Burnout: Der lange Weg zurück ins Leben

AUSGABE 02/2015
perspektiven
MAGAZIN FÜR BILDUNG UND GESUNDHEIT
Burnout:
Der lange Weg zurück
ins Leben
MENSCHEN
BILDUNG
GESUNDHEIT
Ankommen – und dann?
Harmonien für schwere Jungs
3-D im OP
Valluvan Selvarajah kam als Flüchtlingskind
aus Sri Lanka.
Musiktherapie hilft straffälligen Jugendlichen
und Erwachsenen.
Ein neues Verfahren macht Eingriffe
schonender.
Liebe Leserin, lieber Leser,
diese Ausgabe dreht sich gleich in mehreren Beiträgen um das Thema Achtsamkeit. Wie viel Zeit
nehmen wir uns für uns selbst? Wie viel Aufmerksamkeit widmen wir unseren psychischen wie
physischen Bedürfnissen? Oftmals viel zu wenig,
wie unsere Titelgeschichte zum Thema Burnout
zeigt. Mehrere SRH Einrichtungen begleiten Menschen auf ihrem mitunter langen Weg zurück in
ein normales Leben und zu einer entspannteren
Selbstwahrnehmung.
Achtsamer mit sich umzugehen, musste
auch eine Alkoholabhängige lernen, die wir auf
Seite 8 porträtieren. Heute hat sie ihre Sucht besiegt
und macht anderen mit ihrer Geschichte Mut.
Ein wunderbares Mittel, sich mit sich selbst und
mit der Außenwelt auseinanderzusetzen, ist Musik.
Deshalb setzen Experten zunehmend auf Musiktherapie, um mit straffällig gewordenen Jugendlichen und Erwachsenen zu arbeiten. Wie das geht,
lesen Sie auf Seite 14.
Modernste Medizin stellen wir Ihnen in dieser Ausgabe ab Seite 20 vor: Die Urologen am SRH
Zentralklinikum Suhl zählen zu den ersten, die bei
Operationen auf 3-D-Technik setzen. Und das SRH
Wald-Klinikum in Gera arbeitet bei der Behandlung
von Krebs erfolgreich mit einer innovativen Immuntherapie, bei der die körpereigene Abwehr auf den
Krebs angesetzt wird.
Eine spannende Lektüre wünscht
Ihr
Christof Hettich
Hamburg
SRH im Überblick
Die SRH ist ein führender Anbieter von Bildungs- und GesundheitsBerlin
dienstleistungen. Sie betreibt private Hochschulen, Bildungszentren,
Hannover
Schulen und Krankenhäuser. Mit 11.000 Mitarbeitern betreut die
Magdeburg
SRH 700.000 Bildungskunden und Patienten im Jahr und erwirtschaftet einen Umsatz von 800 Mio. Euro. Der Unternehmensverbund
mit Sitz in Heidelberg. Ziel der SRH ist es, die Lebensqualität und
die Lebenschancen ihrer Kunden zu verbessern.
Cottbus
Hamm
steht im Eigentum der SRH Holding, einer gemeinnützigen Stiftung
Leipzig
Kassel
Düsseldorf
Leverkusen
Köln
Kluge Köpfe, die etwas bewegen möchten, finden im Karriere­center
Bad Hersfeld
Bonn
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Wetzlar
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Friedrichroda
Gera
Schmalkalden
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Zeulenroda
Zella-Mehlis
Suhl
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Schmölln
Greiz
neue Perspektiven: www.srh.de/karriere.
Frankfurt
Bensheim
Trier
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Mannheim/Ludwigshafen
Kaiserslautern
Schwetzingen
Saarbrücken Wiesloch
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Studienzentren
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Fachschulen
Mörlenbach
Heidelberg
Neckargemünd
Karlsruhe
Berufliche Rehabilitationszentren
Bad Wimpfen
Heilbronn
Ellwangen
Karlsbad
Stuttgart
Calw
Kliniken
Medizinische Versorgungszentren
Offenburg
Paraguay
Freiburg
Asunción
2
Neresheim
Sigmaringen
Pfullendorf
Oberndorf a. N.
Riedlingen
Lörrach-Zell
Bad Säckingen
Friedrichshafen
Bad Saulgau
München
Inhalt
MENSCHEN
Ankommen – und dann?
Nicht selten kommen Kinder und Jugendliche als Flüchtlinge ganz alleine
in Europa an. Valluvan Selvarajah weiß, wie sich das anfühlt.
Fest auf einem Bein
Eine Unterschenkelamputation hielt Wojtek Czyz nur kurz auf. Als Fürsprecher für
Menschen mit Behinderung umsegelt der Paralympics-Sieger nun die Welt.
Siegerin geblieben
Jessica Friedrich hat ihre Alkoholabhängigkeit überwunden.
Mit ihrer Geschichte macht sie heute anderen Suchtkranken Mut.
4
6
8
4
BILDUNG
Außer Betrieb
Burnout galt lange Zeit als Modekrankheit. Doch für wirklich Betroffene ist ein
Burnout alles andere als trendy.
Harmonien für schwere Jungs
Strafgefangene trommeln Rhythmen, Gewalttäter singen gemeinsam. Um Häftlinge
auf die Freiheit vorzubereiten, wird zunehmend Musiktherapie eingesetzt.
Nachrichten
Kurse für wissbegierigen Nachwuchs / Einer der ersten Bachelor-Absolventen wird
Professor / Bestnoten für Studium an der Gesundheitshochschule in Gera
Bereicherung statt bloße Quote
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Viele Unternehmen zögern, Menschen mit Handicap zu beschäftigen. Dabei können
alle davon profitieren – wie es Judith Schüttler und Osman Karcier vormachen.
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GESUNDHEIT
3-D im OP
3-D-Technik kennen die meisten Menschen vor allem aus dem Kino.
Am SRH Zentralklinikum Suhl wird damit erfolgreich operiert.
Mund auf gegen Blutkrebs
Viele Menschen, die an Blutkrebs erkranken, sind auf eine Stammzellspende
angewiesen. Typisierungen helfen, passende Spender zu finden.
Körperpolizei stoppt Krebszellen
Die Immuntherapie macht stark von sich reden. Medikamente machen das
Immunsystem so flott, dass es gegen Krebszellen vorgeht.
Nachrichten
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Schonendes Verfahren für Kinder mit Skoliose / Bessere medizinische Versorgung
im Landkreis Sigmaringen / Herzhose lässt natürliche Bypässe wachsen.
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Menschen
Eine neue Heimat finden
Ankommen –
und dann?
Krisenherde auf der ganzen Welt
zwingen Familien zur Flucht und
entwurzeln sie. Nicht selten kommen
Kinder und Jugendliche ganz alleine
in Europa an. Valluvan Selvarajah
weiß, wie sich das anfühlt.
Von Iki Kühn
Valluvan Selvarajah war gerade einmal zehn Jahre alt, als
er schwer verletzt und mutterseelenallein aus Sri Lanka
nach Deutschland kam. Der heute 23-Jährige beendet in
Kürze seine Ausbildung zum Systeminformatiker, hat eine
Zwei-Zimmer-Wohnung und genießt seine Selbstständigkeit. Ein langer Weg. Zum Happy End? Leider noch nicht.
Die deutsche Bürokratie macht es weiter spannend.
Rückblende: Sri Lanka ist eine grüne Insel im In­
dischen Ozean mit üppiger Vegetation – und einem Bürgerkrieg, der mehr als 20 Jahre lang tobt. Bis 2008 bekämpften sich die im Norden ansässigen Tamilen und die
Singhalesen, die im Land die Mehrheit haben. Valluvan
Selvarajah lebte mit seinen Eltern und drei älteren Geschwistern in der Stadt Nedunkeni, die stark umkämpft
war. Seine Kindheit endet in einer Nacht 1999. Da ist er
sieben Jahre alt. Ein Angriff tötet seine Eltern und zwei
Brüder. Nur Schwester Rajitha, die zu dieser Zeit bei der
Großmutter ist, überlebt. Er selbst wacht erst Wochen
später aus dem Koma auf und kann sich nicht mehr bewegen.
Es folgen Jahre mit monatelangen Klinikaufenthalten, in denen sich Oma und Schwester um ihn kümmern.
Doch die medizinische Versorgung stößt während des
Bür­gerkrieges an Grenzen. Der schmächtige Körper des
mittlerweile Zehnjährigen ist lebensbedrohlich wund gelegen, Entzündungen und Fäulnis quälen ihn. Die Ärzte geben ihm nur noch wenige Wochen zu leben. 2002 wird er
schließlich über ein humanitäres Programm nach Deutschland ausgeflogen und in Ludwigsburg medizinisch notversorgt. „Es gab keine Alternative“, erinnert sich Valluvan
4
Selvarajah und reibt sich etwas unbehaglich das Kinn. Der
junge Mann macht nicht gerne viel Aufhebens um seine
Vergangenheit. Während sich die meisten Altersgenossen
in Deutschland lediglich Gedanken darum machen müssen, wann genau Mama und Papa mit Teddy, Süßigkeiten
und jeder Menge Trost am Krankenbett anrücken, bleibt
der kleine Valluvan allein mit seinen Sorgen rund um eine
ungewisse Zukunft. „Die meisten jungen Flüchtlinge kommen völlig traumatisiert an“, erklärt Karl-Heinz Fenselau,
Leiter der Jugendhilfe am Berufsbildungswerk Neckar­
gemünd, wo man sich um junge, unbegleitete Flüchtlinge
kümmert. „Ihre Erlebnisse müssen aufgearbeitet werden,
und das stellt sich in einem Land, das sich mit solchen
Themen bislang – zumindest in so einem Umfang – noch
nicht beschäftigt hat, als eine Herausforderung dar.“
Valluvan Selvarajah am
SRH Berufsbildungswerk in
Neckargemünd, wo er eine
Ausbildung zum System­­
informatiker absolviert.
Die Odyssee geht weiter
Es folgen neun Monate Klinikaufenthalt in Heidelberg und
eine ganze Reihe von Operationen. Für ein Kind eigentlich
perspektiven 02/2015
eine Katastrophe. „Für mich war das die schönste Zeit
meines Lebens“, erklärt Valluvan Selvarajah. Denn ein gut
eingespieltes Team aus Ärzten, Schwestern und Psychologen begleitet ihn. Er fasst Vertrauen. Mit einigen hält er
noch heute Kontakt. Doch dann heißt es wieder Aufbruch
– von nun an im Rollstuhl, denn der Junge bleibt von der
Hüfte abwärts gelähmt. Er ist mittlerweile elf Jahre alt und
muss sich erneut alleine zurechtfinden. Das Internat in
Markgröningen, auf das ihn die Sozialbehörden schicken,
ist auf Jugendliche, die eine sonderpädagogische Betreuung benötigen, ausgerichtet. Nicht ganz die richtige Wahl
für den aufgeweckten Jungen. „Eine dichtere Betreuung
der Kinder ist absolut notwendig, um solche Umwege zu
vermeiden“, fordert der junge Mann.
Daheim – und doch nicht zu Hause
Ein Jahr später geht seine Reise weiter in eine Pflegefamilie nach Schwäbisch Hall. Die Familie bemüht sich für den
offiziell Staatenlosen um die deutsche Staatsbürgerschaft,
doch sie merkt schnell: Das wird eine längere Geschichte.
Zuständigkeiten, Beglaubigungen, Übersetzungen – all
das braucht Zeit. Seine Freizeit verbringt der junge Tamile
derweil meist in der Stadtbücherei und liest, denn „in einer Stadt wie Schwäbisch Hall sind die Möglichkeiten im
Rollstuhl sehr begrenzt“, erklärt er. Naturwissenschaften
und Technik begeistern ihn, „und vor allem Bionik“, ergänzt er. Den Realschulabschluss in der Tasche, würde er
für ein Studium noch die Fachhochschulreife benötigen.
Ein engagierter Berufsberater macht ihn auf die Möglichkeit aufmerksam, dass sich Fachhochschulreife und Ausbildung zusammen absolvieren lassen. Das will der 18Jährige probieren. 2009 kommt Valluvan Selvarajah mit
Sack und Pack in Neckargemünd an, wo er sich mittlerweile mehr daheim fühlt als in seiner Pflegefamilie.
Am  SRH Berufsbildungswerk Neckargemünd
absolviert der junge Mann zwei Jahre seiner Ausbildung
zum Systeminformatiker erfolgreich. Dann erzwingen
massive Rückenprobleme eine Auszeit. Eine komplizierte
Operation, und ein halbes Jahr später nimmt er schrittweise seine Ausbildung wieder auf. Weil es ihm noch an der
nötigen Energie dafür fehlt, gibt er sein Ziel Fachhochschulreife schweren Herzens erst einmal auf. Zunächst soll
im September die Ausbildung fertig werden.
Auf seinen Unterarm hat sich Valluvan Selvarajah
einen Kranich tätowieren lassen, der reich ornamentiert
bis hinauf zu den Schultern reicht, wo sich ein Koi-Karp­
fen anschließt: Symbole für Glück und Freiheit, erklärt er.
Die kann er weiterhin brauchen – für den richtigen Job
und die Sache mit der Staatsbürgerschaft. Der ist er in den
vielen Jahren nicht näher gekommen. Auch mühsam beschaffte Dokumente direkt aus Sri Lanka konnten nicht
entscheidend dazu beitragen, dass aus der unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis die deutsche Staatsbürgerschaft
wurde. „Es muss möglich sein, die bürokratischen Prozesse zu beschleunigen, um Kindern und Jugendlichen eine
stabile Basis und Sicherheit zu verschaffen“, findet er.
Mit seiner ursprünglichen Heimat Sri Lanka verbindet ihn nicht mehr viel. „Meine Muttersprache kann ich
zwar noch verstehen, aber nicht mehr sprechen“, erklärt
er etwas verlegen. Die Übung fehlt. Mehr als alles andere
möchte er sich auf seine Zukunft und ein selbstbestimmtes Leben konzentrieren können – ganz normal, mit einem Vollzeitjob und später einer Familie. Er bleibt optimistisch, dass der aktuelle Anlauf erfolgreich sein wird. Ein
neu beantragter sri-lankischer Pass soll auf dem Weg zur
deutschen Staatsbürgerschaft weiterhelfen. Und sobald er
Inhaber eines Passes ist, will er ins Ausland reisen. Sein
Traumziel: die Strände von Hawaii. Mit rund 400 Mitarbeitern
bietet das  SRH Berufsbildungswerk (BBW) Neckargemünd jungen Menschen mit
individuellem Förderbedarf
mehr als 700 Ausbildungsplätze
in über 40 staatlich anerkannten
Berufen. Sie erhalten neben
einer Ausbildung auch die
notwendige medizinisch-therapeutische Betreuung wie auch
sozialpädagogische oder psychotherapeutische Begleitung.
www.bbw-neckargemuend.de
Ohne Eltern, ohne Heimat
So viele Minderjährige kamen als Flüchtlinge ohne Begleitung nach Deutschland.
2008
2009
763
1.304
2010
1.948
2011
2.126
2012
2.096
2013
2014
2.486
4.399
Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg
5
Menschen
Weltumsegelung
Fest auf einem Bein
Als Fürsprecher für Menschen mit Behinderung umsegelt der
mehrfache Paralympics-Sieger Wojtek Czyz jetzt die Welt.
Mit an Bord: ein innovativer 3-D-Drucker der SRH Hochschule,
um vor Ort Prothesen fertigen zu können.
Lkw-Fahrer hat nicht viel Zeit für den Jungen. Doch Czyz
kämpft sich durch: von der Hauptschule bis zum Abitur.
Und auf dem Fußballplatz, wo er sich beim Training mit
den Größeren schnell Respekt verschafft.
Fußball ist sein Leben – bis zu jenem Tag, als er
sich beim Abschiedsspiel für seinen alten Verein schwer
am Knie verletzt. Er erleidet ein Kompartmentsyndrom an
der Unterschenkelmuskulatur, eine Durchblutungsstörung,
die schnellstens behandelt werden muss. Doch an diesem
Samstagabend verbrauchen Rettungssanitäter und Ärzte
bei der Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser wertvolle Zeit – und Wojtek Czyz verliert seinen linken Unterschenkel. Ein Foto, kurz nach der OP aufgenommen, zeigt
einen traurigen jungen Mann ohne Perspektive: „Mein
ganzes Leben bezog sich auf Sport, von einem Tag auf
den anderen wusste ich plötzlich nichts mehr damit an­
zufangen“, sagt er rückblickend.
Hinfallen, aufstehen, weitergehen
Von Kirstin von Elm
6
Montag, der 24. September 2001: Als Wojtek Czyz aus
der Narkose erwacht, hat er nur noch ein Bein. Die Amputation trifft den 21-jährigen Fußballer vollkommen
unvorbereitet. Noch wenige Tage zuvor schien die ersehnte Profi-Karriere zum Greifen nah. Nach einem erfolgreichen Probetraining will ihn der SC Fortuna Köln unter Vertrag nehmen. Zudem hat er gerade die Zusage für einen
­Stu­dienplatz an der Deutschen Sporthochschule in Köln
­erhalten. Erfolge, die sich der in Polen geborene junge
Mann hart erarbeitet hat. Mit acht Jahren zieht er allein
zu seinem Vater nach Kaiserslautern. Der unverheiratete
Aber der Vollblut-Sportler sagt auch über sich: „Bei mir
geht es immer gleich von null auf 100“. In der Reha-Klinik
zeigt ihm sein Therapeut ein Video von den Paralympics in
Barcelona. Czyz ist fasziniert. Er überzeugt die Sepp-Herberger-Stiftung des Deutschen Fußball-Bundes, ihm eine
teure Sportprothese zu finanzieren, und beginnt kurzerhand mit dem Training. Keine zehn Monate nach seinem
Unfall gewinnt er bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften für Menschen mit Behinderung seine ersten
Wettkämpfe. „Endlich konnte ich wieder meinen ganzen
Willen in eine Richtung lenken“, sagt er, „nämlich auf
die Paralympischen Spiele.“ 2004 holt er in Athen dreimal
Gold. Vier Jahre später stellt er in Peking einen neuen
Weltrekord im Weitsprung auf, gleich im ersten Anlauf
und mit gebrochenem Mittelfuß.
Heute ist Wojtek Czyz 35 Jahre alt, durchtrainiert
und voller Energie. Auf seinem Ersatzbein hat er in den
letzten Jahren mehr sportliche Erfolge eingefahren als viele seiner zweibeinigen Kollegen. Er ist mehrfacher Paralympics-Sieger, Welt- und Europameister in den Disziplinen Sprint und Weitsprung und hat im Behindertensport
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Weltumsegelung
Menschen
Gedruckte Prothesen
40 x 38 x 80 cm misst der 3-D-Drucker an
Bord der „Imagine“, groß genug, um darin
Weltrekorde aufgestellt. Ebenso sicher und leichtfüßig
wie an Land bewegt er sich an Bord seiner Segeljacht
„Imagine“, einem zwölf Meter langen Katamaran. Bei einer Bootstour mit einem Freund hat er vor einigen Jahren
das Segeln für sich entdeckt. Jetzt, am Ende seiner aktiven
Sportler-Karriere angekommen, ersetzt ihm die neue
Leidenschaft die Wettkämpfe.
Logisch, dass sich jemand mit solchem Leistungswillen nicht mit gelegentlichen Schönwetter-Törns in Küstennähe begnügt. Nach anspruchsvollen Segeltrainings
auf der Nordsee und dem Pazifik segelt Wojtek Czyz lieber
gleich um die ganze Welt. Begleitet wird er dabei von seiner italienischen Ehefrau Elena Brambilla, selbst erfolgreiche Leichtathletin. Ende Mai sind die beiden von Neustadt
an der Ostsee aus aufgebrochen. Über Cuxhaven und
­Helgoland geht es die französische Atlantikküste entlang
nach Nordafrika. Ende Oktober soll die „Imagine“ in Safi,
Marokko, einlaufen. Dort ist ein dreiwöchiger Aufenthalt
geplant, denn mit der Weltumsegelung verfolgt das
sportliche Paar zugleich eine persönliche Mission.
den Schaft einer Prothese für Erwachsene
herzustellen. Gebaut hat ihn Michael Eißele,
Maschinenbauabsolvent und Akademischer
Mitarbeiter der SRH Hochschule Heidelberg.
Daraus entstanden ist die Firma Ferrumio,
eine Ausgründung der Hochschule Heidelberg, die unter anderem an neuen Herstellprozessen für Beinprothesen arbeitet.
Herr Eißele – Beine aus dem Drucker, wie
sind Sie darauf gekommen?
Entstanden ist die Idee vor einigen Jahren zusammen mit dem SRH Berufsförderungswerk in Heidelberg. Dort machen Menschen, die nach Unfall
oder Krankheit ihren Beruf aufgeben mussten,
eine Umschulung. Einige der Teilnehmer hatten E­ r­fahrungen mit schlecht sitzenden Prothesen. Da
haben wir gemeinsam für einen Probanden aus Rumänien einen neuen, maßgefertigten Schaft gedruckt, mit dem er sehr zufrieden war.
3-D-Drucker kann man heute bereits für weniger als 1.000 Euro im Internet bestellen.
Lassen sich mit so einem Gerät Prothesen drucken?
Lobby für Menschen mit Handicap
Nein, die handelsüblichen Geräte sind dafür zu langsam, zu ungenau und zu klein. Der Drucker an
Während ihrer Reise wollen sie Amputierte in ärmeren Regionen mit Prothesen versorgen. Dazu haben sie den
Verein Sailing4handicaps gegründet und, unterstützt von
Freunden und Förderern, die „Imagine“ zur hochseetauglichen Orthopädiemechaniker-Werkstatt ausgebaut. Mit
an Bord: ein wind- und wasserfester 3-D-Drucker, den Michael Eißele, ein ehemaliger Student der SRH Hochschule
Heidelberg, entwickelt hat (siehe Interview rechts). Anhand von Laserscans lassen sich damit exakte Kunststoffmodelle der fehlenden Gliedmaßen ausdrucken. Ein eingeflogener Orthopädie-Mechaniker soll daraus dann
alltagstaugliche Prothesen erstellen, indem er die Schäfte
mit Gelenken und Zehenersatz versieht. Alle Werkzeuge,
Materialien und Komponenten findet er an Bord.
Der Crew der „Imagine“ geht es jedoch um mehr
als um bezahlbare Hilfsmittel. Wojtek Czyz will auf die
­Situation von Menschen mit Handicap aufmerksam machen. Bei seinen Reisen zu internationalen Wettbewerben
hat er viele von ihnen getroffen, unter anderem in Kenia,
Thailand, China und Indien. Sein Fazit: Nicht nur die prothetische Versorgung lässt in armen Ländern oft zu wünschen übrig, sondern vor allem auch die Akzeptanz für
Menschen mit Behinderung: „Oft werden sie als Krüppel
stigmatisiert und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.“ Diese Sichtweise möchte er mit seiner eigenen
Erfolgsgeschichte verändern und Betroffenen so eine
neue Perspektive aufzeigen. „Ich habe sehr viel Glück gehabt“, sagt er, „jetzt möchte ich etwas zurückgeben.“ Bord der „Imagine“ arbeitet sehr präzise und braucht ungefähr acht Stunden für einen 40 cm hohen
Unterschenkel. Für die lange Seereise hat er außerdem einen Wind- und Wasserschutz bekommen
und wurde stark versteift, damit er den Seegang unbeschadet übersteht.
Könnte Herr Czyz mit einer selbst gedruckten Prothese zu Wettkämpfen antreten?
Nein, dafür braucht man spezielle Sportprothesen. Bisher fertigen wir per 3-D-Druck ja auch nur den
Schaft, an dem die Metallteile und der künstliche Fuß befestigt werden. Ein dynamisches Bein mit Gelenken auszudrucken, ist sicher eines Tages möglich, derzeit aber noch eine große Herausforderung.
www.ferrumio.de
Boot und Mannschaft folgen
Die Reise der „Imagine“ lässt sich live im Internet verfolgen. Die Crew wird von unterwegs bloggen.
Bis Dezember wollen sie die Kanaren erreichen, danach den Atlantik überqueren und St. Lucia, Haiti,
die Dominikanische Republik und Kuba ansteuern. Überall wird das Boot mehrere Wochen Station
machen, um Prothesenträger und medizinische Fachkräfte vor Ort zu schulen. Um möglichst viele
Menschen mit Prothesen versorgen zu können, hat der Verein ein Spendenkonto eingerichtet.
www.sailing4handicaps.de
Ein Buch, das Mut macht: In „Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand“ schildert Wojtek
Czyz sein Leben vor und nach dem Unfall und der Amputation (256 Seiten, Edel Books 2014, 19,95
Euro). Studien zufolge werden jährlich rund 16.000 Menschen oberhalb des Fußgelenks amputiert.
Besonders oft betroffen sind Diabetiker.
7
Menschen
Abhängigkeit
Siegerin
geblieben
Alkoholabhängigkeit gilt als Krankheit
und kann jeden treffen. Dennoch
werden Betroffene oft stigmatisiert.
Jessica Friedrich hat ihre Sucht überwunden. Heute macht sie mit ihrer
Geschichte anderen Mut.
Von Kirstin von Elm
Der Wendepunkt liegt rund drei Jahre zurück. Damals
schaffte Jessica Friedrich (Name geändert) es mit letzter
Kraft in den wartenden Krankenwagen. Nach Jahren
des Alkoholmissbrauchs und der Sucht war die damals
46-Jährige körperlich am Tiefpunkt. Zwei Tage lang hatte
sie von Brechkrämpfen geschüttelt im Bett gelegen,
konnte weder Nahrung noch Flüssigkeit bei sich behalten,
bis ihr Mann schließlich den Notarzt rief: „Ich habe gedacht, das überlebe ich nicht“, sagt Friedrich heute.
Rückblickend war das alarmierende Erlebnis ihre Rettung,
denn es half der berufstätigen Mutter, dem Alkohol endlich den Kampf anzusagen. Beim Einsteigen in das wartende Fahrzeug wusste sie: „Der Schritt in dieses Auto
wird der erste Schritt in dein neues Leben.“
Sich die eigene Sucht einzugestehen und profes­
sionelle Hilfe anzunehmen, fällt Betroffenen meist schwer.
So auch Jessica Friedrich. „Ich musste erst ganz unten
sein, um wirklich etwas zu ändern“, gibt sie offen zu.
Zwölf Jahre lang gehörte der Alkohol zu ihrem Leben und
zerstörte es fast. Denn um alkoholabhängig zu werden,
braucht es keinen besonderen Schicksalsschlag. Der Weg
in die Abhängigkeit beginnt meist schleichend, wie die
ehemalige Suchtpatientin heute weiß.
Lange Zeit war ein Glas Wein oder Sekt für die
­gebürtige Erfurterin etwas Besonderes. Erst ab Mitte 30,
als stellvertretende Leiterin eines mittelständischen Geschäftes, wurde ihr Leben hochprozentiger. Zu geschäft­
lichen Terminen gehörten jetzt gutes Essen und alko­
holische ­Getränke, auch privat stießen die Kollegen oft
mitein­an­der an. „Die konnten alle viel vertragen“, erzählt
Jessica Friedrich. Sie selbst genoss Wein und Sekt zunehmend zur ­Entspannung oder als wohlverdiente Belohnung
nach einem anstrengenden Tag. „Anfangs habe ich mich
­dadurch leicht gefühlt, stark und inspiriert“, erklärt sie.
8
Ein langsamer Abstieg
Doch die Dosis stieg: Irgendwann griff Jessica Friedrich
täglich zur Flasche, auch tagsüber. Gelegentliche Versuche, ihren Konsum zurückzuschrauben, misslangen. „Es
blieb nie bei einem Glas Wein. Wenn in der Flasche noch
etwas übrig war, hatte ich keine Ruhe“, erinnert sie sich.
Trotz zunehmender Abhängigkeit funktionierte sie im Alltag, ging zur Arbeit und erledigte den Haushalt. Auch
ihr Mann und ihr Sohn versuchten, den Anschein der Nor­
malität zu wahren, erfanden Ausreden und vermieden es,
Besuch einzuladen.
„Richtig schlimm wurde es in den letzten zwei
­Jahren“, erinnert sich die heute 49-Jährige. Mittlerweile
trank sie fast stündlich Schnaps und Wein, die Flaschen
versteckte sie im Wäschekorb, nachts litt ihr Körper unter
heftigen Entzugserscheinungen. Doch erst die drama­
tische Nahtod-Erfahrung und der bittere Krankenhaus­
aufenthalt brachten sie zum Einhalten. Weil auf der Entgiftungsstation damals kein Bett mehr frei war, wurde
Jessica Friedrich für einige Tage in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht. „Meine Bettnachbarin hat von
Marsmännchen gesprochen – wie im Film! So wollte ich
auf keinen Fall enden“, sagt sie.
„Trocken zu
bleiben wird
für mich
immer eine
Herausforderung sein.“
Jessica Friedrich
perspektiven 02/2015
Abhängigkeit
Für Männer gilt:
Bereits eine Menge von 24 bis 60 Gramm
reinen Alkohols täglich zählt zu
riskantem Konsum, der Vorstufe zum
Alko­­hol­missbrauch. Dies entspricht
maximal 0,7 Litern Wein oder
1,6 Litern Bier pro Tag.
Menschen
Pro Jahr sterben mehr als
40.000 Menschen an den Folgen
ihres Alkoholkonsums, rund
850.000 werden arbeitsunfähig.
3,4
Nur rund
jeder zehnte Süchtige
macht eine
Therapie.
Millionen Bundesbürger
trinken riskant viel.
Für Frauen
liegt die Grenze bei zwölf bis
40 Gramm Alkohol,
also maximal 0,5 Litern Wein
oder einem Liter Bier.
Noch im Krankenhaus besorgte sie sich Prospekte von
Therapieeinrichtungen und nahm an den ersten Gesprächskreisen teil. Denn fast noch wichtiger als die physische Entgiftung ist die psychische Aufarbeitung der Sucht.
Über die Rentenkasse beantragte Friedrich eine Sucht­
therapie, die sie fünf Monate später in der  Burgenlandklinik antreten konnte. Die schön gelegene kleine Klinik
hatte sie sich ganz bewusst ausgesucht und vorab bei
­einem Besichtigungstermin bereits ihre Therapeutin kennengelernt: „Das hat mich während der Wartezeit sehr
motiviert, und ich habe mich auf den Aufenthalt gefreut.“
Immer wachsam bleiben
Heute, fast drei Jahre nach ihrer Reha, führt Jessica Friedrich ein glückliches und gesundes Leben. Ihre Ehe hat
­gehalten, nicht zuletzt, weil ihr Mann alle nötigen Veränderungen bereitwillig mitträgt. „Mein Zuhause ist meine
Oase“, sagt sie. Hier gibt es keinen Tropfen Alkohol, auch
nicht versteckt in Torten oder Pralinen. Nicht einmal Weinoder Schnapsgläser stehen noch im Schrank. Anders als
früher hat Jessica Friedrich inzwischen ihr privates Leseund Bastelzimmer als Rückzugsort. Für ihr Körpergefühl
unternimmt sie ausgedehnte Spaziergänge und Radtouren
– ohne sich dabei negativen Druck zu machen. Sie ernährt
sich gesund und hat zwölf Kilo abgenommen, ein schöner
Nebeneffekt. Und sie geht wieder arbeiten – 25 Stunden
die Woche, mehr wäre derzeit noch zu viel.
Auch wenn ihre Therapeutin sagt, dass sie sehr
gute Chancen habe, weiß Jessica Friedrich, dass „trocken
bleiben“ für ehemals Abhängige immer eine Herausforderung bleibt. Zu ihrer persönlichen Durchhalte-Strategie,
die sie während der Therapie erlernt hat, gehören die Notfallkarten: eine Sammlung von mittlerweile 50 laminierten Pappkärtchen, auf denen sie Erfolgserlebnisse, Glücksmomente und motivierende Gedanken notiert hat. „In
Stress-Situationen, wo das Verlangen nach Alkohol groß
wird, helfen sie mir, mich zu erden“, erklärt sie.
Alle drei bis sechs Monate fährt sie außerdem nach
Bad Kösen, um dort vor Suchtpatienten zu sprechen: „Ich
möchte anderen ein positives Beispiel aufzeigen und sie
motivieren“, sagt Friedrich. „Und es hilft mir selbst, diszipliniert und wachsam zu bleiben.“ Eine schlaue Art, der
Versuchung ein Schnippchen zu schlagen. Die  Burgenlandklinik gehört zur SRH und liegt im Kurort
Bad Kösen in Sachsen-Anhalt.
Sie ist spezialisiert auf seelische
und körperlich-seelische (psychosomatische) Erkrankungen.
Neben Alkoholabhängigkeit
werden beispielsweise auch
Depressionen, Burnout, Angstoder Essstörungen sowie
chronische Schmerzen ohne
klaren körperlichen Befund
behandelt. Alle Patienten sind
in einem der 112 Einzelzimmer
untergebracht. Eine Entwöhnungstherapie dauert in der
Regel zwölf bis 18 Wochen
und wird bei der Rentenkasse
beantragt.
www.burgenlandklinik.de
Infotelefon zur Suchtvorbeugung der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung (BZgA): 0221/89 20 31
9
Außer Betrieb
Burnout galt lange Zeit als
Modekrankheit. Wer sich nicht mindestens
einmal ausgebrannt fühlte, hat nie
richtig gearbeitet, heißt es im Scherz.
Doch dahinter steckt eine ernst
zu nehmende Erkrankung. Betroffene
müssen sich mühsam neu finden.
10
perspektiven 02/2015
Burnout
Bildung
Von Iki Kühn
Thomas Hambrechts Leidenschaft sind Oldtimer. Das
Sommerhalbjahr war für ihn stets die Zeit der Glücksgefühle. Dann wurden der Borgward Baujahr 1961 oder
der Mustang von 1967 aus der Garage geholt, aufpoliert
und ausgefahren. Doch vor ein paar Jahren kam dem
55-jährigen Wirtschaftsinformatiker die Lust völlig abhanden. Nicht nur an seinen alten Automobilen, am Leben
insgesamt. Dabei hatte er sich als Projektleiter in einem
Weiterbildungsunternehmen pudelwohl gefühlt, war als
Mitglied der deutschen Rugbymannschaft mehrfach deutscher Meister und überquerte mit dem Rad die Alpen.
„Wenn die Hütte gebrannt hat, fühlte ich mich am wohlsten“, beschreibt Thomas Hambrecht (Bild links) sein damaliges Lebensgefühl. Für ihn gab es kein Problem, das
nicht gelöst werden konnte. Auf ihn war Verlass.
2011 beginnt dann ein schleichender Prozess.
Hambrecht erlebt Veränderungen, die er an sich nicht
kennt und denen er nicht zu begegnen weiß. Egal was er
anpackt, er empfindet keine Freude mehr. Eine bleierne
Müdigkeit lastet auf ihm. Bluthochdruck muss behandelt
werden, und der Internist diagnostiziert Depressionen.
Ein Jahr später steigt die Belastung am Arbeitsplatz massiv. Und er, der bisher in solchen Situationen mit Enthusiasmus die Ärmel hochkrempelte, liegt nachts wach, die
Gedanken kreisen um Punkte, die er womöglich vergessen hat. „Ich mache keine Fehler“, war bislang sein Credo. Und jetzt kommen die Zweifel. Im August 2012 ist die
Schmerzgrenze erreicht. Thomas Hambrecht erkennt, dass
er Hilfe braucht. Völlig erschöpft weist er sich selbst in
eine psychiatrische Klinik ein. „Wenn man aufs Pedal
drückt, kommt einfach nichts“, beschreibt er seinen Zustand. Ausgebrannt. Burnout.
Viele Symptome sind möglich
Burnout ist medizinisch betrachtet keine Krankheit, für
die es eine einheitliche Diagnose gäbe. „Es ist ein Modell, das ursprünglich aus den sozialen Berufen kommt,
für Menschen, die sich über ihre Grenzen hinaus ver­
ausgaben. Wie sich das bemerkbar macht, ist individuell
sehr unterschiedlich“, erläutert Professor Dr. Matthias
Weisbrod, Chefarzt der Psychiatrie des SRH Klinikums
Karlsbad-Langensteinbach. Charakteristische Züge für
Menschen mit diesem Erschöpfungssyndrom sind zum
Beispiel: Anpassungs- und Schlafstörungen, Zukunftsängste, Selbstvorwürfe, Hilflosigkeit, mangelnde Freude,
gestörte Interaktion, häufig verdeckte Depressionen
oder Selbstmordgedanken (siehe auch Kasten rechts).
Weil ein einheitliches Krankheitsbild fehlt, gibt es
bei Burnout auch keine Standardtherapie. Die Bandbreite
ist groß. In leichten Fällen kann es genügen, die eigene
Lebens- und Arbeitssituation zu überdenken und unter
„Die Anforderungen,
wie man zu sein hat,
erzeugen heutzutage einen
hohen Druck.“
Udo Hecker, Leiter des Geschäftsbereichs
SRH Berufliche Trainingszentren des
Berufsbildungswerks Sachsen
Anleitung „Ordnung“ in den Alltag zu bringen (siehe
Kasten S. 12). Macht sich die Belastung schwerer bemerkbar, können intensive stationäre Therapien oder Medikamente nötig werden – so wie bei Hans Marten (Name geändert). Der 57-Jährige war schon so weit, dass er seinem
Leben ein Ende setzen wollte. Alles war zu viel, jeder
Schritt eine Anstrengung, jeder Arbeitstag, jede Anforderung am Wochenende eine Qual, selbst Mahlzeiten nur
noch eine Pflicht. Freude, Sinnhaftigkeit und das Gefühl,
selbst etwas ändern zu können, waren völlig verloren
gegangen. Seine Frau konnte ihn von einer stationären
Behandlung im SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach
(KKL) überzeugen, wo zunächst seine akuten Symptome
unter anderem mit Psychopharmaka behandelt wurden.
Zurück zu sich selbst finden
Doch wichtiger ist, dass Hans Marten „Raum findet, sich
wieder neu zu sortieren, Wahrnehmung übt und der
Frage nachgeht, warum kann ich mich vor Überforderung
nicht selbst schützen“, erklärt Elke Hofmann, Oberärztin
am Psychiatrischen Zentrum des KKL. Musik und Sport gehören zu Martens Therapie. Für ihn eine völlig neue Erfahrung. Weder für das eine noch für das andere hatte er
bislang Zeit. Jetzt steht er in einer Gruppe, lauscht Tönen,
die aus einem kleinen klavierähnlichen afrikanischen
Instrument kommen, das er sich ausgesucht hat. Er
horcht auf die anderen, reagiert mit seinem Instrument
So kündigt sich ein Burnout an
 Schlafstörungen  Gedanken kreisen  Verlust an Freude  Verlust von sozialen Kontakten
 Gereiztheit, Dünnhäutigkeit  Konzentrationsfähigkeit leidet  Merkfähigkeit sinkt
 Organisationsvermögen lässt nach  Probleme bei der Priorisierung  Hilflosigkeit
Quelle: Prof. Dr. Matthias Weisbrod, SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach
11
Bildung
Burnout
In der  Arbeitstherapie können Patienten etwa zwischen
Schreinerei, Druckerei, Elektrotechnik und Büro wählen. Dort,
wie auch in den Trainingsgruppen der Ergotherapie, üben die
Patienten Durchhaltevermögen
und Konzentrationsfähigkeit.
Wichtig, um im Beruf wieder
klarzukommen. Der ­Vorteil: Die
Patienten trainieren unter realitätsnahen, aber geschützten Bedingungen. Diese Kombination
ist einmalig in Deutschland.
www.klinikum-karlsbad.de
Bei der  kognitiven Verhaltenstherapie geht es darum,
unangemessene Wahrnehmungen, Bewertungen und Gedanken, die zu Angst, Ärger oder Depression führen, umzugestalten.
www.burgenlandklinik.de
Das  SRH Berufliche Trainingszentrum des Berufsbildungswerks Sachsen arbeitet
an den Standorten Dresden,
Cottbus und Leipzig. Dort erhalten Menschen nach psychischer
Erkrankung ein speziell auf ihre
Leistungsfähigkeit zugeschnittenes berufliches Training, um
wieder erfolgreich in den Beruf
zurückkehren zu können.
www.btz-dresden.de
und spürt, „wie sich Momente entwickeln, in denen wir
uns gemeinsam einschwingen.“
Hans Marten will in seinen Beruf zurück. Der ge­
lernte Elektrotechniker weiß, dass sich Druck und Stress an
seinem Arbeitsplatz nicht eliminieren lassen. „Ich muss
hier Werkzeuge lernen, wie ich damit umgehen kann“,
erklärt er zuversichtlich. An der Klinik in Karlsbad hat Hans
Marten die Möglichkeit, eine individuell auf ihn zugeschnittene  arbeitstherapeutische Phase zu durchlaufen.
Damit übt er Arbeitsbelastungen Schritt für Schritt.
„Eines der wichtigsten Werkzeuge für Patienten mit Erschöpfungssyndrom ist es, das Neinsagen zu lernen. Besonders wichtig für die Genesung ist die Fähigkeit, Achtsamkeit
für sich selbst zu entwickeln, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen“, erklärt Dr. Olaf Ballaschke, Chefarzt an der
Burgenlandklinik in Bad Kösen. Die SRH Fachklinik ist auf
seelische und psychosomatische Erkrankungen spezialisiert.
Bei der Behandlung stützen sich die Ärzte im Wesentlichen
auf die  kognitive Verhaltenstherapie. Wer hierher zur
Reha kommt, bleibt in der Regel fünf Wochen. „Reha lohnt
sich“, betont der Chefarzt. Ein strukturiertes Programm soll
schrittweise ins Leben zurückführen. Das gelinge gut, je
früher Patienten professionelle Hilfe erhalten.
Aufmerksamkeit wächst
Die Frage ist, was läuft falsch, wenn Menschen den Anforderungen ihres Alltags nicht mehr gewachsen sind?
Statistiken zur Burnout-Entwicklung gibt es nicht, zu vielschichtig sind die Symptome und Ausprägungen. Und
doch scheint es, als ob das Überlastungsphänomen präsenter geworden ist. Betroffene Prominente wie Sven
Hannawald oder Tim Mälzer haben die Hemmschwelle
gesenkt. Immer mehr Menschen trauen sich, nach Hilfe
zu fragen. „Den Betroffenen fällt es oftmals leichter, den
Grund für ihre Überlastung in ihrer Umwelt oder an ihrem
So beugt man einem Burnout vor
 Für Selbstzufriedenheit sorgen,
Zeit für sich nehmen
 Regelmäßige Bewegung einplanen
 Eigene Bedürfnisse wahrnehmen
und wichtig nehmen
 Achtsamkeit steigern, Bewusstsein für
die eigene Situation entwickeln
Quelle: Dr. Olaf Ballaschke, Burgenlandklinik
 Die Überzeugung „Ich kann selbst etwas
ändern“ stärken
 Eigene Werte hinterfragen und neu
priorisieren
 Hausarzt ins Vertrauen ziehen
 Neinsagen lernen
Arbeitsplatz festzumachen. Damit stigmatisieren sie sich
weniger selbst. Das hilft ihnen eher, Unterstützung zu
suchen, als bei anderen psychiatrischen Krankheiten“, erklärt Professor Weisbrod. Anders als bei Depressionen
wird der Begriff „Burnout“ weniger mit Schwäche oder
Versagen verbunden. Er gilt in der Öffentlichkeit als die
Krankheit der Leistungsträger, Manager, Leistungssportler.
In der Realität lassen sich jedoch keine solchen beruf­
lichen Charakteristika ausmachen. Es kann jeden treffen.
Und es wäre zu kurz gegriffen, Burnout auf eine
Überforderung am Arbeitsplatz zu reduzieren. „Die Ansprüche und die Erwartungen des Umfeldes haben sich
auch im privaten Bereich nach oben geschraubt“, gibt
Dr. Olaf Ballaschke zu bedenken. „Reiseziele müssen
exotisch und aufregend sein, kulturelle Ereignisse muss
man gesehen haben, Studenten brauchen unbedingt ihr
Auslandssemester. Das Bedürfnis nach Erholung kommt
dabei oftmals zu kurz.“
Prävention – ein Thema für Arbeitgeber
Udo Hecker, Leiter des Geschäftsbereichs  SRH Beruf­
liche Trainingszentren des Berufsbildungswerks Sach­
sen, glaubt, dass die Anforderungen, „wie man zu sein
hat“, heute hohen Druck erzeugen. Der Normalitätsbegriff
sei dabei sehr eng geworden. „Was vor ein paar Jahrzehnten noch als Facette des Lebens galt, hat heute schon
Krankheitswert entwickelt“, betont er.
Deshalb ist ihm wichtig, Sensibilität für Werte und
Erwartungen zu wecken, und zwar direkt am Arbeitsplatz.
Seit 2006 veranstaltet Hecker am BTZ Dresden den Arbeitgebertreff. Dort kommen aufgeschlossene Unternehmer
einmal im Jahr zusammen, diskutieren und nehmen aktuelle Informationen mit, auch zum Thema Burnout. Arbeit
habe eine positive Wirkung und biete Wertschätzung.
„Doch es muss die richtige Arbeit sein“, erklärt Hecker.
Arbeitgeber täten gut daran, sich klar zu werden, welche
Werte und sozialen Kompetenzen zu ihrem Unternehmen
passen – statt beispielsweise bei Bewerbern nur fachliche
Fähigkeiten nachzufragen.
Günter Jacob, Mitgeschäftsführer des Fassadenund Systemtechnikunternehmens Fasytec im sächsischen
Schönteichen, weiß das: „Wir können es uns in unserem
Betrieb mit 15 Mitarbeitern gar nicht leisten, eine wertvolle Fachkraft zu verlieren oder jemanden neu einzustellen,
der nicht ins Team passt.“ Deshalb hat sich Jacob etwa
angewöhnt, Mitarbeitergespräche ganzheitlich zu führen,
sprich: nicht nur Unternehmens- und klassische Karriereziele zu besprechen, sondern auch private Pläne der Mitarbeiter mit einzubeziehen und möglich zu machen.
Der lange Weg zurück ins Leben
Das kann ein wichtiger Schritt bei der Burnout-Prävention
12
perspektiven 02/2015
Burnout
Bildung
Mach keine Fehler!
Aus Fehlern
kann ich lernen.
Ich darf meine Grenzen
nicht zeigen!
Grenzen zu kaschieren,
kostet viel Kraft.
Hab alles unter Kontrolle!
Nicht alles im Leben lässt
sich kontrollieren.
Sei perfekt!
Nobody is perfect.
Aus Alt mach Neu:
Viele Burnout-Patienten müssen
lernen, negative Glaubenssätze in
positive umzuwandeln (oben).
Thomas Hambrecht steht kurz vor
der Rückkehr in den Beruf (rechts).
sein. „Ein guter Schutz vor Erschöpfung gelingt schon
durch das Achten auf Symptome, die entsprechende Fürsorge durch Möglichkeiten zur Erholung und eine gesunde, ausgewogene Lebensführung“, betont Dr. Britta Anke
Skoeries, Leiterin des Psychosozialen Dienstes am  SRH
Beruflichen Trainingszentrum Wiesloch. Diese Achtsamkeit müssen Menschen nach einem Burnout oft neu
lernen.
Denn nicht selten liegen die Fundamente für die
Erkrankung weit in der Vita der Betroffenen zurück. Sie
­legen sich bewusst oder unbewusst Werte und Glaubenssätze zu, die sie über ihre Belastungsgrenzen führen. Einstellungen wie „Ich darf keine Fehler machen!“ oder „Was
man anfängt, muss man zu Ende bringen“ werden zum
Fluch. Patienten lernen in der Therapie, Sätze dieser Art
künftig zu hinterfragen und neue, anerkennende Werte
wie „Nur aus Fehlern lernt man“ oder „Auch wenn mir ein
Fehler unterlaufen ist, so bin ich doch ein liebenswerter
Mensch“ für sich zu etablieren. Nur so können sie den
Kreislauf dauerhaft durchbrechen und powern sich nicht
immer wieder aufs Neue aus.
Oldtimer-Fan Thomas Hambrecht ist mittlerweile
am Beruflichen Trainingszentrum in Wiesloch angekommen. Nach einem Klinikaufenthalt und einer ambulanten
therapeutischen Betreuung wagte er im April 2013 den
beruflichen Neustart in die Selbstständigkeit. Doch schon
ein Jahr später gelangte er wieder an seine Belastungsgrenze. Nach einer Kur trainiert Thomas Hambrecht nun
seit Dezember am BTZ den schrittweisen Übergang in die
alltägliche Belastung. Er eignet sich Software-Kenntnisse
an, durchläuft ein Bewerbertraining und bereitet sich
aktuell auf ein Vertriebspraktikum in einem Unternehmen
für Großbäckereibedarf vor. „Darauf bin ich schon sehr
gespannt“, erklärt der 55-Jährige. „Vielleicht wird es für
mich ja der Einstieg in einen neuen Job. Das kann ich mir
gut vorstellen.“ Die Lust ist jedenfalls wieder da. Das  SRH Berufliche
Trainingszentrum (BTZ)
Rhein-Neckar in Wiesloch
war bundesweit die erste Einrichtung, die sich auf berufliche
Rehabilitation für psychisch
erkrankte Menschen konzentrierte, und verfügt deshalb heute über die längste Erfahrung.
Am BTZ erhält jeder Teilnehmer
– unabhängig von der Art der
angebotenen Maßnahme – eine
fachspezifische und psycho­so­
ziale Begleitung im Betreuungstandem durch einen beruflichen
Trainer und einen psychosozialen Mitarbeiter.
www.btz-rn.de
13
Harmonien für schwere Jungs
Strafgefangene trommeln Rhythmen, Gewalttäter singen gemeinsam. Um straffällig
gewordene Jugendliche und Erwachsene auf das Leben in Freiheit vorzubereiten, setzen
Experten zunehmend auf Musiktherapie.
Von Melanie Rübartsch
14
perspektiven 02/2015
Musiktherapie
Schon durch die Tür rockt es gehörig. Nicht ganz melodisch, dafür laut. In dem 17 Quadratmeter großen, hellen
Raum dahinter jammen gerade drei Jungen im Alter zwischen 13 und 14 Jahren. Einer sitzt vor einem Keyboard,
ein anderer bearbeitet die Seiten einer E-Gitarre, der Dritte lässt seine Schlagzeugsticks auf eine kleine Trommel
niedersausen. Hier probt eine ganz normale Schülerband,
möchte man meinen. Doch dahinter steckt mehr: Die drei
Jungs sind Bewohner einer Jugendeinrichtung in BadenWürttemberg. Hier sind sie wegen einer richterlichen Anordnung „eingezogen“: weil sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. In der Jugendhilfeeinrichtung gehen sie
zur Schule und erhalten therapeutische Hilfe, um die Störung des Sozialverhaltens – so ihre Diagnose – in den Griff
zu bekommen.
Einmal in der Woche steht nachmittags  Musiktherapie auf dem Stundenplan. „Die Musik schafft
einen guten Zugang zu den Jungs. Sie ist quasi der Mantel, unter dem psychotherapeutische Prozesse stattfinden
können“, erklärt Oliver Feuerstein, Musiktherapeut und
Dozent an der SRH Hochschule Heidelberg. Seit 2011 betreut er Jugendliche in der Einrichtung im Rahmen einer
Kooperation mit der Hochschule. Aktuell hat er drei Gruppen mit acht Jugendlichen unter seinen Fittichen.
Die Stunden folgen einem bestimmten Muster:
„Erst reden wir darüber, was in der Woche alles gelaufen
ist, dann machen wir Musik“. In der Regel schreibt jede
Gruppe im Laufe eines Semesters ein eigenes Lied, das
sie zum alljährlichen Sommerfest präsentiert. „Für die
Jugend­lichen hier ist das eine enorme Herausforderung“,
erklärt Feuerstein. „Sie haben bisher in ihrem Leben vorrangig erfahren, dass sie sich durchsetzen müssen, ohne
Rücksicht auf andere. Viele haben zudem Probleme mit
der Emo­tionsregulation und eine extrem niedrige Frustrationstoleranz.“ Nun müssen sie sich plötzlich mit anderen
einigen – wer spielt welches Instrument, wer steht als
Sänger im Vordergrund, wer hält das Stück mit seinen Beats
zusammen – und aufeinander achten, damit ein hörbarer
Song entsteht. Außerdem beherrscht anfangs kaum einer
ein Instrument. Es zu lernen, braucht Ausdauer und Geduld. „Selbst kleinste Fortschritte sind dabei riesige Erfolge“, hat Therapeut Feuerstein erfahren. „Anfangs ist für
die Jungs alles grundsätzlich ‚Mist‘. Ablehnung pur.“ Doch
irgendwann kippt das und sie öffnen sich.
sischen Psychiatrien und zunehmend auch in Gefängnissen werden musiktherapeutische Techniken als Ergänzung
zu Gesprächstherapien oder Medikamenten eingesetzt,
um einen Zugang zu eigenen – auch problematischen –
Gefühlen, Denk- und Verhaltensweisen zu ermöglichen.
Übergeordnetes Ziel ist die Resozialisierung: Häftlinge, Patienten oder straffällige Jugendliche sollen auf ein Leben
„da draußen“ intensiv vorbereitet werden. Sie lernen, sich
den Regeln der Gesellschaft unterzuordnen. Das hilft,
künftigen Straftaten vorzubeugen.
Über die Arbeit mit Musik können Therapeuten
bei den Teilnehmern soziale Kompetenzen und das Selbstwertgefühl stärken, ihre Kommunikations- und Empathiefähigkeit verbessern. „Gefangene oder Patienten, denen
es schwerfällt, über sich zu sprechen, und deren Gefühle
und Gedanken schwer zugänglich sind, erhalten zum
Beispiel über die Musik eine alternative Form des Ausdrucks“, erklärt Biljana Coutinho, Musiktherapeutin und
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der SRH Hochschule
Heidelberg. „Zudem geht es auch um musikgestützte Entspannungstechniken, die den Stress in der neuen Lebenssituation und Spannungen im Gefängnisalltag lindern
können“, ergänzt Dekan Thomas Hillecke.
Töne statt vieler Worte
Die eingesetzten Techniken sind dabei sehr unterschiedlich und reichen vom Songwriting über gemeinsames Improvisieren und Singen bis zu musikgestützten Rollen- und
Regelspielen. Eines davon heißt „Rauswerfen“. „Ein Patient beginnt zu trommeln, ein anderer setzt später ein und
versucht, den ersten aus dem Takt zu bringen“, erklärt
Bildung
In einer  therapeutischen
Behandlung wird Musik gezielt eingesetzt, um seelische,
körperliche oder geistige Gesundheit wiederherzustellen, zu
erhalten oder zu fördern. So lassen sich Sozial- und Kommunikationskompetenzen stärken,
Emotionen ausdrücken und regulieren oder Stress abbauen.
Musik wird dabei rezeptiv – der
Patient als Zuhörer – oder aktiv
eingesetzt. Dann spielt der Pa­
tient, therapeutisch begleitet,
allein oder in der Gruppe ein
Ins­trument oder singt.
 Forensik stammt vom Lateinischen „forum“ für „Marktplatz“ ab. Im alten Rom wurden
dort öffentlich Gerichtsprozesse
abgehalten, Urteile verkündet
und vollstreckt. Heutzutage fasst
man unter Forensik alle Arbeitsgebiete zusammen, in denen
kriminelle Handlungen systematisch erfasst, untersucht und rekonstruiert werden. Die forensische Psychiatrie ist ein Teil
der Psychiatrie. Dabei geht es
um die Behandlung, Begutachtung und Unterbringung von
(psychisch kranken) Straftätern.
Musiktherapie studieren
Der Bachelorstudiengang an der SRH Hochschule Heidelberg ist in Deutschland der
einzige grundständige Musiktherapiestudiengang mit staatlicher Anerkennung. Er
startet jeweils zum Wintersemester und dauert dreieinhalb Jahre. Das Curriculum basiert auf wissenschaftlichen, theoretischen und praktischen Inhalten. Praxissemester
sind unter anderem in Psychiatrien, in der Psychotherapie, der Neurologie, der
Neue Hilfsangebote für Straftäter
Palliativ­medizin und in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen möglich.
„Was Musiktherapie in der  forensischen Psychiatrie,
also in der Arbeit mit psychiatrisch auffälligen Straftätern,
alles bewirken kann, wird Wissenschaftlern wie Praktikern
immer deutlicher“, stellt auch Prof. Dr. Thomas Hillecke
fest. Er ist Dekan der Fakultät für Therapiewissenschaften
an der SRH Hochschule Heidelberg (siehe Kasten rechts).
Nicht nur in Jugendhilfeeinrichtungen, auch in foren­
Nach Abschluss des Studiums arbeiten die Absolventen in psychotherapeutischen,
medizinischen oder heilpädagogischen Einrichtungen, oder sie schließen den weiterführenden Masterstudiengang an. Der Master qualifiziert zu einer akademischen
Laufbahn mit der Option zur Promotion.
www.hochschule-heidelberg.de
15
Bildung
Musiktherapie
Judith Behnke. Die 22-Jährige studiert Musiktherapie an
der SRH Hochschule Heidelberg und hat dieses interaktive
Spiel während ihres sechsmonatigen Praktikums in einer
forensischen Psychiatrie kennengelernt. „Musik zu machen
ist ein sehr unmittelbarer Ausdruck von Gefühlen und
sagt oft mehr als 1.000 Worte.“ Und so kam es vor, dass
Patienten im Gespräch mit einem Richter, Arzt oder Psychologen gerade noch erklärt hatten, sie hätten das mit
der Wut jetzt im Griff. Bei der Trommeljagd zeigte
sich dann, dass ihre Frustrationstoleranz doch gering war.
Musik sei aber eben auch ein Spiegel der Seele, sagt
Behnke. In manchen Sitzungen durften sich Patienten Lieder wünschen. „Schwierige und prägende Ereignisse wie
Abschied, Tod oder erfahrene Gewalt sind manchmal verbunden mit einem bestimmten Lied“, weiß die Studentin.
An der Auswahl der Stücke konnten die Therapeuten
erkennen, ob es ihren Patienten gut oder schlecht ging.
Für die Studentin war das sechsmonatige Praktikum eine sehr spannende und intensive Zeit. Damit, dass
sie es teilweise mit Gewaltverbrechern und Sexualstraftätern zu tun hatte, konnte sie gut umgehen. „In der Therapie saß vor allem der Mensch vor mir.“ Trotzdem war sie
aus Sicherheitsgründen nie allein in einer Sitzung, sondern
immer begleitet von einer Mentorin. In Gruppensitzungen
sind ohnehin regelmäßig zwei Therapeuten anwesend.
Musik lockert
„Musik zu machen
ist ein sehr unmittelbarer
Ausdruck von Gefühlen und sagt
oft mehr als 1.000 Worte.“
Judith Behnke studiert Musiktherapie und arbeitete im Praktikum
mit forensischen Psychiatriepatienten.
Forensik studieren
Forensik spielt in mehreren Studiengängen der SRH Hochschule Heidelberg eine Rolle.
Neben Musiktherapie sind das Rechtspsychologie und Forensische Soziale Arbeit.
Der Masterstudiengang Rechtspsychologie bezieht sich auf alle Bereiche, in denen Psychologie und Recht aufeinandertreffen. In der Theorie geht es dabei vor allem um die
Fragen, wie „abweichendes“ Verhalten entsteht, aufgedeckt, bestraft oder vermieden
wird. In der Praxis arbeiten viele Rechtspsychologen im Strafvollzug, Maßregelvollzug,
bei der Polizei, in Ambulanzen und Beratungsstellen für Straffällige oder Opfer sowie in
kriminologischen Forschungseinrichtungen.
Der Masterstudiengang Forensische Soziale Arbeit beschäftigt sich mit der Entstehung
und Existenz von Kriminalität, mit Prävention, mit der Resozialisierung von Opfern und
Tätern und dem rechtlichen Rahmen. Ein staatlich anerkannter Forensischer Sozialarbeiter arbeitet dort, wo Menschen in Konflikte mit gesellschaftlichen Normen geraten oder
Opfer von Kriminalität sind, also zum Beispiel im (Jugend-)Straf- und Maßregelvollzug,
in der Bewährungshilfe, in Opferberatungsstellen oder Jugendhilfeeinrichtungen.
16
Dass Musiktherapie Psychologen, Sozialarbeitern und Vollzugsmitarbeitern sehr gute Rückschlüsse auf die Befindlichkeiten von Häftlingen liefern kann, hat auch Dr. Dirk
Bruder erfahren. Der Neuropsychiater ist Leiter der Sozial­
therapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt (JVA)
in Offenburg. Seit März absolvieren in seiner JVA acht
­Insassen wöchentlich eine anderthalbstündige Therapie­
sitzung. Xylofon, Trommeln, Triangel, Harfe, Bongos und
Klavier stehen dafür parat. „Wir können zum Beispiel erkennen, wer arg unter Druck steht oder wie sich die gefängnisinternen Hierarchien oder die Gruppendynamik im
gemeinsamen Musizieren widerspiegeln“, berichtet der
Mediziner. Die Männer nähmen Musik als Art von Psychotherapie sehr gut an, sagt er. Einige lebten regelrecht auf.
„Sie sehen die Sitzungen als Chance, sich Luft zu machen
und etwas auszudrücken, ohne immer reden zu müssen.“
Offenburg ist eine der ersten JVAs in Deutschland,
die Musiktherapie einsetzt. Dirk Bruder möchte die Effekte
nun auch wissenschaftlich dokumentieren. In Kooperation
mit der SRH Hochschule Heidelberg soll untersucht werden, was Musiktherapie im Strafvollzug bewirkt und welche Techniken sich für welche Therapieziele anbieten.
In der schwäbischen Jugendhilfeeinrichtung hat
unterdessen eine der wichtigsten Bandphasen begonnen.
Die Jugendlichen schreiben ihre Texte. Bedingung: Etwas
Autobiografisches soll eingebaut werden. Vielleicht entsteht wieder ein Rap wie schon einmal vor einigen Jahren.
Da nutzte ein Junge den Song, um sich bei seiner Mutter
für seine Straftaten zu entschuldigen. Viel Zeit haben die
Gruppen nicht mehr. Im August ist bereits das Sommerfest. Für Therapeut Feuerstein sind die Auftritte ein Highlight. „Die Jungs, die noch vor einem dreiviertel Jahr cool
und unnahbar vor mir saßen, sind dann sogar in der Lage,
sich dafür zu bedanken, dass ich an sie geglaubt habe.“ perspektiven 02/2015
Nachrichten
Bildung
NACHRICHTEN
Kurse für wissbegierige Kinder
Für begabte Kinder und Jugendliche in der Metropolregion Rhein-Neckar,
die gern ein bisschen mehr von der Welt wissen wollen, bietet das Cen­
trum für Begabtenförderung am SRH Leonardo da Vinci Gymnasium in
Neckargemünd spezielle Wochenendseminare an. „Prima da Vinci“ richtet sich an Grundschüler, die „Da Vinci Akademie“ an Jugendliche der 5.
bis 8. Klasse. Beide bieten spannende Experimentier- und Arbeitsgruppen
in Informatik, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Kunst und auch Chinesisch. Die Kurse finden an zwei Samstagen im Monat statt, starten jedes Jahr im Februar und erstrecken sich über das gesamte zweite Schulhalbjahr. Die insgesamt acht Termine stehen auch Schülern anderer
Schulen offen und kosten 125 Euro. Voraussetzung für die Teilnahme ist
ein diagnostisches Gutachten oder ein Test am Centrum für Begabten­
förderung, aus dem eine überdurchschnittliche intellektuelle Begabung
des Nachwuchses hervorgeht.
Bewerbungen sind jederzeit möglich, der nächste Tag der offenen Tür
zum Informieren und Kennenlernen ist am 14. November.
www.ldvg.de
Vom Bachelor zum Professor
In der Formel 1 würde man so etwas wohl einen klassischen Start-Ziel-Sieg nennen, was
Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler Alexander Wulf da hingelegt hat. Im Februar wurde
der 31-Jährige an der SRH Hochschule Berlin
zum Professor für Wirtschaftsrecht ernannt.
Neun Jahre zuvor war er an gleicher Stelle einer
der ersten Studenten in Deutschland, die ihren
Bachelor-Abschluss machten.
Die Zeit dazwischen hat Alexander Wulf bereits
mit einer ansehnlichen wissenschaftlichen Kar­
riere gefüllt: Master und Doktor erlangte er
an der London School of Economics und an der
Bucerius Law School in Hamburg. Seit zwei
Jahren unterstützt er Lehre und Forschung
am Contractual Management Institute an der
SRH Hochschule Berlin mit seinem Fachwissen
Alexander Wulf erhält die Professorenurkunde
von der Präsidentin der Hochschule,
Prof. Dr. Victoria Büsch.
auf dem Gebiet des EU-Vertragsrechts. Die
Hochschule war 2002 die erste Anbieterin von
­Bachelorstudiengängen in Berlin. Aktuell bietet
sie 900 Studierenden in 17 Studiengängen
deutsch- und englischsprachige Bachelor- und
Masterprogramme mit verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Schwerpunkten an.
www.srh-hochschule-berlin.de
In Gera studiert es
sich exzellent
Die SRH Fachhochschule für Gesundheit in
Gera bietet hervorragende Studienbedingungen. Zu diesem Ergebnis kommt das
diesjährige „U-Multiranking“, das durch die
EU-Kommission finanziert wird und zum
zweiten Mal in Folge weltweit Hochschulen
miteinander vergleicht. Spitzennoten erhielt
die Gesundheitshochschule vor allem für ihr
Kursangebot, die Qualität der Lehre sowie
für den Praxisbezug der Studienangebote.
Auch der Kontakt zwischen Studierenden
und Lehrenden sowie das IT-Angebot bekamen Bestbeurteilungen. Insgesamt wurden
bei dem Ranking 850 Hochschulen aus
74 Ländern untersucht (www.umultirank.
org). Die Ranking-Ergebnisse basieren
auf Daten der Hochschulen, aus öffentlich
zugänglichen Datenbanken sowie aus einer Stu­den­tenbefragung.
www.gesundheitshochschule.de
17
Judith Schüttler (39) und
Osman Karcier (30) sind seit
fünf Jahren Kollegen. Sie arbeiten im Sozialdienst der SRH Pflege, dem Pflegedienst des SRH
Berufsförderungswerkes Heidelberg, und beraten Menschen,
die neurologisch erkrankt sind,
etwa durch einen Schlaganfall.
Sie vermitteln im Kontakt mit
Krankenkassen, unterstützen bei
Anträgen von Hilfsmitteln und
koordinieren die Maßnahmen
für den jeweiligen Kunden. Osman Karcier ist von Geburt an
auf den Rollstuhl angewiesen
und hat zudem ein eingeschränktes Sehvermögen. Das
Büro von Schüttler und Karcier
liegt auf dem SRH Campus in
Heidelberg. Dort sind die meisten Anlagen barrierefrei. Bei der
SRH arbeiten ein Viertel mehr
Menschen mit Handicap als gesetzlich verlangt.
18
perspektiven 02/2015
Inklusion
Bereicherung
statt bloße
Quote
Laut Gesetz muss ein Unternehmen fünf
Prozent Mitarbeiter mit Behinderung
beschäftigen. Viele zahlen stattdessen lieber
eine Ausgleichsabgabe. Dabei können alle
Beteiligten davon profitieren – wie es Judith
Schüttler und Osman Karcier vormachen.
Von Ulrike Heitze
Warum können Sie als Musterbeispiel für eine gut funktionierende Inklusion stehen?
Judith Schüttler: Wir arbeiten seit mittlerweile fünf Jahren zusammen
und sind ein eingespieltes Team. Die Arbeit haben wir rein nach fachlicher Kompetenz aufgeteilt und nutzen bewusst die Fähigkeiten jedes
Einzelnen – ohne dass die körperliche Konstitution eine Rolle spielen
würde. So sollte Inklusion doch sein, oder?
Die Behinderung spielt im Joballtag gar keine Rolle?
Schüttler: Wenn man es genau nimmt, sind wir beide in irgendeiner
Form behindert. Ich bin Mutter und arbeite derzeit nur halbtags. Also bin
ich zeitlich gehandicapt. Dinge oder Termine, die ich nicht machen kann,
übernimmt Osman. Wir halten uns da gegenseitig den Rücken frei.
Osman Karcier: Wir kommen uns alle entgegen. Mir fällt es zum Beispiel
körperlich schwer, Faxe zu verschicken. Das erledigen die Kollegen dann
mit, wenn sie ohnehin gerade damit beschäftigt sind. Oder wenn unter
meinen vielen Außer-Haus-Terminen einer partout nicht barrierefrei ist,
springen die Kollegen ein. Im Gegenzug übernehme ich andere Arbeiten.
Wo profitieren Sie voneinander?
Schüttler: Osman hat erst jüngst berufsbegleitend seinen Master in
Sozialer Arbeit gemacht. Dadurch bringt er frisches Wissen mit, zum Beispiel bei sozialrechtlichen Regelungen, von dem wir beide profitieren.
Karcier: Judith hat dagegen die längere Berufserfahrung. Jeder bringt etwas anderes Hilfreiches ein. Wir ergänzen uns prima und schauen je
nach Fall, wo wer am besten passt. Und damit sind wir dann wieder
ganz weit weg vom Thema Behinderung.
Was haben Sie voneinander gelernt?
Schüttler: Ich habe vor allem ein stärkeres Bewusstsein für die Probleme
Bildung
Behinderter entwickelt. Als Rollstuhlfahrer setzt du dich nicht einfach
in einen Zug, sondern du musst erst anrufen und das aufwendig organisieren. Dann merkt man erst mal, was es heißt, im Leben so eingeschränkt zu sein. Nicht weil man selbst eingeschränkt ist, sondern weil
einen das Umfeld so limitiert. Osman begegnet dem allen unglaublich
gelassen und beharrlich. Ich selbst wäre da viel ungeduldiger und zorniger. Diese Gelassenheit und Flexibilität habe ich mir über die Jahre von
ihm abgeguckt.
Karcier: Durch ein Handicap lernt man tatsächlich eine gewisse Geduld.
Weil immer irgendetwas ist. Entweder ist ein Aufzug kaputt, die Bahn
hat Verspätung oder die Türen sind zu schmal. Da schreit man dann nicht
herum, sondern sucht gelassen nach einer Lösung. Man fragt sich durch,
und mit Humor und Charme kriegt man das hin. Solche Fähigkeiten
helfen auch im Job.
Warum stellen Unternehmen Mitarbeiter mit Behinderung so
zurückhaltend ein?
Schüttler: Arbeitgebern geht es um Leistung, und sie haben dabei immer
das schnelle, starke, agile Ideal vor Augen. Behinderten Menschen wird
gleich unterstellt, dass sie die Leistung nicht so erbringen können, wie
man das von ihnen erwartet. Man traut ihnen nicht zu, dass sie ihr Handicap kompensieren können. Dabei ist das reichlich unfair. Auch in einem
Büro, in dem nur körperlich unversehrte Menschen arbeiten, ergänzt
und arrangiert man sich. Jeder kann unterschiedliche Dinge gut oder
schlecht – egal ob behindert oder nicht.
Karcier: Arbeitgeber fragen sich immer, was bringt uns ein Mitarbeiter.
Diese Frage stellen sie sich bei allen, aber der Behinderte kommt eben
schon mit seinem sichtbaren Handicap daher. Bei körperlich unversehrten
Menschen ist eine mögliche Einschränkung nicht gleich so offensichtlich.
Allein schon, wenn im Büro eine Treppe oder enge Türen sind, geht es
mit dem Kopfkino los. Der Arbeitgeber fragt sich gleich, wie viel mehr
Zeit er in diesen Kandidaten investieren muss.
Berechtigte Bedenken?
Karcier: Eigentlich nicht. Sehen Sie, ich bin von Geburt an behindert. Ich
habe gelernt, mein Handicap so in mein Leben zu integrieren, dass es
mich möglichst wenig einschränkt. Man lernt, seine Kräfte und Möglichkeiten so einzuteilen, dass man den Job gestemmt bekommt.
Schüttler: Man muss auch aufhören, Behinderung automatisch mit Minderleistung zu verknüpfen. Auch körperlich fitte, durchtrainierte Kollegen
empfinden Leistungsdruck und Stress, kommen mit Aufgaben nicht klar
oder brauchen länger für bestimmte Jobs. Viele Problematiken im Berufs­
alltag entstehen nicht durch ein Handicap. Die erleben auch nicht behinderte Kollegen.
Also sind Sonderbehandlungen gar nicht nötig?
Karcier: Nein, ich möchte von meinem Arbeitgeber gar nicht anders be-
handelt werden als alle anderen. Ich bin tatsächlich sehr froh, dass sich
meine Behinderung in meiner bisherigen Laufbahn nicht ausgewirkt hat –
in keine Richtung. Im Übrigen sind eine gute Zusammenarbeit und Erfolge im Team keine Frage von behindert oder nicht behindert, sondern von
Charakter. Wäre ich ein kerngesunder, aber unangenehmer Kollege, würde niemand auf mich zugehen – und umgekehrt. 19
Spezielle Brillen machen
aus dem Kamerabild vom
Körperinneren eine
dreidimensionale Aufnahme.
20
Moderne OP-Verfahren
Gesundheit
3-D im OP
3-D-Technik kennen die meisten Menschen vor allem aus dem Kino. Weniger bekannt sind
die Einsatzmöglichkeiten bei Operationen. Die Klinik für Urologie im SRH Zentralklinikum
Suhl ist eine der ersten Einrichtungen in Thüringen, die damit arbeitet.
Von Julian Kerkhoff
Ein früher Mittwochmorgen im Juni. Fünf Mediziner ar­
beiten gut aufgelegt und konzentriert in einem weiß
­getäfelten Operationssaal. Alle tragen die typische grüne
OP-Kleidung: sterile Kittel, Mundschutz, Haube sowie
OP-Handschuhe. Nur ein Detail passt nicht so recht in das
gewohnte Bild: Das gesamte Team trägt dunkel getönte
Brillen – ein Hauch von Blues Brothers zwischen all den
Apparaten und Monitoren. Doch die vermeintlichen Son­
nenbrillen sind kein modischer Gag, sondern gehören
zum medizinischen Hightech: In der urologischen Abtei­
lung des SRH Zentralklinikums Suhl wird seit Anfang des
Jahres mit modernster 3-D-Technik operiert. „Als junger
Medizinstudent hätte ich nie gedacht, dass das technisch
einmal möglich sein wird“, sagt Dr. Udo Wachter, Chef­
arzt der Suhler Urologie. Und doch, mithilfe der neuen
Technologie entfernt er heute gemeinsam mit seinem
Team einen Nierentumor.
Der Patient ist bereits in Narkose, sein Körper mit
sterilen Tüchern abgedeckt, nur eine kleine Fläche rund
um seinen Bauchnabel schaut heraus. „Moderne Endos­
kopie-Instrumente ermöglichen es uns,  minimalinvasiv
durch die Bauchdecke zu arbeiten“, erklärt Udo Wachter.
So sind bei dieser Operation lediglich drei je etwa einen
Zentimeter lange Schnitte nötig. Die eingeführte Mini­
kamera überträgt gestochen scharfe Videobilder aus dem
Bauchinneren auf einen großen 3-D-fähigen Monitor
oberhalb des Operationsgeschehens: gut ausgeleuchtet,
siebenfach vergrößert und, im Zusammenspiel mit den
Brillen, für die Ärzte dreidimensional sichtbar.
Wird nur die Kartenansicht gezeigt, lässt sich schwieriger
abschätzen, wo man ist und wie man zum Ziel kommt.
Wechselt man hingegen in die 3-D-Version, fällt die Orien­
tierung in der Landschaft leichter.
Und in der Tat erscheinen die inneren Organe
des Patienten sehr plastisch auf dem Monitor, während
Wachter die Kamera mit sanften Bewegungen von außen
lenkt. Strukturen und Abstände im Inneren des Patienten
lassen sich gut erkennen. Dabei bietet die Kamera noch
einen weiteren großen Vorteil: Sie liefert nicht nur glas­
klare 3-D-Aufnahmen, sondern lässt sich auch in vier Rich­
tungen um bis zu 100 Grad abwinkeln. „Dadurch kann
ich sogar hinter die Niere schauen“, erklärt der Experte.
Präzisionsarbeit gefragt
Genau hier findet Wachter auch den Tumor, den es heute
zu entfernen gilt. Seine Strukturen sind auf dem Monitor
deutlich sichtbar, in der dreidimensionalen Darstellung
scheint er zum Greifen nah. Vorsichtig verschließt der Uro­
loge mit einer Klemme die Nierenarterie. Das verhindert
das Abschwimmen von Krebszellen in den Körper und er­
möglicht ein blutloses Arbeiten an dem Organ. Als Nächs­
tes trennt er mit einer Schere den kaum zehn Gramm
schweren Tumor von der Niere ab. Schließlich kommen
eine Art Miniaturkescher und eine Minipinzette zum
Einsatz, mit denen Wachter den Tumor sorgfältig einsam­
melt. All diese Instrumente sind superschlank und wer­­den über das Endoskop in die Bauchhöhle eingeführt.
Bei  minimalinvasiven Ope­
rationen geht es im Wesent­
lichen darum, die für eine Ope­
ration der inneren Organe
bislang nötigen langen Ein­
schnitte durch wenige, zentime­
terkurze Schnitte zu ersetzen
und durch diese hindurch mit
Instrumenten zu arbeiten. Durch
den ersten Schnitt wird der
Bauch mit Kohlendioxid auf­
gebläht, um s­o die sonst eng
anliegenden Organe von­
einander zu trennen. So be­
kommt der Arzt freie Sicht und
die Bewegungsfreiheit, um in
der Bauchhöhle arbeiten zu
können. Durch den zweiten und
dritten Schnitt werden über
sogenannte Trokare das winzige
Operationsbesteck und eine
Videokamera eingeführt. Diese
Methode heißt SchlüssellochTechnik oder Laparoskopie und
hilft, die Belastung für den
­Körper des Patienten zu verrin­
gern, seine Erholung zu be­
schleunigen und das kosme­
tische Ergeb­nis zu verbessern.
Tolle Ein- und Aussichten
„Durch die 3-D-Technik habe ich einen ganz plastischen
Tiefeneindruck aus dem Körperinneren“, stellt der Urolo­
ge fest. „Gegenüber den zweidimensionalen Aufnahmen,
mit denen wir bisher gearbeitet haben, erleichtert die
räumliche Sicht die Orientierung während der Operation
enorm. Ein erfahrener Operateur kann dadurch rascher
und so für den Patienten noch schonender operieren“, er­
klärt der Chefarzt. Die Vorteile der neuen Perspektive
seien vergleichbar mit einem Navigationsgerät im Auto:
Minimalinvasive Eingriffe
sind für Patienten
schonender, weil nur
wenige kleine Schnitte
gesetzt werden.
21
Gesundheit
Moderne OP-Verfahren
„Bei einer Geschwulst ist es sehr wichtig, das gesamte
Gewebe zu erwischen, damit daraus keine neuen Krebs­
herde entstehen. Durch die dreidimensionale Sicht ist das
viel leichter und schneller möglich“, erklärt der Chefarzt.
Investition für mehr Patientensicherheit
Nach gut einer Stunde ist die Operation erfolgreich be­
endet. Udo Wachter ist zufrieden. „Mit der 3-D-Technik
können wir nun auch da minimalinvasive Operationen
vornehmen, wo es bisher zu kompliziert für dieses Ver­
fahren wurde“, erklärt er. Dadurch würden auch die Risi­
ken einer Operation sinken: „Gerade große und lang­
wierige Eingriffe können rascher und sicherer ausgeführt
werden. Starke Blutungen und Gewebeverletzungen
­treten seltener auf.“ Außerdem müssten die Patienten
­weniger lange im Krankenhaus bleiben, und die Schnitte
seien kleiner als bei der konventionellen Methode.
100.000 Euro hat das Klinikum in die Technologie
investiert, die auch bei Eingriffen an Harnleiter, Blase oder
Prostata zum Einsatz kommt. Zehn bis 15 Operationen
pro Monat werden aktuell in der Urologie mit der scho­
nenden 3-D-Technik durchgeführt – immerhin knapp die
Hälfte aller Nierenoperationen. Man wolle die neue Tech­
nik nicht überstrapazieren, nicht bei allen Patienten sei
der Einsatz sinnvoll und nützlich. „Aber wo sich die Mög­
lichkeit bietet, werden wir künftig minimalinvasiv drei­
dimensional operieren“, betont Udo Wachter.
Will der Urologe einem Außenstehenden erklären,
welche neuen Perspektiven ihm die Technologie eröffnet,
vergleicht er das auch gerne mal mit dem Seherlebnis in
3-D-Kinos. „Dabei unterscheidet den OP- vom Kino-Saal,
dass wir für unseren Teil am liebsten so unblutig wie
mög­lich arbeiten“, fügt er augenzwinkernd hinzu. Diesmal ohne 3-D-Aufmachung:
Chefarzt Dr. Udo Wachter (drit­
ter von links) mit Ärzten und
Schwestern aus der Urologie.
www.zentralklinikum-suhl.de
Noch mehr 3-D im OP
Auch im SRH Wald-Klinikum in Gera operiert man
„Operieren mit 3-D-Brille
ermöglicht uns ähnlich
tolle Perspektiven wie ein
Kino-Blockbuster in 3-D.
Im Unterschied zu
Hollywood mögen wir
es allerdings so unblutig
wie möglich.“
Dr. Udo Wachter, Chefarzt in der Klinik für Urologie
am SRH Zentralklinikum Suhl
22
mithilfe von 3-D-Technik. Anders als in Suhl geht
es hier aber nicht um den Einsatz von 3-D-Brillen,
sondern um einen neuen mobilen Computertomografen, der während Operationen am
Schädelinneren, an der Wirbelsäule oder am Brustkorb dreidimensionale Schnittrönt­
genbilder in Echtzeit liefert. Die Operateure in Gera (oben im Bild mit ihrem mobilen
CT-Gerät­) können dadurch in Bereiche des Körperinneren blicken, in die man noch
nicht einmal mit Miniaturkameras kommt. So können Implantate noch präziser gesetzt
­werden – und das bei gleichzeitiger Minimierung der Verletzungsgefahr. Das Gerät
im Taschenformat ist nicht nur wesentlich kleiner als seine raumgroßen Vorgänger,
sondern hilft durch seine Verbindung mit einem Navigationscomputer auch, wichtige
Operationsschritte exakt zu steuern. Zudem kann noch während des Eingriffs die
Qualität der Implantate kontrolliert werden. Das macht Korrektur- und Folgeeingriffe
überflüssig. Das SRH Wald-Klinikum in Gera gehört zu den ersten fünf Einrichtungen in
Deutschland, die mit diesem mobilen Computertomografen arbeiten.
www.waldklinikumgera.de
perspektiven 02/2015
Typisierung
Mund auf gegen Blutkrebs
Viele Menschen, die an Blutkrebs erkranken, sind auf eine
Stammzellspende angewiesen. Ein Spender lässt sich eher
finden, wenn sich möglichst viele Menschen typisieren
lassen – wie jüngst an der SRH Hochschule Heidelberg.
Gesundheit
6
Millionen Menschen
sind in Deutschland als
potenzielle Spender
registriert.
Von Ulrike Heitze
Blutstammzellen können auf
zwei Wegen gespendet werden.
Bei 80 Prozent der Spender
kommt die  periphere Blutstammzellentnahme zum Einsatz. Dabei erhält ein Spender
fünf Tage lang ein Medikament,
durch das Stammzellen vom
Knochenmark ins periphere Blut
– das Blut, das durch die Adern
fließt – übergehen. Anschließend werden die Zellen über die
Armvene wie bei einer Dialyse
entnommen. Dies dauert einige
Stunden. Bei der  klassischen Knochenmarkspende
werden unter Vollnarkose ein
bis anderthalb Liter Knochenmark aus dem Beckenknochen
entnommen. Das dauert eine
Stunde, ein paar Tage Auszeit
muss man trotzdem einplanen.
Stammzellen und Knochenmark
bilden sich binnen zwei Wochen
nach.
Thomas Attner hatte Glück im Unglück: Der 47-jährige
SRH Mitarbeiter war an Leukämie erkrankt, und nur noch
eine Stammzelltransplantation konnte sein Leben retten.
Glücklicherweise stimmten die Gewebemerkmale seiner
Schwester so mit seinen überein, dass sie ihm die nötigen
 Stammzellen spenden konnte. Doch so viel Glück hat
nicht jeder. Nur jeder dritte Blutkrebs-Patient, der eine
Stammzellspende benötigt, findet einen Lebensretter in
der eigenen Familie. Die Mehrheit ist darauf angewiesen,
dass sich im Rest der Welt jemand findet, der in puncto
Gewebemerkmale passt und zu einer Spende bereit ist.
Damit die Suche nach der Nadel im Heuhaufen
überhaupt Aussicht auf Erfolg haben kann, gibt es Spenderdateien wie etwa die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS). Menschen, die sich vorstellen können,
Blutkrebspatienten mit einer Stammzellspende zu helfen,
können sich hier „typisieren“ lassen. Das Verfahren ist
denkbar einfach: Mit einem Wattestäbchen wird ein Abstrich von der Wangeninnenseite genommen. Aus der
Speichel- oder alternativ aus einer Blutprobe ermitteln
DKMS & Co die Gewebewerte und melden alles anonymisiert an das Zentrale Knochenmarkspender-Register
Deutschland. Sollte dann im Laufe der Jahre jemand mit
ähnlichen Gewebewerten eine Stammzellspende benöti-
gen, wird der potenzielle Spender angefragt, ob er willens
ist zu helfen. Eine Typisierung kann man in Eigenregie in
Angriff nehmen – etwa ein Registrierungsset bei der DKMS
anfordern – oder aber an einer der zahlreichen bundesweiten Typisierungsaktionen teilnehmen. Eine sehr erfolgreiche hat Studentin Juliane Knabe im Frühjahr an der
SRH Hochschule Heidelberg initiiert (im Bild rechts beim
Infogespräch). Die Benefizaktion galt Prof. Dr. Manuel
Nodoushani. Der 42-jährige SRH Dozent ist an Lymphkrebs
erkrankt und benötigt eine Fremdspende.
Zusammen mit der DKMS, die das Info- und Typisierungsmaterial stellte, rührte die SRH Psychologiestudentin an allen Fakultäten kräftig die Werbetrommel und
gewann Kommilitonen für Infostände in der Mensa. „Wir
waren erstaunt, wie wenig die Menschen über das Thema
wissen“, sagt die 22-Jährige. „Kaum einer konnte etwas
mit Typisierung und Stammzellspende anfangen. Da ist es
dann auch kein Wunder, wenn viele abwinken.“
Ihre Mühen um mehr Aufklärung wurden belohnt:
473 Personen – Studierende, Professoren, Beschäftigte
des SRH Campus und einige Heidelberger – ließen sich
von Juliane Knabe und ihren Mitstreitern ein Wattestäbchen reichen. Darüber hinaus wurden 1.750 Euro gespendet, die die SRH auf über 5.000 Euro aufstockte. Thomas
Attner, der auch fleißig informiert und geworben hat,
freut sich über die große Resonanz: „Wenn man selbst
betroffen war und weiß, dass ein Leben davon abhängt,
dann ist es schön zu sehen, dass den Menschen solch ein
Schicksal nicht gleichgültig ist.“
Für Professor Nodoushani war bei der Typisierung
an der Hochschule kein passender Spender dabei, aber
mittlerweile wurde für ihn einer über die ZKRD gefunden.
Ein Argument mehr, sich typisieren zu lassen. Mehr zu Typisierung und Stammzellspende
Zentrales Knochenmark­spender-
Deutsche Knochenmark­spender­-
Register Deutschland (ZKRD):
datei (DKMS):
www.zkrd.de
www.dkms.de
23
Gesundheit
Immuntherapie
Körperpolizei stoppt
Krebszellen
Bei der Behandlung von Krebs macht die Immuntherapie derzeit von sich
reden. Mithilfe von Medikamenten wird das Immunsystem so flott gemacht,
dass es gegen Krebszellen vorgeht. Das SRH Wald-Klinikum Gera setzt diese
Methode bereits erfolgreich ein.
Von Ulrike Heitze
24
Erst ein ausgiebiger Spaziergang am Ufer der Elbe entlang,
dann hinauf zur Albrechtsburg bei allerbestem Frühlingswetter und zum Abschluss einen Abstecher in den gotischen Dom der Stadt. Zusammen mit ihrem Mann genießt
Helga Göpel die drei Tage Kurzurlaub im sächsischen Meißen von ganzem Herzen. „Mittlerweile fühle ich mich wieder sehr, sehr wohl“, erklärt die 72-Jährige fröhlich. Dass
es ihr noch mal so gut gehen würde, hätte die Rentnerin
aus Gera kaum noch für möglich gehalten. Denn Helga
Göpel leidet seit acht Jahren an schwarzem Hautkrebs.
Über die Jahre hatte der Krebs Metastasen in mehreren
Organen und an der Wirbelsäule gebildet. Nicht alle ließen
sich durch Operationen, Bestrahlungen und Chemothera-
pien zurückdrängen. „Zu der Zeit war ich wirklich sehr
niedergeschlagen“, erinnert sie sich. Doch ihr Arzt, Privatdozent Dr. Martin Kaatz, Chefarzt der Klinik für Hautkrankheiten und Allergologie am SRH Wald-Klinikum Gera,
machte ihr immer wieder Mut. Er schlug ihr vor, an einer
 klinischen Studie zur Erprobung einer neuen Krebstherapie teilzunehmen. Im Sommer 2013 bekam sie ihre erste
halbstündige Infusion im Studienzentrum der Klinik, seither alle drei Wochen, bislang 32 Mal. Eine Computertomografie im Sommer letzten Jahres zeigte: Alle Metastasen
hatten sich zurückgebildet – und sind seither nicht wieder
aufgetaucht. „Das war so ein tolles Gefühl nach all den
Jahren“, erinnert sie sich mit Erleichterung.
perspektiven 02/2015
Immuntherapie
In Deutschland ist aktuell ein Medikament zur Behandlung
des schwarzen Hautkrebses zugelassen. Im Sommer sollen
Antikörper zur Therapie von Lungenkrebsarten folgen. An
den dafür notwendigen klinischen Studien waren auch Patienten des Lungenkrebszentrums am SRH Wald-Klinikum
beteiligt. Weltweit laufen aktuell Hunderte Studien zur Erprobung von Immuntherapie-Medikamenten.
„Mittlerweile fühle
ich mich wieder sehr,
sehr wohl.“
Helga Göpel, Hautkrebspatientin
Fieberhafte Forschung
Helga Göpel profitiert von einer neuen Behandlungsmethode gegen Krebs, der Immuntherapie. Chefarzt Martin
Kaatz, der auch Leiter des Zentrums für Klinische Studien
am Wald-Klinikum ist, erklärt die Wirkweise: „Normalerweise erkennt unser Immunsystem einzelne Krebszellen
und vernichtet sie. Aber Tumorzellen haben Mechanismen,
um sich zu tarnen.“ Die Krebszellen überziehen sich dabei
beispielsweise mit bestimmten Proteinen. Diese sogenannten Checkpoint-Proteine geben der Hauptwaffe des
Immunsystems gegen Krankheiten, den T-Lymphozyten
(kurz T-Zellen), zu verstehen, dass es hier für sie nichts zu
tun gibt. Das Immunsystem schlummert also vor sich hin,
während der Krebs unbehelligt wächst.
In der Immuntherapie setzt man deshalb Anti­
körper ein, die die jeweiligen Proteine binden und blockieren. „Die Medikamente bewirken, dass die körpereigenen
Immunzellen von der Bremse gehen und wieder aufmerksamer werden“, erklärt Martin Kaatz. Anders als Chemotherapie und Bestrahlung zielt die Immuntherapie also
nicht auf den Tumor selbst ab, sondern mobilisiert das eigene Immunsystem, damit es die Krebszellen angeht.
Das Bemühen der Mediziner, dem Schreckgespenst
Krebs über das Immunsystem beizukommen, ist nicht
neu. Schon vor mehr als 150 Jahren gab es entsprechende
Anläufe, die körpereigene Abwehr anzustacheln. Und
die Stammzellspende, beispielsweise zur Behandlung von
Leukämie, ist ebenfalls eine Form der Immuntherapie und
längst gängige Praxis. „Neu ist aber, dass man über sie
auch solide Tumore angehen kann“, sagt Chefarzt Kaatz.
Erst seit wenigen Jahren könne man Stoffe herstellen, die
an Proteine andocken oder in Zellen eindringen können.
Die Forschung arbeitet nun fieberhaft daran, sukzessive
die vielen verschiedenen Checkpoint-Proteine zu identifizieren, die auf so einer Krebszelle sitzen können, und
dann den passenden Hemmer zu finden, der das Protein
blockiert.
Lebenszeit verlängern
Trotzdem ist die Immuntherapie kein Allheilmittel gegen
Krebs. Die Nebenwirkungen, die das angestachelte Immunsystem produziert, sind nicht zu unterschätzen, auch
wenn man sie, wie Martin Kaatz erklärt, heutzutage gut
in den Griff bekommt. Und: Die Immuntherapie wirkt
nicht bei jedem und nicht gleich gut. „Beim schwarzen
Hautkrebs sprechen etwa zehn bis 20 Prozent der Patienten klar auf die Medikamente an. Ihre Tumore verkleinern
sich oder bilden sich sogar komplett zurück“, weiß Kaatz.
„Und bei einer weiteren großen Gruppe bleibt die Erkrankung stabil. Die Tumore wachsen über Monate oder Jahre
nicht.“ So ist das Hauptziel der Mediziner, die Erkrankung
mithilfe der Immuntherapie in eine chronische Phase zu
bekommen – insbesondere bei sehr bösartigen Krebsarten.
„Die Menschen gewinnen so Lebenszeit.“
Gesundheit
Neue Methoden zur Behandlung einer Erkrankung werden
in der Regel in  klinischen
Studien überprüft, bevor sie
zugelassen und so beispielsweise von Krankenkassen übernommen werden. Studienobjekt
kann ein Medikament sein, aber
auch eine innovative Opera­
tions­technik, ein Gerät, ein Implantat oder eine Prothese.
An einer Forschungsstudie teilnehmende Patienten können so
auch von Arzneimitteln und
Verfahren profitieren, die noch
nicht zugelassen sind. Weil
­Sicherheit oberstes Gebot ist,
werden die Studienteilnehmer
medizinisch ganz eng begleitet
und mit modernsten Mess­
geräten überwacht.
Am SRH Wald-Klinikum Gera
sind die Studien quer durch alle
Fachgebiete im Zentrum für Klinische Studien gebündelt. Seit
der Eröffnung 2011 wurden bereits mehr als 150 Studien mit
mehr als 600 Patienten initiiert.
www.waldklinikumgera.de
„Die Menschen gewinnen
so Lebenszeit.“
Privatdozent Dr. Martin Kaatz, Leiter der Hautklinik
und des Zentrums für Klinische Studien
am Wald-Klinikum Gera.
Auch Helga Göpel kann noch nicht sagen, wie
lange sie die Infusionen noch bekommen muss und ob sie
tatsächlich geheilt ist. Dafür sind die Erfolge der Immuntherapie noch zu frisch und Langzeitstudien erst im Entstehen. Aber im Grunde ist es der Rentnerin auch egal, so­
lange alles so bleibt, wie es zurzeit ist. „Alle drei Wochen
habe ich wegen der Infusion zwei schlappe Tage. Aber
damit arrangiere ich mich“, sagt sie voller Energie. „Denn
danach habe ich immer zweieinhalb tolle Wochen ganz
für mich und meine Familie.“ 25
Gesundheit
Nachrichten
NACHRICHTEN
Schonendes Verfahren hilft
Kindern mit Skoliose
Die Behandlung von Skoliose ist nach wie vor
eine Herausforderung – besonders bei Kindern.
Weil Kinder noch wachsen, mussten die implantierten Wirbelsäulenstäbe, die die Fehlbildung korrigieren, bislang in immer neuen Operationen verlängert werden. Das SRH Klinikum
Karlsbad-Langensteinbach setzt nun ein neues
Verfahren ein, bei dem das Stabsystem nahezu
schmerzfrei von außen über eine Art Fernsteuerung angepasst werden kann. Das erspart den
kleinen Patienten viele weitere Operationen.
Die Stäbe werden mit den üblichen Schrauben,
Haken und Verbindungen im Rücken implantiert und gesichert. Sie schienen dann die Wirbelsäule während des Wachstums, um das
Fortschreiten der Skoliose zu verhindern und
Medizinische Versorgung verbessert
Das SRH Krankenhaus Sigmaringen legt bei der medizinischen Versorgung
im Landkreis Sigmaringen zwei weitere Schippchen drauf: Seit Jahresbeginn
profitieren Krebspatienten davon, dass die Klinik zum „Onkologischen
Schwerpunkt“ ernannt wurde. Bereits seit 2011 ist das Krankenhaus „Onkologisches Zentrum“, nun erfolgte die nächsthöhere Auszeichnung durch
die Deutsche Krebsgesellschaft. Allein die Berufung zum „Zentrum“ garantiert Betroffenen eine Versorgung mit hoher Qualität, insbesondere durch
eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit aller behandelnden Ärzte. Der
Teilnahme an klinischen Studien wird ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Der Aufstieg zum „Schwerpunkt“ ermöglicht den Aufbau einer
­Brückenpflege im Versorgungskonzept: Hausarzt, ambulante Pflege und
Krankenhaus werden noch enger vernetzt. Patienten mit undefinierten
Brustschmerzen gewinnen durch den Ausbau der Brustschmerz-Abteilung
(„Chest Pain Unit“),
die Ende 2014 von der
Deutschen Gesellschaft für Kardiologie
zertifiziert wurde. Mit
dem Siegel wird bestätigt, dass die Klinik
eine kardiologische
Schwerpunktversorgung nach a­ ktuellsten
Leitlinien gewährleisten kann.
Dr. Gabriele Käfer, Sprecherin des Onkologischen
Zentrums, im Planungsgespräch mit Dr. Peter Krezdorn,
Oberarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe
www.klksig.de
26
die Form der Wirbelsäule zu korrigieren. Der
Clou: Das neue Implantat enthält ein kleines
Magnetsystem. „Über einen Magnetcontroller
kann ich dann den Stab von außen ohne weitere Eingriffe anpassen“, erklärt der Chefarzt der
Wirbelsäulenchirurgie Priv. Doz. Dr. Michael Ruf
(im Bild links). Die Skoliose ist eine mehrdimensionale Verkrümmung der Wirbelsäule, bei der
die Wirbelkörper um die eigene Achse verdreht
und meist auch deformiert sind. In Deutschland
leiden rund 400.000 Menschen an Skoliose.
www.klinikum-karlsbad.de
www.youtube.com
 Stichwort: mitwachsende Implantate
Chefarzt Dr. Reinhard F. Lang mit
einer Herzhosen-Patientin
Herzhose lässt
natürliche Bypässe
wachsen
Ein neues Verfahren bietet Herzpatienten mit Gefäßverengungen und
-verschlüssen eine schonende Alternative zu Operationen und künst­
lichen Bypässen: Bei der Methode, die das SRH Gesundheitszentrum
Bad Wimpfen im Mai eingeführt hat, kommt eine sogenannte Herzhose zum Einsatz. Dem Patienten werden dabei Manschetten um Beine und Gesäß gewickelt, die das Blut von dort beschleunigt in Richtung Herz pumpen – ähnlich wie beim Sport.
Dadurch erweitert der Körper die Nebengefäße des Herzens
und bildet natürliche Bypässe aus. Der Vorteil des Verfahrens ist, dass
die Herzfrequenz – anders als bei sportlichen Aktivitäten – nicht wesentlich ansteigt. Das Herz wird also geschont und erhält dennoch die
notwendigen Impulse, um das Wachstum neuer Blutbahnen im Herzen zu stimulieren. „Von dieser Therapie profitieren insbesondere
Menschen, die aufgrund gesundheitlicher und körperlicher Einschränkungen nicht in der Lage sind, Sport zu treiben“, erklärt Dr. Reinhard
F. Lang, Chefarzt der Kardiologie am SRH Gesundheitszentrum Bad
Wimpfen. Deutschlandweit wird die Herzhose derzeit nur in Bad Wimpfen, an der Berliner Charité und in Düsseldorf eingesetzt.
www.gesundheitszentrum-badwimpfen.de
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Impressum
Herausgeber:
SRH Holding (SdbR), Bonhoefferstraße 1, 69123 Heidelberg, Internet: www.srh.de
Nils Birschmann, Direktor Kommunikation
Redaktion (SRH) und Kontakt:Christiane Wolf, SRH Holding, Telefon: 0 62 21/82 23-123, Fax: 0 62 21/82 23-06123,
E-Mail: [email protected]
Redaktion und Gestaltung:Siccma Media GmbH, Köln, Internet: www.siccmamedia.de
Redaktion: Ulrike Heitze, Julian Kerkhoff, Iki Kühn, Melanie Rübartsch, Kirstin von Elm
Art-Direction: Ulrich Schmidt-Contoli
Gestaltung: Periodical.de, Bildredaktion: Karin Aneser
Druck:
abcdruck GmbH, Heidelberg, Internet: www.abcdruck.de
Bildnachweise: Andreas Reeg: Titel, Seite 10–13, Seite 18; Kay Herschelmann: Seite 2; Timo Volz: Seite 4–5; Frank Siemers: Seite 6–7; cydonna/photocase:
Seite 8; SRH Burgenlandklinik: Seite 9; Sergey Nivens/shutterstock: Seite 14; Annette Mueck: Seite 16; SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach:
Seite 17 oben; SRH Krankenhaus Sigmaringen: Seite 17 unten; Karl-Heinz Frank: Seite 20–22; SRH Wald-Klinikum Gera: Seite 22 unten rechts;
SRH Hochschule Heidelberg: Seite 23; Maurice Vink: Illustrationen Seite 24–25; privat: Seite 25 oben; SRH Wald-Klinikum Gera: Seite 25 unten;
SRH Leonardo da Vinci Gymnasium: Seite 26 oben; SRH Hochschule Berlin: Seite 26 unten; Fotolia: Seite 27; Ulrich Schmidt-Contoli: Illustration
Seite 28; SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach: Seite 28 unten; Icons made by Freepik from www.flaticon.com
Erscheinungsweise:
vier Ausgaben pro Jahr (17.000 Exemplare)
Alle Rechte vorbehalten. Reproduktion nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Herausgebers und der Redaktion.
Für unverlangt eingesandtes Material übernimmt die Redaktion keine Gewähr.
Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 10. Juli. Die nächste Ausgabe von perspektiven erscheint im Oktober 2015.
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Auch Azubis
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