der gemeinnützigen Organisationen bekannt gegeben, dass sie einer Reihe die Anerkennung entzogen habe. 15 von ihnen unterstützten angeblich den Terrorismus. Es wurden keine Namen genannt, wir wussten nicht, um welche Organisationen es ging. Dann hörten wir bis April nichts mehr. Nach dem Anschlag auf die Universität von Garissa Anfang April wurden die Konten von drei Organisationen eingefroren, weil sie angeblich den Terrorismus fördern, dieses Mal wurden Namen genannt. Die Organisationen mussten der Polizei alle ihre Bü- cher und Unterlagen übergeben. Dann hat die kenianische Steuerbehörde ihre Büros durchsucht mit der Begründung, sie hätten Steuern hinterzogen. Am Ende stellte sich heraus, dass die angeblichen Verbindungen zum Terrorismus nicht belegbar waren. Ein Gericht urteilte Mitte Juni, dass die Organisationen von der Liste der Gruppen entfernt werden müssen, die Terror unterstützen. Ihre Konten sind aber immer noch eingefroren, die Mitarbeiter bekommen kein Gehalt und sie haben ihre Krankenversicherung verloren. Und bei so schwerwiegenden Vorwürfen besteht immer die Gefahr, dass im öffentlichen Bewusstsein etwas hängen bleibt. Seit wann geht die Regierung denn mit dieser Härte gegen die Zivilge- sellschaft und Hilfsorganisationen vor? Zwischen Regierung und Zivilgesellschaft gibt es immer Spannungen, das ist ganz natürlich, weil sie sich gegenseitig kontrollieren. Aber in Kenia wird die Repression seit den Wahlen 2013 immer stärker. Meiner Ansicht nach hat das mit den Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Präsident Kenyatta und Vizepräsident William Ruto zu tun; das Verfahren gegen Kenyatta wurde inzwischen eingestellt. Hintergrund sind die ethnischen Ausschreitungen nach den Wahlen 2007, bei denen mehr als 1000 Menschen getötet wurden. Ich habe den Eindruck, dass die Regierung und ihre Anhänger uns Aktivisten vorwerfen, wir hätten Menschen vor den ICC gebracht, die in Kenia am Ruder sind. Meinem Eindruck nach sieht die Regierung ihre Chance, sich an uns für das ICC-Verfahren zu rächen. Wie läuft die Lobby-Arbeit gegen die Repressionen der Regierung? Wir organisieren Veranstaltungen, in denen wir über die geplanten Veränderungen im Gesetz über gemeinnützige Organisationen aufklären, wir fordern von der Regierung Informationen darüber, wie der Stand der Planungen ist. Eine von der Regierung eingesetzte Kommission hat Vorschläge zur Änderung der Änderungen erarbeitet, aber ihr Bericht wurde bisher nicht veröffentlicht. Wir fordern zum Beispiel, dass die Ergebnisse nicht länger geheim gehalten werden, sondern öffentlich diskutiert werden können. Das Gespräch führte Bettina Rühl. | 8-2015 23 24 schwerpunkt demokratie Erfolgsmodell im Härtetest Nur in Tunesien hat der Arabische Frühling von 2011 eine Demokratie begründet. Doch die wirtschaftliche und soziale Krise in dem nordafrikanischen Land stellt diese Errungenschaft auf eine harte Probe. Von Theodora Peter R und um den Platz des 14. Januar rauscht der Verkehr. Passanten drängen sich zwischen die Autos, um die Straße zu überqueren und die palmengesäumte Avenue Bourgiba zu erreichen. Die pulsierende Geschäftsader der tunesischen Hauptstadt ist nach Habib Bourgiba benannt, dem Gründervater des modernen Tunesien. Äußerlich erinnert nichts daran, dass hier Anfang 2011 der arabische Frühling seinen Lauf nahm. Einzig sichtbarer Hinweis ist das neue Namensschild für den Platz, der von „7. November“ – dem Tag der Machtergreifung des Diktators Ben Ali – umgetauft worden ist auf „14. Januar“, das ist der Tag seiner Flucht 2011. „Ben Ali, hau ab!“ riefen damals Hunderttausende Demonstranten ihrem ungeliebten Staatsoberhaupt zu. Trotz der Massenproteste stürzte Tunesien damals nicht in ein Chaos. „Der Volksaufstand war keine Revolution, die alles plattgewalzt hat“, betont Lotfi Larguet, Journalist und Rechtsprofessor in Tunis. Das Land besaß bereits seit der Unabhängigkeit von Frankreich und der ersten Verfassung von 1959 starke Institutionen und eine funktionierende Verwaltung. Hinzu kamen der im arabischen Vergleich relativ hohe Bildungsstand und etablierte soziale Organi- sationen wie die Gewerkschaften. Dies ermöglichte es, einen geordneten Übergangsprozess einzuleiten hin zur Erarbeitung einer neuen Verfassung und freien Wahlen. Nach der Flucht Ben Alis wurde mit dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer vorübergehend ein Mann des alten Regimes an die Staatsspitze gestellt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Dekrete zu unterzeichnen, die ihm das Bündnis der revolutionären Kräfte unterbreitete. Mit der 2014 in Kraft getretenen Verfassung hat Tunesien das modernste Grundgesetz in der arabischen Welt. Es verankert universelle Menschenrechte wie die Gewissensfreiheit und die Gleichstellung der Geschlechter und garantiert einen Rechtsstaat und die Gewaltentrennung. Dies gelang erst im zweiten Anlauf. Nachdem die Islamisten der Ennahda-Partei 2011 die Wahlen in die Verfassunggebende Versammlung gewonnen hatten, wollten sie ihre Vorstellungen einer Staatsreligion und der „komplementären“ Rolle der Frau in die neue Verfassung packen. Der Protest dagegen trieb im August 2013 erneut Hunderttausende auf die Straße, worauf der Verfassungsrat noch einmal über die Bücher musste. Der Bezug zu den Lehren des Islam blieb 8-2015 | demokratie schwerpunkt Die Tunesier kämpfen für ihre Demokratie: Sie wehren sich im Juni 2013 gegen eine islamisch geprägte Verfassung (links) und beteiligen sich im Oktober 2014 begeistert an der Parlamentswahl (Mitte). Afp/Getty Images; Reuters Rechts: Die Richterin Kalthoum Kennou – hier (rechts) im Wahlkampf im November 2014 – hat als einzige Frau für das Präsidentenamt kandidiert. Mit 1,3 Prozent der Stimmen kam sie auf Platz elf. Zoubeir Souissi/Reuters zwar im neuen Text erhalten, aber in abgeschwächter Form. In der Verfassung finde sich nun „von allem etwas“, stellt der Jurist Larguet nüchtern fest. Dadurch riskiere man Mehrdeutigkeiten bei der Auslegung. „Vieles hängt nun von der Regierung und vom Verfassungsgericht ab, das noch installiert werden muss und das eine historisch wichtige Rolle spielen wird.“ Auch muss die Verfassung erst noch in Ausführungsgesetze gegossen werden. Darüber hinaus müssen auf kommunaler und regionaler Ebene demokratische Strukturen geschaffen werden. Eine wichtige Nagelprobe hat die junge tunesische Demokratie bei den ersten freien Parlamentswahlen vom Oktober 2014 und den folgenden Präsidentschaftswahlen bestanden. Sie gingen transparent und ohne größere Zwischenfälle über die Bühne. Als Siegerin ging daraus das säkular-liberale Bündnis Nidaa Tounes hervor; die islamistisch geprägte Ennahda-Partei, die bis dahin stärkste politische Kraft, verlor stark. Für den korrekten Ablauf sorgte die 2011 geschaffene unabhängige Wahlinstanz (Instance Supérieure Indépendante pour les Élections, ISIE), deren Aufbau vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) unterstützt wurde. Sie sei im Vorfeld unter großem Druck gestanden, erinnert sich ihr Präsident Chafik Sarsar. Alle politi- | 8-2015 schen Lager hätten versucht, Einfluss auf Listengestaltung und Wahltermine zu nehmen. „Wahlweise hat man uns Nähe zu den Islamisten oder zur extremen Linken vorgeworfen.“ Die ISIE unter Leitung des Universitätsprofessors hat neun Mitglieder, die keiner Partei angehören und auch nach dem Ausscheiden kein politisches Mandat annehmen dürfen. Die Wahlinstanz bemühte sich, breite Bevölkerungsschichten an die Urne zu bringen, etwa durch eine grafische Gestaltung der Listen, so dass sie auch für Analphabeten lesbar waren. Trotzdem lag die Beteiligung an der Stichwahl für die Präsidentschaft bei für tunesische Verhältnisse bescheidenen 60 Prozent. Vor allem die junge Generation beteiligte sich nur zurückhaltend. G erade bei den jungen, gut ausgebildeten Tunesierinnen und Tunesiern hat der arabische Frühling viele Erwartungen geweckt, die bislang nicht eingelöst sind. Enttäuscht wurde insbesondere die Hoffnung auf Jobs und neue Perspektiven. Viele suchen nach wie vor ihr Glück in Europa. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt laut Gewerkschaften bei 31 Prozent. Unter den Hochschulabgängern beträgt die Arbeitslosenquote sogar 45 Prozent, zu den 350.000 Betroffenen kommen jedes Jahr 80.000 Diplomierte neu hinzu. „Auch vier Jahre nach der Revolution verfügt Tunesien über keinen funktionierenden Plan zur Schaffung von Jobs“, kritisiert Salam Ayari, Generalsekretär der 2010 gegründeten Union der Arbeitslosen mit Diplomabschluss (Union des Chômeurs Diplomés, UDC). Frustriert sind die jungen Akademiker auch deshalb, weil ihre Generation maßgeblich zum Sturz von Ben Ali beigetragen, sich ihre Lage aber abgesehen von der Meinungsfreiheit kaum verbessert hat. „Wir haben zwar nun eine sogenannte partizipative Demokratie, das heißt wir können unsere Vorschläge einbringen, aber dann passiert trotzdem nichts“, bedauert Ayari. Die UDC fordert von der Regierung eine nationale Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen 25 26 schwerpunkt demokratie Auch Terroranschläge schwächen die junge Demo kratie: Präsident Beji Caid Essebsi tritt nach dem Attentat im Badeort Sousse Ende Juni vor die Mikrofone der Journalisten. Armine Landoulsi/Anadolu Agency/ Getty IMages und die Bekämpfung der Korruption in Anstellungsverfahren. Größter Arbeitgeber in Tunesien ist der Staat. Auf die tausend neuen Stellen, die das Bildungsministerium jedes Jahr schafft, bewerben sich immer mehrere zehntausend Kandidaten. Prekär ist die Lage auch im Privatsektor: Wenn Unternehmen junge Arbeitslose einstellen, übernimmt der Staat während eines Jahres einen Lohnanteil und gewährt Steuernachlässe. Laut Ayari kommt es aber oft vor, dass die Unternehmen ihren Lohnanteil nicht auszahlen und den Angestellten nach einem Jahr durch einen neuen Arbeitslosen ersetzen, um vom staatlichen Förderprogramm zu profitieren. „So werden aber keine neuen Stellen geschaffen.“ D Theodora Peter ist freie Journalistin in Bern und Korrespondentin von welt-sichten. ie Perspektivlosigkeit treibt zahlreiche junge Männer radikalen Islamisten zu. Tunesier stellen mit rund 3000 Personen das größte Kontingent an ausländischen Dschihadisten auf den Kriegsschauplätzen in Syrien und Irak. Mit ihrer guten Ausbildung sind sie gefragte Kader bei der Terrormiliz Islamischer Staat. Dass Tunesien selbst nicht vor Terroranschlägen gefeit ist, haben das Attentat vom Frühling im Museum Bardo und der jüngste Anschlag auf Touristen in Sousse gezeigt. Auch der Abgeordnete Fathi Chamkhi von der linken Volksfront (Front populaire, FP) sieht sein Land in einer Sackgasse. Wirtschaftlich hielten der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Europäische Union (EU) am alten „kolonialen System“ fest, sagt er. Die Verschuldung Tunesiens und die damit verknüpften Abhängigkeiten seien weiter gestiegen, und das Defizit in der Handelsbilanz sei auf einem historischen Höchststand. Weil die Eigenmittel des Staats ständig sinken, schlägt Chamkhis Volksfront eine Spezialsteuer auf das Vermögen der Reichen vor. Auch solle der Staat als großer Grundstückbesitzer 100.000 Parzellen zu vernünftigen Preisen an Private verkaufen, um zu Geld zu kommen und gleichzeitig den Bausektor anzukurbeln. „Es fehlt nicht an Ideen, aber uns läuft die Zeit davon“, seufzt Chamkhi. Seine Front populaire besetzt nur 15 der 217 Sitze im Parlament und ist in der Regierung nicht vertreten. Es gebe Stimmen im Volk, die sich angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Krise eine Rückkehr zu einem autoritären Regime wünschten, stellt er besorgt fest. Zu Ben Alis Zeiten lag das tunesische Wirtschaftswachstum bei fünf Prozent, inzwischen ist es auf unter drei Prozent gesunken. Laut Weltbank müsste Tunesiens Wirtschaft aber jährlich um sechs Prozent wachsen, um die Arbeitslosigkeit nur zu stabilisieren. 15 Prozent der rund elf Millionen Tunesier leben in Armut. Auch der Journalist und Jurist Lotfi Larguet sieht in der wirtschaftlichen und sozialen Krise eine Gefahr für die junge Demokratie. Es sei beunruhigend zu sehen, welche „ultraliberale“ Politik die Parteien an der Macht betrieben. „Wie soll der Staat seine Aufgaben wahrnehmen, wenn man ihm die Mittel entzieht?“, fragt er. Dass es wie in Ägypten zu einem Militärputsch kommen könnte, schließt der Rechtsprofessor aber aus. Die Armeeführung habe 2011 eine stabilisierende Rolle gespielt, betont Larguet, der als Dozent auch an der Militärakademie unterrichtet. In der Armee seien der „republikanische Geist“ und die Ideologie der Neutralität besonders ausgeprägt. „Man ist bereit, die Republik gegen alle zu verteidigen, die sie infrage stellt“, sagt Larguet. Die Armeekasernen sind immer wieder Zielscheiben von islamistischen Anschlägen. Bislang hält auch die Zivilgesellschaft Tunesiens am demokratischen und säkularen Modell fest. Dafür sorgen nicht zuletzt die Frauen, die laut Beobachtern die Präsidenten-Stichwahl vom Dezember 2014 zugunsten des 88-jährigen säkularen Kandidaten Beji Caid Essebsi entschieden haben. Dies sieht auch Kalthoum Kennou so. Die Richterin hatte als Unabhängige und als einzige Frau bei den Präsidentschaftswahlen kandidiert, mit 1,6 Prozent der Stimmen aber nur den elften Rang belegt. Die Frauen hätten ihrer Kandidatur offenbar keine Chance eingeräumt und taktisch gewählt, sagt Kennou. Trotzdem wertet sie den Versuch als Erfolg. Als Kandidatin habe sie 15.000 Unterschriften gebraucht, um zur Wahl antreten zu dürfen. „Ich wollte testen, ob die Tunesier bereit sind, die Kandidatur einer Frau zu unterstützen.“ Mit ihrer Kampagne habe sie dazu beitragen wollen, die Tür für die Frauen ein Stück weit aufzustoßen und die „psychologische Blockade“ gegenüber einer Frau als Staatsoberhaupt eines arabischen Landes aufzubrechen. Zudem habe sie gegenüber dem Ausland bewiesen, „dass die Muslime nicht grundsätzlich gegen Frauen sind“. Die Parteien hätten noch nicht begriffen, dass die Frauen eine sichtbarere Präsenz brauchten, um wahrgenommen und gewählt werden zu können, sagt Kennou. Bei ihrer Reise durch die ärmeren Provinzen im Landesinneren habe sie aber vor allem eines festgestellt: „Die Menschen sehnen sich danach, dass es mit dem Land aufwärts geht.“ Die Richterin ist überzeugt, dass Tunesien die heikelste Phase hinter sich hat. „Aber es bleibt noch viel zu tun.“ 8-2015 | demokratie schwerpunkt Verordnete Harmonie Ruandas Regierung wird oft vorgeworfen, sie missachte die Grundregeln der Demokratie. Doch diese Kritik geht fehl: Die Eliten haben eine Verständigung gefunden, die für das Wohlergehen des Landes vorerst unverzichtbar ist. Ruandas Präsident Paul Kagame (zweiter von rechts) erinnert Ende März 2014 in Kigali an den Völkermord an den Tutsi vor 20 Jahren. Hollandse Hoogte/laif Von Frederick Golooba-Mutebi R uanda wird von Kritikern gerne leichtfertig als Ein-Parteien-Staat abgetan. Die Regierungspartei, die Ruandische Patriotische Front (RPF), genieße ein Machtmonopol, heißt es. Andere Parteien hätten keinen Platz, sich zu entfalten und zur politischen Entwicklung des Landes beizutragen. Doch das verkennt wesentliche Merkmale des politischen Systems, das nach dem Völkermord 1994 in Ruanda entstanden ist. Es macht die ruandische Politik dem Wesen nach demokratisch – wenn auch nicht im üblichen Sinn, wonach Demokratie gleichbedeutend ist mit dem Gegensatz und dem Wettbewerb zwischen mehreren Parteien. Nach dem Bürgerkrieg und dem Genozid an den Tutsi übernahm die RPF die Macht und begann, eine | 8-2015 Regierung der nationalen Einheit aufzubauen. Sie führte Gespräche mit allen Parteien, die vor dem Genozid an den gescheiterten Friedensverhandlungen in Arusha im Norden Tansanias beteiligt gewesen waren – aber nicht mit denen, die ideologisch oder aktiv zum Völkermord beigetragen hatten. Die frühere Regierungspartei „Nationale Revolutionäre Bewegung für Entwicklung“ war damit ausgeschlossen. Ohne Zweifel wurde nicht auf Augenhöhe verhandelt. Die RPF hatte mehr Personal, Geld und militärische Macht, als alle potenziellen politischen Partner oder Gegner aufbringen konnten. Sie war die treibende Kraft und gab die Diskussionsrichtung vor. Ihr Ziel war, ein neues Ruanda aufzubauen, in dem institutionalisierte Diskriminierung und Ausgren- 27 28 schwerpunkt demokratie Die Regierung will Kigali zur IT-Metropole machen: Kinder lernen in Ruanda im Rahmen der „One Laptop per Child“-Initiative in der S chule, mit dem Computer umzugehen. Sven Torfinn/laif zung keinen Platz mehr haben sollten. Nach dem militärischen Sieg über die frühere Regierung hatte die RPF zwei Möglichkeiten: einen Alleingang machen oder eine Regierung bilden, die die frühere Opposition mit einschloss. Die RPF wählte den zweiten Weg und nahm weitere vier Parteien mit an Bord. Das markierte den Anfang dessen, was sich bis heute als Ausrichtung auf Konsens fortsetzt. Das Streben nach Konsens tragen alle Parteien mit. Sie sind sich weitgehend einig, zu kooperieren, statt dass wie früher der Gewinner allein die Macht erhält und im Wettbewerb die Opposition zur Regierung auf Konfrontation geht. Das Ergebnis ist eine Regierung, in der potenziell rivalisierende Parteien auf unkonventionelle Art Hand in Hand arbeiten für das gemeinsame Interesse, ein neues Ruanda aufzubauen. Zwar ist das neue Arrangement keineswegs perfekt. Das zeigt sich etwa daran, dass frühere Minister und Regierungsbeamte, die nicht der RPF angehören, ins Exil geflohen sind. Trotzdem ist es eine enorme Verbesserung gegenüber den Regierungen aus der Zeit vor 1994, die etwa die Minderheit systematisch ausgeschlossen haben. In der Praxis äußert sich die Option für Inklusion auf unterschiedliche Weise. In den vergangenen 20 Jahren ist die Zahl der politischen Parteien von fünf auf elf gestiegen – zugegeben, das ist langsamer als in anderen Teilen der Region, weil neue Parteien in Ruanda strenge Auflagen erfüllen müssen, darunter eine Mindestzahl von Unterschriften für die Satzung. Von den elf registrierten Parteien sind acht im Parlament und in der Regierung vertreten. Die Verfassung von 2003, die das Ergebnis landesweiter Beratungen und einer Übereinkunft innerhalb der Elite war, verpflichtet die Parteien, die Macht zu teilen. Keine von ihnen darf mehr als die Hälfte der Ministerposten besetzen, egal wie überlegen sie den anderen ist. V on den acht Parteien, die gegenwärtig an der Regierung beteiligt sind, gehören fünf zur Sechs-Parteien-Koalition unter Führung der RPF. Zwei operieren unter eigener Flagge und stellen dennoch einige der wichtigsten Minister Ruandas, darunter den Premierminister Anastase Murekezi von der Sozialdemokratischen Partei (PSD). Minister, die nicht der RPF angehören, genießen ebenso viel Autorität und Handlungsspielraum wie ihre Kollegen. Die Inklusion beschränkt sich aber nicht auf die Vertretung im Parlament oder im Kabinett. Damit auch Parteien, die keine Abgeordneten stellen, an der politischen Entwicklung des Landes mitwirken können, hat Ruanda das in der Verfassung verankerte, staatlich finanzierte Nationale Forum der Politischen Organisationen (NFPO) geschaffen. Früher waren alle Parteien gesetzlich zur Mitgliedschaft verpflichtet. Nach einer Gesetzesänderung haben sie jetzt die Möglichkeit, aus dem Forum auszusteigen. Doch bisher hat das keine Partei genutzt. Zu attraktiv sind die Chance, sich mit den anderen Parteien für nationale Interessen einzusetzen, sowie das Angebot, finanziell unterstützt zu werden und sich so auf eine breitere Basis zu stellen. Das begünstigt insbesondere kleine Parteien. Jede der elf Parteien ist mit vier Mitgliedern im NFPO vertreten, jeweils zwei von ihnen sind Frauen. In dem Forum werden wichtige nationale Fragen diskutiert, bevor Entscheidungen getroffen werden. Dies geschieht wiederum im Geiste der Konsenssuche. Die Politik in Ruanda beruht heute also auf einer Reihe von Grundsätzen, die zusammen ein „Abkommen innerhalb der Elite“ darstellen. Dazu gehört die Selbstverpflichtung der großen politischen Parteien, Macht und Verantwortung zu teilen. Ausgeschlossen sind Parteien, die eine Übereinkunft ablehnen und sie mit auf Gegnerschaft angelegten Auseinandersetzungen gefährden. Der Konsens der beteiligten Parteien umfasst unter anderem Folgendes: Sie sind strikt gegen das ethnische Sektierertum früherer Regierungen. Der Hauptweg zu nationaler Versöhnung und langfristiger politischer Stabilität ist für sie, Entwicklung zu fördern – nicht notwendigerweise, mit Regierungsgegnern unabhängig von deren Überzeugung zu verhandeln. Sie suchen eine Alternative zu dem in Afrika weit verbreiteten Muster, mit Hilfe von Klientelgruppen und persönlichen Gefolgsleuten Macht zu gewinnen. Dies führt bei Wahlen zu gewaltsamem Wettstreit und es werden dann eher Stimmen gekauft als Mehrheiten für politische Ideen, Programme und Strategien gesucht. In Ruanda haben untereinander rivalisierende Eliten beschlossen, Politik nicht mehr, wie vor dem Genozid, als Austragung von Gegensätzen zu sehen. Sie haben dieses Muster aufgegeben zugunsten eines auf Konsens gerichteten Systems, das der in den Verträgen von Arusha vereinbarten Formel folgt. 8-2015 | demokratie schwerpunkt GNE_70x80_Layout 1 13.05.2015 12:21 Seite 1 Dies ist die entscheidende politische Verständigung, die ein stabiles Umfeld geschaffen und es der Regierung erlaubt hat, eine gemeinsame Vision der Elite für den Aufbau des Landes auszuarbeiten. In diesem neuen Ruanda sollen kein Individuum und keine Gruppe aufgrund ethnischer, sozialer oder regionaler Herkunft ausgeschlossen werden. Der Kern der Vereinbarung ist, dass institutionalisierte Ausgrenzung nie wieder akzeptiert werden soll. M anches spricht dafür, dass diese Absprachen trotz ihrer Schwächen und Mängel noch immer notwendig sind. Erstens müssen zwanzig Jahre nach dem Genozid die Wunden in der Gesellschaft noch immer heilen. Das ist nur in einem Umfeld der fortgesetzten Konsenssuche möglich, gestützt auf politische Stabilität. Zweitens wurde die Führungsriege dank des politischen Arrangements nicht von Streit in der Elite abgelenkt und konnte so einen ehrgeizigen Plan verfolgen: das Land umzubauen und Wohlstand zu schaffen. Konventionelle Demokratien mit Wettstreit der Parteien, die für einen Großteil der politischen Unruhe in der Region der Großen Seen und anderswo verantwortlich sind, können es erheblich erschweren, solche Ziele zu erreichen. Ruandas Führung sucht eine Alternative zu dem in Afrika verbreiteten Muster, mit Hilfe von Klientelgruppen um die Macht zu rangeln. Frederick Golooba-Mutebi ist Wissenschaftler und Journalist. Er lebt in Uganda und Ruanda und schreibt politische Analysen zu dieser Region. | 8-2015 Ein genauer Blick auf die Ziele hilft, den Zusammenhang zu verstehen. Ruandas Strategie für wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung (Economic Development and Poverty Reduction Strategy, EDPRS) ist Teil der übergeordneten „Vision 2020“ und bereits in der zweiten Phase der Umsetzung. Der ehrgeizige Plan zeigt, was die Führungsriege anstrebt: Seit dem Startschuss der EDPRS 2008 ist sie entschlossen, Ruanda zu einem Land mittleren Einkommens zu machen und die Lebensqualität aller Ruander zu verbessern. Die EDPRS hat vier Schwerpunkte: Rechenschaftspflicht, ökonomischer Wandel, Produktivität und Jugendbeschäftigung sowie ländliche Entwicklung. Zu ihren Kernpunkten zählt, den Beitrag des Privatsektors zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) anzuheben und ein durchschnittliches Wachstum von 11,5 Prozent jährlich zu erreichen. Das BIP pro Kopf soll von 2012 bis 2020 fast verdoppelt, die Zahl der in extremer Armut lebenden Ruander knapp halbiert werden. Pro Jahr sollen mehr als 200.000 neue Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft geschaffen werden. Um all das zu erreichen und den Nutzen über das Land zu verteilen, sollen fünf Städte abseits der Hauptstadt zu „Wachstumspolen“ für ihre Region werden. Verstärkte Investitionen sollen für die Einwohner Arbeitsplätze schaffen und die Abwanderung in die Großstädte aufhalten. Die „gezielte Urba- Anzeige Weiterbildungsprogramm: ‘Coordinator in Financial Project Management’ Fokus: Development Cooperation & Humanitarian Aid Zeitraum 31. August 2015 bis 01. April 2016 ● ● ● ● ● ● ● ● Project Management Bookkeeping and Financial Reporting Budgeting and Calculation Fundraising and Proposal Writing (BMZ, EuropeAid, ECHO, AA) Monitoring and Evaluation Procurement and Supply Chain Management Präsentation und Kommunikationsmethoden Praktikum in Institutionen & Organisationen weltweit Gesellschaft für Nachhaltige Entwicklung mbH -GNESteinstraße 19 (Standort Universität); 37213 Witzenhausen Tel: 05542-5029170; Mail: [email protected] Web: www.gne-witzenhausen.de nisierung“ soll das Wachstum der Städte koppeln an das spezieller Wirtschaftssektoren, in denen die jeweilige Region Konkurrenzvorteile hat. Für Bukavu im Nordwesten ist das zum Beispiel Tourismus und in Nyagatare im Osten kommerzielle Landwirtschaft. Die Regierung sieht ihre Rolle darin, die notwendige Infrastruktur bereitzustellen und das Investitionsklima zu fördern. Ruanda ist arm an natürlichen, finanziellen und personellen Ressourcen. Die Fortschritte, die das Land seit dem Regierungswechsel 1994 gemacht hat, zeigen wie die Erfahrungen in ähnlich ressourcenarmen Staaten, die zu Ländern mit mittlerem Einkommen aufgestiegen sind: Erfolgreiche Entwicklung ist nicht einfach eine Frage der Ressourcen. Die Politik spielt eine entscheidende Rolle. Indonesien, Malaysia, Thailand und Vietnam belegen, dass politische Stabilität und eine Führung, die ihre Ziele entschieden und unbeirrbar verfolgt, wichtiger sind als Ressourcen. Wie wichtig, zeigt sich an der ersten Phase der nationalen Strategie zur Armutsbekämpfung in Ruanda. In den Anfangstagen tat mancher skeptische Beobachter diesen Plan als zu ehrgeizig und unerreichbar ab. Doch fünf Jahre nach Beginn hat die Regierung 90 Prozent ihrer Ziele erreicht. Ob es Ruanda gelingt, seine Entwicklungsziele und damit dauerhafte Stabilität zu erreichen, hängt entscheidend davon ab, ob es den eingeschlagenen Weg weitergeht. Er ist das Ergebnis einer 20 Jahre andauernden Konsensbildung. Von Gegnerschaft geprägter politischer Streit würde ein hohes Risiko für politische Stabilität und wirtschaftlichen Wandel darstellen. Für die Stabilität Ruandas ist entscheidend, ob es der Regierung gelingt, den Lebensstandard zu heben. Dazu ist es im Gegenzug nötig, dass das Land stabil bleibt. Und das hängt von politischer Stabilität ab, die wiederum wahrscheinlich ein Nebenprodukt der aktuellen Konsenspolitik ist. Aus dem Englischen von Barbara Kochhan. 29 30 schwerpunkt demokratie Das Volk soll herrschen – doch nicht so! Die USA haben in Bolivien die Demokratisierung unterstützt. Das hat den Aufstieg des heutigen Präsidenten Evo Morales begünstigt – und dessen vom Volk getragene Politik mag Washington gar nicht gefallen. Von John Crabtree U m bedeutende Ankündigungen zu machen, wählt Evo Morales, der linke Präsident Boliviens, oft den Tag der Arbeit am 1. Mai. Im Jahr 2013 gab er an diesem Tag in seiner Rede an die Nation die Ausweisung von USAID aus Bolivien bekannt. Nach seinen Worten hatte die Entwicklungshilfebehörde der amerikanischen Regierung, die seit 1964 Programme in Bolivien umsetzte, sich einer „konspirativen Politik“ schuldig gemacht, die mit normalen Regeln der internationalen Zusammenarbeit nicht vereinbar seien. USAID dementierte die, wie sie es nannte, „haltlosen Vorwürfe“. Die Entwicklungsagentur behauptete, ihre Arbeit sei darauf gerichtet, den Lebensstandard der Armen in Bolivien zu heben. Schon 2008 hatte Morales die Ausweisung des US-Botschafters Philip Goldberg angeordnet, weil der – so der Vorwurf - regierungsfeindliche Bewegungen in Santa Cruz im Osten Boliviens gefördert habe. 2009 musste auch die amerikanische Drogenbekämpfungsbehörde (Drug Enforcement Administration, DEA) das Land verlassen. Im Gegenzug wies Washington den bolivianischen Botschafter aus und entzog Bolivien die Handelspräferenzen, die Koka produzierende Andenländer erhielten, um dort legale Einkommensmöglichkeiten zu fördern. Seit den 1980er Jahren hatte USAID eine bedeutende Rolle im von den USA angeführten „Drogenkrieg“ in Bolivien gespielt, vor allem in der Provinz Chapare im Departement Cochabamba. Hier trat Evo Morales zuerst in Erscheinung: als Gewerkschaftschef und politischer Führer der Kokabauern (cocaleros) in dem Gebiet. Damit befanden er und USAID sich lange Zeit in entgegengesetzten Lagern. Als Morales vor der Präsidentschaftswahl 2002 (in der er nur knapp unterlag) zu einer nationalen politischen Größe aufstieg, drohte der damalige US-Botschafter mit dem Ende sämtlicher Hilfszahlungen, falls die Bolivianer es wagen sollten, für Morales zu stimmen. Die Rolle von USAID in Bolivien ist von Linken lange kritisiert worden. Paradoxerweise dürfte ihre Unterstützung für Demokratiebestrebungen in den 1990er Jahren zusammen mit der Förderung für soziale Reformen dazu beigetragen haben, jenen politischen Freiraum zu öffnen, in dem Evo Morales zum nationalen Führer werden und die Rolle der US-Behörde bei der Kokavernichtung angreifen konnte. So lief die Drogenvernichtungspolitik am Ende den amerikanischen Interessen in Bolivien zuwider. Denn sie trug dazu bei, der Wahl einer Regierung den Weg zu ebnen, die schon das Konzept der Vernichtung ablehnte. Bis zum Ende des bolivianischen Militärregimes wollte das US-Außenministerium vor allem die Ausbreitung des „Kommunismus“ in Bolivien verhindern. Als 1982 eine zivile Regierung an die Macht kam, verschoben sich die Prioritäten: Jetzt sollten vor allem das Problem der Armut angepackt und die demokratische Regierungsform gefestigt werden. Darüber hinaus waren die USA zunehmend besorgt wegen des Anbaus, der Verarbeitung und des Vertriebs von Drogen. Die Militärregierungen hatten Bolivien zwischen 1980 und 1982 im Bündnis mit örtlichen Drogenmafias regiert, und genau zu der Zeit wuchs der Kokaanbau infolge der rasch steigenden Nachfrage nach Kokain in den USA und anderen Industrieländern stark. 8-2015 | demokratie schwerpunkt B is in die 1990er Jahre finanzierte USAID im Chapare, dem Zentrum des illegalen Anbaus für Kokain, in erster Linie Alternativen zum Koka-Anbau. Aufgrund der Gewinne aus dem Anbau dieser Pflanze zog die von Tropenwald geprägte Provinz Zuwanderer aus allen Teilen Boliviens an – zwischen 1967 und 1987 wuchs die Bevölkerung dort um das Zehnfache. Versuche, alternative Anbaupflanzen zum Koka zu fördern, waren allerdings nie sonderlich erfolgreich. Deshalb unterstützte USAID die zwangsweise Vernichtung von Koka im Chapare, die Präsident Hugo Banzer Suárez, ein enger Verbündeter der USA, in seiner Amtszeit von 1997 bis 2001 mit großem Eifer betrieb. Zwischen 1998 und 2002 gab USAID für alternative Entwicklung in Drogen produzierenden Regionen 750 Millionen US-Dollar aus, eines ihrer größten Programme in Lateinamerika. Damals begann USAID auch, die Demokratisierung in Bolivien zu fördern. Gleichzeitig unterstützte sie Regierungen, die wegen ihrer wirtschaftsfreundlichen Politik und der Beschränkung der Macht von linksgerichteten Gewerkschaften als enge Verbündete der USA galten. Solche Programme begannen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, erreichten aber unter Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada (1993-97) ihren Höhepunkt. Mit dem 1993 vorgestellten „Plan de Todos“ (Plan für alle) wollte Sánchez des Lozada institutionelle Reformen auf den Weg bringen, die Boliviens Präsident Evo Morales (oben rechts) hat den Koka-Anbau in Grenzen erlaubt. Er hat damit die Drogenvernichtungspolitik der USA in seinem Land beendet – rechts die Zerstörung eines Kokafeldes im Chapare 1998. Reuters (2) | 8-2015 das Fundament für liberale Wirtschaftsreformen bilden sollten. USAID unterstützte zusammen mit multilateralen Institutionen wie der Weltbank damals verschiedene Dezentralisierungsinitiativen, allen voran den Plan für Volksbeteiligung (Popular Participation, PP). Mit diesem Plan wollte Sanchéz de Lozada die Lokalverwaltung ausbauen. In ganz Bolivien sollten Gemeindeverwaltungen geschaffen und lokale Strukturen eingeführt werden, mit deren Hilfe zivilgesellschaftliche Organisationen eine Aufsichtsfunktion übernehmen sollten. Die US-Behörde wollte unter anderem die Schulungsmöglichkeiten für lokale Beamte verbessern und Mechanismen zur Korruptionsvermeidung aufbauen. Auch eine Verfassungsreform sowie Bildungs- und Landbesitzreformen gehen auf Sánchez de Lozada zurück. Inwieweit diese Reformen zu den politischen Unruhen beigetragen haben, die das Land zu Beginn des neuen Jahrtausends erschütterten, ist umstritten. Popular Participation öffnete neue Räume und Ressourcen für lokale Politik, die für die Zentralregierung immer weniger kontrollierbar war. Das wurde nirgends deutlicher als im Chapare, wo sich die Gewerkschaft der cocaleros geschickt eine Wählerbasis aufbaute und die Partei Movimiento al Socialismo (MAS) gründete, die schließlich Morales an die Macht brachte. Zudem bestärkten die Bildungs- und Landre- 31 32 schwerpunkt demokratie formen die Forderungen nach Rechten für die Indigenen, was wenige Jahre später die Anziehungskraft der MAS stärken sollte. Unbeabsichtigt unterstützte USAID somit Programme, die am Ende die Entwicklung der MAS förderten. Einen Beitrag zur Stabilisierung der bolivianischen Wirtschaft und Politik leisteten USAID und andere multilaterale wie bilaterale Geber in den Neunzigerjahren im Rahmen der Initiative zur Entschuldung Hochverschuldeter armer Länder (Heavily Indebted Poor Countries, HIPC); darunter erhielt Bolivien großzügige Schuldenerleichterungen. Unmittelbar vor den Wahlen 2005 profitierte Bolivien von einem Erlass von Schulden gegenüber der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Das sollte, wie sich herausstellte, es der MAS wesentlich leichter machen, den politischen Einfluss der Geber von Entwicklungshilfe zurückzudrängen. Allerdings beruhte der Aufstieg der MAS auch auf anderen Triebkräften zu Beginn des neuen Jahrtausends. Er war Ausdruck von wachsendem Unmut in der Bevölkerung gegenüber einer von Eliten gesteuerten Demokratie, in der zwar Wahlen stattfanden, aber keine politischen Alternativen geboten wurden. Außerdem erwiesen sich die mit dem „Plan für alle“ verbundenen Versprechen – vor allem dass die Liberalisierung der Wirtschaft Arbeitsplätze schaffen würde – zunehmend als Illusion. Ende der Neunzigerjahre erlebte Bolivien zudem einen Konjunktureinbruch, der die wirtschaftliche Lage noch verschlechterte. Die große Unterstützung für die MAS bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 zeigte das Ausmaß des Protests gegen den Status quo und machte die MAS zur wichtigsten Oppositionspartei. Der Kampf gegen die von den USA unterstützte Kokavernichtung wurde zum Symbol für die Souveränität Boliviens. In dem erdrutschartigen Sieg von Evo Morales 2005 zeigte sich, dass die neoliberalen Reformen daran gescheitert waren, Gruppen jenseits des politischen Establishments zu befrieden. Deren Widerstand äußerte sich immer schärfer in Protestbewegungen, die in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends die politische Landschaft erschütterten. Das begann mit dem sogenannten Wasserkrieg in Cochabamba 1999, als soziale Bewegungen gegen Pläne mobil machten, die Wasser- und Abwasserversorgung in Boliviens drittgrößter Stadt zu privatisieren. Eine Vielzahl anderer Protestbewegungen der bis dato Ausgeschlossenen zog nach: Gruppen von Indigenen im Hoch- und Tiefland, Rentner, landlose Bauern, im Osten gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und natürlich die cocaleros, deren Haupterwerbsquellen durch die Zwangsvernichtung von Koka zerstört wurden. Der MAS gelang es, diese verschiedenen sozialen Bewegungen als vereinte Wählerschaft zusammen zu bringen. Eine der stärksten einigenden Kräfte war der Nationalismus: Das Land sollte nicht länger von den Vereinigten Staaten, dem IWF, der Weltbank und der Gebergemeinschaft bevormundet werden. Der Kampf gegen die von den USA unterstützte Kokavernichtung im Chapare wurde zu einem Symbol für das Bestreben, der Souveränität Boliviens Geltung zu verschaffen. W egen ihrer Rolle im Chapare geriet USAID neben der DEA zwangsläufig in die Schusslinie der neuen Regierung. Und indem sie ein enges Bündnis mit Kuba und Venezuela schmiedete, richtete die MAS von Anfang an ihre Attacken gegen den amerikanischen „Imperialismus“, nicht nur in Bolivien, sondern in ganz Lateinamerika. Nach seinem Amtsantritt im Januar 2006 nahmen Morales und die MAS Reformen in Angriff – insbesondere die Renationalisierung ehemals staatlicher Unternehmen, die unter Sánchez de Lozada in den 1990ern teilprivatisiert worden waren, und die Reform der Verfassung. Beides bedeutete nicht unbedingt einen Konfrontationskurs mit Washington. Zum einen war die amerikanische Investitionstätigkeit in Bolivien verhältnismäßig gering, zum anderen ist eine Verfassungsreform im Wesentlichen eine innenpolitische Angelegenheit. Erst der Verdacht, dass die US-Botschaft in die gewaltsamen Unruhen verwickelt war, die sich im September 2008 in Santa Cruz und anderen östlichen Departements an der Forderung nach radikaler Autonomie von La Paz entzündeten, veranlasste die Regierung Morales, den US-Botschafter auszuweisen. Morales gab die repressiven Aspekte der von den USA unterstützten Kokavernichtungspolitik auf und regulierte die Kokaproduktion: Bauern durften nun eine festgelegte Anbaufläche mit Koka bepflanzen, aber nicht mehr. Zusammen mit dem traditionelleren Ansatz, Bauern zur Erzeugung alternativer landwirtschaftlicher Produkte zu bewegen, erwies sich diese Politik als erfolgreich. Zahlen des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung in Wien zeigen, dass die Anbauflächen von 28.900 Hektar im Jahr 2007 auf 23.100 Hektar 2013 geschrumpft sind. Der wirtschaftspolitische Spielraum der Regierung Morales wurde enorm begünstigt vom Rück- Ein Bauer übermalt 2008 das Schild der US-Hilfsagentur USAID in Cochabamba. USAID muss nach einem Votum der Bevölkerung die Provinz Chapare verlassen. afp/getty Images 8-2015 | demokratie schwerpunkt gang der äußeren Verschuldung dank der Schuldenerlasse in der Zeit vor ihrem Amtsantritt, kombiniert mit dem großen Einkommenszuwachs aus Erdgasverkäufen an Brasilien und Argentinien. Die verbesserte Zahlungsbilanz und der solide Regierungshaushalt machten Bolivien von ausländischen Geldgebern, insbesondere dem IWF und der Weltbank, unabhängig. Zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1982 besaß eine Regierung die Freiheit, ihre wirtschaftspolitischen Strategien und Ziele selbst zu bestimmen. Der 2006 verabschiedete Fünfjahresplan löste sich von den politischen Bedingungen, die früheren Regierungen auferlegt worden waren: Morales konnte den Kurs der Privatisierungen und Kürzungen des Staatshaushalts aus den 1990ern umkehren. Seine Wiederwahl im Jahr 2009 mit 64 Prozent der Stimmen und seine erneute Wiederwahl 2014 mit 61 Prozent zeigen, dass die Regierungspolitik insgesamt relativ erfolgreich war. Und sie bestätigen die Wahrnehmung unter bolivianischen Wählern, dass das Land seit 2006 für seine eigenen Interessen und nicht mehr für die der USA oder der internationalen Bankengemeinschaft eingetreten ist. Für ein Land, das seit seiner Unabhängigkeit als politisch instabil galt, ist das eine beachtliche Leistung. Man kann sagen, dass der Versuch von USAID, in den 1990er Jahren die Demokratie zu fördern, auf sie selbst zurückgefallen ist: Am Ende ist sie wohl Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller. John Crabtree ist Politikwissenschaftler am Saint Antony’s College in Oxford und am Lateinamerika-Zentrum der Universität Oxford. Er hat zahlreiche Studien zur Politik in den Andenländern veröffentlicht, insbesondere zu Peru und Bolivien. bücher zum Thema Danielle Resnick, Nicolas van de Walle (Hg.) Democratic Trajectories in Africa Unravelling the Impact of Foreign Aid UNU-WIDER Studies in Development Economics, Oxford University Press, Oxford 2013, 310 Seiten, ca. 83 Euro Dieser Sammelband fragt, ob man in Afrika südlich der Sahara mit Entwicklungshilfe Demokratisierungsprozesse unterstützen kann. Auf die Region entfällt die meiste „Demokratisierungshilfe“, mit der traditionelle westliche Geber seit den 1990er Jahren speziell den Aufbau demokratischer Regierungsformen fördern. In dem Band wird aber betont, dass sich auch „normale“ Wirtschaftshilfe auf die politische Szene im Partnerland auswirkt. Um festzustellen, ob die Demokratie begünstigt wird, dürfe man beides nicht in einen Topf werfen. Außerdem müsse man die Folgen für den Übergang zur Demokratie unterscheiden von den Wirkungen auf ihre anschließende Festi- | 8-2015 gung. Und es kommt auch darauf an, in welcher Form Hilfe vergeben wird – ob sie etwa als Budgethilfe direkt in den Staatshaushalt fließt. Die Herausgeber setzen deshalb auf Fallstudien von sieben afrikanischen Ländern, in denen die Regierung frei gewählt wird. Hier erweist sich die Demokratisierungshilfe vor allem bei der Festigung und Vertiefung der Demokratie als wirksam – etwa wenn Medien, die Justiz und die Zivilgesellschaft gefördert werden. Sie sei aber oft wenig unter den Gebern koordiniert und vernachlässige Parteien und Parlamente. Allgemeine Wirtschaftshilfe wiederum verschaffe den Gebern ein wichtiges Druckmittel gegen Rückschritte bei der Demokratie: Sie könnten mit Entzug der Hilfe drohen. Das, so der Befund, tun sie aber vor allem bei Korruption und wenn Wahlen manipuliert werden – kaum bei Verstößen gegen Menschenrechte und politische Freiheitsrechte. Budgethilfe könne zudem die Rolle der Parlamente schwächen und in Ländern, in denen ständig dieselbe Partei Wahlen gewinnt, die Elite und die herrschende Partei stärken. Die Ziele, Wirtschaftshilfe effizienter zu gestalten und sie für die Demokratie förderlich zu machen, können also in Konflikt geraten. Die Autoren mahnen zu Recht, genau hinzusehen. Das allerdings wird dem Leser nicht leicht ge- macht. Etwas weniger akademisches und statistisches Brimborium hätte es auch getan. (bl) Jonas Wolff, Hans-Joachim Spanger, Hans-Jürgen Puhle (Hg.) Zwischen Normen und Interessen Demokratieförderung als internationale Politik Nomos Verlag, Baden-Baden 2012, 345 Seiten, 59 Euro Dieser Band schaut auf Kalküle der Geber: Wie und unter welchen Bedingungen versuchen Industrieländer, anderswo demokratische Regierungsformen zu fördern? Im Zentrum stehen die deutsche und die US-amerikanische Politik gegenüber Russland, Weißrussland , Pakistan, Türkei sowie Bolivien und Ecuador. Ein Leitmotiv ist der Umgang mit Zielkonflikten. Zum einen, betonen die Autoren, bergen Demokratisierungsprozesse oft die Gefahr, dass Gewalt ausbricht, die Regierung gelähmt wird oder die Mehrheit sich gegen Minderheiten wendet. Mit Demokratie verbundene Teilziele geraten somit in Konflikt und stellen die Geber vor die Wahl, zum Beispiel Wahlen oder der Gewaltverhütung Vorrang zu geben. Zum anderen steht ihre Demokratiehilfe oft im Konflikt mit anderen außen- oder wirtschaftspolitischen Interessen. Daneben spielt das Machtverhältnis zwischen Geber- und Nehmerland eine wichtige Rolle. Aber auch Normen und die eigene politische Kultur wirken sich aus. Die Fallstudien gehen dem komplizierten Wechselspiel dieser Faktoren im Geberland, im Nehmerland und international nach. Sie zeigen: Umfassende Demokratieförderung betreiben Deutschland wie die USA am ehesten gegenüber schwächeren Staaten, in denen sie kaum sicherheits- und wirtschaftspolitische Interessen haben. Haben sie solche Interessen, dann setzen die sich in der Regel durch, ohne den Einsatz für Demokratie ganz auszuschalten. Und die Hemmungen, gegen missliebige demokratische Regierungen vorzugehen, sind wesentlich größer als die, mit nützlichen Autokraten zu kooperieren. Dass die Studien bewusst unterschiedliche theoretische Ansätze benutzen, ist eine ihrer Stärken. Eine Schwäche ist, dass Beispiele aus Afrika fehlen – gerade weil dort das Machtgefälle zu den Gebern groß ist. (bl) 33 34 welt-blicke xxx Vorreiter: Afrikas größte Windfarm steht in der äthiopischen Region Tigray. Sie liefert seit Oktober 2013 Strom. Kumerra Gemechu/Reuters Siegeszug von Wind und Sonne Der Anteil der Erneuerbaren an der weltweiten Stromerzeugung wächst viel schneller als erwartet. Der Abschied von den fossilen Energieträgern ist nicht mehr aufzuhalten. Von Michael T. Klare N och ist es nicht sicher – doch das Jahr 2015 könnte für künftige Historiker einmal den Wendepunkt markieren, nach dem die erneuerbaren Energien nicht mehr aufzuhalten waren und die Welt sich aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu befreien begann. Zwar werden Kohle, Öl und Erdgas den Energiemarkt noch jahrelang beherrschen und die Erdatmosphäre durch den Ausstoß von Milliarden Tonnen Kohlendioxid weiter aufheizen. Doch zum ersten Mal verschiebt sich das Gleichgewicht zugunsten von Sonne, Wind und Biogas. Das wird die Weltwirtschaft verändern, so wie in vorangegangenen Jahrhunderten, in denen Holz von Kohle und Kohle von Öl als wichtigste Energieträger abgelöst wurden. Das Wirtschaftswachstum stützte sich natürlich weltweit lange Zeit auf das ständig wachsende Angebot an fossilen Brennstoffen, in erster Linie Erdöl. Angefangen mit den USA verschafften sich alle Länder, die die Techniken der Erdölförderung und Verarbeitung beherrschten, einen gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Vorsprung. Länder mit großen Ölvorkommen wie Kuwait und Saudi-Arabien wurden sagenhaft reich. Konzerne, die dem Erdöl zum Durchbruch verhalfen, sammelten ein immenses Vermögen an und wurden sehr mächtig. Ölstaaten und Energiekonzerne träumen deshalb gerne weiter von einer Zukunft, in der sie eine bestimmende Rolle spielen. Doch ein erstaunlicher Anstieg bei der Installation von Windkraftanlagen und Sonnenkollektoren legt die Vermutung nahe, dass die Vorherrschaft des 8-2015 | energie welt-blicke Erdöls nicht so dauerhaft sein wird wie gedacht. „Die rasche Ausbreitung der Solartechnik könnte alles verändern“, schrieb der Energieexperte Nick Butler kürzlich in der „Financial Times“. „Es mehren sich die Hinweise, dass uns eine tiefgreifende Wende bevor- Äthiopien: Vorbildlich beim Klimaschutz Äthiopien hat Anfang Juni als erstes der am wenigsten entwickelten Länder seinen nationalen Klimaschutzplan beim Klimasekretariat der Vereinten Nationen eingereicht – und nennt darin ehrgeizige Ziele: Bis 2030 will das ostafrikanische Land, das für 0,3 Prozent des weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen verantwortlich ist, seine KohlendioxidEmissionen gegenüber 2010 um zwei Drittel verringern. Erreicht werden soll das unter anderem durch den Ausbau erneuerbarer Energiequellen wie Sonne, Wind und vor allem Wasserkraft sowie mehr Energieeffizienz etwa bei Küchenherden. Zur Deckung des Energiebedarfs errichtet beziehungsweise plant die äthiopische Regierung eine Reihe von Staudämmen am Blauen Nil. Dazu zählt der „Große Äthiopische RenaissanceDamm“, über den nach jahrelangem Streit im März mit den Nachbarstaaten eine Einigung erzielt worden ist. Wenn er 2017 fertiggestellt ist, soll er 6000 Megawatt Strom erzeugen. Die Regierung setzt zudem auf moderne und effiziente Technologien beim Transportwesen, in der Industrie und im Baugewerbe. Auf dem Weg zu einem Land mit mittlerem Einkommen strebt sie eine kohlenstoffneutrale Wirtschaft an. Insgesamt braucht sie für ihre Pläne 150 Milliarden US-Dollar – ohne internationale Hilfe kann sie diesen Betrag nicht aufbringen. Entwicklungsexperten loben die ambitionierten Ziele als vorbildlich, sprechen aber auch von „großen Herausforderungen“. Denn mehr als drei Viertel der knapp 97 Millionen Äthiopier haben bislang keinen Zugang zu Strom und nutzen vor allem Holz zum Kochen und zum Heizen. (gka) steht, die Investitionen in die alten Energiesysteme zunehmend fragwürdig erscheinen lassen.“ In der Regel nimmt der Übergang von einem Energiesystem zu einem anderen mehrere Jahrzehnte in An- Ölstaaten und Energiekonzerne träumen gerne weiter von einer Zukunft, in der sie eine beherrschende Rolle spielen. spruch. Laut Vaclav Smil von der Universität Manitoba dauerte der Umstieg von Holz auf Kohle und von Kohle auf Öl jeweils 50 Jahre. Ebenso lange werde die Umstellung auf erneuerbare Energien dauern. „Dass es mit der Energiewende nur schleppend vorangeht, ist nicht verwunderlich“, schrieb er im Scientific American, „das war zu erwarten.“ Doch dabei setzt Smil zwei Dinge voraus: Er nimmt an, dass die Entscheidungen über EnergieInvestitionen weiter unter dem Gesichtspunkt der Profitmaximierung getroffen werden, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Zudem geht er davon aus, dass die erneuerbaren Energieträger erst in Jahrzehnten günstiger und leichter verfügbar werden als | 8-2015 die fossilen Brennstoffe. Beide Voraussetzungen erweisen sich jedoch als unhaltbar. Die Sorge über den Klimawandel verändert bereits die Rahmenbedingungen der Energiepolitik, und zugleich machen Wind- und Solartechnik spektakuläre Fortschritte. Dadurch schwindet der Kostenvorteil der fossilen Brennstoffe. Vier entscheidende Trends könnten die Umstellung auf die Erneuerbaren signifikant beschleunigen: Weltweit wächst die Entschlossenheit, dem Klimawandel entgegenzutreten; Chinas Haltung zu Umwelt und Entwicklung ändert sich grundlegend; alternative Energien werden in den Entwicklungsländern stärker akzeptiert; und die Preise für sie sinken. E rnsthafter Klimaschutz stößt auf weit verbreiteten und hartnäckigen Widerstand. Wie Naomi Klein in ihrem jüngsten Buch „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“ nachweist, haben die großen Energiekonzerne jahrelang viel Geld in die Öffentlichkeitsarbeit gesteckt, um Zweifel an der Realität des Klimawandels zu schüren. Politiker, die nicht selten dafür bezahlt wurden, sabotierten gesetzliche Verpflichtungen, die Kohlendioxid-Emissionen zu verringern. Auch viele Bürger wollten die Lage nicht wahrhaben und sträubten sich gegen entsprechende Maßnahmen. Doch all das ändert sich angesichts der immer verheerenden Auswirkungen der Wetterextreme wie Hochwasser, Dürren und stärkere Stürme, die im Alltag immer häufiger zu spüren sind. Das klarste Anzeichen des Wandels dieser Einstellungen sind die Klimaschutz-Zusagen der wirtschaftsstärksten Länder, die zurzeit den Vereinten Nationen (UN) vorgelegt und Ende des Jahres auf der Pariser Weltklimakonferenz diskutiert werden. Nach einem Beschluss des vorangegangenen Gipfels müssen alle Unterzeichner des Rahmenübereinkommens der UN über Klimaänderungen (UN Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) detaillierte Aktionspläne einreichen, die sogenannten „Beabsichtigten Nationalen Beiträge“ (Intended Nationally Determined Contributions, INDCs) zum weltweiten Kampf gegen den Klimawandel. Diese Pläne sind zum großen Teil sehr strikt und weitreichend. Und vor allem geben die Staaten jetzt Zahlen für die beabsichtigte Reduzierung ihrer Kohlendioxid-Emissionen an, die noch vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen wären. Der amerikanische Plan etwa sieht vor, dass der CO2-Ausstoß in den USA bis 2025 gegenüber dem Niveau von 2005 um 26 bis 28 Prozent sinken soll. Um das umzusetzen, müssen zwar zahlreiche Hindernisse überwunden werden, vor allem die starre Opposition der republikanischen Parlamentarier, die Interessen der Erdölindustrie vertreten. Doch das Weiße Haus gibt sich überzeugt, dass die Regierung viele der vorgesehenen Maßnahmen ohne Beteiligung des Parlaments durchsetzen kann. Das gilt etwa für die Obergrenzen für Emissionen aus Kohlekraftwerken und für obligatorische Einsparungen beim Benzinverbrauch von Autos und Lastwagen. 35 welt-blicke energie Andere Länder verfolgen ähnlich hochgesteckte Ziele. Mexiko will seinen Kohlendioxidausstoß bis 2026 deckeln und bis 2030 eine Verringerung um 22 Prozent anstreben. Das mexikanische Engagement ist besonders bedeutsam, denn es ist die erste Klimaschutz-Zusage von Seiten eines großen Schwellenlandes. Die Obama-Regierung würdigte den Beitrag als „aussagekräftig“ und „ambitioniert“. Strom aus Solaranlagen ist seit 2010 gobal um die Hälfte billiger geworden. Damit ist er konkurrenzfähig zu Strom aus Öl und Gas. Auch China ist offensichtlich entschlossen, seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern. Das Land hat Ende Juni bei den UN seinen Klimaschutzplan eingereicht. Darin sind die Ziele festgeschrieben, auf die sich Präsident Xi Jinping vorigen November bei einem Treffen in Peking mit Präsident Obama geeinigt hatte: Der chinesische Kohlendioxid-Ausstoß soll nach 2030 nicht weiter zunehmen und der Anteil der alternativen Energiequellen am primären Energieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent steigen. Ferner will die Volksrepublik bis 2030 die CO2-Intensität ihrer Wirtschaft – also die CO2-Emissionen pro Einheit des Bruttoinlandsprodukts – gegenüber 2005 um zwei Drittel verringern. Es scheint sogar, als ob die chinesischen Politiker den fossilen Brennstoffen noch schneller den Rücken kehren wollen, als sie angekündigt haben. Sie Wieviel Strom braucht die Welt? 1974 müssen nämlich auf die Proteste der städtischen Bevölkerung reagieren, die unerträglichen Smogbelastungen ausgesetzt ist. Deshalb wurden ehrgeizige Pläne bekanntgegeben, bei der Stromerzeugung anstelle von Kohle nach Möglichkeit Wasserkraft, Atomenergie, Erdgas sowie Wind- und Solaranlagen einzusetzen. „In den am meisten betroffenen Regionen des Landes streben wir beim Verbrauch von Kohle ein Nullwachstum an“, erklärte Ministerpräsident Li Keqiang im März vor dem Nationalen Volkskongress, dem chinesischen Parlament. Ebenso wie ihre amerikanischen Kollegen werden die chinesischen Politiker sich gegen den Widerstand der Kohle- und Erdölkonzerne und der lokalen Machteliten durchsetzen müssen. Doch ihre offensichtliche Entschlossenheit, die Abhängigkeit von Öl und Kohle zu verringern, weist auf ein grundsätzliches Umdenken hin. Die Zukunft wird deshalb wahrscheinlich ganz anders aussehen, als es sich bis vor kurzem die meisten Experten vorgestellt haben. So wurde etwa ein unablässiger Anstieg des Kohleverbrauchs vorhergesagt, doch tatsächlich haben die Chinesen im Jahr 2014 zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten weniger Kohle verbrannt als im Vorjahr. Gleichzeitig stiegen die Investitionen in erneuerbare Energien im selben Jahr um 33 Prozent auf insgesamt 83 Milliarden US-Dollar – mehr als irgendein Land jemals innerhalb eines Jahres dafür ausgegeben hat. Wenn China weiter ein solches Tempo vorgibt und der Trend insgesamt anhält, wird die Energiewende viel schneller vonstatten gehen, als es zu erwarten war. Solarenergie-Kapazitäten 2011 Angaben in Gigawatt 2030 Stromproduktion in Terawattstunden 400 4% 24% 5% 11% 36% 12% 27% 26% 16% 0,1% 6200 42% 37.000 22.126 18% 22% 24% 4% 1% 350 Europa USA China 300 Indien Rest der Welt 17% 11% 250 200 Weltbevölkerung in Milliarden Menschen 36 Kohle 150 100 4,0 7,0 8,2 50 Öl Quelle: Weltbank, IEA, IRENA Gas Atomkraft Wasserkraft andere Erneuerbare 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Quelle: IRENA 8-2015 | energie welt-blicke Ölquellen wie diese im irakischen Basra werden noch eine Weile sprudeln. Doch für die Stromerzeugung sind fossile Energieträger nicht länger die erste Wahl. Essam Al-Sudani/Reuters Die großen Erdölkonzerne wissen schon seit langem, dass die führenden Industrienationen – allen voran die USA, Japan und Europa – sich zugunsten der erneuerbaren Energien früher oder später von den fossilen Brennstoffen verabschieden werden. Sie glauben jedoch fest daran, dass die armen Länder, die ihre Wirtschaftsentwicklung vorantreiben wollen, noch lange von Kohle, Öl und Gas abhängen werden, weil sie sich die Investitionen in alternative Erneuerbare Energien im Aufwind Angaben in Gigawatt 400 350 300 250 200 150 100 50 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Quelle: IRENA Angaben in Gigawatt Weltweiter Zuwachs an Kraftwerkskapazität aus Erneuerbaren Windenergie-Kapazitäten | 8-2015 Energien nicht leisten können. Deshalb haben ExxonMobil und andere Ölkonzerne eine Menge Geld in neue Raffinerien, Pipelines und andere Anlagen gesteckt. Doch zu ihrer großen Überraschung scheinen nun auch arme Länder ihren zunehmenden Energiebedarf lieber mit Sonne und Wind decken zu wollen. Das Interesse der Länder des Globalen Südens an alternativen Energien bestätigt der Bericht „Global Trends in Renewable Energy Investment 2015“, den die Frankfurt School of Finance and Management und das UN-Umweltprogramm gemeinsam erstellt haben. Darin wird festgestellt, dass die Entwicklungsländer – ohne China – im Jahr 2014 für erneuerbare Energien sehr viel mehr als im Vorjahr ausgegeben haben: insgesamt 30 Milliarden US-Dollar. Wenn man China mitrechnet, haben die Entwicklungs- und Schwellenländer fast genauso viel in die Erneuerbaren investiert wie die hochentwickelten Länder. Einen deutlichen Anstieg gab es in Brasilien (7,6 Milliarden US-Dollar), Indien (7,4 Milliarden) und Südafrika (5,5 Milliarden); auch Chile, Indonesien, Kenia, Mexiko und die Türkei investierten je eine Milliarde US-Dollar. Wenn man bedenkt, wie wenig das diesen Ländern noch vor einigen Jahren wert war, ist dies ein deutliches Indiz für eine Zeitenwende. Eine entscheidende Rolle spielen die Preise. Glaubt man den Fürsprechern von Kohle und Öl, dann könnte man meinen, für die armen Länder gebe es wegen der relativ geringeren Kosten für fossile Brennstoffe gar keine Alternative dazu. Dabei sinken die Preise bei den regenerierbaren Energien, 140 Wasserkraft Photovoltaik Solarthermie Biomasse 120 Wind Geothermie Tideenergie 58% 100 Anteil der Erneuerbaren an der Kapazität von neu gebauten Kraftwerken 80 60 40 19% 20 0 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Quelle: IRENA 37 38 welt-blicke energie Fabrik für Solarzellen in Shanghai. Chinas Regierung will angesichts der Luftverschmutzung in den Städten den Ausstieg aus der Kohleverstromung beschleunigen. Mick Ryan/Cultura Travel/Getty IMages insbesondere bei Solaranlagen, so schnell, dass ungeachtet der seit Mitte 2014 um die Hälfte gesunkenen Ölpreise kein Zweifel daran besteht, in welche Richtung die Entwicklung geht: Die fossilen Brennstoffe bieten den ärmeren Ländern keinen garantierten Preisvorteil mehr. So sind die Kosten für Solarzel- Arme Länder haben gute Gründe, die Erneuerbaren vorzuziehen – auch weil sie am stärksten unter den Folgen der Erderwärmung leiden. Michael T. Klare ist Professor für Friedensforschung am Hampshire College. Seine jüngstes Buch von 2012 „The Race for What’s Left“ behandelt die Jagd nach knappen Rohstoffen. Der Beitrag ist im Original bei TomDispatch.com erschienen. len seit 2009 um drei Viertel gefallen; weltweit ist die Stromgewinnung aus Solaranlagen seit 2010 um die Hälfte billiger geworden. Die Sonnenenergie ist selbst bei den derzeit extrem niedrigen Preisen für Erdöl und Erdgas konkurrenzfähig. Darüber hinaus haben die Entwicklungsländer gute Gründe, die Erneuerbaren vorzuziehen. Das hat mit ganz anderen Kosten zu tun: Aus den neuesten Berichten des UN-Weltklimarats geht deutlich hervor, dass die schädlichen Folge des Klimawandels die armen Länder auf der Südhalbkugel der Erde früher und sehr viel stärker treffen als die Länder im Norden. Sie müssen etwa damit rechnen, dass die Niederschläge zurückgehen, und sich auf mehr und längere Dürreperioden einstellen. Damit wird die Versorgung von Hunderten von Millionen Menschen mit Lebensmitteln infrage gestellt. Wenn die erneuerbaren Energien zugleich immer erschwinglicher werden, liegt es nahe, dass die Energiewende früher als erwartet stattfinden wird, und zwar gerade in den Regionen, in denen die Erdölkonzerne in der Zukunft noch Gewinne machen wollten. In der Summe scheinen all diese relativ unerwarteten Entwicklungen nur eine Schlussfolgerung zuzulassen: Wir stehen am Beginn einer globalen Energiewende, die alle bisherigen politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Prognosen auf den Kopf stellen könnte. Diese Wende wird sich nicht über Nacht vollziehen, und sie wird sich gegen den erbitterten Widerstand der Kohle- und Erdölproduzenten behaupten müssen. Dennoch scheint der Trend sich zu beschleunigen. Selbst wenn noch ein paar Jahrzehnte vergehen sollten, ist der Zeitrahmen von einem halben Jahrhundert, mit dem Experten wie Vaclav Smil bisher gerechnet haben, wohl nicht mehr zutreffend. Die fossilen Brennstoffe und mit ihnen die Konzerne, die Politiker und die Ölstaaten, die so lange von ihnen profitiert haben, werden ihre beherrschende Rolle sehr viel schneller verlieren und von den Anbietern der alternativen Energien überholt werden. Allerdings: Selbst wenn die Investitionen in grüne Technologien dramatisch zunehmen, ist es leider höchst unwahrscheinlich, dass der globale Temperaturanstieg auf zwei Grad Celsius begrenzt werden kann. Es rechnet auch kaum jemand damit, dass auf dem Weltklimagipfel Ende 2015 genügend starke Schritte beschlossen werden, um diese Grenze einzuhalten. Die meisten Wissenschaftler halten sie aber für das Maximum dessen, was der Planet verkraften kann, ohne dass Klimakatastrophen jenseits aller bisherigen Erfahrungen eintreten. Unsere Kinder und Enkel werden also unter wesentlich widrigeren Umständen leben müssen als wir. In dem Maße, in dem die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels stärker und im Alltag sichtbarer werden, wird allerdings auch die Motivation zunehmen, die Erderwärmung aufzuhalten. So werden auch die Produktion und der Verbrauch fossiler Brennstoffe immer schärferen Beschränkungen unterworfen werden. Das heißt die Energiewende beginnt eine unaufhaltsame Dynamik zu entfalten. Die meisten Menschen, die heute leben, werden die neue Epoche der erneuerbaren Energien noch erleben. Wie in der Vergangenheit wird es beim Umstieg auf andere Energieträger Gewinner und Verlierer geben. Es ist anzunehmen, dass die Länder und die Unternehmen, die sich an die Spitze der Entwicklung und der Nutzung grüner Technologien stellen, in den kommenden Jahrzehnten davon profitieren werden. Die anderen, die weiter auf fossile Brennstoffe setzen, werden ihren Reichtum und ihre Macht schwinden sehen. Doch je früher die Wende stattfindet, desto besser ist es für den Planeten. Aus dem Englischen von Anna Latz. 8-2015 | fairer handel welt-blicke Marios Kampf für gute Preise Fair gehandelter Kaffee ist nicht automatisch Bio. Eine Kaffeekooperative in Honduras schafft beides – doch reich wird sie damit auch nicht. Text: Martina Hahn, Fotos: Santiago Engelhardt Chemie und Gensaat kommen beim Kaffeebauern Mario Enrique nicht in den Boden. Für diese Überzeugung hat er lange streiten müssen – auch mit seiner Ehefrau. | 8-2015 D er Wandel, sagt Mario Enrique Perez und tippt sich dabei mit dem Zeigefinger an die Stirn, „der beginnt hier oben“. Vom „cambio de chip“, dem Wechsel der Festplatte in den Köpfen der Kaffeebauern, weg von Chemiekeule und Gen-Saat, hin zu Bio-Dünger und Kompost, spricht er gerne und oft. Es ist das Credo des 62-Jährigen, auch sein ganz persönlicher Kampf. Den hatte er anfangs nicht nur mit den Mitgesellschaftern seiner Kooperative auszufechten, mit denen er Bio-Kaffee anbaut. Sondern auch mit Joselinda Manueles, seiner Frau. Beide stehen im Garten ihrer Finca, inmitten von Kaffeepflanzen und Bäumen, an denen pralle Mandarinen, Zitronen und Mangos hängen. Es ist angenehm kühl auf 1200 Meter Höhe. Schon des- wegen wächst hier, im Hochland von Honduras, rund um Marcala, der beste Arabica des Landes. „Cascabel“, Klapperschlange, haben Mario und Joselinda ihre Finca genannt und wie zum Nachdruck ein totes Reptil in ein Glas eingelegt. Die Schlange darin spritzt kein Gift mehr. Ebenso wenig wie Mario. Doch die wenigsten Kaffeebauern in Honduras setzen auf Bio. Die meisten versprühen Pestizide, Fungizide, Kunstdünger – „und kultivieren damit den Tod“, schimpft Joselinda, während sie fast zärtlich über ein tiefgrünes Blatt streicht. Wie jeden Morgen prüft sie die Kaffeebäumchen, wässert und düngt mit einem Mix aus Kuhmist und Urin, wo die Blätter blass und die Zweiglein kraftlos wirken. Auch sie hat sich lange gewehrt: „Ich war der größte Gegner von Bio, ich war ignorant.“ Als Mario 2007 verkündete, er wolle die Finca nach den Regeln des Ökolandbaus beackern, schnitt sie ihn tagelang. Auch aus Sorge: „Ich hatte Angst, dass wir weniger ernten und nichts mehr zu essen haben würden.“ Diese Angst hat sie verloren. Seit die Familie Bio-Kaffee anbaut, haben sich der Ertrag erhöht und das Einkommen verdoppelt. Die Ausgaben sind um die Hälfte gesunken, denn Chemikalien sind teuer. Die 800 Kaffeebauern der Kooperative COMSA bekommen für ihre Bohnen nicht nur einen Biozuschlag. Sie haben mit Fairtrade International einen Vertrag geschlossen und erhalten von den Aufkäufern aus Europa auch einen fairen Preis. „Früher bestimmte allein der Zwischenhändler mit seiner manipulierten Waage, was wir bekommen“, sagt Mario Enrique Perez. Wer nicht organisiert ist, in Honduras noch immer jeder zweite Kaffeebauer, ist bis heute von diesen lokalen „coyotes“ abhängig. Die zahlten im April, zum Ende der zurückliegenden Ernte, nur 100 oder 110 US-Dollar pro 45-Kilo-Sack, obwohl der konventionelle Rohkaffee an der Börse mit knapp 130 US-Dollar gehandelt wurde. COMSA jedoch bekam für seine biofairen Bohnen 190 US-Dollar von den Käufern aus Übersee: 140 US-Dollar, weil das der Fairtrade-Mindestpreis ist, 30 für die Bioqualität sowie 20 als Fairtrade-Prämie. Umgerechnet 1,3 Millionen Euro Prämie kamen dadurch zusammen. Mit diesem Geld schickt die Kooperative Kinder an die Uni, finanziert Mittagessen an den Schulen und Kurse 39 40 welt-blicke fairer handel im Ökolandbau oder kauft Röstmaschinen zur Wertschöpfung vor Ort. Rund 80 Prozent der KaffeeErnte können die Bauern von COMSA zu biofairen Konditionen und damit zu einem höheren Preis verkaufen. Der Markt ist da: Immer mehr Konsumenten in Europa achten darauf, dass nicht nur das Biosiegel, sondern auch das Logo eines fairen Anbieters auf der Kaffeepackung abgedruckt ist. Zwei von drei Fairtrade-Kaffees sind inzwischen auch Bio. Das findet Mario nur konsequent: „Was hilft uns Produzenten ein fairer Preis, wenn wir wegen der giftigen Pestizide krank werden, wenn die Natur stirbt und unsere Böden auslaugen?“ Bei Wilfredo Olivera holt er sich jedoch eine Rüge ab. „Die Mikroorganismen und Proteine sind okay, aber es fehlt an Mineralien“, moniert der Biologe. In seinem kleinen Labor auf der Finca Fortaleza, der Lehrfarm von COMSA, können die Mitglieder der Kooperative kostenlos die Qualität ihrer Böden untersuchen lassen. Enthalten sie genügend Mineralien und Bakterien? Zu viele Metalle? Rückstände von Pestiziden? „Wir können den Boden erst richtig bearbeiten, wenn wir wissen, in welchem Zustand er ist“, sagt Olivera. Der Biodünger riecht übel, aber er wirkt Nicht weit vom Prüflabor holt sich Mario die fehlenden Mineralien aus einer großen, überdachten Halle. Auf Regalen sind Behälter mit eigenem Saatgut aufgereiht, COMSA ist unabhängig von den Saatgutkonzernen. Daneben stehen eine große Kompostieranlage, Mineraliendepots und mehrere blaue Plastiktonnen. Mario hebt einen Deckel, es riecht übel, doch der Mix aus Küchen- und Feldabfällen, zermahlenen Steinen und Wasser liefert ihm einen potenten Bio-Dünger, den er in eine Flasche füllt. Höhere Erträge, bessere Böden, weniger Wasser – diese Aspekte habe der faire Handel lange vernachlässigt und ausschließlich auf soziale Komponenten gesetzt, sagen Kritiker. Nachhaltig- keitsinitiativen wie Utz Certified oder Rainforest Alliance achten stärker auf höhere Erträge und Umweltschutz. Allerdings zahlen beide weder einen festen Mindestpreis für die Ernte noch eine faire Prämie. Das macht sie günstig und bei Lebensmittelkonzernen wie Nestlé oder Mars sowie bei den Verbrauchern in Deutschland beliebter. COMSA liefert weder an Utz noch an die Rainforest Alliance. Die sozialen Aspekte des fairen Handels seien nicht verhandelbar, sagt der Chef der Kooperative, Rodolfo Penalba. Erst der Einstieg in den fairen Handel habe vielen Kleinbauern den Umstieg auf Öko ermöglicht. „Für unsere Biobohnen bekommen wir pro Pfund 30 Cent mehr als für konventionellen Kaffee, und mit diesem garantierten Festpreis können wir besser planen, Bio-Berater engagieren oder aus unseren eigenen Reihen ausbilden lassen.“ Zudem können die Kleinbauern über die Prämie eventuelle Verluste in der Umstellungsphase von konventionell auf bio ausgleichen. Im Lager von COMSA stapeln sich die Kaffeesäcke bis zur Decke. In der einen Ecke steht eine digitale Waage, die Bauern bekommen eine Quittung für die gelieferte Ware, 5000 Tonnen während der vergangenen Ernte. In der anderen Ecke sortieren Frauen die trockenen Bohnen. Die grünen gehen in den Export, die schwarzen landen in heimischer Billigware, es duftet stark nach Eine einzige schlechte Bohne verdirbt den Kaffee. Deshalb prüfen die Mitglieder der Kooperative zweimal: beim Sortieren (oben) und im Testlabor (unten). Der Biologe Wilfredo Olivera untersucht eine Probe des Bodens, auf dem die Sträucher wachsen (rechts). 8-2015 | fairer handel welt-blicke liegt auch daran, dass sie neben Kaffee auch Obst und Gemüse anbauen. Damit hatten sie trotz der Ausfälle durch den Pilz ein Einkommen. Was sie nicht selbst aßen, verkaufte Joselinda auf dem Markt in Marcala. Fünf Lempira, umgerechnet 20 Cent, bekommt sie für einen Pfirsich. 40 Cent für sechs Tomaten. Die Zertifizierungen kommen die Bauern teuer zu stehen Martina Hahn ist freie Journalistin mit den Themenschwerpunkten nachhaltiger Konsum, fairer Handel und Entwicklungspolitik. Sie ist Mitautorin des Ratgebers „Fair einkaufen – aber wie?“ (Brandes & Apsel). | 8-2015 Kaffee. „Eine einzige schlechte Bohne kann die ganze Lieferung verderben“, sagt Rodolfo. Bei der letzten Ernte war jede siebte Bohne schlecht, das sind fast 15 Prozent. Für sie bekamen die Bauern keinen guten Preis, in guten Jahren liegt der Ausfall bei zwei Prozent. Verursacht hat die Verluste La Roya, ein Pilz, der Kaffeepflanzen zerstört, und in den vergangenen drei Jahren viele Plantagen in Mittelamerika heimgesucht hat. „Es war auch für uns hart, doch Fairtrade federt die Rückschläge durch den garantierten Preis und die Prämie ab“, erklärt Penalba. Zudem erhielten die betroffenen Bauern Bio-Dünger und gesunde Setzlinge. „Der Pilz kann nur wachsen, wo Böden und Pflanzen schwach sind“, erklärt Biologe Wilfredo Olivera. Bei Mario Enrique Perez und Joselinda Manueles stehen Schüsseln mit Tortillas, Bohnenmus, Möhren und Kürbis auf dem großen Holztisch. „Alles aus dem eigenen Garten“, sagt Joselinda, selbst das Hühnerfleisch stammt von der Finca. Dass La Roya die Familie nicht in den Bankrott trieb, Die wichtigste Einnahmequelle in Honduras bleibt jedoch der Anbau und der Export von Kaffee. Acht Millionen Menschen leben in dem mittelamerikanischen Land, einer Million davon gibt der Kaffee Arbeit. Er trägt 37 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei und ist das wichtigste Agrarexportgut; Bananen sind auf Platz zwei gerutscht. Rund sechs Millionen Zentner Rohkaffee wurden zuletzt in Honduras produziert, doppelt so viel wie zur Jahrtausendwende. Doch nur ein Prozent davon wird laut Kaffeeinstitut im Land getrunken. Die meisten Kaffeebohnen landen in Deutschland, in den USA und in Japan. Rohkaffeehändler wie die Hamburg Coffee Company und die Verbraucher wollen einen Nachweis, dass die Fairtrade-Prämie in soziale Projekte fließt, dass keine Kinder mitarbeiten und der Boden keine Gifte enthält. Diese Nachweise liefern bei COMSA fünf verschiedene Zertifizierer, jeder Markt verlangt ein eigenes Siegel. „Das macht fünf separate Rechnungen“, kritisiert Kaffeebauer Mario. Damit Röster wie Wertform oder Darboven, aber auch Handelsketten wie Rewe oder Edeka das Fairtrade-Siegel auf die Verpackung drucken können, zahlt COMSA rund 2500 Euro im Jahr an das Auditunternehmen FLOCert. Für das Bio-Siegel kommen weitere 17.000 Euro an den Zertifizierer Bio Latina hinzu. Das verschafft den COMSABauern einen Zugang zu neuen Märkten und verhilft ihnen zu einer besseren Organisation. „Durch die Dokumentation wissen wir, wo wir heute stehen, wie wir wirtschaften, wo wir besser werden können“, sagt Kooperativen- Chef Rodolfo Penalba. Manche Mitglieder haben erst durch die Zertifizierung einen Kredit von der Bank bekommen – sie hatten die Ernte quasi schon verkauft, einen Abnehmer, eine Sicherheit. Die Kosten für die Zertifizierungen sind aber auch vielen Bauern ein Dorn im Auge. Sie finden, dass ein kürzeres Audit mit weniger Experten nicht unbedingt oberflächlicher sein muss. Auch Penalba würde eine Kontrolle von Bio und Fair aus einer Hand begrüßen. „Die doppelten Kosten sind kein geringer Posten im Budget.“ Mario Enrique Perez wird deutlicher: „Das Geld sollte bei uns, den Produzenten, bleiben. Wir brauchen es.“ Denn der einzelne Kaffeebauer macht auch im fairen System keinen nennenswerten Gewinn. Der Mindestpreis decke nur die Produktionskosten – „für viele ein Nullsummenspiel“, sagt Penalba. Ist der faire Preis fair? „Nein“, sagt Mario Enrique Perez. Zwar bleiben ihm über den fairen Handel rund 30 Prozent des Endverkaufspreises. Bei Bauern, die an den konventionellen Handel liefern, sind es nur sieben bis zehn Prozent. Dennoch landet auch bei ihm das Gros des Profits beim Röster und beim Handel. Von der jüngsten Ernte blieben seiner Familie unter dem Strich 1000 US-Dollar. Könnte Fairtrade nicht einfach den Mindestpreis erhöhen? Nein, sagt COMSA-Chef Penalba. „Das geht erst, wenn Verbraucher bereit sind, für den Kaffee mehr zu bezahlen.“ Dass die Menschen sein Produkt genießen, hat ihn bei seinem ersten Besuch in Hamburg vor einigen Jahren stolz gemacht. „Ich spürte so etwas wie Wertschätzung unserer Bohnen.“ Bis er ernüchtert im Supermarkt den Preis für die Pfund-Packung sah – so viel höher als das, was die Kaffeebauern erhalten. Fair wäre ein Erntepreis von 220 US-Dollar pro Sack, „das würde niemanden strangulieren, nicht die Aufkäufer, nicht die Röster, nicht den Handel, auch nicht die Endkunden“, meint der COMSA-Chef. „Dann könnten wir endlich von unserem Kaffee leben“, sagt auch Mario Enrique Perez. 41 42 welt-blicke weltwirtschaft „Der Papst fordert Respekt vor dem Eigenwert der Natur“ Mit der jüngsten Enzyklika bezieht der Vatikan nachholend Stellung zur Ökologie Gespräch mit Bernhard Emunds Papst Franziskus hat Mitte Juni in seiner Enzyklika „Laudato si“ die Begrenztheit des Planeten betont und Respekt für die Natur angemahnt. Damit rennt er bei europäischen Katholiken offene Türen ein, nicht aber in den USA, erklärt der Wirtschafts- und Sozialethiker Bernhard Emunds. Die Enzyklika wurde vor ihrer Veröffentlichung Medien zugespielt, offenbar weil sie an der Spitze der Kirche umstritten war. Worin liegt das Anstößige? Das ist nicht einfach zu beantworten. Was in der Enzyklika gesagt wird, ist in den Kirchen in Deutschland mit einigen Abstrichen Konsens. Anstößig ist es für einige sehr konservative Gruppen in den USA. Die dominieren in den USA die katholische Kirche? Die Amtskirche. In den 1980er Jahren stand sie teilweise sozialpolitischen Kreisen der Demokratischen Partei nahe. Mittlerweile ist das Gros der Bischöfe sehr nahe an den ultrakonservativen Strömungen der Republikaner bis hin zur Tea Party. Das hat zum ei- „Der Papst sieht eine Maschinerie am Werk, die immerfort die Gewinne, den Konsum und den Abfall steigert.“ nen mit den Bischöfen zu tun, die Johannes Paul II. in seinem Ponitifikat (1978-2005) ernannt hat, und zum anderen mit der immer stärkeren Polarisierung in den USA zwischen Konservativen und Liberalen. Für konservative Katholiken ist, wer von Sozialpolitik spricht, schon Sozialist. Auch der Papst soll sich aus der Politik heraushalten. Vor allem soll er den Klimawandel nicht als menschengemacht bezeichnet und eine ökologische Transformation fordern. Über Jahrzehnte haben diese Kreise Druck auf den Vatikan gemacht, um das zu verhin- dern – auch mit sehr viel Geld. Das ist jetzt gescheitert. Mit der Enzyklika kommt es zu einer nachholenden Ökologisierung des Vatikans. Ist ihr Ton des heiligen Zorns für manche im Klerus starker Tobak? Über weite Strecken ist die Enzyklika einfach ein starker Text! Franziskus formuliert wortgewaltig. Zum Teil ist der Stil für päpstliche Verlautbarungen erfrischend unprätentiös. Aber inhaltlich, mit seiner umweltpolitischen Positionierung rennt der Papst offene Türen ein, in Europa und auch weltweit. Er deutet die Umweltkrise als eine Krise des Verhältnisses der Gesellschaft zur Natur, mit der viele Verteilungsund Gerechtigkeitsfragen verbunden sind. Laudato Si ist eine öko-soziale Enzyklika. Zeichnet sich damit ein neues katholisches Naturverständnis ab? Nicht im Grundsatz. Der berühmte Imperativ „Macht Euch die Erde untertan“ aus der Genesis, dem ersten Buch Mose, wurde lange so missverstanden, dass wir die Natur beherrschen sollen und ganz für unsere Zwecke ausbeuten können. Seit Jahrzehnten ist stattdessen in der Theologie von einem Auftrag die Rede, die Erde zu hüten und zu bewahren. Papst Franziskus geht in der Enzyklika allerdings einen Schritt weiter: Er betont sehr stark den Respekt vor dem Eigenwert der Natur und kommt so zu einer grundlegenden Kritik der Beherrschens und der gewinngetriebenen Aneignung von Natur – zum Beispiel der Privatisierung von Boden und Wasser. Ist das in der Bibel begründet oder eher in einem romantischen Naturbegriff? Die Enzyklika nutzt einzelne Begriffe und Passagen aus der Bibel, um Naturverbundenheit auszudrücken und stellenweise sogar eine Natur-Mystik zu entwerfen. Letzteres ist sicher nicht allen zugänglich. Angesichts eines weiten Gebirges oder eines schattigen Tales an Gott zu denken und zu sagen „Das ist mein Geliebter für mich!“, fällt mir persönlich eher schwer. Eine Schwäche des Textes liegt meiner Meinung nach in dem sehr harmonischen Bild der Natur, der wir uns verbunden wissen sollen. Ihre Gewalt, ihre Zerstörungskraft, ein manchmal brutaler Überlebenskampf zwischen Tieren – all das wird ausgeblendet. Zerstörerisch wirkt anscheinend nur der Mensch, der in die Natur eingreift. Überzeugend und entscheidend ist aber die Aussage: Wir müssen uns auf das Tempo natürlicher Prozesse einlassen. Man darf die Natur nicht ausreizen bis zum Letzten. Wir müssen uns die Zeit nehmen, pflegend mit ihr umzugehen. Franziskus kritisiert auch die moderne Technik: Sie habe wichtige Errungenschaften gebracht, sei aber auf Beherrschung der Natur und auf Macht ausgerichtet. Woher kommt diese Kritik? Von dem deutschen Theologen Romano Guardini. Über ihn wollte Pater Bergoglio promovieren. Dazu war er in den 1980er Jahre auch hier in Sankt Georgen. Laut Guardini hat die enorme Steigerung der technischen Möglichkeiten im 20. Jahrhundert zu einer grundlegenden Verände- 8-2015 | Bernhard Emunds ist Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie und Leiter des Oswald von NellBreuning-Instituts an der katholischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Zu seinen Fachgebieten gehört Finanzethik. Die Lage der armen Länder im Blick: Papst Franziskus besucht im Juli ein Armenviertel in Paraguays Hauptstadt Asunción. Gregorio Borgia/Reuters St. Georgen weltwirtschaft welt-blicke „Konservative Katholiken in den USA wollten nicht, dass der Papst den Klimawandel als menschengemacht bezeichnet.“ rung im Naturverhältnis des Menschen geführt. Die Natur ist dem Menschen zum formlosen Stoff geworden, den er völlig frei nutzen und gestalten kann. Da gibt es keine ethischen Grenzen mehr – und keine Einbindung in das Maß der Natur. Das ist ein entscheidender Gedanke in der Enzyklika. Aber diese ideengeschichtliche Sicht verbindet der Papst mit der Kritik, dass eine Wirtschaft, die sich der politischen Steuerung entzogen hat, immer neue technische Mittel einsetzt, um im Gewinninteresse die Natur auszunutzen. Für Papst Franziskus wird damit eine Maschinerie angeworfen, die immerfort die Gewinne, den Konsum und den Abfall steigert – der Planet wird bis zum letzten ausgebeutet und zugemüllt. Diese Maschinerie muss gestoppt werden. Deshalb fordert der Papst einen Primat der Politik über die Wirtschaft. Die Gentechnik beurteilt Franziksus dann aber zurückhaltend: Er kritisiert nicht den Eingriff in das Genom oder seine Umweltrisiken, sondern die sozialen Auswirkungen. Richtig. Das passt eigentlich nicht zu dem, was er vorher entwickelt hat. Meine vielleicht etwas einfache Erklärung dafür ist: Er musste den konservativen katholischen Kreisen in den USA auch irgendwo entgegenkommen. Denen hat die sehr harsche Kritik seines Vorgängers Papst Benedikt XVI. an der Gentechnik nicht gefallen. Ist seine harte Kritik am Gewinnstreben in der Kirche konsensfähig – zumindest außerhalb der USA? Nein, obwohl eine Privatwirtschaft, die sich ausschließlich am Gewinn orientiert, schon lange von den Päpsten kritisiert wird. Papst Franziskus spitzt das gerne zu. Mit harscher Kritik an „dieser“ Wirtschaft hat er schon vorher Widerwillen hervorgerufen, etwa mit dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ von 2013, nicht zuletzt in den Wirtschaftsredaktionen der großen deutschen Zeitungen. Und ist diese Kritik nicht ein bisschen grobschlächtig – etwa wenn der Papst beklagt, dass das Finanzwesen die Herrschaft ergriffen hat? Zum Teil. Der Begriff Finanzen kommt in der Enzyklika nur negativ vor. Es fehlt ein Verständnis, dafür, was die Finanzwirtschaft für die Realwirtschaftet leistet oder leisten kann. Nun ist Laudato si aber keine Enzyklika über finanzethischen Themen. So bleibt das Bild hier etwas holzschnittartig. Das gilt auch für einen zweiten wichtigen Aspekt: In der Enzyklika ist immer wieder von Macht die Rede, auch im Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Aber die Strukturen dahinter werden nicht beleuchtet. Was der Papst damit meint, bleibt unklar: Wer sind die Machthaber und wie funktioniert es, dass sie Macht ausüben und behalten? Markiert die Enzyklika ein neues Verhältnis der Kirche zur Wissenschaft? Sie ist ja stark wissenschaftlich beeinflusst. Ja, der Konsens der Umweltwissenschaften über die ökologi- | 8-2015 43 44 welt-blicke weltwirtschaft schen Probleme wird sorgfältig aufgegriffen. Aber der Papst kritisiert zugleich die „Zersplitterung des Wissens“, sozusagen die Fachidiotie der akademischen Disziplinen. Diese Kritik finden Sie auch bei seinem Vorgänger, Papst Benedikt XVI: Wir fragen nach immer mehr Details, aber nicht nach der Gesamtausrichtung. Das ist eine überzeugende Perspektive! Doch Franziskus beschreitet auch hier neue Wege: Für Papst Benedikt war die Kirche im Besitz der über- „Eine zentrale Botschaft ist: Die notwendige ökologische Wende darf auf keinen Fall die Entwicklungsländer weiter belasten.“ wölbenden Wahrheit, während andere durch die Sünde abgelenkt wurden, die Wahrheit zu erkennen. Die Theologie von Papst Franziskus ist dagegen nicht apologetisch und missionierend, sondern eine Einladung zum Dialog. Er sagt ausdrücklich, dass es verschiedene Ansätze gibt, die Wirklichkeit zu verstehen: Ich bringe mit der Theologie eine Perspektive ein. Ich erhebe nicht den Anspruch, die Wahrheit des Ganzen zu sagen, sondern lade alle ein, ihre eigene Perspektive einzubringen. Die Aufgabe der ökologischen Transformation und des Wandels im Naturverhältnis ist so groß, dass es möglichst vieler Stimmen und Sichtweisen bedarf. Das ist ein ganz anderes Selbstverständnis als der Anspruch: In Details lernen wir gerne von den Wissenschaften, aber worum es in der aktuellen Krise im Kern geht, das wissen nur wir. Franziskus ruft zu einem gemeinsamen Suchprozess auf? Genau. Und das löst er insofern ein, als er an verschiedenen Stellen die Ortskirchen und die verschiedenen Bischofskonferenzen zitiert. Es mag Protestanten überraschen, aber das ist in einer Enzyklika etwas Neues. Darüber hinaus zitiert er einen orthodoxen Patriarchen und einen islami- schen Sufi-Theologen. Damit zeigt er selbst die dialogische Haltung, die er einfordert. Franziskus erhebt einige klare Forderungen wie nach einer Kreislaufwirtschaft und dem Abschied vom Wachstum. Was halten Sie davon? Diese Forderungen kommen nicht unvermittelt, sondern passen zu den grundsätzlichen Aussagen. Natürlich haben sie nicht den gleichen Geltungsanspruch – wer dem Papst hier in welchen Punkten folgen mag, ist eine offene Frage. Hinter der Forderung nach einer Kreislaufwirtschaft stehe ich zum Beispiel voll. Schwieriger finde ich die Passage, in der der Papst sagt, dass die Wirtschaft in den Industrieländern schrumpfen muss, damit arme Länder Raum zum Wachsen haben. Ich würde sagen, wir brauchen eine ökologische Transformation, in der bestimmte Bereiche schrumpfen, aber andere wachsen müssen – etwa die Reparatur von Geräten oder die Bereitstellung neuer umweltschonender Technologien. Ob im Ergebnis die Wirtschaft insgesamt wächst oder schrumpft, ist aus ökologischer Sicht nicht so wichtig. Aber auch wenn ich dem Papst hier nicht folge, finde ich es doch gut, dass er sich so klar und unmissverständlich äußert. Er legt den Finger auf die wunden Punkte – auch wenn seine Lösungsideen nicht jeden überzeugen werden. Zahlreiche Umweltverbände sind von der Enzyklika begeistert. Haben Sie auch kritische Stimmen gehört? Ja, aus wirtschaftsliberalen Kreisen. Die sagen, dass die harsche Kritik an der kapitalistischen Wirtschaft völlig außer Acht lässt, welche großen Fortschritte sie im Kampf gegen die Armut gebracht hat, zum Beispiel in China und Indien. Man kann sich natürlich auch über den Aufruf zu Verhaltensänderungen der Einzelnen lustig machen – etwa, das Auto einmal stehen zu lassen. Im Grunde ist das der Vorwurf des Anti-Modernismus: Der Papst lasse sich auf eine moderne Wirtschaft nicht ein. Trifft das zu? Man erkennt schon eine Distanz zu bestimmten Zügen der Gegenwart westlicher Gesellschaften, besonders zu Komfort und Konsum und zu einer globalen Wirtschaft, die sich die Politik untertan macht. Zugleich setzt die Enzyklika aber auf kreative Reaktionen der Menschen. Die Hoffnung, dass wir uns dagegen aufbäumen und das Problem doch in den Griff bekommen, schwingt im Text mit. Die ist natürlich selbst ein Kind der Moderne. Man kann nicht sagen, der Papst vertritt anti-modernistische Positionen. Ist die Enzyklika stark von einer Süd-Perspektive geprägt? Ja. Wenn wir uns von den Details lösen, sind die zentralen Anliegen klar: Die Enzyklika hat eine öko-soziale Stoßrichtung und ist eine theologische Einladung zum Dialog. Und dann ist der Text eminent politisch. Der Papst will vor der Pariser Klimakonferenz erstens ganz klar sagen, dass die Politiker jetzt handeln und die Verringerung der globalen Treibhausgas-Emissionen beschließen müssen. Zweitens: Die Beschlüsse, die jetzt nötig sind, um den ökologischen Strukturwandel voranzubringen und den Klimawandel abzubremsen, dürfen auf keinen Fall die Entwicklungsländer weiter belasten. Die reichen Industrieländer müssen die Lasten tragen. Diese Botschaft ist natürlich von der Perspektive des Südens auf ökologische Fragen geprägt. Hat das damit zu tun, dass Franziskus der erste Papst aus einem Land des Südens ist? Nein. Seit Johannes XXIII. haben die Päpste immer wieder die Perspektive der Entwicklungsländer aufgegriffen. In der Enzyklika „Populorum progressio“ hat sich Paul VI. 1967 für eine neue Weltwirtschaftsordnung stark gemacht. Papst Franziskus überträgt diese Tradition nun auf das Umwelt-Thema. Es wäre eine billige Kritik, zu sagen, dass hier jemand aus einer provinziellen Perspektive heraus schreibt. Das Gespräch führte Bernd Ludermann. 8-2015 | sicherheit welt-blicke Sicherheitskonzept von der Stange New Yorks ehemaliger Bürgermeister Rudolph Giuliani gilt als Mann mit „Null Toleranz“ gegenüber Verbrechen. Diesen Ruf will er nun in armen Ländern zu Geld machen. Von Cecibel Romero D ieses Land ist wunderschön, es müsste eigentlich Touristen anziehen“, schwärmte Rudolph Giuliani. „Liebend gern würde ich hier einen Golfplatz bauen.“ Der ehemalige Bürgermeister von New York wusste wohl nicht, dass es in El Salvador schon zwei Golfplätze gibt – aber kaum jemand spielt darauf. Touristen kommen schon gar nicht, das Land gilt als eines der gefährlichsten der Welt. Genau deshalb kam Giuliani. Seit 2002, unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus dem New Yorker Rathaus, betreibt er die Beratungsfirma Giuliani Partners LLC, die sich als Spezialist für Notfall- und Krisenmanagement anpreist. Im Mai wurde er nach El Salvador eingeladen, um einen Plan zu präsentieren, der das Land zu dem machen soll, was bislang nur eine Schwärmerei Giulianis ist: ein Paradies für Touristen. Schon eine Woche vor seiner Ankunft wurden die Erwartungen geschürt. Giuliani werde ein Konzept präsentieren, mit dem „die Probleme des Landes innerhalb von neun Monaten geregelt werden können“, versprach Jorge Daboub, der Vorsitzende der Nationalen Vereinigung der Privatwirtschaft (ANEP). Mitglieder des Unternehmerverbands hatten Giuliani im Jahr zuvor bei einer ähnlichen Präsentation im Nachbarland Guatemala gesehen, waren begeistert und hatten danach beschlossen, ihn ebenfalls unter Vertrag zu nehmen. Seine Firma sollte eine Analyse der Sicherheitslage in El Salvador erarbeiten und daraus Handlungsanweisungen für die Politik ableiten. Die Lage ist ernst: In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden in dem knapp sechs Millionen Einwohner zählenden zentralamerikanischen Land im Durchschnitt jeden Tag vierzehn Menschen ermordet. Den größten Teil der Toten stellen junge Männer von der Mara Salvatrucha und Barrio 18, zwei großen Jugendbanden, die zusammen rund 70.000 Mitglieder haben. Sie fechten blutige Kriege Mitglieder der „Mara 18“ mit Messern und Mobiltelefonen, die sie sich illegal im Gefängnis beschafft haben. Die Politik der „harten Hand“ hat sie noch stärker gemacht. Ulises Rodriguez/Reuters | 8-2015 45 46 welt-blicke sicherheit um Einflussgebiete für Drogenhandel und Schutzgelderpressung aus. Aber auch Polizisten, Staatsanwälte oder ganz normale Bürger werden unter zum Teil grausamen Umständen umgebracht. Nicht nur El Salvador leidet unter solch überbordender Gewalt, den Nachbarn Guatemala und Honduras geht es ähnlich. Das so genannte nördliche zentralamerikanische Dreieck gilt als weltweit gewalttätigste und unsicherste Region außerhalb von Kriegsgebieten. Es ist eine für den internationalen Drogenhandel strategisch wichtige Brücke; mehr als 80 Prozent des in Südamerika produzierten Kokains quert diese Länder auf dem Weg nach Mexiko und in die USA. Zum Drogenhandel sind längst weitere Betätigungsfelder des organisierten Verbrechens gekommen: eine regelrechte Entführungsindustrie; Syndikate, die grenzüberschreitend gestohlene Autos verschieben; Schlepperbanden, die illegale Migranten in den Norden schleusen und viele Frauen in Bordelle zwingen. E inmal im Jahr lädt der Unternehmerverband ANEP nicht nur seine Mitglieder, sondern auch den Präsidenten des Landes in eines der teuren Hotels der Hauptstadt, um der Regierung seine Sicht auf das Land vorzustellen, verbunden mit Vorschlägen, wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik zu gestalten sei. Laut Umfragen ist das Hauptproblem der Verbandsmitglieder die Kriminalität: Sie zwinge die Unternehmen zu hohen Ausgaben für die Sicherheit und mache El Salvador für Investitionen aus dem Ausland unattraktiv. Ein Mann, der in seiner Zeit als Bürgermeister von New York (1994 bis 2001) mit seiner Null-Toleranz-Politik die Kriminalitätsrate um mehr als die Hälfte heruntergedrückt hat, ist da interessant – auch wenn Menschenrechtsorganisationen ihn wegen seiner zum Teil rabiaten Methoden kritisiert hatten. Doch den Unternehmerverband interessieren Zahlen, und die sprechen für Giuliani: 66 Prozent weniger Morde, 40 Prozent weniger Vergewaltigungen, 72 Prozent weniger Überfälle, 73 Prozent weniger Eigentumsdelikte. In El Salvador zog Giuliani 1500 Zuhörer an. Die gesamte Wirtschaftselite war gekommen: die Besitzer von Banken, Handelshäusern, Sicherheitsunternehmen und Fabriken. Dazu Minister, Parlamentsabgeordnete aller Parteien, Staatsanwälte und Richter. Nur 2011 hatte die ANEP-Veranstaltung ähnlich viel Zulauf. Damals war der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe zu Gast und auch er sprach darüber, wie er mit harter Hand gegen Gewalt vorgegangen war. Freilich herrscht in Kolumbien ein Bürgerkrieg, während in El Salvador eine ehemalige Guerilla-Organisation an der Regierung ist, und auch die Verhältnisse in New York sind nicht eben vergleichbar. Präsident Salvador Sánchez Cerén, der zu Beginn der Veranstaltung am Ehrentisch Platz genommen hatte, nahm von Giuliani ein dickes Dokument in Empfang, das den Titel „El Salvador hat eine Zukunft!“ trägt. Dann verabschiedete er sich, ließ aber die Mitglieder seines Sicherheitskabinetts für den Vortrag zurück. Die hörten zunächst sehr allgemein gehaltene Ratschläge: Um Kriminalität zu bekämpfen, so Giuliani, „braucht man eine Strategie, einen Plan und politischen Willen“. Und man müsse die zur Verfügung stehenden Mittel „dort einsetzen, wo sie am meisten benötigt werden“. Oberste Priorität müsse dabei die territoriale Kontrolle durch den Staat haben. Als er New York als Bürgermeister übernommen habe, erzählte er, hätten Drogenhändler die Stadt im Griff gehabt. „Heute kontrollieren sie keine einzige Straße mehr, sie sind einfach verschwunden.“ Die Regierung reagiert verhalten auf Giulianis Vorschläge. Er sehe keinen Anlass, sich über die Ratschläge zu freuen, sagt der Sicherheitsminister. Um zu wissen, wo mit der Arbeit zu beginnen sei, empfahl er dringend eine unter seiner Ägide von der New Yorker Polizei entwickelte computergestützte Datenbank, ergänzt um ein Netz von Überwachungskameras. Damit könne man die Schwerpunkte der Kriminalität erfassen, um dann gezielt Polizeikräfte einzusetzen. Bislang wird das System vor allem in US-amerikanischen Großstädten angewendet. In El Salvador aber werden 57 Prozent aller Morde in nur dünn besiedelten ländlichen Gegenden begangen. Giulianis Analyse fußt auf der Befragung von Polizeichefs, des Generalstaatsanwalts und einiger Richter. Sein Team hat zudem ein paar Gefängnisse besucht, und Giuliani erntete tosenden Applaus, als er ein Mobiltelefon aus der Hosentasche zog und sagte: „Die Regierung muss die Gefängnisse neu strukturieren. Warum zum Teufel haben Gefangene in Haftanstalten Mobiltelefone? Warum nimmt man sie ihnen nicht ab?“ Das Problem ist in El Salvador lange bekannt. Die Gefängnisse sind mit derzeit über 8-2015 | sicherheit welt-blicke Rudolph Giuliani rät Anfang Mai in El Salvador, seine Rezepte für New York nachzuahmen. Dort konnte Giuliani als Bürgermeister die Verbrechensrate senken. Jose Cabezas/Reuters 29.000 Häftlingen heillos überbelegt, ausgelegt sind sie für knapp über 8000. Das schlecht ausgebildete und schlecht bezahlte Wachpersonal ist völlig überfordert, das Leben in den Haftanstalten wird in der Regel von den Gefangenen selbst organisiert. Sie hatten nie Probleme, Wachleute zu bestechen, um an Drogen und Mobiltelefone zu kommen. Vor allem Schutzgelderpressungen werden häufig aus dem Gefängnis heraus organisiert. Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter müssten enger zusammenarbeiten, forderte Giuliani. So lange sich diese Institutionen noch nicht einmal einig seien über statistische Daten von Morden und anderen Delikten, könnten sie auch nicht am selben Strang ziehen. „Sie müssen sich zusammensetzen; sie brauchen dieselben Kriterien und Maßstäbe, um Delinquenten ins Gefängnis zu bringen.“ Ferner müsse man das Jugendstrafrecht verschärfen, eine Datenbank mit genetischen Fingerabdrücken von Straftätern aufbauen und die kriminalistischen Fähigkeiten der Polizei verstärken, um nicht nur auf manipulierbare Zeugen angewiesen zu sein. Danach aber werde alles besser: Wenn es erst einmal gelungen sei, die Kriminalität niederzukämpfen, könne man in einem zweiten Schritt an Sozialprogramme denken. „Dann werden neue Arbeitsplätze entstehen, bessere Wohnquartiere und bessere Schulen.“ Giuliani wiederholte wortwörtlich Sätze, mit denen er schon im Oktober vergangenen Jahres Unternehmer im Nachbarland Guatemala begeistert hatte. Angesichts solcher Konzepte von der Stange fiel die Reaktion der Regierung verhalten aus. „Die Problematik in El Salvador ist anders als in anderen Ländern“, sagte Sicherheitsminister Benito Lara. „Ich sehe keinen Anlass, mich über Ratschläge zu freuen, die ohne länderspezifische Erfahrung erteilt werden, und schon gar nicht werde ich sagen: Das wird nun gemacht.“ Nahezu alle Vorschläge Giulianis seien zu- | 8-2015 Cecibel Romero ist freie Journalistin in San Salvador. dem bereits umgesetzt. So habe man längst die zehn Gemeinden identifiziert, in denen am meisten Gewaltverbrechen begangen werden, und konzentriere dort die polizeilichen Anstrengungen. Was noch fehle, das scheitere am Geld und an den technologischen Möglichkeiten. T atsächlich wird das, was Giuliani „Null Toleranz“ nennt, in El Salvador, Guatemala und Honduras seit fünfzehn Jahren unter dem Namen „Harte Hand“ praktiziert. Gefährliche Armenviertel werden nachts durchsucht, jungen Leuten, die man auf Grund ihrer Kleidung und ihrer Tätowierungen für Mitglieder von Jugendbanden hält, werden verhaftet. Der Kriminalität ist man dadurch nicht Herr geworden. Im Gegenteil: Die vorher nur lose miteinander verbundenen Banden organisierten sich in den Gefängnissen straffer und operieren heute viel professioneller. Der Jesuit José María Tojeira, ehemals Rektor der Zentralamerikanischen Universität von San Salvador, hält Giulianis Vorschlag deshalb für „Zeitverschwendung“. Man könne nicht sinnvoll über eine Bekämpfung der Gewalt diskutieren, ohne die im Land herrschende „Ungerechtigkeit, die ins Auge springende soziale Ungleichheit und die schwachen staatlichen Institutionen“ anzusprechen. Tojeira ist Mitglied eines von der Regierung einberufenen Sicherheitsrates, in dem Vertreter von sechzig wissenschaftlichen, sozialen und religiösen Institutionen, Parteien und Verbänden einen Aktionsplan ausgearbeitet haben. Er enthält 130 Vorschläge, die in vielem mit Giulianis Konzept übereinstimmen, anders als dieses aber mehr Gewicht auf die Verbrechensprävention legen. Das Problem: Die Umsetzung dieser Vorschläge würde zwei Milliarden US-Dollar kosten, rund die Hälfte des jährlichen Staatsetats. Auch Vertreter des Unternehmerverbands ANEP sitzen in diesem Sicherheitsrat und haben die Vorschläge mitgetragen. Eine Steuererhöhung zur Finanzierung des Plans aber lehnen sie ab, obwohl die Steuereinnahmen des Staats und der Gemeinden derzeit zusammen bei gerade einmal 16,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen. Wieviel sich ANEP das Gutachten von Giuliani hat kosten lassen, ist nicht bekannt. Im Vertrag sei vereinbart worden, darüber Stillschweigen zu wahren. Als Berater des Bürgermeisters von Mexiko-Stadt im Jahr 2003 hatte Giuliani vier Millionen US-Dollar kassiert, hat das mexikanische Nachrichtenmagazin „Proceso“ herausgefunden. Der Tag, an dem er seine Vorschläge in El Salvador präsentierte, war außergewöhnlich: 35 Menschen wurden ermordet. Im gesamten Monat Mai waren es 635 – im Durchschnitt zwanzig am Tag. New York hat gut zwei Millionen Einwohner mehr das das kleine zentralamerikanische Land. 1993, als Giuliani das Bürgermeisteramt übernahm, hat es dort in einem durchschnittlichen Monat 125 Tötungsdelikte gegeben. In El Salvador gab Giuliani Ratschläge zur Lösung eines Problems, das er in dieser Dimension nie kennengelernt hat. 47 48 journal entwicklungsfinanzierung „Addis Abeba war eine vertane Chance“ Der Aktionsplan zur Entwicklungsfinanzierung überzeugt Wolfgang Obenland nicht sen wird. Wir setzen uns als nichtstaatliche Organisationen dafür ein, dass in diesem Rahmen weiter über die Aufwertung der UN im Steuerbereich geredet wird. Die Vereinten Nationen werten die Ergebnisse der Konferenz in Addis Abeba als wichtigen Schritt auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft für alle. Die Zivilgesellschaft dagegen ist unzufrieden. Der globale Norden habe kompromisslos seine Interessen durchgesetzt, sagt der Finanz- und Steuerexperte Wolfgang Obenland. Es habe aber auch ermutigende Signale gegeben. Welches ist das wichtigste Ergebnis der Konferenz? Wir sind sehr enttäuscht. In Addis Abeba ging es ja auch um die Finanzierung der geplanten Nachhaltigkeitsziele (SDGs). Ein großer Baustein ist es, die Steuereinnahmen in den Entwicklungsund Schwellenländern zu erhöhen. Da geht es auch um eine bessere internationale Zusammenarbeit, um Steuervermeidung und Steuerhinterziehung von transnationalen Konzernen zu unterbinden. Die Diskussionen darüber laufen derzeit in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und bei den G20. Ärmere Länder sind nicht beteiligt. Deshalb lag die Forderung auf dem Tisch, das Steuerkomitee der Vereinten Nationen zu einer zwischenstaatlichen Kommission aufzuwerten. Doch das hat nicht stattgefunden. Die Regierungen haben sich auf einen Formelkompromiss geeinigt. Das Komitee bekommt ein paar mehr Ressourcen und wird sich häufiger treffen, aber das war es dann auch. Ein Bündnis von 30 Organisationen und Ländern, auch Deutschland, hat in Addis eine Initiative für mehr Steuereinnahmen in armen Ländern gestartet. Ist das hilfreich? Auf jeden Fall. Es ist gut, wenn mehr Geld in diesen Bereich fließt. Aber die Probleme im globalen Steuersystem kommen nicht daher, dass die Finanzämter im Süden nicht ausreichend ausgestattet wären. Das ist nur der kleinere Teil des Problems. Der größere ist, dass die globalen Regeln im Umgang mit transnationalen Konzernen nicht funktionieren und dass daran nichts geändert wird. Wo verliefen die Konfliktlinien? Vor allem zwischen den G77, dem Zusammenschluss von Schwellen- und Entwicklungsländern, und dem globalen Norden. Die G77 waren relativ geschlossen, auch Schwellenländer wie Indien, das im Rahmen der G20 an der Stärkung der internationalen Steuerkooperation beteiligt ist, haben sich für eine Aufwertung Hat man das Problem vertagt? Auch wenn wir kurzfristig nicht erfolgreich waren, sind wir trotzdem zuversichtlich. Denn der Mechanismus, der die Verwirklichung des Aktionsplans von Addis kontrollieren soll, ist gestärkt worden. Es soll jedes Jahr ein Forum bei den UN geben, das sich eine Woche lang mit Fragen der Entwicklungsfinanzierung befas- Wolfgang Obenland ist Fachmann für Finanz- und Steuerfragen bei der Organisation Global Policy Forum in Bonn. privat des UN-Gremiums stark gemacht. Dagegen haben sich vor allem die USA, Großbritannien und Japan mit aller Macht gewehrt. Und sie haben sich durchgesetzt. Gab es aus Ihrer Sicht auch erfreuliche Ergebnisse in Addis? Die muss man mit der Lupe suchen. Zu Entschuldung, Handel sowie Wirtschaft und Menschenrechten gab es nichts Neues. Die größte Neuerung sind Vereinbarungen zum Technologietransfer. Dazu wurden bei den UN ein Multi-Stakeholder-Forum mit Vertretern von Industrie, Privatwirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, ein Task-Team der UN sowie eine Plattform für den Technologieaustausch eingerichtet. In welcher Atmosphäre fanden die Verhandlungen statt? Sie waren in vielen Bereichen hochgradig konfrontativ. Ich hab es selten erlebt, dass Konflikte so offen zutage getreten sind. Die Regierungen des Nordens waren nicht bereit, auf die G77 zuzugehen. Welches Signal geht von Addis Abeba für die folgenden Konferenzen zu den SDGs und zum Klima aus? Wir glauben, dass der Süden hier stärker auftreten wird. Der globale Norden versucht, seine Dominanz im internationalen System zu verteidigen. Jeder Versuch, die internationalen Strukturen demokratischer zu machen, wird konsequent blockiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das endlos gut geht. Die globalen Kräfteverhältnisse in der Wirtschaft haben sich fundamental gewandelt und das muss irgendwann einen Ausdruck auf politischer Ebene finden. War Addis eine vertane Chance? Ja. Allerdings waren einige der Themen, um die es ging, relativ neu. Und internationale Verhandlungen sind zäh. Wir haben das erste Spiel verloren, aber wir werden nicht das ganze Turnier aufgeben. Ermutigend ist, dass die Zivilgesellschaft so gut zusammengearbeitet hat und so geschlossen aufgetreten ist. Jede Stellungnahme wurde intern abgesprochen zwischen Dutzenden, wenn nicht Hunderten Organisationen. Das gibt mir Hoffnung, dass wir auch in Zukunft viel erreichen können. Das Gespräch führte Gesine Kauffmann. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und die Vorsitzende der Afrikanischen Union Nkosazana Dlamini-Zuma erklären die Ergebnisse der Konferenz von Addis. reuters 8-2015 | journal 49 klimaklage Urteil: Klimaschutz Ein Gerichtsentscheid in den Niederlanden sorgt für frischen Wind Österreich: Klimaklage als „Notwehr“ geplant In Österreich prüfen die drei großen Umweltorganisationen Greenpeace Österreich, Global 2000 und WWF einen Prozess In der Schweiz erwägt die Grüne Partei, die Regierung auf höhere Klimaschutzziele zu verpflichten. Das Urteil in den Niederlanden zeige, dass es möglich sei, auf gerichtlichem Weg politische Entscheide zu beeinflussen, sagt Urs Scheuss, der Fachsekretär für Umweltpolitik bei den Grünen. Im vergangenen Jahr hatte der Bundesrat erklärt, den Treibhausgasausstoß bis 2020 um 20 Prozent zu reduzieren. Die Grünen hatten 40 Prozent gefordert. Derzeit analysiere man das Urteil aus Den Haag und prüfe, inwieweit es auf die Schweizer Rechtslage übertragbar sei, sagt Scheuss. Spätestens im Herbst will die Partei über das weitere Vorgehen informieren. Die Juristin Astrid Epiney von der Universität Freiburg sagt indes, eine Klage nach niederländischem Muster sei in der Schweiz unzulässig. Ein Kläger müsse in seinen individuellen Interessen betroffen sein; das sei aber nur Deutschland: Eine Klage wäre aussichtslos Auch in Deutschland hätte eine Klage gegen die Bundesregierung nach Einschätzung von Klimaschützern keine Chance. Zwar seien vergleichbare Schritte auch im deutschen Rechtssystem durchaus gangbar, sagt der Klimaexperte Christoph Bals von der Organisation Germanwatch. Doch solange die Bundesregierung an ihrem Ziel festhalte, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren, sei die Klimapolitik schwer als illegal anfechtbar. Selbst wenn Deutschland nur deutlich über 30 Prozent erreiche, könnte Berlin immer noch argumentieren, man liege gut im Rennen. In den Niederlanden liegt das Ziel mit angestrebten 17 Prozent Emissionseinsparungen weit niedriger. Zudem sei, so Bals, „die direkte Gefährdungslage deutlich größer“. Ein großer Teil des Landes liegt unter dem Meeresspiegel. Solche direkten Gefahren seien in Deutschland nicht gegeben. Sollten sich jedoch für die Wirtschaft künftig indirekte Risiken als Folge der Klimakrise verschärfen, könnte das die Aussicht einer Klage verbessern. Dazu könnte es kommen, wenn beispielsweise deutsche Energieunternehmen als Mitverursacher der Klimaschäden belangt würden. (hc/kam/maz/rld) ept 1188>>2200 55ept Anzeige Save Change Schweiz: Die Grünen wollen im Herbst entscheiden dann der Fall, „wenn er in besonderer Weise und damit mehr als alle anderen betroffen ist“. www.theater–bonn.de www.theater–bonn.de Auf den 70 Seiten des Urteils übernimmt der Richter die Argumente der Kläger, der Staat habe bislang zu wenig unternommen, erkennbare Gefahren aus dem Klimawandel für seine Bürger abzuwehren. Die Niederlande hätten sich verpflichtet, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 um mindestens 25 Prozent im Vergleich zu 1990 zu vermindern, doch die bisher veranlassten Maßnahmen würden allenfalls 17 Prozent bringen. Die möglichen Mehrkosten einer wirksamen Gefahrenabwehr könne die hochentwickelte Wirtschaft des Landes tragen. Dies sei zumutbar, um größere Schäden als Folge einer zu laschen Klimapolitik abzuwenden. In verschiedenen Ländern bereiten Umweltorganisationen und Klimaschutzinitiativen ähnliche Klagen vor, etwa in Norwegen, den Philippinen und einigen US-Staaten. In Belgien wurde ein Verfahren im April förmlich in Gang gesetzt, 9000 Bürger und Bürgerinnen beteiligen sich daran. Die britische Umweltorganisation ClientEarth, die sich mit ihrer weniger umfassenden Klage gegen die Londoner Regierung gegen Luftverschmutzung des Verkehrs durch die Instanzen streitet, nannte das Haager Urteil „eine mächtige Stütze“. nach dem Vorbild der Niederlande. Reinhard Uhrig, Energieexperte bei Global 2000, bezeichnet einen solchen Schritt als „Notwehr“, sollte Österreich bei der Pariser Klimakonferenz enttäuschen. Im Herbst soll ein nationaler Klimagipfel stattfinden, von dem sich die Umweltorganisationen erhoffen, dass Wien eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz einnimmt. Wenn Österreich den Klimaschutz ernst nehme, müsse man sich ambitioniertere Ziele setzen, als international vorgegeben. Der Klimawandel, so die drei Organisationen, sei in Österreich in Form von Schneemangel, Waldbränden oder Überschwemmungen längst angekommen; er verursache bereits jährliche Kosten von über einer Milliarde Euro. Gleichzeitig müsse das Land jedes Jahr 15 Milliarden Euro für Importe von Kohle, Öl und Gas auslegen. Climate Fast zwei Jahre nach Eingabe ihrer Strafanzeige bekam ein Netzwerk von 900 engagierten Niederländern Recht: Ende Juni verurteilte ein Gericht in Den Haag die Regierung dazu, mehr für den Klimaschutz zu tun. In anderen Ländern wird nun an ähnlichen Klagen gearbeitet – mit unterschiedlichen Aussichten auf Erfolg. twwthe he oorrllddIIII Ein Ein Festival Festival mit mit Künstlern Künstlern & experten & experten | GEländE | GEländE dEr dEr Halle Halle Beuel Beuel | 8-2015 Kooperationspartner: Kooperationspartner: Gefördert Gefördert durch: durch: 50 journal nothilfe „Die lokalen Helfer sind frustriert“ Bernd Eichner über Licht und Schatten der humanitären Hilfe für Nepal was die Menschen vor Ort brauchen. Das liegt auch daran, dass die gutgemeinten Initiativen auf die Bilder hereinfallen, die der professionelle Hilfsapparat produziert. Die Arbeit großer Organisationen ist von Spenden abhängig, und die steigen mit dem Ausmaß der Zerstörung. Die Menschen vor Ort werden deshalb oft als hilflose Opfer dargestellt. Nach dem Erdbeben in Nepal war die weltweite Hilfsbereitschaft groß. Bernd Eichner von der Hilfsorganisation Medico International erklärt, warum manche Initiativen mehr schaden als helfen – und warum die Bedürfnisse der Menschen vor Ort ignoriert werden. Herr Eichner, Sie waren in Nepal und haben den Ablauf des internationalen Hilfseinsatzes kritisiert. Was ist schief gelaufen? Zunächst: Eine ganze Menge ist gut gelaufen. Das zeigt sich vor allem daran, dass in Nepal auf die erste Katastrophe keine zweite gefolgt ist, dass also beispielsweise keine Hungersnot ausgebrochen ist. Das größte Problem liegt im standardisierten Vorgehen vieler großer Organisationen. Einer Hungersnot in Ostafrika wird mit ähnlichen Mustern begegnet wie einem Beben in Südasien. Das führt oft dazu, dass die Bemühungen der Hilfsorganisationen den lokalen Bedarf nicht widerspiegeln. Manchmal werden zudem die einheimischen Strukturen der Selbsthilfe überrollt. Wie bei anderen Katastrophen gab es auch in Nepal neben der professionellen Hilfe viele private Initiati- Bernd Eichner ist Pressereferent der Hilfsorganisation Medico International in Frankfurt/Main. medico international ven aus dem Ausland. Wie beurteilen Sie die? Die schaden oft mehr als sie helfen. Ein Beispiel sind die obligatorischen Altkleider-Lieferungen, die auch jetzt wieder in Nepal auftauchen. Erstens ist es nicht so, dass Leute nach einem Erdbeben keine Kleider mehr am Leib hätten, und zweitens legen sie keinen Wert darauf, abgetragene westliche Klamotten aufzutragen. Hier herrschen einfach falsche Vorstellungen darüber, Mitsprache: Dorfbewohner und Aktivisten diskutieren mit Regierungsbeamten über die Verteilung der Hilfe. medico international Was sagen Ihre nepalesischen Partnerorganisationen dazu? Die sind teilweise richtig frustriert. Sie sehen zwar die Notwendigkeit, sich mit den internationalen Organisationen zu koordinieren, beschweren sich aber, dass ihre Arbeit nicht wertgeschätzt wird. Vor allem haben sie das Gefühl, zu Opfern gemacht zu werden. Ein Beispiel: Als wir mit unseren Partnern im ländlichen Gebiet rund um das Epizentrum des Bebens unterwegs waren, wurden wir von einer aufgebrachten Dorfgemeinschaft empfangen. Die Leute beschwerten sich über die Haltung der internationalen Helfer. Als diese eine Woche nach dem Erdbeben im Dorf angekommen waren, wunderten sie sich darüber, dass die Dorfgemeinschaft die Verletzten bereits versorgt oder in das nächste Krankenhaus gebracht hatte. Die ausländischen Helfer dachten also, dass das Dorf die Verletzten ihrem Schicksaal überlässt, um sich dann von außen retten zu lassen. Diese Einstellung der ausländischen Helfer fanden viele sehr verstörend. Wie kann man es besser machen? Wir glauben, dass die Projekte von den Leuten vor Ort entworfen und umgesetzt werden müssen. Nur wer selbst Teil der Gesellschaft ist, hat Einblick in die Strukturen und Machtverhältnisse und kennt die Ursachen der Probleme. Das heißt aber nicht, dass wir auf Hilfe von außen ver- zichten sollten. Eine plötzliche Katastrophe unterscheidet sich von einer länger anhaltenden Krise dadurch, dass die lokalen Kapazitäten zur Selbsthilfe überfordert sind. Gute Nothilfe muss diese Kapazitäten stärken und nicht durch einen von außen eingeführten Apparat ersetzen. Ende Juni hat die internationale Gemeinschaft auf einer Geberkonferenz in Kathmandu Hilfe für den Wiederaufbau zugesagt. Sind Sie mit den Ergebnissen zufrieden? Die Konferenz hat grundsätzlich ein positives Signal ausgesendet, dass die internationale Gemeinschaft den Wiederaufbau unterstützt. Die Probleme zeigen sich aber im Detail und oft erst im Nachhinein. Unsere Partnerorganisationen fordern, dass die drei Milliarden US-Dollar gestrichen werden, die Nepal der asiatischen Entwicklungsbank, dem Internationalen Währungsfonds IWF und der Weltbank schuldet. Das ist leider nicht passiert, stattdessen handelt es sich bei den vier Milliarden US-Dollar die jetzt vor allem von den Nachbarländern Indien und China sowie der Europäischen Union und multilateralen Finanzinstitutionen bereitgestellt werden, größtenteils um neue Kredite. Das birgt die Gefahr, dass Nepal noch abhängiger vom Ausland wird. Die Hilfe der Staatengemeinschaft erfolgt in den seltensten Fällen aus purer Nächstenliebe. Vor allem die Hilfsbereitschaft von China und Indien ist auch Ausdruck des politischen Konkurrenzkampfes um geostrategischen Einfluss. Wir wissen nicht, an welche Bedingungen die Kredite geknüpft sind und werden erst im Laufe des nächsten Jahres sehen, ob mit dem Geld das Bildungs- und Gesundheitswesen aufgebaut wird oder hauptsächlich neue Staudämme, die Strom nach Indien liefern. Das Gespräch führte Moritz Elliesen. 8-2015 | berlin journal berlin Auf die Regierungen fixiert Kritik an den Afrika-Leitlinien der Bundesregierung Vor einem Jahr hat die Bundesregierung neue Leitlinien für ihre Afrikapolitik verabschiedet. Die sollten helfen, besser auf Konflikte zu reagieren und mehr für den Frieden zu tun. Doch die Politik folgt weiter den falschen Ansätzen, sagen Kritiker. Sie wünschen sich von Deutschland vor allem mehr Engagement für die Versöhnungsarbeit nach Konflikten. Zudem müssten zivilgesellschaftliche Gruppen stärker gefördert werden, so Vertreter verschiedener afrikanischer Organisationen bei einer Veranstaltung des Hilfswerks Brot für die Welt in Berlin. In den afrikapolitischen Leitlinien hatte sich Berlin unter anderem vorgenommen, umfassender, schneller und entschiedener auf Konflikte in Afrika zu reagieren. Zudem sollten regionale Zusammenschlüsse bei Vermittlungen und Friedensverhandlungen gestärkt werden. Die Politik sei jedoch zu stark auf staatliche Strukturen und Akteure fixiert, kritisierte Wolfgang Heinrich, Referatsleiter für Menschenrechte und Frieden bei Brot für die Welt. Gerade in fragilen Staaten fehle diesen meist die Legitimation. Ethnische Gruppen sowie traditionelle und religiöse Netzwerke blieben bei der Bewältigung der Krisen dagegen außen vor. Auch bringe der regionale Ansatz keine wirkliche Verbesserung, wie sich im Fall der gescheiterten Friedensverhandlungen für Südsudan zeige. Die teils fatale Rolle von Nachbarstaaten betonte auch Peter Tibi vom Friedensinstitut Reconcile im Südsudan, das die Beteiligung religiöser Gruppierungen an den Friedensverhandlungen koordiniert. Tibi kritisierte insbesondere die Rolle von Uganda und Sudan bei den Verhandlungen, die von der ostafrikanischen Staatengemeinschaft IGAD | 8-2015 betreut wurden. „Hier wird Benzin ins Feuer geschüttet statt Wasser“, sagte er auch mit Blick auf Waffen, die über die Grenzen ins Land sickerten. Im Tagesgeschäft geht die Prävention unter Die geringen Bemühungen seiner Regierung und der ausländischen Geldgeber für eine nachhaltige Versöhnung im Bürgerkriegsland Liberia beklagte Lancedell Matthews von der New African Agency for Research and Development. Die Regierung sei vor allem an Investitionen interessiert, für die Integration früherer Kämpfer oder die Umsiedlung der Opfer fehle aber das Geld. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, dass mehr in die Heilung der Konflikte als für das „Herumdoktern“ an den Symptomen investiert werde. Der Forderung, die Bundesregierung müsse stärker präventiv als reaktiv handeln und der Verbreitung von Kleinwaffen aus deutscher Fertigung Einhalt gebieten, erteilte ein Vertreter des Auswärtigen Amts jedoch einen Dämpfer. Um auf Frühwarnsigna- le besser reagieren zu können, sei unter Außenminister Frank-Walter Steinmeier eine Abteilung für Sicherheit und Krisenprävention eingerichtet worden, sagte der stellvertretende Referatsleiter für das südliche Afrika, Horst Gruner. Aber das Tagesgeschäft sei meist von den akuten Krisen bestimmt. Hinsichtlich der Eindämmung von Kleinwaffen führe Berlin Gespräche mit mehreren Ländern – auch was den Krieg in Südsudan betreffe. Aber die Frage der Waffenkontrolle gehe weit über Afrika hinaus, so Gruner. Marina Zapf berlin Neuer Anstrich für die alte Asienpolitik Das Entwicklungsministerium legt eine Strategie vor Unter dem Motto „Asiens Dynamik nutzen“ hat Entwicklungsminister Gerd Müller ein neues Strategiepapier für den Kontinent vorgestellt. Die Schwerpunkte liegen beim Umwelt- und Klimaschutz, vor allem in großen Schwellenländern wie Indien und China. In Lahore in Pakistan prüft ein Auszubildender seine Metallarbeit. Berufliche Bildung ist ein Schwerpunkt der deutschen Zusammenarbeit mit Pakistan. florian kopp/lineair Deutschland ist in 20 Ländern Asiens und des Pazifiks aktiv und vergibt nach eigenen Angaben jährlich knapp zwei Milliarden Euro an Zuschüssen und verbilligten Krediten. „Asiens große Herausforderung liegt darin, einen nachhaltigen Wachstumspfad einzuschlagen, der alle Menschen mitnimmt und die Umwelt schont“, sagte Müller Mitte Juni in Berlin. „Dafür bieten wir unsere Erfahrungen und unser Knowhow an.“ Müller betonte, dass Partnerschaften mit China und Indien für deren Mitwirkung bei den neuen globalen Nachhaltigkeitsund Klimazielen unabdingbar seien. Beide Länder sowie Indonesien erhalten Mittel für eine klimaschonendere Energieversorgung. Indien etwa erhält verbilligte Kredite zur Anbindung von Wind- und Solarkraftwerken an das Stromnetz. Weil China zunehmend selbst zum Entwicklungshelfer wird, soll das Land zukünftig stärker in Süd-Süd- oder Süd-Süd-Nord-Ko- 51 52 journal berlin operationen eingebunden werden. Dazu scheint Peking auch bereit. So will China OECD-Mitglied werden und trat vor kurzem dem OECD Development Center bei, dem entwicklungspolitischen Institut der Industrieländerorganisation, dem auch Brasilien, Indien und Südafrika bereits angehören. Die Regierung plant ein neues Vorhaben für Arbeitsschutz In anderen asiatischen Wachstumsländern setzt das Strategiepapier auf Bewährtes, wie etwa den Aufbau von Strukturen zur beruflichen Bildung. Mit Blick auf die große Kluft zwischen Arm und Reich in vielen Ländern Asiens will Deutschland auch auf Regierungen einwirken, sich für menschenwürdige Arbeitsplätze, existenzsichernde Einkommen sowie für Sozial- und Umweltstandards einzusetzen, etwa in der Textilindustrie. Um solche Standards „länderübergreifend“ zu fördern, will Müller sein Textilbündnis nutzen. Zur Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards ist ein neues Regionalvorhaben mit Kambodscha, Pakistan und Bangladesch geplant. Den Kampf gegen Hunger, unter dem noch 500 Millionen Menschen in Asien vor allem in den ländlichen Räumen im Süden des Kontinents leiden, will Deutschland mit dem Ausbau von Wertschöpfungsketten in der Landwirtschaft unterstützen, vor allem in Afghanistan, Indien und Kambodscha. Für Regionen, die besonders verletzlich für die Folgen des Klimawandels sind, will Müller bestehende Pläne für Aufforstungs- und Waldschutzprogramme umsetzen, etwa entlang des Mekong oder in der Mongolei. Beim Einsatz erneuerbarer Ener- gien sollen die neun Länder Indien, Indonesien, Afghanistan, Pakistan, Vietnam, Bangladesch, Mongolei, Nepal und Sri Lanka unterstützt werden. Unter dem Strich bündelt das Strategiepapier bereits bestehende Politikansätze, hebt dabei aber deutlich die Schwerpunkte Klimawandel und Umweltschutz hervor. Das Entwicklungsministerium zollt damit der Tatsache Rechnung, dass die großen Länder Asiens, verantwortlich für zwei Drittel der Treibhausgase, für globale Vereinbarungen unverzichtbar sind. Marina Zapf berlin Entwicklungsziele – eine unvollendete Aufgabe Die UN legen ihren letzten Fortschrittsbericht zu den Millenniumszielen vor Den Hunger und die Armut auf der Welt deutlich verringern – dazu waren vor 15 Jahren die acht Millenniumsentwicklungsziele (MDG) der Vereinten Nationen (UN) ausgerufen worden. In ihrem letzten Fortschrittsbericht ziehen die UN eine positive Bilanz. Entwicklungsexperten sind skeptisch. Die MDGs lieferten den Beweis, dass globale Anstrengungen mit festen Leitplanken Großes erreichen können. Wie nie zuvor hätten sie in den vergangenen 15 Jahren einen Trend zur Bekämpfung der Armut gesetzt, heißt es im Fortschrittsbericht 2015. Daraus lasse sich Mut schöpfen, dass es gelingen könne, extreme Armut weltweit völlig auszumerzen. Der Fortschrittsbericht 2015 ist die letzte Jahresbilanz der MDGs und liefert damit den Ausgangspunkt für die neuen Nachhaltigkeitsziele (SDG), die die UN im Herbst beschließen wollen. Derzeit wird über 17 Ziele verhandelt, die für alle Länder gleichermaßen gelten sollen. Sie umfassen soziale, ökologische und ökonomische Aspekte nachhaltiger Entwicklung. Im Trend hat die Welt mit Hilfe der MDGs trotz widriger wirt- schaftlicher Bedingungen bedeutsame Fortschritte gemacht. So wurde der Anteil der Armen, die mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag auskommen müssen, um mehr als die Hälfte auf 14 Prozent der Weltbevölkerung reduziert. Auch der Anteil der Hungernden und die Rate der Kindersterblichkeit sei in der Zeit um mehr als die Hälfte gesenkt worden. Doch, so gießt etwa der Entwicklungsexperte Jens Martens vom Global Policy Forum Wasser in den Wein, seien Erfolgsmeldungen wie die Halbierung der Armut auch irreführend. Denn arm sei auch, wer mit 1,26 Dollar am Tag sein Dasein friste. Gemessen an einzelstaatlichen Definitionen von Armut litten weltweit nicht 836 Millionen Menschen unter Armut, wie der UN-Bericht angebe, sondern 2,5 Milliarden – auch in Industrienationen. Bei Bildung muss mehr auf Qualität geachtet werden Ein großer Teil der Erfolge gegen Armut entfalle überdies auf China, so Martens. In Afrika sei die Armut seit 1990 anteilig nur von 47 auf 41 Prozent gesunken. In absoluten Zahlen erlebe der Kontinent einen Anstieg von 287 auf 403 Millionen Arme. Ähnlich müsse beim Zustand der Bildung mehr auf Qualität geachtet werden als auf die Zahlen: Wenn heute neun von zehn Kindern die Grundschule besuchten, heiße das noch nicht, dass sie am Ende lesen und schreiben könnten, da oft die Lehrer fehlten. Vergleichbare Defizite wollen die UN mittels einer mehrschichtigen Bewertung in den SDG abbauen. Umso komplexer wird es, Fortschritte zu messen. So wird die Erhebung von Daten mit neuen Technologien sowie deren statistische Auswertung auch eine Kernaufgabe sein, betonte Richard Dictus, Vertreter des UNEntwicklungsprogramms UNDP in Deutschland, der den Bericht in Berlin vorstellte. „Was gemessen wird, wird erledigt“, sagte er. Das sei eine wichtige Lehre aus den Millenniumszielen. Einige Ziele hingegen wurden in den vergangenen 15 Jahren nicht erreicht, darunter die Beteiligung von Frauen an Wirtschaft und Politik. Zudem stehe die Welt noch vor einer riesigen „unvollendeten Agenda“, denn die Ungleichheit zwischen Arm und Reich wachse sowohl zwischen Nord und Süd wie innerhalb ar- mer Länder, sagte Dictus. Dies sei zusätzlich zu gegenwärtigen Konflikten ein Quell der Instabilität. Deshalb, so die Forderung von Jens Martens, müssten die SDGs unbedingt Schritte gegen illegale Abflüsse von Kapital aus Entwicklungsländern entwickeln – Geld, das ihnen durch Steuervermeidung abhanden komme und nicht in das Gemeinwohl investiert werden könne. Zumal die staatliche Entwicklungshilfe ihre Zusagen nicht erfülle: auch ein verfehltes Ziel. Marina Zapf Bei der Bildung zählt die Qualität: Ein Junge in Burundi in einem Lesecamp außerhalb der Schule. Frank May/Picture Alliance 8-2015 | brüssel | schweiz journal brüssel Migrantenabwehr mit allen Mitteln Die EU-Chefs wollen mehr Kontrollen in den Herkunftsländern fördern Die EU-Regierungschefs haben beschlossen, die EU-Entwicklungspolitik zu verschärften Grenzkontrollen in Herkunfts- und Transitländern einzusetzen und Abschiebungen zu beschleunigen. Es sei die schwierigste Verhandlung gewesen, die er bisher mitgemacht habe, sagte der EU-Ratspräsident Donald Tusk nach dem EUGipfel am 26. Juni. Das bezog sich jedoch nur auf die zwischen den EU-Regierungen strittige Frage, welches Land wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Schnell einig waren sich die Regierungen hingegen, dass die EU-Entwicklungspolitik darauf auszurichten sei, Zuwanderung aus dem Süden bereits in den Herkunftsländern zu kontrollieren. Insbesondere für die sogenannte „Rückübernahme irregulärer Migranten“ durch die Herkunfts- und Transitländer seien „alle Instrumente“ der EU einzusetzen. Dazu sollten Handelsabkommen „als Anreiz“ für Rücknahmeabkommen genutzt werden, heißt es im Gipfelbeschluss. Mit „entwicklungspolitischen Instrumenten“ solle der Aufbau lokaler Kapazitäten zur Grenzkontrolle, Schleuserbekämpfung und Wiedereingliederung verstärkt werden. Wie das im Detail zu machen wäre, überlassen die Chefs ihren Ministern und der EU-Kommission. Entwicklungsminister Gerd Müller hatte bereits Ende Mai einen Sonderfonds vorschlagen, der aus bestehenden Geldtöpfen wie dem Europäischen Entwicklungsfonds gespeist werden könnte. Anfang Juni hatte der stellvertretende Generaldirektor der Entwicklungsabteilung der Kommission, Marcus Cornaro, eine ähnliche Überlegung angestellt und einen Treuhandfonds aus Mitteln der EU-Entwicklungspolitik und Beiträgen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen, an dem sich zudem auch andere Institutionen beteiligen könnten. Auch dies liefe auf eine Umwid- Nothilfe für die Sahel-Länder Ende Juni hat die EU-Kommission der Zentralafrikanischen Republik weitere 72 Millionen Euro Nothilfe zugesagt, vor allem aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF). Seit Beginn der Staatskrise 2013 hat Brüssel 377 Millionen Euro für das Land am Südrand der Sahara aufgewandt, zumeist aus dem EEF, der eigentlich für längerfristige Vorhaben und Programme da ist. Andere Sahel-Länder haben ebenfalls erhebliche humanitäre Hilfe aus dem Fonds erhalten. Für Mali sind 615 Millionen Euro bis 2020 vorgesehen. Mitte Juni wurde Burkina Faso zur Stabilisierung nach dem vereitelten Mi- litärputsch eine Übergangshilfe von 120 Millionen Euro für die nächsten 18 Monate zugesagt. 21 Millionen Euro sagte die Kommission für Vertriebene der nigerianischen Terrormiliz Boko Haram in Nigeria, Niger, Kamerun und Tschad zu. Und Anfang Juli verständigte sich Brüssel mit Vertretern westafrikanischer Regionalorganisationen auf weitere Hilfen aus dem EEF bis 2020 in Höhe von insgesamt 1,15 Milliarden Euro. Etwa ein Drittel davon wird für Militäroperationen gegen Boko Haram und für die Friedenssicherung in Niger, Mali und Tschad gebraucht. (hc) mung von Mitteln der Entwicklungspolitik hinaus, die im laufenden mittelfristigen Finanzplan festgeschrieben sind. ConcordEurope, der Dachverband europäischer Entwicklungsorganisation, kritisiert, dass der EU-Gipfel Migration offenbar als Aufgabe der Sicherheitspolitik sehe. Brüssel sollte stattdessen in eine Entwicklungspolitik investieren, die in den Herkunftsländern würdige Arbeit und soziale Sicherheit fördert, damit Auswanderung nicht zur Notwendigkeit werde. Ätzende Kritik an den EU-Regierungen und dem Ministerrat kam vom langjährigen Chef der für Entwicklung zuständigen Generaldirektion in der Kommission, Dieter Frisch. Flucht vor Armut und Konflikten sei eine Folge ausbleibender Entwicklung. Dennoch seien in den letzten Jahren ständig mehr der knappen Mittel für eine Entwicklungspolitik, die dem vorbeugen solle, für die Sicherheitspolitik und die Bewältigung von Konfliktfolgen abgezweigt worden. Die zuerst 2003 als „vorläufig“ dem Europäischen Entwicklungsfonds entnommenen Mittel zur Ausstattung von Truppen der Afrikanischen Union etwa hätten sich bis heute auf zwei Milliarden Euro fast verzehnfacht – Geld, das nun nicht mehr für Entwicklungsaufgaben verfügbar sei. Heimo Claasen schweiz Entwicklungshilfe für die Asiatische Infrastruktur-Bank Schweizer Hilfswerke hoffen auf eine neue Alternative zur Weltbank Die Schweiz beteiligt sich mit 660 Millionen Franken (632 Mio. Euro) an der von China initiierten Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB). Ein Teil soll dem Budget der Schweizer Entwicklungshilfe ent- | 8-2015 nommen werden. Bei den Hilfswerken sorgt das für Stirnrunzeln. Die AIIB soll dem wachsenden Finanzierungsbedarf für Infrastrukturprojekte in Asien nachkom- men und damit die wirtschaftliche Entwicklung der Region fördern. Im Mittelpunkt stehen Investitionen in die Energieversorgung, die Transportinfrastruktur, den Telekommunikationssek- tor, die städtische und ländliche Entwicklung sowie in Umweltvorhaben. An der neuen internationalen Bank beteiligen sich 57 Staaten. China hat mit gut 26 Prozent der 53 54 journal schweiz Anteile eine Mehrheit und wird die Präsidentschaft übernehmen. Indien ist mit 7,5 Prozent und Russland mit 5,9 Prozent dabei. Deutschland ist mit 4,1 Prozent der viertgrößte Geldgeber und das wichtigste nichtasiatische Mitgliedsland. Die Schweiz hat mit ihrer Beteiligung einen Stimmenanteil von 0,875 Prozent und sieht ihr Engagement als Chance für Schweizer Unternehmen. Von der Schweizer Beteiligung in Höhe von 660 Millionen Franken muss ein Fünftel, also 132 Millionen Franken (126 Millionen Euro), tatsächlich einbezahlt werden. Dieses Geld wird laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) größtenteils bei der internationalen Zusammenarbeit gespart. Wie viel tatsächlich der Ent- wicklungshilfe belastet wird, hängt vom Entwicklungsausschuss der Industrieländerorganisation OECD ab: Der Ausschuss muss entscheiden, zu welchem Anteil die AIIB-Beiträge der offiziellen Entwicklungshilfe angerechnet werden können. Die Hilfswerke warten noch ab mit einem Urteil Da die Finanzierungsmodalitäten und die Sozial- und Umweltrichtlinien der AIIB noch nicht geklärt sind, halten sich die Schweizer Hilfsorganisationen mit Kritik noch zurück. An die Regierung in Bern aber stellen sie klare Forderungen. Die Alliance Sud etwa, die Arbeitsgemeinschaft von sechs großen Hilfswerken, erwartet, dass der Bundesrat sich für sehr hohe Sozial- und Umweltstandards bei der Vergabe von AIIBKrediten einsetzt: „Sollte sich die Schweiz mit dieser Forderung nach strikten Safeguards nicht durchsetzen können, hat sie unter den Geldgebern der Bank nichts mehr zu suchen.“ Damit die Beiträge an die AIIB als Entwicklungsausgaben gelten können, müsste die neue Bank ihren Fokus klar auf armutsreduzierende Projekte in den ärmsten Ländern der Region legen, erklärt Alliance Sud. Der Schweizer Beitrag dürfe aber nicht auf Kosten der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit oder der humanitären Hilfe gehen. Sonst müsse die Schweiz ihr Engagement für andere multilaterale Entwicklungsbanken einschränken. Trotz der Vorbehalte will Alliance Sud der AIIB ihre Berechtigung nicht absprechen, vor allem wenn sie sich als Alternative zur Weltbank und zur Asiatischen Entwicklungsbank aufstelle: Kapitalbedürftige Staaten würden durch die Konkurrenz bei der Kreditaufnahme „potenziell weniger erpressbar und von den Interessen der klassischen Industrieländer unabhängiger“. Außerdem sei die AIIB nicht als Ausdruck der „Weltmacht-Ansprüche“ Chinas zu sehen, sondern eher als Signal Pekings, sich multilateral einbinden zu lassen. Das sei wichtig, da die internationale chinesische Zusammenarbeit bislang vor allem bilateral stattfinde und internationale Standards ignoriere. Rebecca Vermot schweiz Eine Lobby für die Friedensförderung Neue parlamentarische Gruppe will Schweizer Engagement stärken Friedensförderung sei kein Anhängsel der Verteidigungspolitik, betont die Sozialdemokratin Evi Allemann. Lukas Lehmann/keystone Eine Gruppe von Parlamentariern will der Friedensförderung mehr Gewicht geben und sie in der Öffentlichkeit bekannter machen. Die Ko-Präsidentin der Gruppe schlägt vor, das Budget für diesen Politikbereich zu verdoppeln. Die Schweiz genießt den Ruf eines Landes, das sich stark für interna- tionale Friedensbemühungen einsetzt. Die zuständige Abteilung Menschliche Sicherheit ist derzeit in acht Schwerpunktländer und -regionen tätig, vor allem in Osteuropa und in Afrika. Dennoch sei die Friedensförderung als Politikbereich nur selten öffentlich präsent, sagt Evi Allemann, Parlamentsabgeordnete der Sozialdemokraten. Deshalb sei die neue parlamentarische Gruppe notwendig. Allemann ist Ko-Präsidentin der Gruppe. Bislang gab es keine innenpolitische Lobby für die Friedensförderung. Das sei in anderen Bereichen der Schweizer Außenbeziehungen nicht so, sagt Allemann und verweist auf die internationale Zusammenarbeit und die Handelspolitik. Die parlamentarische Gruppe wolle das ändern. Die Friedensförderung sei wichtig, damit sich die Schweizer Bevölkerung mit dem Staat und der Außenpolitik identifizieren könne. Ziel sei es, den betreffenden Entscheidungsträgern den Rücken zu stärken und eine Grundlage für konstruktive Kritik zu schaffen. Die Friedensförderung sei weder nur eine Unterrubrik der Internationalen Zusammenarbeit noch ein Anhängsel der Verteidigungspolitik, sondern eine zentrale Aufgabe der Schweizer Außenpolitik. Deshalb müsse ihr „bei Zielkonflikten in den Außen- beziehungen die notwendige Priorität eingeräumt werden“, fordert Allemann. Der Abteilung für Menschliche Sicherheit stehen für ihre Aufgaben jährlich 80 Millionen Franken (gut 76 Millionen Euro) zur Verfügung. Das sind knapp 2,5 Prozent des aktuellen Budgets der internationalen Zusammenarbeit – „viel zu wenig“, sagt die Parlamentarierin. Sie fordert, das Budget für die Friedensförderung müsse mindestens verdoppelt werden. Die Lobbygruppe plant Veranstaltungen zu Aufgaben der Friedensförderung wie Mediation, Demokratisierung und Vergangenheitsaufarbeitung. Dabei will sie sich eng an der politischen Tagesordnung des Parlaments orientieren. Zu den Mitgliedern der parlamentarischen Gruppe gehören Vertreter der Sozialdemokraten, der Grünliberalen, der Freisinnigen und der Christdemokraten. Das Sekretariat führt die Schweizerische Friedensstiftung swisspeace in Bern. Kathrin Ammann 8-2015 | österreich | kirche und ökumene journal österreich Engagement für die Kinder in Darfur Österreich fördert Gespräche zwischen den Rebellengruppen Kinder sollen nicht mehr für den bewaffneten Kampf in der sudanesischen Konfliktregion Darfur rekrutiert werden. Darauf haben sich Ende Mai Vertreter der drei größten bewaffneten Rebellengruppen auf einer Konferenz in der Friedensburg Schlaining geeinigt. Anführer des Justice and Equality Movement (JEM) und der zwei Fraktionen des Sudan Liberation Movement SLM-AW und SLM-MM unterzeichneten das Abkommen. Die Vereinten Nationen waren durch Leila Zerrougui vertreten, die Sonderbeauftragte für Kinder in bewaffneten Konflikten. Das Konferenzergebnis biete eine Möglichkeit, das Vertrauen zu gewinnen und eine Gesprächsbasis zu schaffen, sagte Zerrougui. Alle drei Parteien stehen auf einer schwarzen Liste der UN, weil sie seit langem Kinder als Soldaten einsetzen. Zerrougui ist überzeugt, dass sich das mit dem Abkommen von Schlaining ändern werde. Bernadette Knauder vom Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) weist aber darauf hin, dass man die Einhaltung über mehrere Jahre beobachten müsse. Dem Abkommen waren vertrau- ensbildende Gespräche in Schlaining vorausgegangen. Das ÖSFK hatte die Konferenz in Kooperation mit der Darfur-Friedensmission der UN und der Afrikanischen Union organisiert; die Austrian Development Agency (ADA) hatte die Finanzierung übernommen. Seit 2009 gibt es Aktionspläne der am Konflikt beteiligten Parteien, das Rekrutieren von Kindern zu beenden. Das ÖSFK engagiert sich seit 2012 dafür. Damals konnte mit dem JEM ein Aktionsplan zu Kinderrechten vereinbart werden. Inzwischen hat sich das ÖSFK als Kompetenzzentrum zu Kinderschutz im bewaffneten Konflikt und als Ort der Begegnung für Konfliktparteien etabliert. 2014 wurden bei der sudanesischen Kommission für Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration 450 ehemalige Kindersoldaten registriert, darunter 61 Mädchen. Allein im Sommer 2014 sollen aber laut Rebellen die vom sudanesischen Geheimdienst kontrollierten Rapid Support Militias mehr als 3000 Kinder zwischen 15 und 17 Jahren zwangsrekrutiert haben. Bernadette Knau- der hofft, dass bei einer weiteren Konferenz auch die sudanesische Regierung an den Tisch geholt und zur Einhaltung der Kinderrechte verpflichtet werden kann. Konkrete Pläne gebe es dafür noch keine. „Das Treffen in Österreich weckt Hoffnung auf weitere Friedensentwicklungen“, sagt Dominique Mair, bei der ADA für Friedensförderung zuständig. In der Vereinbarung von Schlaining erklären sich die Rebellengruppen bereit, mit der sudanesischen Regierung in Verhandlungen zu treten. Ralf Leonhard Wien vertagt Stufenplan Österreichs Auslandskatastrophenfonds wird ab 2016 auf 20 Millionen Euro vervierfacht. Darauf haben sich Außenminister Sebastian Kurz und Finanzminister Hans-Jörg Schelling (beide ÖVP) unmittelbar vor der politischen Sommerpause Mitte Juli geeinigt. Nicht eingelöst hat die Regierung ihre Zusage, bis Sommer einen Stufenplan zur Erhöhung der Entwicklungshilfe vorzulegen. Österreich liegt bei nur 0,26 Prozent des Bruttonationaleinkommens, obwohl der zuständige Außenminister wie auch Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) sich wiederholt zum Ziel von 0,7 Prozent bekannt haben. Die im Dachverband Globale Verantwortung zusammengeschlossenen Entwicklungsorganisationen demonstrierten daher beim Ministerrat, um die Regierung daran zu erinnern. Als „Serviceleistung“ für die Regierung präsentierten sie einen Plan zur Erhöhung der Hilfe bis zum Jahr 2030. Um das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, müssten sich die Leistungen von derzeit gut 860 Millionen Euro auf mehr als 3,1 Milliarden Euro fast vervierfachen. (rld) kirche und ökumene Schmerzhafte Beziehungen Kirchen beleuchten ihre Rolle während der Apartheid Mehrere Jahre lange haben 23 protestantische Kirchen und Missionswerke aus Namibia, Südafrika und Deutschland ihre Rolle in Kolonialismus und Apartheid aufgearbeitet. Jetzt liegen Ergebnisse vor. Viel zu lange haben deutsche Kirchen und Missionswerke das Apartheidregime in Südafrika un- | 8-2015 terstützt oder zumindest nicht hinterfragt. Erst in den 1970er Jahren hat sich hierzulande die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein solches System nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar ist. „Für viele sind die Wunden der Apartheid, wie sie auch in Kirchen praktiziert wurde, noch frisch“, sagte Kobus Gerber von der Nie- derdeutschen Reformierten Kirche in Südafrika bei der Vorstellung der Forschungsergebnisse Ende Juni in Berlin. Deshalb sei es notwendig, Schuld beim Namen zu nennen. Und Jacob Lebaleng Selwane, Bischof der ELCSA, der größten evangelisch-lutherischen Kirchen im Südlichen Afrika, warnte: „Das Biest der Apartheid ist noch lange nicht tot. Es hat nur seine Gestalt gewandelt.“ Vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle während der Apartheid war bereits die koloniale Vergangenheit der evangelischen Kirchen im südlichen Afrika erforscht worden. 2004, zum 100. Jahrestag des Völkermords und Kolonialkriegs in Namibia, 55 56 journal kirche und ökumene hatte die rheinische Landeskirche sich verpflichtet, ihre Rolle in dieser Zeit aufzuarbeiten. Rheinische Missionare und Siedler zählten zu den ersten Weißen im südlichen Afrika. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) griff das landeskirchliche Projekt auf. Es folgte ein Studienprozess, an dem Theologen und Historiker aus Deutschland, Südafrika und Namibia beteiligt waren. Er beendete die Sprachlosigkeit, die vorher in den Kirchen und Werken angesichts der eigenen Verstrickung in die Machtverhältnisse im südlichen Afrika geherrscht hatte. „Wir stehen gemeinsam in der Pflicht, die Rolle der Kirchen und Missionsgesellschaften zur Zeit des Kolonialismus und der Apartheid kritisch zu diskutieren“, sagte die Auslandsbischöfin der EKD Petra Bosse-Huber. „Dies gilt auch für die noch weiterhin zu führenden Diskussionen um die Anerkennung des Völkermords an Hereros, Nama und Damara 1904 bis 1908 und um deren kirchenpolitische Konsequenzen.“ Die Zusammenarbeit der beteiligten Kirchen geht nach Abschluss des Studienprozesses wei- ter. Vereinbart wurden gemeinsame Konsultationen bis zum Reformationsjubiläum 2017. Katja Dorothea Buck Der Sammelband „Umstrittene Beziehungen. Protestantismus zwischen dem südlichen Afrika und Deutschland von den 1930er Jahren bis in die Apartheidzeit“ ist im Harrassowitz Verlag Wiesbaden erschienen (Preis 68 Euro). kirche und ökumene Ein Minenfeld für deutsche Christen Der südafrikanische Bischof Tutu mahnt eine klarere Haltung zu Palästina an Den Palästinensern geschehe Unrecht, und die Kirchen in Deutschland sollten ihr Schweigen dazu brechen. Das hat der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu Ende April in einem offenen Brief an den Deutschen Evangelischen Kirchentag gefordert. Eine Antwort hat der prominente AntiApartheidkämpfer bisher nicht bekommen. Das enttäuscht vor allem die Palästina-Unterstützer in den deutschen Kirchen. In seinem Brief nimmt Tutu kein Blatt vor den Mund. „Unsere christlichen Schwestern und Brüder im Heiligen Land haben nichts von ausgewogenen Synodenerklärungen, die in gleicher Weise Sympathie mit dem Unterdrücker und den Unterdrückten zum Ausdruck bringen. Sie erwarten von uns alle erdenkliche Hilfe, ihre kollektive Freiheit zurückzugewinnen“, schreibt er in einem offenen Brief an den Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT). Persönlich adressierte Kopien davon erhielten außerdem der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich BedfordStrohm, sowie der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), Bischof Karl-Heinz Wiesemann. Obwohl der Brief schon Ende April verschickt worden war, hat keiner der Adressaten bisher darauf geantwortet. Dabei bezeichnen viele Theologen in Deutsch- land den Erzbischof aus Kapstadt als großes Vorbild. Seit einigen Jahren nutzt Tutu sein Renommee, um die israelische Besatzungspolitik international anzuprangern. Bei diesem Thema wird es in Deutschland aber kompliziert. Der Brief sei zu kurzfristig eingegangen, heißt es beim DEKT. Man wolle sich die nötige Zeit nehmen, um inhaltlich qualifiziert antworten zu können. Das dauere wohl bis zur Sommerpause Ende Juli. Der EKD-Ratsvorsitzende dagegen wird nicht auf das Schreiben antworten, ist aus dem Kirchenamt in Hannover zu hören. Der Brief sei ja in erster Linie an den Kirchentag gerichtet gewesen und nicht an den EKD-Rat. Mit der gleichen Begründung wird es auch von der ACK keine persönliche Antwort geben. Das Kairos-Papier von 2009 wurde kontrovers diskutiert Seit Jahren versuchen christliche Initiativen in Deutschland, das Thema Gerechtigkeit und Frieden in Palästina stärker in den Blick der Kirchenhierarchie zu bringen, wie zum Beispiel das Kairos-Palästina-Solidaritätsnetzwerk, Pax Christi oder der Sabeel-Freundeskreis. Vergeblich hatten sie versucht, Veranstaltungen zum Kairos-Palästina-Papier ins offizielle Programm des diesjährigen Kirchentags zu bringen. Das KairosDokument, das 2009 palästinensische Christen als Hilferuf an alle Kirchen in der Welt geschickt hat- Trotz palästinensischer Flagge beim Eröffnungsgottesdienst: Der Kirchentag hat Tutus Brief nicht aufgegriffen. Patrick Seeger/picture Alliance/DPA ten, war in Deutschland kontrovers diskutiert worden. Vor allem der Vorschlag, israelische Waren aus den besetzten Gebieten zu boykottieren hatte für starken Gegenwind gesorgt. Diskussionen über Israel und Palästina arten unter deutschen Christen schnell zu Grabenkämpfen aus – allerdings mit ungleicher Ausgangslage. In vielen Landeskirchen gibt es Sonderpfarrer für den jüdisch-christlichen Dialog, die ihre Kirchen in Fragen der christlich-jüdischen Beziehungen beraten. Die Kairos-Palästina-Unterstützer arbeiten dagegen durchweg ehrenamtlich und müssen mit scharf formulierten Briefen Gehör in der Kirchenleitung suchen. Der Kirchentag in Stuttgart wäre nun in den Augen der KairosUnterstützer ein gutes Forum gewesen, dem Thema noch einmal eine neue kirchliche Öffentlichkeit zu geben. Doch die Verantwortlichen des Kirchentags lehnten alle Veranstaltungsvorschläge ab. Sie berufen sich vor allem auf Verfahrensregeln. Beim Kirchentag würden nicht Papiere, sondern Themen diskutiert, sagt Silke Lechner, Studienleiterin beim DEKT auf Anfrage. „Außerdem ist eines unserer Grundprinzipien, dass ein Thema nicht von einer Organisation vorbereitet wird, sondern von bunt gemischten Gruppen, in denen verschiedene Positionen vertreten sind. Da 8-2015 | kirche und ökumene | global lokal journal muss man sich schon im Vorfeld immer wieder untereinander abstimmen.“ Der Kirchentag weist die Vorwürfe zurück Den Vorwurf, dass sich die Kirchentagsleitung am Thema Palästina aus inhaltlichen Gründen nicht die Finger verbrennen wollte, lässt die Studienleiterin des DEKT nicht so stehen. In Stuttgart habe es sehr wohl Veranstaltungen dazu gegeben, aber eben in anderer Form, sagt Lechner. „Wir wollen immer beide Perspektiven zu Wort kommen lassen.“ Wenn man zu einseitig Position beziehe, gefährde man unnötig das jüdisch-christliche Gespräch. Genau diese Kritik kann Ulrich Duchrow, Theologie-Professor in Heidelberg und selbst seit langem in der Kairos-PalästinaBewegung engagiert, nicht nachvollziehen. „Es geht uns um Frieden und Gerechtigkeit für beide – Israel und Palästina. Wir wissen sehr wohl, dass diese Völker nur gemeinsam eine Zukunft haben.“ Deswegen suche man in der Kairos-Palästina-Bewegung bewusst den Austausch mit jüdischen Theologen. „Propheten und Thora sprechen eine sehr deutliche Sprache in Hinblick auf Unrecht und wie damit umzugehen ist. Genau an dem Punkt können Juden und Christen sehr gut zusammenkommen.“ Katja Dorothea Buck kirche und ökumene – kurz notiert Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) wirbt für eine offene Begegnung der Religionen und plädiert für den Abschied vom „Geist der Kleinlichkeit“. Religiöse Pluralität sei der „Normalfall“, heißt es in einem neuen Grundlagentext des Rates der EKD. Der Rat plädiert für ein Miteinander, das mehr ist als achselzuckende oder zähneknirschende Toleranz. Zugleich grenzt er sich von der Vorstellung ab, dass alle Religionen im Kern gleich seien. Gemeinsam hätten sie jedoch die Aufgabe, für die Religionsfreiheit einzutreten. Wer die eigene Wahrheit ohne Absolutheitsanspruch bekenne und zugleich für sein Gegenüber offen sei, zeige: Religion mache nicht engstirnig oder fanatisch, sondern dialogfähig. Gemeinsam könnten die Religionen feiern und sich für eine gerechte und friedliche Weltgesellschaft einsetzen, heißt es in dem Text. (Luisa Seelbach) www.ekd.de/EKD-Texte/christlicher_glaube Aufgrund höherer Spenden und Erbschaften sind die Erträge der Christoffel-Blindenmission (CBM) 2014 um 4,8 Millionen Euro auf 67,4 Millionen Euro gestiegen. Man habe das zusätzliche Geld vollständig in Projekte investiert, sagte Geschäftsführer Rainer Brockhaus Anfang Juli in Berlin. 32,5 Millionen Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsländern seien im vergangenen Jahr unterstützt worden, acht Millionen mehr als im Vorjahr. Zudem habe die CBM ihre Pro grammarbeit stärker auf bestimmte Länder und Themen fokussiert. Im vergangenen Jahr war die augenmedizinische Hilfe ein Schwerpunkt. Zusammen mit Partnern vor Ort wurden unter anderem mehr Augenuntersuchungen an Schulen durchgeführt und mehr Medikamente gegen Flussblindheit verteilt. Derzeit unterstützt die CBM 672 Projekte in 65 Ländern. (kb) www.cbm.de/jahresbericht global lokal Gerd Müller setzt auf Kommunen Das Entwicklungsministerium will mehr Süd-Engagement der Städte „Entwicklungspolitik fängt zu Hause an“, sagt der zuständige Minister Gerd Müller. Auf der Bundeskonferenz der kommunalen Entwicklungspolitik Ende Juni in Hannover versprach er den Städten und Gemeinden mehr Geld dafür. Die tun sich trotzdem oft schwer in der Nord-Süd-Arbeit. Müller betonte vor rund 250 Vertretern von Städten, Ländern und der Zivilgesellschaft, dass Deutschlands Entwicklungspolitik auf die Kommunen angewiesen sei. Nationale und internationale Entwicklungsziele wie der auf dem G7-Gipfel von Elmau verkündete Ausstieg aus der fossilen Energieerzeugung müssten auf der lokalen Ebene angegangen werden. Diese sei das Fundament für den Kampf gegen Umweltzer- | 8-2015 störung und Klimawandel. Derzeit sind aber nur etwa 400 der rund 11.000 deutschen Städte und Gemeinden in Partnerschaften mit Kommunen in Afrika, Asien oder Lateinamerika entwicklungspolitisch aktiv. Das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) will deshalb kommunale Nord-Süd-Partnerschaften mehr als bisher unterstützen und den entsprechenden Haushaltstitel verdoppeln. Im Jahr 2015 hat das BMZ für kommunale Entwicklungsprojekte rund zehn Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Der niedersächsische Ministerpräsident Stefan Weil (SPD) mahnte in, kommunale NordSüd-Aktivitäten hätten große Vorzüge, könnten aber staatliche und internationale Regelungen nicht ersetzen. Die Spannung zwischen kommunaler und nationaler Ebene beschäftigte auch die Kommunalvertreter. Denn die gestiegenen Erwartungen an die lokale Ebene werten diese zwar auf, setzen die Kommunen aber auch unter Druck. Sabine Drees vom Deutschen Städtetag sagte, die kommunale Entwicklungszusammenarbeit sei häufig unterfinanziert und könne daher nicht immer den Erwartungen entsprechen. Kommunen können zwar für Projekte im Süden Fördergelder bei der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt beantragen. Personalkosten und einen Eigenanteil von rund zehn Prozent der Fördersumme müssen die Stadtverwaltungen aber selbst beisteuern. Für chronisch klamme Städte und Gemeinden ist das aussichtlos, und selbst finanziell gut gestellte Kommunen tun sich schwer, das politisch durchzusetzen. Angesichts begrenzter Kapazitäten plädierten kritische Stimmen denn auch für mehr Qualität bei den kommunalen Nord-SüdProjekten, statt vorrangig ihre Zahl zu erhöhen. Knappe Ressourcen führen aber auch dazu, dass Städte die internationale Zusammenarbeit als Geschäftsmodell entdecken. So berichtete der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters, wie städtische Betriebe mit dem Export von Fachkenntnissen und erprobten Technologien für das Abfallmanagement in Kölns Partnerstädten Rio de Janeiro und Peking Einnahmen erzielt hätten, die weiteren Projekten zugutekommen. Claudia Mende 57 58 journal global lokal global lokal Lernen in der globalisierten Welt Die Kultusminister beschließen einen neuen Orientierungsrahmen Globale Zusammenhänge verstehen, fremde Sichtweisen auf die Welt einnehmen – das ist das Ziel des neuen Orientierungsrahmens für den Unterricht an deutschen Schulen. Verbindlich sind die Vorschläge darin allerdings nicht. Der von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder und dem Bundesentwicklungsministerium herausgegebene Orientierungsrahmen ist eine Referenzgröße für die Lehrplangestaltung in den Bundesländern und die Schulbuchverlage. Er gilt für alle Schultypen bis zum mittleren Schulabschluss und soll dazu beitragen, die schulische Bildung von eurozentrischen Sichtweisen zu befreien und interkulturell zu öffnen. Erstmals umfasst der Orientierungsrahmen alle Schulfächer, auch Kunst, Musik und Sport, ab der Grundschule sowie den Bereich Berufliche Bildung. Dabei folgt er dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung: Junge Menschen sollen die notwendigen Kompetenzen erhalten, um sich in ihrem späteren Leben globalen Herausforderungen wie dem Klimawan- del zu stellen. Die Schüler und Schülerinnen sollen sich stärker mit anderen Perspektiven auseinandersetzen. In den Fächern Politik und Wirtschaft, aber auch in den Fremdsprachen sollen mehr Texte von Autoren aus Afrika, Asien und Lateinamerika gelesen werden. Das Fach Geschichte soll beim Thema Kolonialismus die Sichtweisen der kolonisierten Länder stärker berücksichtigen. In Kunst und Musik sollen außereuropäische Stilrichtungen behandelt werden. Bis die neuen Unterrichtsziele umgesetzt sind, wird es noch dauern. Hauptproblem sei, dass angesichts von Pflichtthemen und Prüfungsvorgaben die Zeit fehle, die Inhalte aus dem Orientierungsrahmen vertiefend zu bearbeiten, sagt der Pädagoge Martin Geisz aus Hessen, der als Autor und Berater mitgewirkt hat. Für ihn bietet der neue Rahmen aber auch Chancen für Umwelt- und Entwicklungsorganisationen. Sie könnten sich darauf berufen, um mit ihren Themen in die Schulen zu kommen. Claudia Mende global lokal Festes Schuhwerk empfohlen Ein Theaterstück über Flüchtlinge wirft den Zuschauer mitten ins Geschehen In den Nachrichten sehen wir die Bilder von verzweifelten Flüchtlingen im Mittelmeer. Aber was erleben die Menschen, wenn sie ihre Heimat verlassen? In einem außergewöhnlichen Theaterprojekt macht sich der Zuschauer mit ihnen auf den Weg. Rajana ist von Somalia nach Deutschland geflohen. Sie spricht über einen Kopfhörer zu mir: „Ich suche einen Menschen, dem ich vertrauen kann. Hilf mir, jemanden zu finden“, sagt sie. In Düsseldorf-Oberbilk, im sogenannten „Maghreb-Viertel“ der Stadt, am Rande eines Spielplatzes fällt mein Blick auf eine Frau mit langem Gewand, Kopftuch und strahlendem Lächeln, die mich zuvor von ihrem Reisebüro in eine Wohnzimmer-Moschee geführt hat. Soll ich sie um Hilfe für Rajana fragen? Oder soll ich mich an den Polizisten neben ihr wenden? Ich besuche die Theateraufführung „Dorthin wo Milch und Honig fließen“ – besser gesagt: Ich nehme daran teil, denn es ist eine interaktive Inszenierung zu „Fluchtspuren“. „Wir arbeiten erstmals mit einem solchen künstlerischen Format“, erklärt Thomas Klein von Engagement Global, dem BMZ-Service für Entwicklungsinitiativen, der dieses Projekt zusammen mit dem Eine-Welt-Forum Düsseldorf, dem Eine Welt-Netz NRW und der Exile-Kulturkoordination auf die Beine gestellt hat. Die Inszenierung haben die Theaterregisseurinnen Charlott Dahmen und Karin Frommhagen übernommen. Beide entwickeln seit Jahren innovative künstlerische Formate für gesellschaftspolitische Themen wie Flucht und Migration. „Dorthin wo Milch und Honig fließen“ beginnt über den Dächern von Düsseldorf – auf dem Parkdeck am Hauptbahnhof. Die Veranstalter empfehlen festes Schuhwerk. Wir werden auf eine etwa zweistündige „Fußreise“ vorbereitet, geführt von der Stimme eines Flüchtlings, der seine Le- bensgeschichte erzählt und uns zu verschiedenen Spielorten lotst. Wir erhalten einen Audioguide, eine Skizze ohne Straßennamen und eine Handynummer für den Notfall. „Hören Sie auf Rajana! Dann finden Sie den Weg“, versichert eine Theatermitarbeiterin. Zuhören hilft nicht nur bei der Orientierung, sondern lässt uns mitfühlen mit den Flüchtlingen. Rajana erzählt, wie ihre Eltern bei einem Raketenangriff in Mogadischu getötet wurden, wie sie und zwei überlebende Schwestern bei einer anderen Familie aufwuchsen – als Arbeitssklavinnen gehalten, geschlagen und brutal Die Zuschauerinnen und Zuschauer müssen ihren Weg selbst finden – dorthin wo Milch und Honig fließen. Als Hilfen gibt es einen Audioguide und eine Handynummer. ©MEYER ORIGINALS; [email protected] 8-2015 | global lokal | personalia journal vergewaltigt. Mit 20 Jahren flüchtete sie und erreichte nach sieben Jahren Deutschland. Ihre Lebensgeschichte fesselt mich so, dass ich bei jeder Routenbeschreibung stehen bleibe, die Pausentaste drücke und mich erst wieder in der deutschen Gegenwart orientieren muss, um den richtigen Weg einzuschlagen. Der führt mich in ein Reisebüro und eine Wohnzimmer-Moschee, auf einen Schulhof und vor eine Gefängnismauer, ich finde mich in einer Flüchtlingsberatung und einem Boxclub wieder, am Ende geht es in das Café Salam. An all diesen Spielorten wird Rajanas Geschichte konkret und nachvollziehbar. Erst am Ende der Reise löst sich die Anspannung Auch die anderen „Theaterläufer“ folgen den Spuren von Flüchtlingen. Insgesamt sind es vier verschiedene Routen: die von Rajana aus Somalia, Burhan aus Afghanistan, Sami aus dem Irak und Halima aus Syrien. Ihre Namen wurden geändert, aber die Geschichten sind authentisch – ausgewählt aus vielen Lebenswegen, die in Interviews mit Flüchtlingen recherchiert wurden. Die Wege kreuzen sich an drei Orten. In der Flüchtlingsberatungsstelle STAY, der auch die Eintrittsgelder gespendet werden, fragen wir nach den Asylmöglichkeiten. Rajanas Beschneidung und Vergewaltigungen sind kein Asylgrund, aber wegen des Krieges in Somalia hätten sie, ihr Mann und ihre kleine Tochter gute Chancen auf Anerkennung, sagt eine Mitarbeiterin. Doch die zu erhalten, ist gar nicht so einfach, wie sich beim nächsten gemeinsamen Stopp zeigt, dem „Box-Papst“ – einer Kneipe mit Boxring im Hinterhof. Hier inszenieren vier Schauspieler in wechselnden Rollen die Befragungen im Ausländeramt als erbitterten Schlagabtausch „Frage. Doppelpunkt. Wie heißen Sie? Antwort. Doppelpunkt.“ – „Warum sind Sie verhaftet worden?“ – „Warum sind Sie nach Deutschland eingereist?“ Im Stakkato folgt eine Frage der nächsten – wie Schläge in die Magengrube. Erst am Ende der Fußreise im Café Salam beim marokkanischen Minztee und Gespräch mit den Schauspielern und mit Stadtteilbewohnern löst sich die Anspannung. An der Theke sehe ich den Polizisten vom Spielplatz – Zufall? Nein, es ist Dirk Sauerborn, Kontaktbeamter für interkulturelle Angelegenheiten. Bärbel Röben Anzeige Weitere Aufführungen des Theaterstücks in Düsseldorf gibt es am 9. und 12. September jeweils um 12.00 Uhr und am 16. und 17. September jeweils um 17.30 Uhr. www.engagement-global.de/theater UNHCR einen neuen Vorsitzenden: Der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh folgt auf den Kasseler Bischof Martin Hein. Die FEST zählt unter anderem zu den führenden deutschen Friedensforschungsinstituten in Deutschland. personalia Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Thomas Manz ist neuer Repräsentant der FES in Brasilien. Das Büro hat seinen Sitz in São Paulo. Bastian Schulz hat zum 1. Juli das regionale Gewerkschaftsprojekt Subsahara-Afrika mit Sitz in Johannesburg/Südafrika übernommen. Sein Vorgänger Gerd Botterweck ist in Ruhestand gegangen. FriEnt Michael Hippler vom katholischen Hilfswerk Misereor ist seit Mai Co-Vorsitzender des Lenkungsausschusses der Arbeitsgruppe Frieden und Entwicklung FriEnt. Er löst Wolfgang Heinrich von Brot für die Welt ab. Hippler leitet bei Misereor die Zentral- | 8-2015 stelle für Entwicklungshilfe. Für Brot für die Welt sitzt nun Julia Duchrow, die Referatsleiterin Menschenrechte und Frieden, im FriEnt-Lenkungsausschuss. Brot für die Welt / Misereor Alicia Kolmans von Misereor und Carolin Callenius von Brot für die Welt haben die beiden Hilfswerke verlassen und leiten seit Juli gemeinsam das Forschungszentrum für Globale Ernährungssicherung und Ökosystemforschung an der Universität Hohenheim. Kolmans und Callenius waren bereits bei Misereor und Brot für die Welt zuständig für Fragen der Ernährungssicherung. Der Vertreter des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) in Deutschland, Hans ten Feld, ist Ende Juni in den Ruhestand gegangen. Der niederländische Diplomat stand 35 Jahre in den Diensten der Vereinten Nationen, zunächst beim UN-Entwicklungsprogramm und dann in mehreren Ländern beim UNHCR. FEST Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg hat Schweiz Fastenopfer Die neue Fachverantwortliche Bildung und Theologie beim katholischen Hilfswerk Fastenopfer heißt Sonja Kaufmann. Neu in den Fastenopfer-Stiftungsrat gewählt wurde unter anderem Peter Niggli, bis Ende Juli Geschäftsleiter von Alliance Sud. 59 60 service filmkritik filmkritik Klimawandel als Schicksal Der Dokumentarfilm des Schweizer Regisseurs Matthias von Gunten schlägt einen weiten Bogen vom Norden Grönlands bis zu einem kleinen Inselstaat im Pazifik. Die Menschen in Thule und in Tuvalu bekommen die Folgen der globalen Erderwärmung besonders deutlich zu spüren. ThuleTuvalu Schweiz 2014, Regie und Drehbuch: Matthias von Gunten, 96 Minuten Kinostart: 13. August 2015 Der Inuit Rasmus lebt mit seiner Familie am nördlichsten bewohnten Ort der Erde. Das Eis vor Thule, erklärt er, sei in den 1990er Jahren noch zwei Meter dick gewesen – nun sind es nur noch 30 Zentimeter. Die Bucht sei früher bereits im Oktober zugefroren, zuletzt sei es erst im Januar soweit gewesen. Am Strand einer Tuvalu-Insel zeigt derweil der Fischer und Kanubauer Patrick, wie das steigende Meer Palmen unterspült, das Grundwasser versalzt und Gemüseäcker unfruchtbar macht, während der jährliche Regen ausbleibt und das Trinkwasser knapp wird. Der Film besticht durch seine klare Erzählstruktur. Er wechselt zwischen den beiden Schauplätzen, wobei die Montage manchmal so geschickt gestaltet ist, dass man den Ortswechsel kaum bemerkt. Etwa wenn Rasmus Jagdgerät im Meer säubert und nach dem Filmschnitt Patrick sein Fischernetz auswirft. So beschaulich die imposanten Naturaufnahmen aus dem hohen Norden und dem vorgeblichen Südseeparadies auch wirken, sie sind geprägt von der Ironie des Schicksals: Ausgerechnet die industriefernen Regionen leiden am stärksten unter den Langzeitfolgen der Industrialisierung. Von Gunten kommt ohne Off-Kommentar und Experten aus. Hintergrundinformationen liefern eingeblendete Schrifttafeln. Auf einer liest man, dass der Meeresspiegel weltweit um sieben Meter steigt, falls das gesamte Eis Grönlands schmelzen sollte. Die Eismassen, die bei Thule schwinden, tragen also maßgeblich dazu bei, dass Tuvalu früher oder später überspült wird. Der höchst Punkt der polynesischen Inselgruppe liegt nur vier Meter über dem Meer. In den vergangenen 20 Jahren ist das Wasser dort bereits um 19 Zentimeter gestiegen. Kein Wunder, dass sich viele Einwohner Sorgen machen. Wer es sich leisten kann, wandert nach Neuseeland aus – wie die Lehrerin Foini mit ihrer Familie. Doch was wird aus den ärmeren Bewohnern? Viele Gläubige hoffen auf Gottes Hilfe und verweisen auf das Bibelwort, laut dem nach der Sintflut keine zweite Flut mehr folgen soll. Der 71-jährige Vevea, der sechs Frauen und 21 Kinder hat, ist pragmatischer und fordert eine Evakuierung an einen sicheren Ort. Die Regierung des ebenfalls bedrohten Inselstaats Kiribati macht schon Nägel mit Köpfen: Sie hat beschlossen, das Territorium aufzugeben und die Einwohner umzusiedeln. Im direkten Vergleich trifft die Erderwärmung die Tuvalesen härter als die Grönländer. Die traditionellen Inuitjäger, die heute noch ihre Familien mit der Jagdbeute ernähren können, müssen vermutlich den Beruf wechseln. Rasmus etwa wird vielleicht Fischer, weil vor Nordgrönland nun mehr Fische als Robben und Narwale auftauchen. Sie können zumindest bleiben. Die polynesischen Inselbewohner dagegen können nicht mehr lange nachts mit der Lampe fliegende Fische fangen. Sie werden bald gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen. Auf sie warten dann in Neuseeland schlecht bezahlte Aushilfsjobs in Fastfood-Restaurants wie bei Foinis Kindern. Ihre traditionellen Riten und Gesänge vermissen diese Klimaflüchtlinge schon heute. Sie werden nicht die letzten sein: Weltweit leben rund 150 Millionen Menschen in Gebieten, die der steigende Meerespegel bedroht. Reinhard Kleber rezensionen Blick zurück im Schmerz Die brasilianische Autorin Beatriz Bracher beleuchtet in ihrem Roman die Folgen der Militärdiktatur (1964 bis 1985) für den Einzelnen und die Gesellschaft. Beatriz Bracher Die Verdächtigung Assoziation A, Berlin/Hamburg 2015, 169 Seiten, 18 Euro Den Pensionär Gustavo quälen die Erinnerungen und eine diffuse Vorstellung von Schuld. Er hat viel Zeit zur Reflexion und auch einen Anlass: Eine Schriftstellerin möchte ihn als Opfer der Diktatur interviewen, um an zeithistorisches Material zu gelangen. Das setzt Gustavo unter Druck. Wie soll er 30 Jahre nach dieser Zeit über individuelle und gesellschaftliche Traumata sprechen? Seine innere Auseinandersetzung vollzieht sich in einem langen Mo- nolog, der keine zeitlich lineare Abfolge kennt und breiten Raum bietet für Anspielungen, Zitate und fiktionale Texte anderer Romanfiguren. Angesichts seines Schicksals könnte sein Interviewbeitrag durchaus zum Lamento geraten: 1970 war er gefangen genommen und gefoltert worden. Seine Verfolger wollten Informationen über andere Untergrundkämpfer und Organisationsstrukturen. Dabei war Gustavo mehr Sympathisant als Aktivist, er hatte lediglich ein oder zwei untergetauchte Genossen versteckt. Noch während er im Foltergefängnis war, wurde sein Schwager, ein gewaltbereiter Kämpfer, von Soldaten ermordet. Seine Frau musste 8-2015 | rezensionen service Brasilien fluchtartig verlassen und starb im französischen Exil. Sein Vater erlitt einen Schlaganfall. Körperlich versehrt kam er frei und lebte fortan mit der Ahnung, dass alle anderen ihn als Verräter betrachten. Obwohl diese als „Kainsmal“ empfundene Verdächtigung im Monolog zunächst nur kurz aufblitzt, wird rasch klar, dass es sich um ein dauerhaftes Schuldgefühl handelt. Aus den oft weit ausholenden, dann wieder kursorisch-sprunghaften Erinnerungen lässt sich herauslesen, wie sehr es Gustavo in den folgenden Jahrzehnten beschäftigt. Hinzu kommen der Schmerz über den Zerfall der Familie, die Angst vor erneuter Verfolgung und die Vorsicht bei Meinungsäußerungen im beruflichen Umfeld. Später beobachtet er das fortwährende Leid bei anderen Personen, etwa bei einer Lehrerin, die in Panik gerät, als sie hört, wie eine Glühlampe zerbirst. Beatriz Bracher liefert einen Text mit vielschichtiger Struktur und häufig wechselnden Perspektiven. Neben Gustavos Gedanken tauchen Evaluierungen des Schulunterrichts auf, Fragmente des autobiographisch gefärbten Romans seines jüngeren Bruders, provokante Lyrik seines Neffen sowie Auszüge aus brasilianischer Literatur und journalistischen Texten, die sich mit Verfolgung und Gewalt befassen. Bemerkenswert sind die rasanten Wechsel: Eben noch sinniert der Romanheld über die Kindheitserinnerungen des Bruders, schon verspürt er aufgrund eines kleinen inhaltlichen Schwenks große seelische Not: „Und auf einmal bringt einer (…) alles zum Einstürzen, die Geschichte meines Zimmers und meine persönliche Geschichte, die gleichzeitig auch die Geschichte meiner Familie ist, die auf einmal ins Wanken gerät, weil sich dort in der Vergangenheit etwas verändert hat.“ Brasilien hat sich spät der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Militärdiktatur gestellt. Der vorliegende Roman zeigt eindrucksvoll, dass die individuelle Selbstvergewisserung, die schon viel länger abläuft, ein langwieriger und schmerzhafter Prozess ist. Thomas Völkner Update für Solidaritätsbewegte Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes fassen wichtige Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre in Zentralamerika zusammen. Sie schließen damit viele Informationslücken – über soziale Bewegungen jedoch erfährt man nur wenig. Ina Hilse, Kirstin Büttner (Hg.) Engagiert – resistent – bedroht Handlungsspielräume und Perspektiven sozialer Bewegungen in Mittelamerika Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015, 212 Seiten, 14,80 Euro | 8-2015 Die Regale mit Sachbüchern über Zentralamerika sind seit den 1990er Jahren ziemlich ausgedünnt. Nach der Überflutung des Marktes mit politischen Analysen und selbstverliebten Erlebnisberichten aus Nicaragua, El Salvador und Guatemala während der bewegten Dekade mit Revolutionen und Bürgerkriegen herrscht nun Ebbe. In Nicaragua wurden 1990 die Sandinisten abgewählt, und es begann ein politischer Roll-Back unter dem Vorzeichen des Marktliberalismus. El Salvador ist seit 1992 befriedet, Guatemala seit 1996. Honduras dient nicht mehr als Flugzeugträger der USA, auf dem konterrevolutionäre Truppen für den Krieg gegen Nicaragua ausgebildet wurden. Was ist seitdem passiert? Zwar schweigen die Kriegswaffen, doch El Salvador, Honduras und Guatemala gehören heute zu den Ländern mit dem höchsten Ausmaß von Gewalt. Jugendbanden, entstanden aus Kindern, die in kalifornischen Vorstädten aufgewachsen sind und mit ihren Eltern in die Heimat abgeschoben wurden, bekriegen einander und terrorisieren ihre Wohngegenden mit Schutzgelderpressung. Die aus Mexiko überschwappende Drogenkriminalität hat Institutionen und Gesellschaft durchsetzt. Gewalt gegen Frauen prägt den Alltag. Der vorliegende Sammelband richtet sich an jene, die mit der Region schon einmal zu tun hatten und ein Minimum an Vorkenntnissen mitbringen. Er fasst anschaulich und knapp die Ereignisse der vergangenen Jahre aus einer regime- und marktkritischen Perspektive zusammen: Eine Art „Update“ für ehemals Solidaritätsbewegte. Und das ist hilfreich. Gaby Küppers, Fachfrau der Grünen Fraktion im Europarlament für Lateinamerika und Handelspolitik, erklärt das Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika. Sie macht anschaulich, wer davon profitiert – nämlich Großkonzerne vor allem in Europa – und prophezeit, dass die Bauern und Kleinproduzenten die Verlierer des Freihandels sein werden. Dass die evangelikalen Kirchen, allen voran die Pfingstkirchen mit Mutterhäusern in den USA, Zentralamerika erobert haben, ist keine Neuigkeit. Aber der Theologe Michael Ramminger stellt nicht nur die unterschiedlichen Strömungen dar, sondern liefert auch Erklärungen, warum die katholische Kirche binnen weniger Jahrzehnte zwischen 30 und 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren hat und der konservative Protestantismus reiche Ernte hält. Belize und Panama gehören zwar geographisch, nicht aber historisch zu Zentralamerika. Belize war bis 1981 eine britische Kolonie, Panama bis 1903 eine Provinz von Kolumbien. Trotzdem werden auch diese beiden Länder gewürdigt, über die auch Lateinamerika-Kenner meistens wenig wissen. Ein kritisches Kapitel über die Auswirkungen des in den vergangenen Jahren sprunghaft gewachsenen Tourismus in der Region rundet den Rundumschlag ab. Das Buch schließt in vielerlei Hinsicht Lücken – doch den Anspruch, über die sozialen Bewegungen und deren Perspektiven in Zentralamerika zu informieren, löst es nur sehr beschränkt ein. Ralf Leonhard 61 62 service rezensionen Ohne Macht – und ohne Geld Syrien-Krieg, Nahost-Konflikt und Ebola: Angesichts zahlreicher globaler Krisen wäre eine funktionsfähige UNO wichtiger denn je. Der Genfer Journalist Andreas Zumach attestiert ihr einen bedauernswerten Zustand, sieht aber auch Auswege aus der Krise. Andreas Zumach Globales Chaos – machtlose UNO Ist die Weltorganisation überflüssig geworden? Rotpunktverlag, Zürich 2015, 264 Seiten, 22 Euro. Vor 70 Jahren wurden die Vereinten Nationen (UN) gegründet – die internationale Organisation soll den Frieden auf der Welt langfristig sichern. Doch allein die Katastrophen und Kriege des vergangenen Jahres haben deutlich gemacht, in welcher tiefen Krise sie steckt. Schon das Ende des Ost-West-Konfliktes hatte den UN nicht, wie erhofft, zu mehr Durchsetzungsvermögen verholfen. Vielmehr wurden ihre Charta und ihre völkerrechtlichen Errungenschaften nach 1990 weitaus häufiger und gravierender verletzt als in den Zeiten des Kalten Krieges. Diese Entwicklung beschreibt Andreas Zumach in seinem lesenswerten Buch. Als „Sündenfälle“ des Westens nennt er den Kosovokrieg der NATO sowie den Irakkrieg der USA und Großbritanniens. Russland habe 2008 in Georgien und durch die Annexion der Krim gegen die UNCharta verstoßen. Ferner hätten die USA nach dem 11. September 2001 mit ihrem Krieg gegen den Terror begonnen, völker- und menschenrechtliche Prinzipien auszuhöhlen. Dabei wird eine starke und handlungsfähige Weltorganisation heute mehr gebraucht denn je. Das zeigen die vielen Konflikte und globalen Anforderungen der vergangenen Jahre, bei denen die UN jedoch kaum mehr eine politische Rolle übernehmen. Sie scheinen oft überfordert, von den Mitgliedsstaaten ausgebremst oder blockiert. Zumach beschreibt diesen Eindruck mit Blick auf den Syrienkrieg, den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS), die Ukrainekrise, den Nahost-Konflikt und den Ausbruch von Ebola. Das Versagen der Weltorganisation ist aber nicht ihrer Inkompetenz zuzuschreiben, so Zumach. Die UN arbeiten so gut oder so schlecht, wie die Mitgliedsstaaten dies wünschen. Im Sicherheitsrat verhinderten „rivalisierende Interessen der Vetomächte“ häufig ein Eingreifen. Im Ukraine-Konflikt etwa griffen die UN nicht ein, so Zumach, weil dies von den Konfliktparteien nicht gewünscht wird – die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) solle sich darum kümmern. In anderen Fällen, etwa im Krieg gegen den IS, handelten die USA ohne UN-Mandat. Zudem sei die Weltorganisation hoffnungslos unterfinanziert, weil Mitgliedsstaaten ihre Beiträge zurückhalten, um Druck auszuüben. Ein Beispiel ist laut Zumach das Versagen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Fall Ebola: Die Mitgliedsstaaten seien dafür verantwortlich, dass die WHO seit Jahrzehnten unter Geldmangel leidet. So sei sie in immer größere finanzielle Abhängigkeit von Pharmakonzernen und Privatstiftungen geraten, die vor allem ihre eigenen Interessen verfolgen. Für Zumach liegt auf der Hand, wie das System verbessert werden kann: Mit Hilfe von Strukturreformen wie dem Verzicht auf das Vetorecht im Sicherheitsrat, durch eine zuverlässige Finanzierung und eine starke Koalition von Mitgliedsländern, die multilateral Reformvorschläge verfolgen und umsetzen, wenn die Blockierer im Sicherheitsrat nicht mitziehen. Einige Vorbilder dafür gibt es bereits: Zumach nennt die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, die Vereinbarung des Kyoto-Protokolls zum Klimaschutz sowie die Konventionen zur Kontrolle des konventionellen Waffenhandels, zum Verbot von Antipersonenminen und von Streumunition. Eine kleine Geschichte der UNO, eine Liste der bei den UN registrierten Hilfsorganisationen und ein Organigramm runden das Buch ab. Es ist unverzichtbares Nachschlagewerk für alle, die sich für das UN-System und dessen Rolle in der Friedenspolitik interessieren. Klaus Jetz Wie Frieden schaffen? Die deutschen Friedensforscher plädieren in ihrem diesjährigen Gutachten für mehr Konfliktprävention und den Aufbau der Zivilgesellschaft in gefährdeten Ländern. Ein Schwerpunkt liegt auf den Konflikten im Nahen Osten. Janet Kursawe u.a. (Hg.) Friedensgutachen 2015 Lit-Verlag, Münster 2015, 235 Seiten, 12,90 Euro Die Herausgeber des diesjährigen Friedensgutachtens begrüßen, dass Bundespräsident Joachim Gauck mit seinem Ruf nach mehr Verantwortung Deutschlands in der Welt den Raum für eine grundlegende Kursbestimmung der deutschen Außenpolitik geöffnet hat. Diese dürfe sich nicht auf „militärische Imperative“ beschränken, betonen sie. Es gehe vielmehr darum, Wege zu finden, „wie den aktuellen Konflikten friedenspolitisch verantwortungsvoll zu begegnen sei“. Die Herausgeber verstehen ihr Gutachten als Beitrag zu einer differenzierten Analyse der internationalen Lage – und so enthalten die 15 Beiträge nicht nur abstrakte Theorien, sondern auch praktische Ratschläge an die Politik. Der erste Teil des Gutachtens setzt sich mit grundlegenden friedenspolitischen Fragen auseinander. So untersuchen Matthias Dembinski und Thorsten Gromes den Nutzen humanitärer Interventionen: Können sie die Gewalt tatsächlich stoppen und was passiert, wenn die ausländischen Truppen 8-2015 | rezensionen service wieder abziehen? Die Autoren wollen mit ihrem Forschungsprojekt eine Entscheidungsgrundlage für humanitäre Auslandseinsätzen schaffen, denn bislang liegen dazu noch keine verlässlichen Daten vor. Markus Bayer, Felix Bethke und Daniel Lambach zeigen in ihrem Beitrag, dass weder gewaltsame Aufstände noch ausländische Militäreinsätze Diktaturen in demokratische Systeme verwandeln können. Sie plädieren für eine deutsche Außenpolitik, die präventiv handelt und auf den Aufbau der Zivilgesellschaft setzt. Für Prävention ist es im UkraineKonflikt bereits zu spät. Trotzdem dürfe Deutschland nicht militärisch auf die Krise reagieren, meint Wolfgang Zeller. Sein Vorschlag: Die Bundesregierung solle weiter an der Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens arbeiten und auf Kriegsrhetorik verzichten. Langfristig könne aber nur ein russischeuropäischer Dialog zu Sicherheitsfragen helfen, der beide Seiten ernst nimmt. Im zweiten Teil des Gutachtens analysieren die Autoren gegenwärtige Konfliktherde. Im Mittelpunkt steht der Nahe Osten, hier geht es insbesonde- re um den Islamischen Staat (IS), Kurdistan und den Israel-Palästina Konflikt. Besonders spannend sind die beiden Beiträge zum IS. Jochen Hippler gibt einen Einblick in das Innenleben der Gruppe. Er zeigt, dass sie längst mehr ist als eine Terrororganisation: Sie herrscht über ein Gebiet, in dem acht Millionen Menschen leben, regelt Justiz und Wirtschaft, und greift dabei auf das Know-how ehemaliger irakischer und syrischer Staatsangestellter zurück. Und Susanne Schröter geht der Frage nach, was junge Frauen aus dem Westen dazu bewegt, sich den männlichen Gotteskriegern anzuschließen. Die Beiträge des Buches sind nahezu durchgehend interessant und lesenswert. Das liegt vor allem daran, dass sie sich mit aktuellen und zum Teil noch weitgehend unerforschten Phänomenen und Problemen auseinandersetzen. Es fehlt allerdings ein roter Faden. Wie die einzelnen Themen miteinander zusammenhängen und ob sich die vielfältigen Anforderungen zu einer kohärenten Friedenspolitik zusammenfügen lassen, bleibt am Ende offen. Moritz Elliesen Weniger wäre mehr Der französische Ökomom Serge Latouche rechnet mit dem Wachstumswahn ab – unterhaltsam und einleuchtend. Praktische Vorschläge für Alternativen kommen leider zu kurz. Serge Latouche Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn Oekom Verlag, München 2015 201 Seiten, 14,95 Euro | 8-2015 Degrowth: Das ist kein neues Konzept. Schon in den 1970er Jahren dachte etwa der französische Sozialphilosoph André Gorz über den Wert der Arbeit nach, wie sie organisiert ist, was sie mit uns macht und ob man sie nicht anders aufteilen könnte. Wie wir anders arbeiten könnten, das ist ein Pfeiler der Überlegungen rund um Degrowth, das sich mit Wachstumsrücknahme übersetzen lässt. Einer der führenden Verfechter ist der ebenfalls aus Frankreich stammende Serge Latouche, emeritierter Wirtschaftsprofessor aus Paris. Worum genau geht es? Latouche macht sich die Mühe vorzurechnen, was allen Menschen bewusst sein sollte, die bei klarem Verstand sind, was die meisten aber, vor allem in den Industrieländern, ignorieren: Die Ressourcen des Planeten Erde sind endlich, aber die Menschen verbrauchen sie weiter in rasantem Tempo und tun so, als könne das so bleiben. Autos, Fernreisen, Kleidung, Fleisch: Man arbeitet hart und belohnt sich dafür mit Konsum. Soll es das gewesen sein? Aus dieser Sackgasse will Latouche die Leserinnen und Leser führen, und das tut er unterhaltsam und bissig auf knappem Raum. Mit prägnanten Verweisen auf vorrangig französische und italienische Denker skizziert das Buch, worum es geht: Dass sich „im Norden wie im Süden autonome, sparsame, solidarische Gesellschaften“ entwickeln. Dass lokale Produktion dominiert und nicht die Haltung der Konsu- menten, alles zu jeder Zeit haben zu können. Dass die Alleinherrschaft der Autoindustrie gebrochen wird. Dass Bürgersinn ein wichtigerer gesellschaftlicher Wert wird als Wettbewerb – um nur einige Punkte zu nennen, die mal sachlich, mal mit polemischen Spitzen und auch vereinzelt unsachlich vorgetragen werden. Was soll dieser vom Verlag mit einigen Jahren Verspätung aus dem französischen übertragene Essay für eine bessere Welt erreichen? Wer nur ein wenig darüber nachdenkt, muss schon sagen: Serge Latouche hat nach wie vor Recht! Alle bisherigen, halbherzigen politischen Projekte einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise genügen nicht, der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist zum skandalösen Gummiwort verkommen. Keine Regierung in Deutschland ist bisher bereit, den Wählerinnen und Wählern wirklich einmal etwas zuzumuten, was nur im Entferntesten nach Verzicht aussehen könnte. Denn die zucken schon zusammen, wenn ein fleischfreier Tag pro Woche in Kantinen vorgeschlagen wird. Düstere Aussichten. Deshalb sollte das Konzept des „Degrowth“ in Schulen zum Pflichtthema werden, nicht nur ein kleiner Kreis, sondern alle sollten darüber nachdenken, wie sie leben wollen und wie das gutgehen soll. Leider mangelt es in Latouches Buch an derlei praktischen Vorschlägen, wie Wachstumsrücknahme machbar ist. Das Fazit gerät zum intellektuellen Sahnehäubchen, statt noch einmal konkreter zu werden, Optionen aufzuzeigen anhand von Projekten, und Ansätzen, die motivieren. Zum Einstieg ins Thema lässt sich das Buch dennoch empfehlen, mit kleinen Abstrichen. Felix Ehring 63 64 service rezensionen kurzrezensionen Indonesiens schweres Erbe Vor 50 Jahren, im Oktober 1965, begann in Indonesien ein grausames Massaker. Die indonesische Armee verübte einen Massenmord an Kommunisten und deren Sympathisanten, Hunderttausende Menschen kamen ums Leben. Viele Überlebende saßen Jahre im Gefängnis, oft ohne Gerichtsverfahren. Vorangegangen war ein Putschversuch der soge- nannten „Bewegung 30. September“, für den die kommunistische Partei mitverantwortlich gemacht wurde. An der Spitze der Armee stand damals General Haji Mohamed Suharto, der das Land später von 1967 bis 1998 auf der Grundlage einer neoliberalen „Neuen Ordnung“ mit harter Hand regierte und im Westen hohes Ansehen genoss. In Indonesien sind Historiker, Aktivisten und Künstler seit etwa 15 Jahren damit beschäftigt, die blutige Vergangenheit auf- Anzeige Testen Sie das Philosophie Magazin! 3 Ausgaben, digitale Ausgaben kostenlos, jedes Heft mit 16-seitigem Klassiker-Booklet + + Jetzt das Probeabo bestellen: >>> telefonisch unter +49(0)40 / 41 448 463 >>> online auf www.philomag.de/abo zuarbeiten. Die deutsche Journalistin Anett Keller, die lange in Indonesien gelebt hat, hat deren Analysen und Initiativen in einem politisches Lesebuch zusammengetragen. Zu Wort kommen ausschließlich indonesische Autorinnen und Autoren. Protokolle von Opfern machen klar, welches Leid die Massaker über die Menschen gebracht haben und welche Spuren sie in der Gesellschaft und in den Seelen der Einzelnen bis heute hinterlassen haben. Stellvertretend sei die Tänzerin Darmi zitiert, die mit einem Kommunisten verheiratet war und nach der Ermordung ihres Mannes unzählige Erniedrigungen erdulden musste: „Aus mir ist eine leere Hülle geworden. Das ist die Last, die ich tragen muss, bis zu meinem letzten Atemzug.“ Über dieses dunkle Kapitel der indonesischen Vergangenheit ist im Ausland wenig bekannt; das ändert sich erst langsam, unter anderem dank der Filme des Regisseurs Joshua Oppenheimer: „The Act of Killing“(2013) und „The Look of Silence“, der im Oktober in die deutschen Kinos kommt. Kellers Lesebuch verschafft Zugang zu den Ereignissen von 1965 und ihren Folgen auf unterschiedlichen Ebenen und hilft damit, eine Wissenslücke zu schließen. (gka) Anett Keller (Hg.) Indonesien 1965 ff. Die Gegenwart eines Massenmordes Regiospectra Verlag, Berlin 2015, 214 Seiten, 19,90 Euro Wie werden wir zukunftsfähig? Die internationale Gemeinschaft will im September neue Nachhaltigkeitsziele verabschieden und damit einen neuen Orientierungsrahmen für die Entwicklungspolitik bis 2030 setzen. Die Ziele sollen, anders als ihre Vorgänger, die Millenniumsentwicklungsziele, für alle Länder gelten – arme wie reiche gleichermaßen. Auch die Deutschen müssen sich also überlegen, wie sie diese Ziele auf nationaler Ebene erreichen können. Über das „zukunftsfähige Deutschland“ haben sich Umweltund Entwicklungsorganisationen bereits unter anderem mit zwei Studien gleichnamigen Titels Gedanken gemacht. Darauf greift der vorliegende Sammelband zurück, mit dem die Herausgeber Jörg Hübner und Günter Renz von der Evangelischen Akademie Bad Boll die gesellschaftliche Debatte beflügeln wollen. Darin werden zunächst noch einmal die Entstehung und die Wirkung der beiden Studien rekapituliert; es folgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem ihnen zugrundeliegenden Modell für eine Transformation zu einer „öko-fairen“ Gesellschaft. Diese sei keineswegs ein linearer und politisch gestaltbarer rationaler Prozess, warnt der Soziologe KarlWerner Brand. Sie weise vielmehr in vieler Hinsicht eine „chaotische Entwicklungsdynamik“ auf. Gerechtere Verhältnisse müssten erkämpft werden, und ließen sich immer nur zeitweise „in einer prekären Balance von Machtverhältnissen, kulturellen Lebensverhältnissen und politischen Ordnungsmodellen stabilisieren“. Ferner geht es um die oft beklagte, aber nicht weniger wichtige Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Handeln sowie um einzelne Aspekte der Nachhaltigkeit etwa in der Mobilität, der Ernährung und der Bodennutzung. Die einzelnen Beiträge sind zuvor bereits zum Teil in anderen Publikationen erschienen. Doch dieser Band liefert eine gelungene Mischung aus grundsätzlichen Überlegungen und konkreten Handlungsfeldern. (gka) Jörg Hübner, Günter Renz (Hg.) Gut – besser – zukunftsfähig Nachhaltigkeit und Transformation als gesellschaftliche Herausforderung Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2015, 156 Seiten, 19,99 Euro 8-2015 | termine service termine – veranstaltungen Ammersbek 18. bis 20. September 2015 Den Fokus verschieben Neue Ansätze in der Bildungsarbeit zu Afrika Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst Bildungsstelle Nord Kontakt: Tel. 040-6052559 www.brot-fuer-die-welt.de Bad Boll 2. bis 5. September 2015 Die Jesuitenmission und die erste große Begegnung mit China Philosophische Sommerakademie Evangelische Akademie Bad Boll Kontakt: Tel. 07164-790 www.ev-akademie-boll.de Hamburg 31. August bis 4. September 2015 Sehnsucht nach Gemeinschaft Glück und Genossenschaften Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg Kontakt: Tel. 040-3895270 www.umdenken-boell.de Kochel am See 18. bis 20. September 2015 Frauennetzwerke für den Frieden – engagiert, aber ignoriert? Zur Geschichte und Zukunft einer Bewegung 25. bis 27. September 2015 Unser ferner Nachbar? Akteure und Krisenherde in der Sicherheitspolitik in Afrika Georg-von-Vollmar-Akademie Kontakt: Tel. 08851-780 www.vollmar-akademie.de Leipzig 15. bis 20. September 2015 Wirtschaft anders machen Sommerwerkstatt Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen Kontakt: Tel. 0351-4943311 www.weiterdenken.de Schmitten 11. bis 12. September 2015 Noch eben kurz die Welt retten? Führungsverantwortung in einer Welt im Wandel Evangelische Akademie Arnoldshain Kontakt: Tel. 069-17415260 www.evangelische-akademie.de Speyer 16. bis 18. September 2015 Jahrestagung der Gesellschaft für Evaluation Evaluation und Wissensgesellschaft Kontakt: Tel. 06131-3926869 www.degeval.de Wittenberg 30. bis 31. August 2015 Reformation und Israel Versuche einer protestantischisraelischen Annäherung Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt Kontakt: Tel. 03491-49880 www.ev-akademie-wittenberg.de Würzburg 31. August bis 3. September 2015 Zivile Konfliktbearbeitung im Transcend-Verfahren nach Johan Galtung Akademie Frankenwarte Kontakt: Tel. 0931-804640 www.frankenwarte.de Impressum www.welt-sichten.org Redaktion: Bernd Ludermann (bl, verantw.), Tillmann Elliesen (ell), Gesine Kauffmann (gka), Hanna Pütz (hap, Volontärin), Sebastian Drescher (sdr, online) Emil-von-Behring-Straße 3, 60439 Frankfurt/Main; Postfach/POB 50 05 50, 60394 Frankfurt/Main Telefon: 069-580 98 138; Telefax: 069-580 98 162 E-Mail: [email protected] Ständig Mitarbeitende: Kathrin Ammann (kam), Bern; Katja Dorothea Buck (kb), Tübingen; Heimo Claasen (hc), Brüssel; Ralf Leonhard (rld), Wien; Claudia Mende (cm), München; Theodora Peter (tp), Bern; Rebecca Vermot (ver), Bern; Marina Zapf (maz), Berlin Ansprechpartner in Österreich: Gottfried Mernyi, Kindernothilfe Österreich, 1010 Wien, Dorotheergasse 18 Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt/Engagement Global gGmbH. 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August 08:50-10:20, ARTE Abgekartet – Welthandel auf hoher See Weltweit verkehren 53.000 Handelsschiffe auf den internationalen Wasserwegen. Sie befördern insgesamt acht Milliarden Tonnen Güter pro Jahr und damit 90 Prozent des Welthandelsvolumens. Wer kontrolliert das und wer profitiert davon? radio-tipps Montag, 17. August 08:30-08:58, SWR2 Slum-City Favela-Bewohner aus Brasilien, der amerikanische Stadtforscher Mike Davis und Architekten aus Afrika und Indien erzählen von ihren Versuchen, Slums in traditionelle Städte zu integrieren. Dienstag, 25. August 19:30-20:00, Deutschlandradio Kultur Feature: Tank, Trog, Teller Die Zukunft der Bioenergie Weitere TV- und Hörfunk-Tipps unter www.welt-sichten.org 65 66 service termine termine – kulturtipps Digital und global: Kunst für alle Sinne Wenn Wolken durchs Museum schweben – das Karlsruher ZKM hat sich ein 300-Tage-Kulturproramm vorgenommen. ZKM Vor 300 Jahren legte der Markgraf von Baden-Durlach, Karl Wilhelm, den Grundstein für seine neue Residenz – die heutige Großstadt Karlsruhe. Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) beteiligt sich am Stadtjubiläum Görlitz mit dem großangelegten Kunstereignis „Globale“, das die kulturellen Effekte von Globalisierung und Digitalisierung aufgreift. Insgesamt 300 Tage lang werden Installationen, Kunstwerke an der Schnittstelle zur Naturwissen- Hamburg schaft, Performances im Stadtzentrum, Konzerte, Kabarett, Vorträge und Konferenzen geboten. Zu den Highlights in diesem Sommer zählen die echte Wolke, die der japanische Architekt Tetsuo Kondo im Museum des ZKM aufsteigen lässt, sowie das entwurzelte Haus des argentinischen Künstlers Leandro Erlich, das an den Stahlseilen eines Krans über dem Marktplatz schwebt. Der Kölner Aktionskünstler und Umweltaktivist HA Schult beteiligt sich mit einer Rallye, bei der er die Themen Luftverschmutzung und Wasserknapp- Nürnberg heit in den Mittelpunkt stellt. Er reist mit einem elektrisch betriebenen Auto von Paris nach Peking und will unterwegs aus Flüssen und Seen Wasser entnehmen. Daraus sollen biokinetische Bilder entstehen – die Besucher des ZKM können bis Ende September die Ergebnisse begutachten. Den Abschluss der „Globale“ bildet im April 2016 das Symposium „Next Society“, das sich kritisch mit dem Zustand der Erde auseinandersetzt und die Frage aufwirft, wie die Weltbevölkerung künftig leben will. Karlsruhe bis 17. April 2016 Zentrum für Kunst und Medientechnologie Kontakt: Tel. 0721-81000 www.zkm.de Schweiz bis 3. Januar 2016 Kaffee. Ein globaler Erfolg Kaffee ist das beliebteste Getränk der Deutschen. Jede und jeder Einzelne trinkt durchschnittlich 165 Liter im Jahr. Bis die Kaffeebohne als fertiges Heißgetränk in der Tasse landet, legt sie einen weiten Weg zurück. Die Ausstellung widmet sich den verschiedenen Facetten dieses Produktionsweges. An zehn Länderstationen werden die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Folgen des Kaffeeanbaus gezeigt. Auf einem „Kaffeepfad“ können verschiedene Pflanzen begutachtet werden. Ebenso vielfältig wie die Produktion ist der Genuss von Kaffee. Auch das will die Ausstellung den Besucherinnen und Besuchern näher bringen – unter anderem können an sechs epochentypischen Kaffeetischen verschiedene Formen der Zubereitung und Trink-Zeremonien nachvollzogen werden. bis 20. September 2015 When we share more than ever Die Ausstellung widmet sich dem Sammeln und Nutzen von Fotografien. Sie will zeigen, wie der Austausch digitaler Fotos an die Geschichte des analogen Knipsens anknüpft. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts dient die Fotografie dazu, visuelle Eindrücke festzuhalten zu kommunizieren. Portale wie Facebook und professionelle Bilddatenbanken lösen andere Formen der Archivierung dabei nur ab. Die Schau zeigt mehr als 200 historische Werke aus der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe und stellt ihnen zwölf zeitgenössische Positionen gegenüber. Die Künstlerinnen und Künstler reflektieren in ihren Arbeiten den Gebrauch der digitalen Fotografie und die Mechanismen neuer Medien. Zusätzlich beschäftigen sie sich mit dem Internet als neuem Bildarchiv. bis Juni 2016 Museo Mundial Das Naturhistorische Museum zeigt zehn interaktive Installationen zu Themen wie Sklaverei, Überfischung und Textilproduktion, die aus dem entwicklungspolitischen Projekt zum Globalen Lernen „Museo Mundial“ hervorgegangen sind. So klärt ein „interaktiver Kleiderschrank“ über die Arbeitsverhältnisse in der globalen Textilproduktion auf. Das „Jeans-Puzzle“ macht deutlich, wer wie viel an dem beliebten Kleidungsstück verdient. Ein Fotobuch zeigt die oft prekären Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie in Asien. Ein „Schilderwald“ setzt sich mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit auseinander, hier werden unter anderem Plakate von weltweiten Demonstrationen für die Rechte der Frauen gezeigt. Das Museum als Lernort: Es will zum Nach- und Umdenken anregen. bis 18. Oktober 2015 Steve McCurry – Fotografien aus dem Orient Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, schmuggelte der Fotograf Steve McCurry, verkleidet als Mudschahed, die ersten Bilder aus dem besetzten Land. Einige Jahre später entstand in einem pakistanischen Flüchtlingslager das Bild von einem afghanischen Mädchen mit grünen Augen – diese Aufnahme machte ihn weltweit berühmt. Seitdem ist McCurrys Faszination für Asien ungebrochen, besonders interessieren ihn der öffentliche Raum und die Verschmelzung des Alltags mit dem religiösen Leben. Seine Fotos erzählen Geschichten von verschwindenden Kulturen und den Folgen der Globalisierung. Die Schau zeigt viele bislang unveröffentlichte Werke. Senckenberg Museum für Naturkunde Kontakt: Tel. 03581-4760-5220 www.senckenberg.de Museum für Kunst und Gewerbe Kontakt: Tel. 040-428134-880 www.mkg-hamburg.de Naturhistorisches Museum Kontakt: Tel. 0711-932768-64 www.finep.org Museum für Gestaltung Kontakt: Tel. 0041-43-446-67-67 www.museum-gestaltung.ch Zürich 8-2015 | Verschenken Sie Es lohnt sich! | 7,80 sFr ichten www.welt-s Unser Dankeschön: juli 7-2015 5,50 € .org kungeln! irtschaft at Privatw den Sta ht mit der izen zerreißen Armen erke: Nic : Mil Leid der JeMeN Hil fsw hlässigtes nac Ver : iON eN 5,50 € | 7,80 DePress sFr www.welt-sichte Maga zin für ick le en tw glo ba uM un d ök lun g en ische zu saM Mena rbe n.org it 8-2015 augu st Kin der arb eit: Maulkorb für die Kind energie: er selbst Siegeszug enZ YKL iKa: von Wind Der Papst und Sonn geißelt den Wachstumsw e ahn Mag azin für glo bale ent wicklu ng und öku Men isch e zus aMM ena rbei t eden Den fri , fördernen krieg nicht d d em o kr sachlich kritisch gründlich . Sie machen mit einem -Abonnement jemandem eine Freude – wir bedanken uns dafür mit einem Buch. Sie haben die Wahl: Lesen Sie den preisgekrönten Roman „Hinter dem Paradies“ aus Ägypten oder den Geschichtenzyklus „Das schlafwandelnde Land“ aus Mosambik, in dem sich ein Junge und ein alter Mann in einem ausgebrannten Autobus aus ihrem Leben erzählen. at die besser ie e Wahl Im nächsten Heft Das projekt Entwicklung Viele kluge Köpfe suchen neue, nachhaltige Entwicklungsmodelle. Doch woher stammt das Projekt „Entwicklung“ und was macht es so erfolgreich? Wird aus Sicht zweier Inder der technische Fortschritt die Umweltprobleme lösen oder muss sich auch Asien vom unbegrenzten Konsum verabschieden? Wo finden sich Ansätze einer Gemeinwohl-Ökonomie? flüchtlinge Sie schenken Denkanstöße: analysiert, hinterfragt, erklärt und macht neugierig. Die Zeitschrift bietet Reportagen, Interviews und Berichte über die Länder des Südens und globale Fragen. Jeden Monat direkt ins Haus. Afrikanische Schlepper werden gern für illegale Zuwanderung nach Südeuropa verantwortlich gemacht. Doch auch die italienische Mafia verdient daran gut. Mia Couto Das schlafwandelnde Land Unionsverlag, 2014 239 Seiten Mansura Eseddin Hinter dem Paradies Unionsverlag, 2014 185 Seiten Ihre Bestellmöglichkeiten: Ich bezahle das Geschenkabonnement. Telefon: 069/58098-138 Fax: 069/58098-162 E-Mail: [email protected] Post: Einfach den Coupon ausfüllen und abschicken an: Redaktion „welt-sichten“ Postfach 50 05 50 60394 Frankfurt/Main Ausgabe 10-2015 Bitte schicken Sie die Zeitschrift an: Name, Vorname StraSSe, Hausnummer Postleitzahl, Ort „Das schlafwandelnde Land“ von Mia Couto „Hinter dem Paradies“ von Mansura Eseddin An diese Adresse erhalte ich meine Buchprämie und die Rechnung: Name, Vorname Ja, ich verschenke ein Jahresabonnement von (12 Ausgaben). Es beginnt mit Ausgabe 9-2015 Es kostet 49,20 Euro inklusive Porto in Deutschland, 62,40 Euro in Europa. 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