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Basiswissen | Aufgaben und Lösungen
◮ Autoren, Werke und Epochen | Werke | Agnes
Skript
Werke
Agnes
Übersicht
1 Kontext und Einordnung
1
2 Formaler Aufbau
2.1 Romanstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1
2.2
Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 Handlung
3.1
3.2
3.3
2
3
Kapitel 1 – Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 2-35 – Rückblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
3
3.2.1
3.2.2
Kapitel 2-8 – Beziehung und punktuelles Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 9-17 – Fiktion und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
4
3.2.3
3.2.4
3.2.5
Kapitel 18-23 – Trennung und Flucht in die Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 24-29 – Wiederaufnahme der Beziehung und emotionale Distanz . . . . . .
Kapitel 30-35 – Schluss der fiktiven Geschichte und Agnes’ Verschwinden/Tod . .
5
6
6
Kapitel 36 – Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
4 Charaktere
8
4.1
4.2
Agnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
10
4.3
Louise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
5 Themen und Orte
12
6 Motive und Symbole
14
7 Erzählweise, Sprache und Stil
18
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◮ Autoren, Werke und Epochen | Werke | Agnes
Skript
Textgrundlage: Peter Stamm: Agnes, 18. überarb. Aufl., Frankfurt a. M.,
Fischer Verlag 2013 (Erstausgabe 1998).
1 Kontext und Einordnung
Agnes ist ein Roman des schweizerischen Schriftstellers
Peter Stamm aus dem Jahre 1998 und spielt in Chicago.
Der namenlose, personale Ich-Erzähler schreibt von seiner
gescheiterten Liebesbeziehung mit Agnes, einer Physikstudentin. Im Roman werden Themen wie Identität und
Selbstentfremdung, Isolation und Anonymität sowie das
Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit behandelt. Dabei
ziehen sich Leitmotive wie Kälte, Tod, Wärme und Leben
durch die Handlung. Agnes weist, etwa mit seinen vielen
intertextuellen Bezügen, zahlreiche Merkmale des postmodernen Romans auf.
Abb. 1: Peter Stamm in Genf, 2012.
Quelle: wikipedia.org – Ludovic Péron
(CC-BY-SA-3.0).
2 Formaler Aufbau
2.1 Romanstruktur
Stamms Roman scheint auf den ersten Blick wie lose zusammengestellt: Die 36 sehr kurzen Kapitel
wirken wie in einer Collage aneinandergereihte Bilder – zwischen einzelnen Kapiteln liegen meist kurze Zeitsprünge. Handlungsvorantreibende Kapitel wechseln sich mit solchen ab, deren tiefer Sinn sich
zunächst nicht erschließt, wie im Fall des siebten Kapitels, als der Erzähler (im Folgenden E.“) neben
”
einer unästhetisch dicken, schwitzenden Frau sitzt.
In Wahrheit aber besitzt Agnes eine strenge Form. So entsprechen die 36 Kapitel der Dauer der Beziehung von Agnes und E., der Zeitspanne der Geschichte insgesamt sowie der Dauer einer Schwangerschaft (9*4=36). Außerdem unterstreicht die chronologische Vorgehensweise des Erzählers den fast
mathematisch anmutenden Aufbau.
Das Buch lässt sich in mehrere Abschnitte gliedern. Das erste und das letzte Kapitel spielen in der
Erzählgegenwart und bilden den Rahmen des Romans. Erzähltempus ist das Präsens. In Kapitel 2
setzt E.s Rückblende ein. Bis Kapitel 35 gibt er das Geschehen aus personaler Perspektive wieder.
Erzähltempus ist hier das Präteritum.
Dieser Hauptteil lässt sich wiederum untergliedern. In den Kapiteln 2-8 lernen sich Agnes und E. kennen
und beginnen ihre Liebesbeziehung. E. fängt in Kapitel 9 an, seine Geschichte von Agnes zu schreiben.
Daraufhin (bis Kapitel 18) gestaltet sich das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fiktion als schwierig.
Während E. mit seiner Geschichte in Kapitel 11 die Gegenwart erreicht, stößt er ein Kapitel später in die
Zukunft vor.
Die Kapitel 19-23 stehen im Zeichen der Trennung und der Flucht E.s in seine fiktive Geschichte. Danach
kommt es zur Wiederaufnahme der Beziehung bei emotionaler Distanz zwischen den Protagonisten
(Kapitel 24-29). Die Kapitel 30-35 können sowohl mit den vorangegangenen Kapiteln eine Sinneinheit
bilden als auch als eigener Block betrachtet werden. E. beendet seine fiktive Geschichte und Agnes verschwindet, wobei ihr Schicksal offen bleibt. Erzählzeit und Zeit der Geschichte Agnes fallen für einen
kurzen Moment wieder zusammen, die Wirklichkeit hat die Fiktion eingeholt.
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◮ Autoren, Werke und Epochen | Werke | Agnes
Das
letzte
Skript
Kapitel
endet in der Erzählgegenwart.
Erzähl-
Erzählzeit
Tod / Verschwinden
von Agnes
Gegenwart
tempus ist wiederum
das Präsens. Deshalb
Zeitverlauf Geschichte Agnes
besitzt der Roman
eine Ring- oder Zirkelstruktur.
Rückblende endet
Zeitverlauf im Roman
A. erreicht Zukunft:
Agnes = Geschöpf
Textteile der Geschichte Agnes wer-
Agnes erreicht
Gegenwart
E.s Rückblende
setzt ein
den kursiv gedruckt
im Roman integriert,
E.s Agnes
setzt ein
Vergangenheit
bis auf wenige Ausnahmen.
1
Episoden aus der Vergangenheit der Protagonisten
tauchen
= Gegenwart der Protagonisten der Erzählung
2
9
11 12
36
Kapitel
Abb. 2: Schematische Darstellung der zeitlichen Struktur von Agnes.
Der Roman besitzt eine Ringstruktur: Anfang und Ende fallen zeitlich zusammen. Schematisch lässt sich der
Aufbau aber besser in einem linearen System darstellen, auch weil mit E.s Geschichte über Agnes eine weitere
im Dialog oder in
reflektierenden Pas-
Dimension hinzukommt. Diese Geschichte holt das Romangeschehen erst ein und überholt es dann. Mit Agnes’
literarischem Tod und ihrem Verschwinden fallen Geschichte und Romangeschehen wieder zusammen.
sagen E.s auf.
Insgesamt erinnert der Romanaufbau an das pointillistische Gemälde Seruats (Kap. 14), da sich die Episoden erst durch ihre Verbindung im Gedächtnis des Lesers zu einem Gesamtbild fügen.
2.2 Intertextualität
In Agnes finden sich zahlreiche Referenzen zu literarischen und nicht-literarischen Texten. Literaturwissenschaftler sprechen in diesem Fall von Intertextualität. Dies bedeutet, dass literarische Texte nicht
isoliert, aus sich heraus verstanden werden können, sondern dem Einfluss anderer Texte und Textstrukturen unterliegen. Dieser Einfluss kann in Form von Zitaten oder Verweisen sichtbar sein.
So finden sich im Roman Referenzen zu Gedichten, z. B. Robert Frosts Stopping in the Woods on a Snowy
Evening, William Shakespeares Sonnett XVIII oder Dylan Thomas’ A Refusal to Mourn the Death of a Child,
by Fire, in London, und zu nicht-literarischen Werken, z. B. zu den Bildern von Georges Seurat (Un Dimanche d’été àl’ı̂le de la Grande Jatte) und Ernst Ludwig Kirchner (Gebirgslandschaft) oder zum Theaterplakat
Oskar Kokoschkas (Mörder, Hoffnung der Frauen). Diese Anspielungen eröffnen jeweils neue Interpretationsmöglichkeiten für Agnes und sind mit den Leitmotiven des Romans verknüpft (s. u.).
Auch die text- oder werkimmanenten Bezüge können unter Intertextualität gefasst werden. Dazu zählen
die tote Frau auf dem Bürgersteig vor dem Restaurant, Agnes’ eigene Kurzgeschichte, die von E. verfasste Geschichte Agnes und einzelne Episoden. Allerdings ist hier Vorsicht geboten, da text- oder werkimmanente Bezüge mitnichten ein neues literarisches Konzept oder gar eine Erfindung der Postmoderne
sind.
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3 Handlung
3.1 Kapitel 1 – Einstieg
(1) E. beginnt mit der Bemerkung: Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet [farbige Markierung u.
”
Hervorhebung jew. d. Verfasser, M. U.].“ Durch diesen Einstieg und die Betonung des Todes wird die
Aufmerksamkeit des Lesers von Anfang an in eine bestimmte Richtung gelenkt. Auch ist mit dem Tod
gleich ein zentrales Motiv des Romans eingeführt.
Wir erfahren, dass es kalt war, als sich E. und Agnes kennenlernten und dass der böige Wind auch durch
das Isolierglas der Fenster noch hörbar ist. Das Isolierglas steht für Distanziertheit, während die Kälte,
genau wie die leeren Plätze draußen und die Nacht, auf den inneren Zustand des Erzählers verweist.
Dieser trägt sich mit Suizidgedanken, wobei nur die Fenster, die sich nicht öffnen lassen, ihn vom Tod
trennen. In seiner depressiven Stimmung sieht er sich zum wiederholten Male ein Video von sich und
Agnes an. Er thematisiert Agnes’ Ängste und verweist auf die Sprachlosigkeit zwischen ihnen ( dann
”
sprach sie nicht mehr davon [von ihren Ängsten]“), womit ein weiteres Motiv des Romans eingeführt
wird.
3.2 Kapitel 2-35 – Rückblende
3.2.1 Kapitel 2-8 – Beziehung und punktuelles Glück
(2) In einer Rückblende beginnt E. das Geschehene zu erzählen. Er lernt Agnes im April in der Public Library kennen, als er Recherche für sein neues Sachbuch betreibt. Ihre Gegenwart – sie setzt sich
ihm direkt gegenüber – verunsichert ihn und raubt ihm die innere Ruhe, woraufhin er die Bibliothek
verlässt, um eine Zigarette zu rauchen. Wie wir erfahren, kennt E. niemanden in Chicago, was sich erst
ändert, als Agnes neben ihm auf der Freitreppe vor der Bibliothek Platz nimmt. Dem gängigen Klischee
entsprechend kommen sie ins Gespräch, als E. ihr Feuer anbietet.
(3) In den nächsten Tagen sehen sie sich in der Bibliothek wieder,
(4) bis E. Agnes in ein Restaurant einlädt. Vor dem Restaurant liegt eine tote Frau, die nicht älter ist als
Agnes. Nach dem Essen kommen sie auch auf das Thema Tod zu sprechen, wobei Agnes kühl feststellt,
dass E. nicht lange über diesen Gegenstand nachgedacht hat.
(5) Am Ende des Abends schlafen sie miteinander, wobei es für Agnes das erste Mal ist, was stark mit
der nüchternen, leidenschaftslosen Schilderung E.s kontrastiert. Als sie in der Dämmerung erwachen,
fragt Agnes, ob E. Bücher schreibe, weil er keine Kinder habe. Damit taucht ein Motiv erstmals auf, das
im Laufe der Romanhandlung an Bedeutung gewinnt: Das Spurenhinterlassen. Während E. meint, er
wolle nicht ewig leben und keine Spuren hinterlassen, entgegnet ihm Agnes einfach Doch“.
”
(6) Dieses Motiv kehrt im nächsten Kapitel wieder. Der Doktorandin Agnes – sie hat eine Assistenzstelle an der Universität inne – gefällt der Gedanke, dass andere, die sich mit ihrem Thema befassen, eines
Tages auf ihre Dissertation stoßen werden. Wie im weiteren Gesprächsverlauf klar wird, ist es Agnes
wichtig, nicht spurlos von der Welt zu verschwinden. Auch erfahren wir von ihrer problematischen Beziehung zu ihrem Vater und davon, dass E. früher versucht hat, einen Roman zu schreiben.
(7) E. erzählt, dass er sich wieder besser auf seine Arbeit konzentrieren kann, seit er Agnes kennt. Nun
befindet er sich im Zug nach New York, weil er auf Bücher von dort angewiesen ist. In diesem Zug
sitzt er neben einer überaus dicken Frau, die gemäß seiner Beschreibung ( [sie] roch nach altem saurem
”
Schweiß. Ihr weiches Fleisch quoll über die Armlehne zwischen uns“) widerlich anmutet. Sie liest ein
Buch mit dem Titel What Good Girls Don’t Do – offensichtlich eine Anleitung zu schmutzigem Sex, was
die Szene grotesk wirken lässt.
Wenngleich das Kapitel die Handlung nicht vorantreibt, hat es Verweischarakter: Zum einen steht die
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Aussage es war mir nicht möglich, ihrer Berührung auszuweichen“ für generelle Berührungsängste
”
des Erzählers, der darauf bedacht ist, Distanz zu wahren und anonym zu bleiben. Zum anderen thematisiert das Kapitel die Liebe zwischen zwei Unbekannten, vergleichbar mit der Geschichte von Herbert
und der Frau (3).
(8) E. kommt aus New York zurück und betritt erstmals Agnes’ Wohnung, die auf ihn unbelebt wirkt.
In diesem Kapitel finden sich zahlreiche intertextuelle Bezüge. Dies bedeutet, dass konkrete Bezüge zu
anderen literarischen Texten oder Kunstformen auftauchen. Besonders interessant ist hier Oskar Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen, da es auf Beginn ( Eine Geschichte hat [Agnes] getötet.“) und
”
Ende des Romans verweist. Agnes erzählt E. von Herbert und lässt ihn eine von ihr geschriebene Kurzgeschichte lesen, die ebenfalls Parallelen zum Romanbeginn hat und die innere Distanziertheit zwischen
ihr und E. bei gleichzeitiger körperlicher Nähe betont. E gibt zu verstehen, dass die Geschichte wie eine
mathematische Formel wirke, dabei muss er sich eingestehen, dass sie besser geschrieben ist als alles,
was er in den letzten zehn Jahren geschrieben“ hat. Demnach ist sein Urteil durch Neid getrübt.
”
Im weiteren Verlauf des Kapitels taucht zum ersten Mal die Punktmetaphorik auf. Agnes zeigt E. ihre
Arbeiten über Symmetrie, wobei dieser auf den Glasplatten überall winzige Punkte erkennt. Das Geheimnisvolle ist für sie jedoch die Leere in der Mitte, die Punkte befinden sich also außen, wie auch die
Lichtpunkte auf dem Bildschirmschoner ihres Computers.
3.2.2 Kapitel 9-17 – Fiktion und Wirklichkeit
(9) Agnes bittet E. am Vorabend des Unabhängigkeitstages (3. Juli), eine Geschichte von ihr zu schreiben. Dieser wehrt zunächst ab. Ein früherer Schreibversuch scheiterte daran, dass sich seine damalige
Freundin in einer seiner Kurzgeschichten wiedererkannte und sich von ihm trennte. Hier umreißt der
Erzähler erstmals die Bildnis- und Identitätsproblematik, die auch bei Max Frisch auftaucht, neben
Dürrenmatt der alles überragende schweizerische Autor des 20. Jahrhunderts. E. fürchtet, letztlich keine Kontrolle darüber zu besitzen, was er schreibt. Während Agnes E. zum Schreiben auffordert, weil
sie wissen will, was dieser von ihr hält, willigt er schließlich ein, um herauszufinden, ob er noch in der
Lage ist, Geschichten zu schreiben.
Die Entscheidung E.s, Agnes’ Bitte nachzukommen, bedeutet einen Wendepunkt im Buch. Fortan entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Fiktion (die literarische Agnes) und Wirklichkeit (die reale
Agnes). Als Agnes das Feuerwerk zur Einleitung des Independence Day nicht ansehen möchte, schreibt
E. kurzerhand: Am Abend des dritten Juli gingen wir auf die Dachterrasse und schauten uns gemeinsam das
Feuerwerk an. Dass Agnes der literarischen Aufforderung folgt, ist wegweisend für die weitere Handlung.
(10) Nun drängt Agnes E. dazu, die Geschichte wirklich anzufangen. Ihre Vorgabe ist, dass es schon
stimmen muss, E. also nicht einfach frei, von der Wirklichkeit losgelöst schreiben darf. Weil E. die Geschichte anders beginnt, als er sie dem Leser zuvor geschildert hat, handelt es sich bei ihm um einen
unzuverlässigen Erzähler. Agnes aber ärgert sich, dass E. eine von ihr als Schwäche empfundene Eigenschaft aufdeckt: Sie wird schnell rot, wenn sie aufgeregt ist. Zu sehr soll die Geschichte also auch
nicht stimmen. Daher wird Agnes aus dem Kopf des Erzählers neu geboren, weise, schön und unnah”
bar“.
(11) Im Spätsommer erreicht E. mit seiner Geschichte die Gegenwart. Beim Ausflug in einen Park betrachtet E. die schlafende Agnes und verspürt ein Gefühl der Entfremdung. Gleichzeitig meint er, sie
wirklicher, unmittelbarer als jemals zuvor zu sehen. Dies steht in deutlichem Bezug zu Agnes’ Kurzgeschichte (8).
(12) Mittlerweile fühlt E. eine fast körperliche Abhängigkeit von Agnes, was ihn demütigt. Ohne sie ist
er ein halber Mensch“, mit ihr fühlt er sich wie berauscht“. Mit der Geschichte stößt er in die Zu”
”
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kunft vor, weshalb sich bei Agnes der Verlust ihrer selbstbestimmten Identität abzeichnet. Sie ist nun
E.s Geschöpf“, der bereits weiß, was in Wirklichkeit geschehen wird.
”
(13) Agnes fügt sich der Rolle, die E. für sie schreibt. Sie will wissen, was sie zu tun hat und möchte
dabei keine Fehler machen. Sie folgt der Aufforderung E.s in der Geschichte, zu ihm zu ziehen – in der
Realität fragt er sie nicht, sondern druckst herum, was sich in Anakoluthen (Satzbruch) äußert: Aber
”
ich habe gedacht ... du bist so selbständig ...“. Obwohl Agnes auch hier der literarischen Vorlage folgt,
zeigt sich, dass E., wie von ihm befürchtet, nicht die volle Kontrolle hat, denn statt dass sie sich auf der
Dachterrasse seines Wolkenkratzers die Sterne ansehen, regnet es in der Nacht und Agnes holt sich eine
Erkältung.
(14) Schnell wird das Leben des Paares vom Alltag bestimmt. Manchmal spielen sie die von E. geschriebene Rolle, doch ist ihr Leben nicht spannend genug für eine Geschichte. Während Agnes durchaus
glücklich scheint, ist E. nicht ganz zufrieden, da er seine Geschichte nicht weiterspinnen könne, denn
Glück sei nicht zu beschreiben. Auf der Suche nach einem Bild von glücklichen Menschen stoßen sie auf
ein pointillistisches Gemälde Seurats. Agnes stellt fest, dass man Glück mit Punkten malt, Unglück
hingegen mit Strichen.
(15) Im Oktober am Columbus Day (12.10.) unternehmen Agnes und E. einen Ausflug in einen Nationalpark. Fernab der Zivilisation fällt Agnes in Ohnmacht, was E. in panische Angst versetzt.
(16) Am darauffolgen Tag befindet Agnes sich in Einklang mit der Natur. Sie hat plötzlich keine Angst
mehr, spurlos in der Natur zu verschwinden. Sie erreichen eine verlassene Siedlung und betreten deren
Friedhof. Agnes stellt sich vor, dass bald Schnee liegen wird und stellt sich Erfrieren als eine schöne
Todesart vor. Diese Szene steht Pate für Agnes’ späteren literarischen Tod.
(17) In seiner Geschichte fragt E. Agnes, ob sie ihn heiraten wolle, woraufhin sie ganz selbstverständlich“
”
ja sagt – im wirklichen Leben hat E. nicht einmal an eine Hochzeit gedacht. Er führt seine Geschichte in
benommenem Zustand fort, wobei Wirklichkeit und Fiktion in einer Vision ineinander fließen, die mit
seinem Tod endet. Auch weil die Vision nicht wie die Geschichte E.s kursiv gesetzt ist, können Realität
und Fantasie nicht mehr voneinander getrennt werden. E. lässt sich immer mehr von seinem Bild leiten,
das er sich von Agnes gemacht hat.
3.2.3 Kapitel 18-23 – Trennung und Flucht in die Fiktion
(18) An Halloween trennen sich die Wege der Protagonisten. E. kann diesem amerikanischen Fest der
Masken und Verkleidungen nichts abgewinnen und folgt der Einladung der Bahngesellschaft Amtrak,
um nicht dem Umzug der Universität beiwohnen zu müssen. Die Begründung, es könne ihn bei seinem Sachbuch über Luxuseisenbahnwagen weiterhelfen, ist dabei nur vorgeschoben. Auf der Party der
Bahngesellschaft lernt er Louise kennen, die über Halloween, die USA und insbesondere amerikanische
Frauen spöttelt. Beide teilen ein Gefühl der Fremdheit in Amerika. Louise ist offensichtlich an E. interessiert und bietet ihm an, Einsicht ins Archiv von Amtrak zu nehmen, was ihm bei seiner Arbeit helfen
könnte.
(19) Für E. überraschend eröffnet Agnes ihm, dass sie trotz Antibabypille schwanger sei. E. ist unfähig,
auf diese Nachricht zu reagieren, denn [die literarische] Agnes wird nicht schwanger“. Er rät ihr zur
”
Abtreibung.
(20) E. geht daraufhin spazieren und sieht bezeichnenderweise nur sein eigenes Spiegelbild. Er erzählt,
dass es bereits zuvor mit einer Frau zur Trennung kam, weil sie nicht mit dem Bild übereinstimmte, das
er sich von ihr gemacht hatte. Als E. nachhause kommt, ist Agnes verschwunden.
(21) Versuche, Kontakt mit ihr aufzunehmen, scheitern. Stattdessen wendet sich E. an Louise und erzählt
ihr, dass Agnes ihn verlassen habe, wobei er die Schwangerschaft verschweigt. Louise lädt ihn zum
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Thanksgiving-Essen bei ihren Eltern ein. E. hat nach dem Gespräch ein schlechtes Gewissen, als habe er
Agnes betrogen. Derweil schreibt er seine Geschichte über Agnes weiter. Die alptraumhafte Vision (17)
ersetzt er durch eine kitschige Handlung, nach der er seine Vaterschaft akzeptiert.
(22) Auf dem Thanksgiving-Dinner sprechen E. und Louise, selbst halb Französin, halb Amerikanerin,
über die Unterschiede zwischen Europa und Amerika. Das Bild, das sich beide voneinander machten,
habe mehr mit ihnen selbst zu tun als mit der Realität (Bildnisproblematik). Louises Eltern behandeln
E. wie ihren zukünftigen Schwiegersohn. Mit Nachdruck bittet Louise E. darum, in ihrem Büro vorbeizukommen.
(23) Dieser Bitte kommt E. nach. Noch immer beschäftigt ihn der Pullman-Streik. E. denkt, dass der
Streikt keine materiellen Ursachen hatte, sondern dass es um Freiheit ging. Erneut taucht das Motiv des
falschen Bildes auf, da der Patriarch Pullman in seinen Augen ein Paradies für seine Arbeiter geschaffen hatte. Der Besuch im Archiv bringt E. beruflich nicht weiter. Er küsst Louise, die sich nach eigener
Aussage nur amüsieren will.
3.2.4 Kapitel 24-29 – Wiederaufnahme der Beziehung und emotionale Distanz
(24) Während er mit Louise zusammen war, dachte E. nicht an Agnes. Dafür widmet er sich nun seiner
Fiktion: In der Geschichte lässt er sein Kind zur Welt kommen. Die von ihm entworfene Vorstellung –
Es war der glücklichste Sommer meines Lebens – steht in scharfem Kontrast zur Wirklichkeit. E. lässt sich
so von der Fiktion leiten, dass er sich sicher ist, wieder mit Agnes zusammenzukommen. Er bekommt
einen Anruf, dass Agnes sehr krank sei. Erst Tage später geht er zu ihr und kauft das Buch über Babys
How to Survive the First Two Years.
(25) Agnes hat eine Fehlgeburt erlitten.
(26) Sie zieht wieder zu E., der ihr von Louise erzählt und gekränkt ist, als sie keine Eifersucht zeigt.
Agnes bittet ihn, die Geschichte fortzuschreiben, jedoch so, dass das Kind zur Welt gekommen ist: Du
”
musst es aufschreiben, [...] du musst uns das Kind machen. Ich habe es nicht geschafft.“
(27) In völliger Verdrängung der Realität kaufen sie Kuscheltiere und Babykleider. Agnes ist tränenüberströmt. Als sie nachhause kommen, bricht sie zusammen: Sie schauen uns an. Alle schauen uns
”
an, wenn wir Kindersachen kaufen. Alle wissen es. Es ist eine Lüge.“
Deshalb soll E. sich in seiner Geschichte nun doch an die Realität halten. Als sie über Literatur sprechen,
erzählt Agnes, dass sie sich ungewöhnlich stark mit Literatur identifiziert. Da Bücher eine große Gewalt
über sie hätten, lese sie nicht mehr viel.
(28) Agnes und der Erzähler haben sich voneinander entfremdet. Physisch und emotional wendet sie
sich von ihm ab. Bezeichnenderweise schmecken nicht einmal die Lebkuchen, die sie backen, richtig. Im
Gegensatz zur inneren Zurückgezogenheit ist Agnes äußerlich sehr aktiv.
(29) An Heiligabend erhält E. ein Paket von Louise, die ihn auch zu einer Silvester-Party einlädt. Mit
Agnes kommt es zum Dissens darüber, wer wen verlassen hat. Sie schlafen miteinander, was Agnes als
Geschenk ihrerseits bezeichnet. Sie sei zurückgekommen, weil sie E. liebe.
3.2.5 Kapitel 30-35 – Schluss der fiktiven Geschichte und Agnes’ Verschwinden/Tod
(30) Agnes hat sich auf dem Dach des Doral Plaza schwer erkältet und auch die Liebesbeziehung mit
E. kühlt deutlich ab: Als Agnes sich mit dem Gedicht A Refusal to Mourn the Death, by Fire, of a Child in
London (Die Weigerung, den Feuertod eines Kindes in London zu beweinen) von Dylan Thomas befasst, wird
deutlich, dass sie sich die Verdrängung ihrer Fehlgeburt und vielleicht den Tod des ungeborenen Kindes selbst vorwirft. Bezeichnenderweise sagt E. zum Gedicht nur: Ich verstehe es nicht.“ So versteht er
”
auch den emotionalen Zustand Agnes’ nicht und lässt sie weinend in der Wohnung zurück, während
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er draußen in der Kälte die Anonymität sucht, was erneut Symbolcharakter hat. Als er zurückkommt,
schreibt er die Geschichte wie im Rausch fort. Er schreibt einen Schluss der Geschichte, von dem der
Leser aber nur Teile erfährt. Dieses Ende ist laut E. unzumutbar für Agnes, unerträglich für mich“. Er
”
beschließt, einen guten Schluss zu finden.
(31) E. widmet sich erneut seiner Geschichte, wobei er die Realität beschönigt. Er schreibt ein Happy
End. Die reale Agnes wünscht, dass er die Geschichte nicht zuende schreibt: Wir brauchen sie nicht.“
”
Allerdings ist E. bereits fertig.
(32) Mit dem Ende sind beide nicht zufrieden. E. findet es nicht lebendig, nicht wahr“ und weicht
”
Agnes’ Blick aus. Kurzerhand ersetzt er es mit Schluss2, den er zuvor verworfen hatte. Während die
reale Beziehung völlig zerrüttet ist, gibt sich E. ganz der Geschichte hin und schreibt sich erneut in
einen Rausch. Agnes lügt er an und behauptet, er arbeite an seinem Buch über Eisenbahnwagen. Sie ist
noch immer krank, was E. gereizt werden lässt. Er beschließt, zu Louises Silvesterfeier zu gehen. Agnes
widerspricht nicht, wirkt jedoch resigniert: Ich mag nicht streiten [...], ich bin müde und krank.“
”
(33) Auf der Party meint Louise, dass Amerikanerinnen immer krank seien, um Männern ein schlechtes
Gewissen zu bereiten. Wenn sie mit einem Mann schliefen, dann redeten sie so, als hätten sie ihm einen
Dienst erwiesen. Damit beschreibt sie mit anderen Worten Agnes’ Geschenk“ an E. Später ziehen sie
”
sich auf ihr Zimmer zurück. Sie schließt die Tür hinter ihnen ab, was auf sexuelle Handlungen zwischen
beiden hinweist.
(34) Louise fährt E. nachhause, der ihr erst jetzt eröffnet, dass er wieder mit Agnes zusammen ist. Louise ist deutlich verärgert. Völlig desorientiert irrt sich E. im Stockwerk, wobei er bezeichnenderweise
eine Etage tiefer gelandet ist. Auf dem Weg nach oben im Treppenhaus hört E. den Lift vorbeifahren
(Agnes?).
(35) Als er die Wohnung betritt, hört er das Summen seines Computers. Agnes hat den Schluss der
Geschichte gelesen, den E. heimlich geschrieben hatte. Erstmals erfährt auch der Leser, wie die Fiktion
endet: Agnes fährt mit dem Zug nach Willow Springs und sucht offenbar die Lichtung im Wald, auf der
sie einst mit E. gelegen hat. Sie findet sie und legt sich mit dem Gesicht nach unten hin, offensichtlich,
um zu sterben. Dabei geschieht etwas Merkwürdiges:
Langsam gewann sie das Gefühl zurück, erst in den Füßen, in den Händen, dann in den Beinen und
Armen, es breitete sich aus, wanderte durch ihre Schultern und ihren Unterleib zu ihrem Herzen, bis
es ihren ganzen Körper durchdrang und es ihr schien, als liege sie glühend im Schnee, als müsse der
Schnee unter ihr schmelzen.
Als E. ins Schlafzimmer geht, ist Agnes nicht da.
3.3 Kapitel 36 – Schluss
(36) Wir befinden uns wieder in der Erzählgegenwart. Agnes ist nicht zu E. zurückgekehrt. Obwohl
E. zu verstehen gibt, dass er die ganze Nacht und den ganzen Tag auf sie gewartet hat, nimmt er den
Hörer nicht ab, als sein Telefon klingelt. Offenbar hat er mit ihr abgeschlossen. Stattdessen beschäftigt er
sich mit ihrem Video aus dem Nationalpark. Sein Bild von Agnes hat die reale Person somit vollständig
ersetzt.
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4 Charaktere
4.1 Agnes
Die titelgebende Agnes ist eine höchst rätselhafte Figur. Ihr Name – nach eigener Aussage von vielen
als seltsam“ empfunden (S. 16) – bedeutet so viel wie rein, geheiligt, geweiht“ (gr. hagnos), spielt aber
”
”
auch auf das unschuldige Lamm Gottes an (lat. agnus). Durch das dem Roman vorangestellte Gedicht
John Keats’ wird der Bezug auf die heilige St. Agnes deutlich, welche als geweihte Jungfrau für die
Keuschheit steht. Passend dazu erlebt Agnes mit E. ihr erstes Mal, ist also am Anfang des Romans noch
unberührt.
Jede Charakterisierung von Agnes wird sich mit dem Problem auseinandersetzen müssen, dass alle Informationen über sie vom unzuverlässigen personalen Erzähler stammen. Demnach steht jeder Leser
nicht nur vor der Herausforderung, eine geheimnisvolle literarische Figur zu enträtseln; er sieht sich
darüber hinaus nur mit dem Bild dieser Figur konfrontiert, das der Erzähler von ihr zeichnet. Selbst
dieser beschreibt Agnes jedoch als nicht leicht zu entschlüsselnde Person: Äußerlich unscheinbar, ist ihr
Blick außergewöhnlich; in ihren Augen sieht er etwas, was er nicht versteht (S. 15).
Erst aus der Gesamtperspektive ergibt sich ein einigermaßen scharfes Bild von Agnes, womit erneut der
Bezug zu Georges Seurats Un Dimanche d’été à l’ı̂le de la Grande Jatte und zum Romanaufbau hergestellt
werden kann.
Agnes ist Mitte zwanzig und hat eine Assistenzstelle an der Universität inne als Doktorandin der Physik. Sie ist ein schüchterner, zurückgezogener Mensch und beschreibt sich selbst als nicht sehr sozial
(S. 20). Dem entspricht, dass sie nicht sehr geübt in Konversation ist – sie stellt nicht die Frage nach
E.s Arbeit, was allein die Höflichkeit gebieten würde (ebd.) – und dass sie ihre Anrufe auf E.s Telefon
umleiten lässt, wobei in neun Monaten ein einziger Anruf kommt (S. 135). Dem entsprechen Agnes’
kleine Rituale im Alltag: z. B. berührt sie nie fremde Menschen und vermeidet es, von ihnen berührt
”
zu werden. Gegenstände jedoch berührte sie unentwegt.“ (S. 62)
Mit Gegenständen fühlt sie sich gewissermaßen sicherer und daher ist sie auch als Physikerin selbstbewusst (S. 44f.). Dabei ist Agnes keine klischeehaft nüchterne Naturwissenschaftlerin, vielmehr gilt
ihre besondere Leidenschaft der Kunst: Sie spielt Cello, liebt Malerei und Gedichte. Es finden sich Hinweise auf ihre Tiefsinnigkeit, denn sie denkt über existentielle Fragen wie den Tod häufig nach. Dazu
kontrastieren die Ansichten E.s, die doch etwas flach sind ( Ich habe mir immer vorgestellt, dass man
”
sich irgendwann müde hinlegt und im Tod zur Ruhe kommt“ [S. 24]). Auf seine Oberflächlichkeit reagiert sie kühl.
E. beschreibt ihre Ansichten als streng (S. 21). Ihr Ernst wirkt unnahbar – Symbol hierführ das zu-sichZiehen der Bücher, als E. in der Bibliothek ihre Titel entziffern will –, wobei Agnes keinesfalls so sein
möchte (S. 55). Auffallend ist, dass Agnes ganz und gar nicht dem Bild einer jungen großstädtischen
Amerikanerin entspricht. Da sie lieber über Ideen, sprich abstrakte Dinge, als über sich selbst spricht
und nicht einmal gerne isst (S. 23), könnte man sie auch als etwas verkopft“ bezeichnen. Leibliche
”
Genüsse, wäre ein möglicher Schluss, scheinen für sie eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Dazu
passt auch, dass sie, bis sie E. kennenlernt, noch Jungfrau ist. Wichtig ist für sie, zu leben und Spuren
ihrer Existenz zu hinterlassen.
Ein hervorstechendes Merkmal ist sicherlich Agnes’ Pedanterie und die Pflege ihrer Rituale: Das Video
von ihrem Ausflug in den Hoosier National Forest hat sie sorgfältig beschrieben und doppelt unterstrichen (S. 10), an ihrem Arbeitsplatz in der Bibliothek richtet sie ihre Sachen immer genau und nach
demselben Muster aus (S. 13 u. S. 17); die Straße überquert sie nur auf dem Fußgängerstreifen, wenn
die Ampel Walk zeigt (S. 19). Wenn sie essen gehen, zelebriert Agnes ebenfalls seltsame Rituale (S. 61f.)
und sie ist dermaßen sauber, dass ihre eigene Küche aussieht, als sei sie nie benutzt worden“ (S. 112).
”
Ihre Ordnungsliebe geht so weit, dass sie, als sie E. zum ersten Mal verlässt, E.s Hemden und T-Shirts
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zusammenlegt und im Schrank deponiert, bevor sie geht (S. 95).
Allerdings kann Agnes’ Pedanterie auch dahingehend gedeutet werden, dass mehr dahinter steckt als
eine Neurose. Um herauszufinden, ob E. tatsächlich in der siebenundzwanzigsten Etage des Wolkenkratzers wohnt, geht sie mit ihm die Treppen, was beide völlig außer Atem bringt (S. 49). Die Stelle
kann auch so interpretiert werden, dass Agnes den Dingen auf den Grund gehen will, im Gegensatz
zum weniger tiefsinnigen Erzähler, dessen zwischenmenschliche Beziehungen ebenfalls oberflächlich
bleiben, weil er sich nicht öffnen, nicht auf eine Frau einlassen kann, sondern ein Bildnis von ihr fertigt.
Der Gegensatz zwischen den Charakteren wird in der gleichen Szene auch dialogisch umgesetzt:
Ich mag Fahrstühle nicht“, sagte Agnes, man verliert den Boden unter den Füßen“
”
”
Ich finde sie äußerst praktisch“, sagte ich und ging weiter, stell dir vor ...“
”
”
Ich möchte nicht so weit oben wohnen“, sagte Agnes und folgte mir, es ist nicht gut“ (S. 49)
”
”
Zweierlei ist an dieser Stelle bemerkenswert: Agnes wählt als Letztbegründung, dass es nicht gut [ist]“,
”
was keine rationale Begründung darstellt – schon gar nicht für eine Physikerin, welche die Dinge ansonsten rational erforscht. Außerdem möchte Agnes etwas eigentlich nicht, weil es ihrem Charakter
widerspricht und folgt E. schließlich. Dieses Muster ist typisch für den weiteren Handlungsverlauf.
Das Auf-Den-Grund-Gehen gibt Agnes Sicherheit, die sie ansonsten nicht besitzt. Sie scheint eher linkisch (sie verschüttet Kaffee) und ängstlich (S. 12). Wenn sie aufgeregt ist, wird sie schnell rot, was sie
nicht gerne hört (S. 54f.). Im Gespräch gibt sie nur wenig von sich preis, sondern diskutiert lieber über
Kunst, Politik, Wissenschaft und Ideen (S. 20f.).
Agnes beschäftigt sich häufig mit dem Tod. Ihre größte Angst ist, spurlos zu verschwinden. Deshalb
taucht in diesem Zusammenhang immer wieder das Motiv des Spurenhinterlassens auf (z. B. auf S. 31
u. S. 32). So deutet sie Stonehenge nicht als mystische Kultstätte, sondern als Versuch der prähistorischen
Menschen, ein Zeichen zu setzen, um nicht in der Natur unterzugehen und einfach zu verschwinden.
Das Bedürfnis, selbst Spuren zu hinterlassen, um zu zeigen, dass sie gelebt hat, lässt sie E. bitten, die
Geschichte zu schreiben.
Zu ihren Eltern hat Agnes eine gestörte Beziehung, insbesondere das Verhältnis zu ihrem Vater ist belastet (S. 29, S. 32f., S. 40f. u. S. 134f.). Wohl nicht zufällig könnte E. fast ihr Vater sein (S. 26). Vor dem
Hintergrund, dass sie von ihrem Vater nie die ersehnte Anerkennung bekam (S. 32f.), könnte ihre Beziehung zu E. als Kompensationshandlung gedeutet werden.
In dieser Beziehung wird Agnes’ devoter Charakter deutlich. Sie füllt ganz die Rolle aus, die E. durch
seine Geschichte vorgibt, und gibt so ihre Selbstbestimmtheit auf. Sie will von ihm wissen, was sie zu
tun hat und möchte keine Fehler machen (S. 65). So folgt sie auch E.s Aufforderung in der Geschichte,
zu ihm zu ziehen.
In der Natur findet Agnes für kurze Zeit zu sich selbst. Sie sieht aus wie eine Wilde und befindet: Aber
”
man könnte so leben [...], nackt und ganz nah an allem.“ Angst, spurlos zu verschwinden, hat sie in
diesem Moment nicht (S. 76).
Diese Selbstfindung ist freilich nicht von Dauer. Immer stärker lässt sie sich von E.s Geschichte lenken.
Dies korrespondiert mit ihrem Verhältnis zur Literatur, die eine solche Macht über sie hat, dass sie sich
fürchtet (S. 119f.). Durch die Schwangerschaft kommt es schließlich nicht nur zum Bruch zwischen ihr
und E., sondern auf einer anderen Ebene zwischen Realität (Agnes ist schwanger) und Fiktion ( Agnes
”
wird nicht schwanger“ (S. 89)). Ihre Aufforderung Es [die Geschichte] muss stimmen“ (S. 53 u. S. 119)
”
ist vergebens.
Letztlich lässt sich die Beziehung zwischen ihr und E. nicht mehr reparieren. Sie verfällt in Depressionen, wendet sich innerlich und äußerlich von ihm ab (Kap. 28) und fröstelt häufig, was auf die Kälte
und Entfremdung voneinander in der Beziehung verweist. Deshalb ist auch ihre Erkältung nach Weihnachten sinnbildlich für ihren inneren Zustand. Den Tod ihres ungeborenen Kindes kann sie nicht
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überwinden (S. 130f.).
Agnes Wunsch, E. möge die Geschichte nicht zu Ende schreiben, erhält durch den Schluss seinen Sinn,
denn sie scheint instinktiv zu erahnen, wie es ausgehen muss. Dabei bleibt dem Leser selbst überlassen,
wie er das Ende interpretiert. Jede Deutung muss jedoch die Frage berücksichtigen, ob die reale Agnes
der literarischen Agnes folgt, oder ob sie E. nur endgültig verlässt. Die literarische Agnes jedenfalls
sucht den Freitod im Schnee, wobei E. seine Geschichte an ihre Äußerung im Nationalpark (S. 78) anlehnt, als sie befindet, Erfrieren sei ein schöner Tod. Im Schnee tötet Agnes nun nicht ihr Gefühl ab, wie
sie es einst nach der Lektüre von Hesses Siddhartha versuchte, sondern sie gewinnt es nach und nach
zurück, bis es ihren ganzen Körper durchströmt und sie erfüllt, sodass ihr ist, als liege sie glühend
”
im Schnee, als müsse der Schnee unter ihr schmelzen.“ (S. 152). Damit steht ihr Tod im Schnee für ihre
zurückgewonnene Identität und für ein selbstbestimmtes, eigenes Leben. Die Metaphorik der äußeren
Wärme und inneren Kälte ist am Romanende auf den Kopf gestellt.
4.2 Erzähler
Alles, was wir in Agnes erfahren, stammt vom personalen Erzähler, der das Geschehen in der Ich-Form
schildert. Über sich selbst schreibt E. wenig. Weder teilt er dem Leser seinen Namen noch seine Vorgeschichte mit, was von Anfang an die Identifikation mit der Figur erschwert. Insgesamt bleibt E. unscharf, wie auf Agnes’ Video (S. 11). Auch das genaue Alter E.s erfahren wir nicht, doch könnte er fast
Agnes’ Vater sein.
Bereits in Kapitel 1, das eine Art Prolog bildet, spricht E. zentrale Motive des Romans an (s. o.), u. a.
die Sprachlosigkeit zwischen sich und Agnes. Aus der Bemerkung, dass Agnes sich an ihn klammerte,
ausgerechnet“ an ihn, könnte man auf so etwas wie Reue für sein Handeln schließen. Allerdings kon”
kretisiert sich dieser Verdacht in E.s Erzählung nicht, die nüchtern und sachlich daherkommt.
E. ist ein Sachbuchautor für historische Themen, der sich, wie es scheint, ohne rechte Leidenschaft an
seine Themen wagt und sich für die magere Ausbeute“ seines Lebens schämt (S. 30). Aus der Schweiz
”
stammend, schreibt er nun über amerikanische Luxuseisenbahnwagen und wohnt daher seit einer Weile
in den USA. Dort lebt er zurückgezogen und isoliert in der Großstadt Chicago (S. 14f. Ich kannte kaum
”
jemanden in der Stadt. Niemanden, um genau zu sein“). Seine Situation ist anscheinend so gewollt,
denn E. sieht in seinen Gefühlen eine Bedrohung, weicht ihnen aus (ebd.) und sucht immer wieder
bewusst die Anonymität (S. 19f.). Dazu passend wohnt er im siebenundzwanzigsten Stock eines Wolkenkratzers und ist so dem Leben gewissermaßen enthoben. Auch möchte er, anders als Agnes, keine
Spuren hinterlassen (S. 28).
Für E. scheint Kontrolle im Leben von enormer Bedeutung zu sein, wobei er sie nicht erlangt. Als Agnes
sich ihm erstmals gegenübersetzt, schaut er immer wieder zu ihr hin, er kann gar nicht anders. Zuvor hat
er bereits die Kontrolle über seine Arbeit verloren, denn nach eigener Aussage hat er sich in einem Nebenthema verrannt. Nicht die Kontrolle zu haben irritiert ihn in und so flüchtet er nach draußen (S. 13f.).
Später lehnt er Agnes’ Bitte, eine Geschichte über sie zu schreiben, zunächst mit der Begründung ab, er
habe keine Kontrolle über das Ergebnis (S. 50).
Eng mit dem Bedürfnis nach Kontrolle hängt auch die Bildnisproblematik zusammen. E. tendiert dazu, sich von seinen Frauen ein Bild zu machen, an dem sich dann die Wirklichkeit zu orientieren hat.
Bereits am Romananfang findet sich ein Hinweis darauf, dass sich E. von seiner Vorstellung leiten lässt:
In meinem Kopf war unsere [Agnes’ und E.s] Beziehung viel weiter gediehen als in Wirklichkeit. Ich begann schon, mir über sie Gedanken zu machen, hatte schon Zweifel, dabei hatten
wir uns noch nicht einmal verabredet. (S. 17)
E. selbst erzählt Agnes, dass sich seine damalige Freundin von ihm trennte, als sie sich in einer seiner
Geschichten wiedererkannte, wobei nicht klar wird, ob dies der Realität entspricht ( wir haben uns auf
”
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diese Version geeinigt“). Jedenfalls formt E. die Figuren seiner Geschichte nach dem Bild der Personen,
von denen er ausgeht (S. 50).
Auch in einem zweiten Fall führt das Bild, das sich E. von seiner Partnerin macht, zur Trennung. Als er
nach einem geplatzten Kondom gedanklich bereits Vater geworden war, die Wirklichkeit seiner Vorstellung aber nicht folgte, scheiterte die Beziehung:
Als sich schließlich herausstellte, dass meine Freundin nicht schwanger war, war ich enttäuscht
und nahm es ihr übel, als sei sie schuld daran. Kurz darauf trennten wir uns. Ich machte ihr
hässliche Vorwürfe, [...] einer Frau, die nur in meinen Gedanken existierte. (S. 92)
Diese Passagen gehören zu den wenigen Stellen des Buches, an denen wir Leser Persönliches von E.
erfahren. Gleichzeitig weisen sie Parallelen zu seiner Beziehung mit Agnes auf. E. formt auch die literarische Agnes nach seinem Bild, wobei die reale Agnes schließlich dem literarisch verarbeiteten Bild
folgen muss. Eine Parallele zur zweiten zitierten Textstelle ist, dass E. auch mit Agnes nicht Vater wird,
obwohl er dies in Gedanken schon ist. Es handelt sich hierbei um text- bzw. werkimmanente Bezüge:
Die unterschiedlichen Passagen stehen miteinander in Verbindung, wobei sich ihr ganzer Sinn erst erschließt, wenn der Leser selbst diese Verbindung herstellt.
Vor diesem Hintergrund können auch die Verweise auf den Pullman-Streik gelesen werden, in den
sich E. verrennt, obwohl der Streik nichts mit seinem eigentlichen Buchthema zu tun hat. Dass E. im
Protest der Arbeiter das Streben nach Freiheit sieht, hat wohl eher etwas mit eigenen Projektionen zu
tun als mit den historischen Begebenheiten (S. 144f.). Interessanterweise gibt es aber auch eine Parallele
zu Pullman selbst. E. schafft für Agnes eine ebenso starre Welt wie der Patriarch für seine Arbeiter, der
in seiner Stadt die absolute Kontrolle besaß.
Freiheit, auf der anderen Seite, ist für E. selbst ein wichtiges Gut, wichtiger noch als Glück und Liebe (S. 110). Dies belastet E.s Beziehungen mit Frauen, so auch mit Agnes. Letztlich mangelt es ihm an
Empathie (= Einfühlungsvermögen). Als Agnes ihm mitteilt, dass sie schwanger ist, steht er auf und
verlässt den Raum, um sich ein Bier zu holen. Danach setzt er sich neben sie, ohne sie zu berühren“.
”
In der gesamten Situation verhält E. sich kalt und abweisend, statt sich zu freuen, seine Verantwortung
anzuerkennen und seiner schwangeren Freundin beizustehen. Am Ende rät er ihr mehr oder minder
offen zur Abtreibung ( Man kann das ändern“) und verlässt die Wohnung, Agnes allein zurücklassend
”
(Vorstehendes S. 89-91).
Auch später, als die Beziehung für kurze Zeit wieder auflebt, besitzt E. keine emotionale Nähe zu seiner
Freundin. Vor die Wahl gestellt, geht er ausgerechnet auf Louises Silvester-Party, statt auf die kranke
Agnes aufzupassen. Ihren ausbleibenden Protest fasst er als Freifahrtschein auf, zur Feier zu gehen, obwohl sie in Wahrheit tief verletzt ist: Ich mag nicht streiten [...], ich bin müde und krank.“
”
Auf der Feier schläft er mit Louise, ohne ihr zu sagen, dass er eigentlich wieder mit Agnes zusammen
ist. Letztlich ist E. ein Egoist, was ihm von Frauen wiederholt vorgeworfen wurde (S. 92 u. S. 110).
Die treffendste Charakterisierung E.s stammt jedoch von Louise, die auch die Bildnisproblematik anspricht:
Zwischen uns war etwas, heute Nacht, und das war schön. [...] Und vielleicht würde mehr
daraus, wenn du offen wärst. Aber du warst von vornherein nicht bereit dazu. Du hast mich
von Anfang an in die eine Schublade geworfen. (S. 147)
E.s Rechtfertigungsversuche klingen matt, bemerkenswert ist aber seine Feststellung: Ich bin kein guter
”
Mann, Louise.“ (ebd.) An anderer Stelle wird ebenfalls deutlich, dass E. kein sehr positives Selbstbild
besitzt, auch was seine Lebensbilanz anbelangt (dazu S. 30 u. S. 48). Louise ruft E. noch hinterher, er
solle ihr einen von Agnes Schuhen mitbringen, vielleicht hätten sie dieselbe Größe. Damit spielt sie
offensichtlich darauf an, dass E.s Freundinnen austauschbar sind. Emotionale Nähe und wahre Liebe
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lässt er nicht zu, gerade weil er Frauen von Anfang an auf ein Bild festlegt.
4.3 Louise
Louise ist die Gegenfigur zu Agnes. E. lernt sie auf der Halloween-Feier bei Amtrak, der amerikanischen Eisenbahngesellschaft, kennen. Beide fremdeln mit dem amerikanischen Maskenfest. Louise
blickt dabei mit Verachtung auf die Wollunterhosen tragenden amerikanischen Frauen, die sich für Elfen
halten – bezeichnenderweise bestreitet E. dies für Agnes, muss seiner betrunkenen Freundin zuhause
nach der Feier aber doch aus ihrer hellbeigen Wollunterwäsche helfen. Beim Entkleiden reißt außerdem
eine Naht, was sinnbildlich für ihre Beziehung zu diesem Zeitpunkt steht.
Das Kind eines französischen Selfmade-Man und einer dem Klischee entsprechenden naiven Amerikanerin ( Stanton“, S. 100), fühlt Louise sich in den Staaten nicht heimisch, sondern hat nur Spott für das
”
Land und ihre Menschen, besonders die Frauen, übrig. Andererseits entspricht sie mit ihrer Einstellung
– Du liebst mich nicht, und ich liebe dich nicht. Es ist nichts dabei [...]. Hauptsache, wir amüsieren
”
uns.“ – viel eher der großstädtischen, oberflächlichen Spaßgesellschaft als die tiefsinnige Agnes. So
trifft E. Louise auch zweimal auf einer Party.
Es ist außerdem charakteristisch, dass Louise, als E. fragt, ob sie Hemingway möge, antwortet, sie habe A Farewell to Arms gemocht, aber des Schauspielers und der Musik wegen (S. 102). Zum PullmanStreik fragt sie, warum E. dies überhaupt interssiere: Das ist ja alles schon längst vorüber und ver”
gessen.“ (S. 145) Man könnte dies einfach als unreflektiert und geschichtsvergessen bezeichnen, doch
erfüllt Louises ignorante Haltung hier eine weitere Funktion: Louise steht, indem sie Desinteresse an
der Vergangenheit zeigt, im Gegensatz zu Agnes, der die Spuren wichtig sind und die deshalb darauf
angewiesen ist, dass sich auch künftige Generationen für Geschichte interessieren.
Allerdings ist Louise nicht etwa dumm, sondern durchaus welterfahren und dabei selbstbewusst. Als
E. davon spricht, dass in Amerika die Farben intensiver seien als in Europa, bezeichnet sie ihn als naiv
und zitiert mit Paul Valéry einen französischen Lyriker und Philosophen.
Auch durchschaut sie die Bildnis- bzw. Identitätsproblematik: Sie stellt fest, dass das Bild, das sich die
Europäer von Amerika machen, mehr mit ihnen zu tun hat als mit Amerika, was auch umgekehrt gelte
(S. 101). Dass E. seine Frauen gerne nach seinem Bild von ihnen formt, muss sie selbst erfahren (s. o.).
Ebenfalls beschreibt sie die amerikanischen Frauen zweimal treffend. Neben der Episode mit den Wollunterhosen (s. o.) trifft ausgerechnet ihre Bemerkung zu, amerikanische Frauen seien immer krank und
bezeichnen es als Dienst, wenn sie mit einem Mann schlafen (S. 143).
Während Louises Eltern E. bereits wie ihren künftigen Schwiegersohn behandeln, kommt es zu keiner
tiefergehenden Beziehung zwischen ihrer Tochter und diesem. Auf der Silvesterparty schlafen sie zwar
miteinander, doch hat E. Louise bereits in eine Schublade geworfen (S. 147), wie sie bitter feststellt.
5 Themen und Orte
• Fiktion und Wirklichkeit
In Agnes stehen Romanwelt und fiktive Welt in Wechselwirkung miteinander. Bereits am Anfang
ist die Beziehung zwischen E. und Agnes in dessen Kopf viel weiter gediehen als in der Realität.
Beide scheinen über Nacht vertrauter miteinander geworden zu sei (S. 17f.).
Als E. beginnt, seine Geschichte über Agnes zu schreiben, gewinnt die Fiktion Macht über die
Wirklichkeit, wobei Agnes ihre Rolle bereitwillig ausfüllt. Schließlich fließen Realität und Fantasie in E.s düsterer Vision ineinander, was sich auch daran erkennen lässt, dass diese nicht, wie die
einzelnen Passagen seiner Geschichte, kursiv gesetzt ist (S. 80).
Als Agnes schwanger wird, lassen sich beide Sphären nicht mehr in Einklang bringen und beide Sphären klaffen immer weiter auseinander: Während E. von ihrer Tochter Margaret und dem
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glücklichsten Sommer seines Lebens schreibt, erleidet Agnes eine Fehlgeburt und stürzt in Depression. Fortan soll die Geschichte die traurige Wahrheit verdrängen und so kaufen E. und Agnes
sogar Babysachen. Hier dient die Fiktion somit der Kompensation.
Während Agnes zur Realität zurückfindet – Du musst schreiben, wie es wirklich war und wie
”
es ist. Es muss stimmen.“ –, wird die Fiktion für E. zunehmend wichtig. Am Ende widmet er
sich wie besessen der Agnes in seiner Geschichte, während die reale Agnes krank im Bett liegt.
Konsequenterweise wird Agnes letztlich von der Geschichte getötet“.
”
• Bildnis und Identitätsproblematik
Stamms Roman folgt getreu der Maxime eines anderen schweizerischen Autors, Max Frisch: Du
”
sollst dir kein Bildnis machen.“ Frisch zufolge zerstört das Bildnis die Liebe. Von dem Menschen,
den wir lieben, würden wir am wenigsten aussagen können, wie er sei. Diese Aussage ist auch
in Agnes umgesetzt: Auf dem Video vom Ausflug in den Nationalpark, das Agnes in glücklichen
Tagen gedreht hat, sind weder sie noch E. im Bild zu erkennen.
Der dauerhaften Liebe steht jedoch die Eigenschaft E.s im Wege, sich jeweils ein Bild von seinen
Freundinnen zu machen. Beispielhaft ist hier die Stelle, an der E. die schlafende Agnes auf der
Lichtung betrachtet. Er schaut sie an und erkennt sie nicht. Trotz körperlicher Nähe hat E. ein
Gefühl der Entfremdung, und doch sieht er sie unmittelbarer und hat das Gefühl, sie wie eine
”
zweite Haut einzuhüllen“ (S. 58f.). Nicht nur erinnert diese Stelle an Agnes’ selbstgeschriebene
Kurzgeschichte, hier beginnt E. mit seinem Bild bereits an ihrer Identität zu tasten.
Oft eilt das Bild, das sich E. macht, der Realität voraus (vgl. Wirklichkeit und Fiktion), und lässt es
sich mit der Wirklichkeit nicht in Einklang bringen, hat dies zerstörerische Wirkung – es kommt
zur Trennung, so auch mit Agnes ob ihrer Schwangerschaft. E. kann auf die reale Agnes nicht
eingehen, weil er sich auf sein Bild von ihr festgelegt hat, sie die ihr zugedachte Rolle aber nicht
ausfüllt. Die ängstliche, wütende Agnes in seiner Vision ergibt jetzt einen Sinn: Du bist verrückt!
”
[...] Du bist krank.“ (S. 81) Das Bild, die Fiktion von Agnes nimmt immer mehr Platz in E.s Leben
ein. Bezeichnenderweise widmet E. seinem Bildnis eine Geschichte, der realen Agnes schreibt er
nur eine nichtssagende Karte (S. 112).
Da Agnes E. darum bittet, eine Geschichte von ihr zu schreiben, und sich bereitwillig in die Rolle
fügt, verschuldet sie den Verlust ihres selbstbestimmten Handelns und ihrer Identität mit. Erst am
Romanende findet sie ihre Identität wieder, wobei offen bleibt, ob im Tod oder nur in der Trennung von E. Übrigens bleibt auch dessen Identität weitgehend ungeklärt, denn über ihn erfahren
wir äußerst wenig.
Die Bildnis- bzw. Identitätsproblematik betrifft ein weiteres Feld, und zwar die Beziehung zwischen Amerika und Europa. Diese ist von Klischees und Projektionen geprägt, wie Louise anhand
ihrer Familie zeigt. Während ihre amerikanische Mutter – dem Klischee einer typischen Amerikanerin entsprechend ignorant, aber gutherzig – einen bis ins 14. Jahrhundert zurückreichenden
Stammbamm besitzt, ist ihr französischer Vater ein selfmade man aus einfachen Verhältnissen (S. 101f.).
Auch der Pullman-Streik steht für falsche Projektionen, denn E. sieht in der Revolte der Arbeiter
deren Streben nach Freiheit, also etwas typisch Amerikanisches. Etwas anderes typisch Amerika”
nisches“ – und hier wäre zu fragen, inwiefern ein solches Amerika-Bild überhaupt kohärent sein
kann – bietet Louises Vater als Erklärung an, indem er materielle Gründe geltend macht (Geld).
Auch an Halloween, dem Fest der Maskierung und Verschleierung, geht es ums Bildnis bzw. ums
bewusste Erzeugen fiktiver Bilder. Vom Balkon auf der Amtrak-Feier aus meint E. Agnes im Elfenkostüm zu erblicken, wobei sich diese Projektion als falsch herausstellt: E. erkennt Agnes nicht,
da er sein Bild nicht findet. So passt es, dass er Masken nicht mag.
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• Isolation und Anonymität
E. und Agnes haben in ihren Berufen wenig mit Menschen zu tun (Sachbuchautor, Doktorandin
der Physik) und sind, bevor sie sich begegnen, Singles mit fast keinen sozialen Kontakten, isoliert
inmitten der Metropole Chicago. Dazu kommt bei E., dass er die Anonymität sucht und Gefühlen
absichtlich ausweicht (S. 14f. u. S. 19f.). Ausgiebige Spaziergänge unternimmt er oft allein in der
Kälte.
Auch die Beziehung zwischen beiden ist, von den glücklichen (Zeit-)Punkten abgesehen, von
emotionaler Kälte geprägt. Ihre Kommunikation ist gestört, wie das häufige, ja allgegenwärtige
Schweigen – sinnbildlich hier die Sprachbarriere: Agnes versteht kein Deutsch (S. 30) – bezeugt.
Selbst die Schilderung von Agnes’ erstem Mal wirkt seltsam leidenschaftslos. Motivisch werden
Konversationen und Situationen oft von Leere begleitet (z. B. S. 10 u. S. 24).
Die Orte spiegeln das Thema Anonymität und Isolation
wider.
– E. wird in dem schäbigen Café, in das er fast jeden
Morgen geht, wie ein beliebiger Fremder behandelt,
was er sogar schätzt (S. 19f.).
– Die Metropole Chicago verweist mit ihren kalten
Wintern auf die innere Verfassung E.s, der in einem
Wolkenkratzer wohnt, dessen Isolierglasfenster sich
nicht öffnen lassen. Als er von dem einsamen Spaziergang zurückkommt, den er unternimmt, nachdem Agnes ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt
hat, hat er sogar die Nummer seiner Wohnung vergessen.
Abb. 3: Wolkenkratzer in Chicago.
Symbol der Anonymität in einer
modernen Großstadt.
Quelle: wikipedia.org – Urban (CC-BYSA-3.0).
6 Motive und Symbole
Der strengen, geometrischen Form des Romans entspricht die Vielfalt der Motive, Metaphern und Symbole (= Motive mit metaphorischer Bedeutung). Agnes ist ein durchkomponiertes Werk, das sich dennoch leicht liest. So aber entsteht die Gefahr, das komplizierte Wechselspiel der unterschiedlichen Strukturelemente zu übersehen. Für eine gelungene Interpretation solltest Du deshalb über diese Motive und
Symbole Bescheid wissen:
• Punkte und Glück
Im Roman werden Punkte immer wieder mit Glück identifiziert, am deutlichsten, als Agnes und
E. gemeinsam das Gemälde Seurats betrachten:
Glück malt man mit Punkten, Unglück mit Strichen“, sagte sie [Agnes], Du musst,
”
”
wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat.
Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.“ (S. 69)
Diese Textstelle lässt sich so deuten, dass beim näheren Betrachten ihr Beziehungsglück zerfällt.
Ihre Liebe wäre demnach eine Illusion wie der Bildschirmschoner Starfield Simulation, bei dem
sich Lichtpunkte nach außen bewegen und die Mitte leer bleibt – ein Hinweis auf die innere Leere
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der Protagonisten bzw. ihrer Beziehung. Auch die Symmetrieplatten der Physikstudentin weisen
übrigens in der Mitte eine Leere auf (S. 45).
Jedenfalls ist das Glück der beiden, ob letztlich leer oder nicht, ein punktuelles Glück, also nicht
von Dauer, denn es währt nur einen Sommer. Sobald aber die Temperaturen sinken, erkaltet auch
ihre Liebe, bis sie um die Jahreswende vollends zerbricht.
• Kälte
Kälte besitzt in Agnes Symbolcharakter. Sie ist mit Orten außerhalb von Räumen verknüpft, verweist aber jeweils auf einen inneren Zustand.
– S. 9: Es war kalt, als wir uns kennenlernten. Kalt wie fast immer in dieser Stadt. Aber jetzt
”
ist es kälter, und es schneit.“ – Hier ist die Kälte förmlich zu greifen und korrespondiert mit
dem inneren Zustand E.s.
– S. 14: E. fröstelt, obwohl es nicht kalt ist; gerade hat er Agnes erstmals gesehen, kennt sie aber
noch nicht. Es besteht ein Widerspruch zu Es war kalt, als wir uns kennenlernten.“
”
– S. 73: Agnes friert, obwohl sie und E. dicht am Lagerfeuer sitzen.
– S. 93: Es ist schrecklich kalt“ draußen, als E. Agnes allein lässt, nachdem sie ihm von ihrer
”
Schwangerschaft in Kenntnis gesetzt hat.
– S. 96: Der November – Agnes ist ausgezogen – ist kalt und regnerisch.
– S. 101: E. erscheint zum Thanksgiving-Dinner bei Louises Eltern – Es war kalt, und wir
”
fröstelten, aber die Sonne schien und brannte auf der Haut.“ – Während das Frösteln der
bereits bekannte Hinweis auf E.s innere Verfassung ist und hier als emotionale Distanz auch
zu Louise gedeutet werden kann, wird auch Wärme als unangenehm (Brennen) empfunden.
Sie könnte für die Berührungsangst E.s stehen, der Nähe oft als zu stark empfindet.
– S. 114: Was geschieht mit den Vögeln, wenn der See zugefroren ist?“ – Die Frage könnte auch
”
lauten, was dann mit Agnes und E. geschieht. Die sinkenden Temperaturen gehen nämlich
mit zunehmender Entfremdung und Gefühlskälte in der Beziehung einher.
– S. 126f.: Auf dem Dach des Doral Plaza ist es immer kalt, an Weihnachten sogar eiskalt“.
”
Agnes friert und wird daraufhin krank – ein deutliches Zeichen, dass die Beziehungskälte
zugenommen hat.
– Das Motiv der Kälte wird von Stamm durchaus mit einem Augenzwinkern eingesetzt. So
erinnert sich E. an ein Gedicht von Robert Frost und schiebt eine Tiefkühlpizza in den Ofen.
– Die Kälte ist mit weiteren Motiven verknüpft, nämlich mit dem Tod, mit Krankheit, Müdigkeit
und mit der (inneren) Leere. Vgl. zu Ersterem auch das Romanende.
• Tod
Bereits mit den ersten Sätzen des Romans wird ein Leitmotiv eingeführt: der Tod (s. o.). Als E.,
kurz nachdem er Agnes kennengelernt hat, eine tote Frau auf dem Gehsteig findet und feststellt,
dass sie nicht älter gewesen sei als diese, erfüllt das zwei Funktionen: Erstens ist der Tod beider
junger Frauen so miteinander verknüpft. Zweitens verweist der Tod der Fremden bereits auf das
Romanende.
– S. 23: Auch Agnes sieht die tote Frau und offenbart ihre Angst vor dem Tod. Dass sich jemand
aus Erkenntnisinteresse mit Fragen nach dem Tod und ein mögliches Leben danach befasst,
ist E. augenscheinlich unverständlich, denn sein erster Gedanke ist, als Agnes das Thema
anspricht: Bist du krank?“
”
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– S. 26: Der Gedanke an die Nichtexistenz beschäftigt Agnes sehr, da sie selbst in eigentlich
unbeschwerten Situationen darauf zu sprechen kommt ( Glaubst du an ein Leben nach dem
”
Tod?“).
– S. 32f.: Die Beschäftigung mit dem Tod reicht bei ihr bis in die Kindheit hinein. Bei den Pfadfindern war sie einst in einem Lager in den Catskills und bei einem Sturz von einer Seilbrücke
starb die Nachbarstochter (S. 32f.). Ihr Unfalltod ist mit der problematischen Vater-TochterBeziehung verknüpft, denn offenbar zog Agnes’ Vater die handwerklich geschickte Nachbarstochter vor. Agnes aber konnte über das tragische Unglück nicht weinen und war auch
innerlich gleichgültig.
– S. 39: Viele im Roman genannten literarischen und nicht-literarischen Titel verweisen auf den
Tod. Das Theaterplakat Mörder, Hoffnung der Frauen von Otto Kokoschka spricht sogar von
Mord – analog dazu hat bekanntlich eine Geschichte Agnes getötet.
– S. 78: An einer der entscheidenden Stellen des Buches sind zwei Leitmotive miteinander verknüpft: Kälte und Tod: Auf dem Friedhof der verlassenen Siedlung im Nationalpark sagt
Agnes: Stell dir vor, in wenigen Wochen liegt hier Schnee, und dann kommt für Monate
”
niemand hierher, und alles ist ganz still und verlassen. Es heißt, zu erfrieren sei ein schöner
Tod.“ Im Nachhinein gewinnt die Stelle potentiell prophetischen Charakter, denn Agnes’ literarischer Tod gleicht ihrer hier geäußerten Vorstellung. Es ist daher wahrscheinlich, dass
E. sich, als er den Schluss seiner Geschichte verfasst, an diesem Moment orientiert. Prophetischen Charakter besitzt die Textstelle nur dann, wenn das Romanende so interpretiert wird,
dass Agnes sich tatsächlich umbringt – sonst ist ihr literarischer Tod eine Erinnerung E.s und
somit eine Reaktion auf das Gesagte, das Gesagte aber kein Blick in die Zukunft.
– S. 81: In einer rätselhaften, düsteren Vision, die Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen lässt,
flüstert Agnes zu E.: Du bist tot.“
”
– S. 111: Agnes hat eine Fehlgeburt erlitten. Kurz zuvor hat E. ein Buch mit dem Titel How to
Survive the First Two Years gekauft.
– S. 130f.: Das Gedicht A Refusal to Mourn the Death, by Fire, of a Child in London von Dylan
Thomas wird hier vollständig wiedergegeben, was auf die Wichtigkeit dieser Referenz hindeutet. Bezeichnenderweise sagt E., dass er es nicht verstehe. Es sei nur ein Gedicht, das man
nicht so ernst nehmen dürfe. Agnes jedoch bezieht das Poem auf ihre Fehlgeburt, unter der
sie noch immer leidet, was E. ihr fast zum Vorwurf macht. Deutlich wird hier erneut, dass der
Tod für Agnes eine wichtigere Rolle spielt als für E. Ein Beleg dafür ist seine Äußerung: Ich
”
verstehe es nicht.“ Wie an den unterschiedlichen Reaktionen auf das Gedicht abzulesen ist,
können auch die Kommunikation zwischen beiden sowie ihre Beziehung als tot angesehen
werden. Mit der unsensiblen Frage Denkst du immer noch daran [an die Fehlgeburt]?“ ist
”
die Gefühlskälte E.s spürbar.
– S. 130-141: Agnes ist krank und müde, gleichsam eine Vorstufe zu ihrem kurz darauf erfolgenden literarischen Tod.
• Wärme
Im Gegensatz zur Kälte ist die Wärme innerhalb geschlossener Räume spürbar. Auch sie hat Verweischarakter, denn E. beschreibt Situationen als unangenehm warm, die durch körperliche Nähe
ausgezeichnet sind. Die Wärme ist oftmals mit einem anderen Motiv, dem Leben, verbunden (vgl.
Kälte-Tod).
– S. 13f.: Als die ihm zu diesem Zeitpunkt unbekannte Agnes gegenüber Platz nimmt, kann E.
sich nicht konzentrieren. Die Bibliothek bezeichnet er als überheizt“. Offenbar empfindet er
”
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die dortige physische Nähe als unangenehm. Draußen fröstelt er dann, obwohl es nicht kalt
ist, was als ein Hinweis auf seinen inneren Zustand gelesen werden kann.
– S. 58f.: Als sie bei Sonnenschein gemeinsam auf der Lichtung liegen, beginnt der Prozess der
inneren Entfremdung bei gleichzeitiger körperlicher Nähe.
– S. 75: Nach ihrem Ohnmachtsanfall vom Tag zuvor ist Agnes wie ausgewechselt. Sie sieht
aus wie eine Wilde“ und ist im Einklang mit sich und der Natur. Die Sonne erwärmt die
”
Luft und Agnes und E. schlafen im Freien miteinander. Statt den Motiven Kälte, Tod, Krankheit, Müdigkeit oder Leere sind hier in beispielhafter Weise Wärme, Leben, Selbstfindung,
Erfüllung und Glück miteinander verknüpft. In diesem Moment hat Agnes auch keine Angst
davor, spurlos in der Natur zu verschwinden.
– S. 79: Im November wird es noch einmal warm, die Stadt liegt in goldenem Licht“ – eine
”
geradezu poetische Beschreibung für den sonst so nüchtern-sachlichen Erzähler. Als dieser
nachhause kommt, schwitzt er jedoch, ist schläfrig, aber unruhig. Das gleißende Sonnenlicht blendet ihn – E. empfindet Wärme und Licht also erneut als unangenehm. In seiner
Geschichte schreibt er von seinem Heiratsantrag an Agnes, an den er in der Realität niemals
gedacht hat. Eine Deutung, welche die als unangenehm empfundene Wärme auf die Vorstellung, Agnes zu heiraten, bezieht, ist möglich; sie bleibt jedoch in der Schwebe.
– S. 106: Im Archiv ist es mit Louise heiß und trocken. Hier verweist die Wärme allerdings auf
die sexuell aufgeladene Atmosphäre.
– S. 128: Das gemeinsame heiße Bad wird von E. nicht als unangenehm geschildert. In dieser
Szene wird allerdings klar, dass seine Beziehung mit Agnes längst erkaltet ist.
– S. 151f.: Im fiktiven Schluss2 des Erzählers friert Agnes, stellt die Kälte aber nur fest, ohne
sie zu fühlen. Sie legt sich in den Schnee und gewinnt nach und nach ihr Gefühl zurück, bis
es ihr scheint, als liege sie glühend im Schnee, als müsse der Schnee unter ihr schmelzen.“ Es
”
bleibt offen, ob die reale Agnes ihrem literarischen Pendant folgt und den Tod als Erlösung
empfindet, oder ob sie E. verlässt und das zurückgewonnene Gefühl für ihre Selbstfindung
und ihre wiedererlangte Identität steht.
• Spuren
Mit dem Motiv des Lebens ist das des Spurenhinterlassens verbunden. Agnes will nicht einfach
nur leben, sie will auch Zeugnisse ihrer eigenen Existenz als Erbe lassen. Ihr Leben soll für andere
sichtbar sein, auch nach ihrem Tod. Sie selbst muss sich hin und wieder ihrer eigenen Existenz
versichern.
– S. 27f.: Agnes und E. reden von einer möglichen Existenzform nach dem Tod. Für E. ist es
möglich, in den Erinnerungen der Nachfahren weiterzuleben. Sie fragt ihn, ob er Bücher
schreibe, weil er keine Kinder habe. E. will jedoch keine Spuren hinterlassen, ganz im Gegensatz zu ihr. Hier werden also die Unterschiede beider Charaktere deutlich, die über tiefgehende Fragen gänzlich anders denken.
– S. 31f.: Agnes mag den Gedanken, dass alle, die sich irgendwann mit den Symmetrien der
”
Symmetriegruppen befassen, auf meinen Namen stoßen werden.“
Als sie mit E. über Stonehenge spricht, überträgt sie ihre eigenen Absichten auf die prähistorischen Menschen und unterstellt diesen die gleichen Motive. Demnach seien Stonehenge
und auch die Pyramiden, vielleicht sogar moderne Wolkenkratzer, geschaffen worden, um
ein Zeichen zu setzen.
Spiegelbildlich dazu steht ihre Angst, spurlos in der Natur zu verschwinden, um dann nie
mehr gefunden zu werden. Deshalb hat sie die Stadt auch nie verlassen.
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– S. 39: Als E. erstmals Agnes’ Wohnung betritt, wirkt ihr Zimmer auf ihn unbelebt, als sei es
”
seit Jahren von keinem Menschen betreten worden“ – In ihren eigenen vier Wänden hat sie
demnach keine Spuren hinterlassen.
– S. 48: Agnes’ Bitte an E., ein Buch über sie zu schreiben, kann als Wunsch nach Unsterblichkeit
in Form einer literarischen Spur gedeutet werden.
– S. 112: E. besucht Agnes, die ihm von ihrer Fehlgeburt erzählt. Die Fehlgeburt steht in deutlichem Gegensatz zum Spurenmotiv.
Weitere Details fallen ins Auge: Laut E. ist ihre Küche so sauber, als sei sie nie benutzt wor”
den.“ Abermals lässt sich Agnes Existenz nicht an äußeren Dingen ablesen.
Außerdem stößt E. auf eine Schachtel mit Briefen und Postkarten. Von ihm gibt es nur eine
nichtssagende Karte. Da Briefe etwas sehr Privates darstellen, stehen sie für persönliche Nähe
und Vertrautheit. In diesem Sinne hat E. keine positiven Spuren in Agnes’ Herzen hinterlassen.
• Schöpfung
Sobald E. beginnt, seine Geschichte zu schreiben, taucht auch die Schöpfungsmetapher auf.
– S. 55: Agnes wird aus seinem Kopf neu geboren wie Athene aus dem Kopf von Zeus“.
”
Athena ist die Verkörperung des Geistes. Sie wurde geboren, als Hephaistos, der Gott des
Feuers, das Haupt des unter Kopfschmerzen leidenden Zeus auf dessen Befehl hin zerschlug.
Demnach ist die literarische Agnes ebenfalls eine Kopfgeburt.
– S. 62: Nach der gemeinsamen Wanderung im Park, bei der E.s Entfremdung von der lebendigen Agnes beginnt, dringt E. mit seiner Geschichte bis in die Zukunft vor: Agnes ist jetzt
sein Geschöpf“, was nicht ohne Auswirkung auf die reale Agnes bleibt. Die problematische
”
Beziehung zwischen literarischer Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Bildnis bzw. Rolle und
Identität beginnt.
– S. 153: Agnes hat E. verlassen, möglicherweise hat sie den Freitod gewählt. E. hat mit der
realen Agnes abgeschlossen, denn als das Telefon klingelt, nimmt er nicht ab. Die nach seinem
Bild geformte Frau ist ihm geblieben, wobei das Video aus dem Nationalpark symbolisch
dafür steht.
7 Erzählweise, Sprache und Stil
In Agnes gibt ein personaler Erzähler, dessen Namen wir nicht wissen, das Geschehen aus seiner Perspektive wieder. Der Roman besitzt eine Ring- oder Zirkelstruktur: das erste Kapitel ist im Präsens
geschrieben und E. reflektiert seinen derzeitigen Seelenzustand. Danach folgt die Rückblende, d. h. die
eigentliche Erzählung, mit der die Situation des ersten Kapitels erst verständlich wird. Das Buch wird
abgeschlossen mit dem Sprung in die Erzählgegenwart. Somit ist der Kreis geschlossen, wir befinden
uns wieder in der Ausgangssituation, sowohl inhaltlich als auch zeitlich.
Da die Erzählung als solche sichtbar wird, wird der Schreib- bzw. Erzählakt als Konstrukt thematisiert.
Dass auch im Folgenden die Erzählsituation reflektiert wird – E. schreibt mit seinem Roman über Agnes
eine Geschichte in der Geschichte –, ist, wenn man so will, typisch für postmoderne Literatur. Die Offenlegung des eigenen Erzählens durch den Erzähler schafft Distanz zur Geschichte und erschwert die
Identifikation mit den Figuren. Dazu passt, dass wir wenig Persönliches von den Figuren wissen und
dass der Name des Erzählers geheim bleibt.
Auch wenn der Erzählakt als solcher kommentiert wird, bedeutet das nicht, dass auch das Geschehen
offenliegt – im Gegenteil. Bei E. handelt es sich um einen unzuverlässigen Erzähler, der jedoch wiederum seine eigene Unzuverlässigkeit zum Thema macht: So ist er erstaunt, wie vieles Agnes und er anders
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erlebt oder anders in Erinnerung haben (S. 56). Meistens setzt er sich mit seiner Version durch, ohne sich
sicher zu sein, ob nicht doch Agnes Recht hat. Als er ihr einmal folgt, weil sie etwas im Terminkalender
anders notiert hat, irrt er allerdings: In Kapitel 4 treffen sie sich in einem chinesischen Restaurant, Agnes
überzeugt ihn aber davon, dass es ein indisches gewesen sei. Beide Versionen können nicht gleichzeitig
richtig sein und vielleicht sind sogar beide falsch.
E. fängt seine Geschichte jedoch bereits falsch an, wenn man seiner Erzählung bis zu diesem Punkt
Glauben schenkt. Hat er dem Leser zuvor ausführlich berichtet, wie er Agnes kennengelernt hat und
dass er beim dritten Treffen in der Bibliothek mit ihr in ein Café gegangen ist (S. 19), schreibt er in seiner
Geschichte, er habe sie gleich beim ersten Mal zu einer Tasse Kaffee eingeladen (S. 54).
Dass der Autor beim Erzählen sehr selektiv vorgeht, also bestimmte Dinge höher gewichtet und anderes auslässt, bekennt E. freimütig. So erwähnt er, dass er den Vorfall mit der toten Frau in seiner
Geschichte wiedergibt, aber nichts darüber schreibt, dass sie später die Geschichte der Frau erfahren
und an ihrer Beerdigung teilgenommen haben (S. 57). Damit muss sich der Leser zwangsläufig fragen,
was ihm E. noch verschweigt.
Weitere Bekenntnisse“ oder Verhaltensweisen E.s machen seine Schilderungen nicht gerade glaub”
würdiger:
• S. 92: Als ihm bei seiner damaligen Freundin ein Kondom platzt verschweigt er ihr dies und spinnt
in seinem Kopf die Vaterrolle fort. Als die Realität – seine Freundin ist nicht schwanger – seiner
Fantasie nicht folgt, scheitert die Beziehung.
• S. 97f.: Als E. nach der Trennung von Agnes in der Bibliothek auf Louise trifft, verschweigt er ihr
den Grund ihrer Trennung.
• S. 139: Als er an Schluss2“ schreibt, lügt er Agnes an und behauptet, er arbeite an den Eisenbahn”
wagen.
• S. 145f.: Auf der Neujahrsparty schläft E. mit Louise und erzählt ihr hinterher, dass Agnes wieder
da ist.
Da wir alles aus seiner Perspektive erfahren und ihm nicht zu trauen ist, verschwimmen Realität und
Fiktion in Agnes umso mehr.
Sprache und Stil in Agnes sind am treffendsten als lakonisch zu charakterisieren. Lakonisch“ stammt
”
aus dem Griechischen (lakonikos) und beschreibt eine kurze, bündige Ausdrucks- oder Schreibweise, die
eher wortkarg und schmucklos wirkt. Ihr Gegenteil ist die epischen Weitschweifigkeit, wie wir sie etwa
bei Thomas Mann finden.
Meist sind kurze Hauptsätze aneinander gereiht statt durch Konjunktionen verbunden. Ausschmückende
Adjektive finden sich im Roman kaum, kein Wort wirkt verzichtbar oder überflüssig. Folglich korrespondiert der Schreibstil mit dem Beruf des Erzählers, der Sachbuchautor ist. Da die nüchterne Sprache
kaum Emotionen transportiert oder verrät, entspricht sie auch der Gefühlskälte E.s.
Der Schörkellosigkeit im Ausdruck entspricht auch der Aufbau der Dialoge, die oft monoton durch
sagte ich“, sagte sie“, sagte ich“ usw. aufgebaut werden.
”
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