9. Dezember 2015: "Werden Kliniker zu ICF Anwendern?"

Werden Kliniker zu ICF Anwender?
Wahrnehmungen aus der RELY 1-Studie
Wout de Boer
Swiss Academy of Insurance Medicine
University Hospital Basel
Wout EL de Boer1, Nicole Vogel1, Stefan Schandelmaier2,
Thomas Zumbrunn3, Katrin Fischer4, Andrea Leibold4, David
Y von Allmen1, Monica S Bachmann1, Sarah Kedzia 1, Renato
Marelli5, Gordon H Guyatt6, Regina Kunz1
1asim,
Swiss Academy of Insurance Medicine, University of
Basel Hospital, Basel, Switzerland
2Basel Institute for Clinical Epidemiology and Biostatistics,
University of Basel Hospital, Basel, Switzerland
3Clinical Trial Unit, University of Basel Hospital, Basel,
Switzerland
4 Fachhochschule Nordwest Schweiz, Olten, Switzerland
5 Psychiatrie Leonhardstrasse Basel, Switzerland
6Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics,
McMaster University, Hamilton, Canada
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Übersicht
• Was ist die ICF?
• Die ICF in der Begutachtung
• Zwei Instrumente für die psychiatrische
Begutachtung
• Die RELY 1-Studie
• Der Akzeptanz der ICF basierten Empfehlungen für
die Gesprächsführung
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ICF in der Begutachtung
• ICF =
−Ein Gerüst von Konzepten welche zusammen der Konzept
von Behindert-sein abbilden
−Ein Haufen von über 1400 relevante Begriffe
−Eine hierarchische Klassifikation dieser Begriffe
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5
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ICF
Body functions
b
Body structure
Activity &
participation
Environmental factors
Personal factors
s
d
e
pf
b1-b8
s1-s8
d1-d9
e1-e5
-
chapters
b110-b899
s110-s899
d110-d999
e110-e599
-
2nd level
b1100-b7809
s1100-s8309
e1100-e5959
-
3rd level
b11420-b54509
485
s11000-s76009
302
d1550-d9209
components
-
-
-
4th level
384
253
0
1424 codes
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ICF in der Begutachtung
• Konzeptuell:
−Der Bezug zwischen medizinisches (Krankheit) und soziales
(Arbeit) durch Funktionen (Aktivitäten/ Kapazität)
• Produkt:
−Festlegung von Fähigkeiten in ICF-Begriffe (Klassifikation)
• Prozess:
−Erheben von Fähigkeiten
−Argumentativ: was meint der Antragsteller und stimmt
das?
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ICF in der Begutachtung: Festlegung von Fähigkeiten
• Mehrere Instrumente sind mehr oder weniger ICF
basiert => output specification
•
•
•
•
EUMASS core set
Schwedische ASU Liste
Holländische Liste funktionellen Möglichkeiten
Mini ICF
Keiner dieser Instrumente ist für die Begutachtung
validiert
Es bräuchte eine ICF basierte Kodierung von Arbeit
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ICF in der Begutachtung: Festlegung von Fähigkeiten
(2)
Wir arbeiten mit dem Mini ICF (Linden et.al. 2009/2015)
Mini ICF enthält 13 Items: arbeitsrelevante Fähigkeiten
Unsere Ergänzungen: Bezug zu bisherige Tätigkeiten
Bezug zu angepassten Tätigkeiten
12 mentalen Funktionen
Beschreibungen von 9 angepassten Tätigkeiten (in einem grossen
Hotel)
=> IFAP: Instrument Funktionelles Assessment in der
Psychiatrie
9
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Mentalen Funktionen
Fähigkeiten bisherigen
Tätigkeiten
Fähigkeiten angepassten
Tätigkeiten
Temperament und Persönlichkeit
Strukturierung von Aufgaben
Strukturierung von Aufgaben
Umgänglichkeit
Flexibilität
Flexibilität
Psychische Stabilität
Entscheidungs- und
Urteilsvermögen
Entscheidungs- und
Urteilsvermögen
Offenheit neuen Erfahrungen
Durchhaltefähigkeit
Durchhaltefähigkeit
Selbstvertrauen
Kontaktfähigkeit zu Dritten
Kontaktfähigkeit zu Dritten
Psychische Energie und Antrieb
Gruppenfähigkeit
Gruppenfähigkeit
Aufmerksamkeit
Familiäre Beziehungen
Familiäre Beziehungen
Gedächtnis
Spontanaktivitäten
Spontanaktivitäten
Emotionale Funktionen
Selbstpflege
Selbstpflege
Denken
Verkehrsfähigkeit
Verkehrsfähigkeit
Höhere kognitive Funktionen
Anpassung an Regeln und
Routinen
Anpassung an Regeln und Routinen
Selbstbehauptungs-fähigkeit
Selbstbehauptungs-fähigkeit
Selbstwahrnehmung/
Zeitwahrnehmung
10
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Leistungsfähigkeit
Strukturierung von Aufgaben
Beeinträchtigung
Keine leicht mittel schwer
Anforderungen Arbeit
Arbeit nicht am Abend
AufgabenStrukturierung
1
2
3
4
1
2
3
4
Durchhaltefähigkeit
EntscheidungsArbeit bis max. xx Std/Wo
/Urteilsvermögen
1
2
3
4
Kontaktfähigkeit zu Dritten
Durchhaltefähigkeit
Flexible Arbeitszeiten
1
2
3
4
Gruppenfähigkeit
Kontaktfähigkeit zu
Erhöhter Pausenbedarf
Dritten
1
2
3
4
Familiäre Beziehungen
Vermeidung bestimmter Stressfaktoren
Gruppenfähigkeit
1
2
3
4
Spontanaktivitäten
Verständnisvolle
Mitarbeiter 1
Familiäre
Beziehungen
3
4
Flexibilität
Arbeit nicht in der Nacht
Flexibilität
Entscheidungs- und Urteilsvermögen
Arbeit bis max. xx Std/T
Selbstpflege
Reduzierte Arbeitsgeschwindigkeit
Verkehrsfähigkeit
Reduzierte Arbeitsdichte
Anpassung an Regeln und Routinen
2
Reduzierte Effizienz
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Selbstbehauptungs-fähigkeit
Anforderung an sozialen Kontakt
Erhebung
Will man funktionsorientiert festlegen, soll man
funktionsorientiert erheben
Dies erfordert die Selbsteinschätzung des Antragstellers
Gutachter haben keine professionelle Tradition für die Erhebung
dieser Selbsteinschätzung
=> Funktionsorientiertes Interview
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Konventionelle psychiatrische Begutachtung
Beurteilung
‘arbeitsfähig?’
Informationsbeschaffung
Prozess
Aktenstudium
Anamnese
Befund
Funktionsorientierte psychiatrische Begutachtung
(neue Elemente dunkel unterlegt)
Dokumentation
mit Instrument IFAP
Informationsbeschaffung
Prozess
Aktenstudium
13
funktionsorientiertes
Interview
Anamnese
Beurteilung
‘arbeitsfähig?’
Befund
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Funktionsorientiertes Interview: Erheben von
Fähigkeiten
Am Anfang des Begutachtungsgespräches:
−Einleitung: wer sind wir, was werden wir machen?
−Bisherige Arbeit: was war das, wie sah das aus?
−Stellungnahme: was geht (nicht)?
−Begründung: welche Beschwerden verhindern die Aufnahme
der Arbeit?
−Zusammenfassung
Dann weiter wie der Psychiater möchte: überprüfen, ergänzen
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Die RELY 1-Studie
Die RELY 1-Studie überprüfte,
ob eine stärker standardisierte und funktionsorientierte
Begutachtung dazu führt,
dass Gutachter die gleichen Fähigkeiten und Einschränkungen
der versicherten Person erfassen und dadurch
in den Einschätzungen ihrer Leistungs- und Arbeitsfähigkeit auf
einem akzeptablen Niveau übereinstimmen.
xxxx
15
xxxx
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Training
• 26 als Gutachter erfahrene Psychiater
• Training von 3x3 Stunden + Übung in eigener Praxis
• Training evaluiert über eine Internetumfrage
• 19 Psychiater wurden befragt nach Teilnahme an der
RELY 1-Studie
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Wie gut werden die Empfehlungen für den Gespräch
aufgenommen?
• Wir haben von 30 Videos jede erste Stunde transkribiert
• Wir haben ein Kodierschema nach dem funktionsorientierten Interview entwickelt:
− Einleitung, bisherige Arbeit, Stellungnahme zur AF,
Arbeitsrelevanten Beschwerden, andere Themen
• Wir haben die Transkripte Kodiert (2 Kodierer)
• Wir haben Konsens gemacht (3 Kodierer)
• Wir haben anhand eines Minimalkriteriums ausgewertet:
eine Äusserung reicht
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Ergebnisse (1)
In 30 Interviewstunden fanden wir 40010 Äusserungen.
Von denen waren 3987 Äusserungen von Psychiatern gemäss
Empfehlungen
und 8716 andere Äusserungen von Psychiatern
Von den Antragstellern kamen 7471 Äuserungen über
empfohlene Themen und 19836 über andere Themen
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Ergebnisse (2)
• Nach Minimum Kriterium (mindestens 1x gesagt/
gefragt in der ersten Stunde)
−Einführung 30/30
−Arbeit 28/30
−Stellungnahme 14/30
−Arbeitsrelevanten Beschwerden 20/30
−Zusammenfassung 10/30
−Stellungnahme 3/10
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Diskussion (1)
Das funktionsorientierte Interview wird teilweise umgesetzt.
Speziell schwierig scheinen die Stellungnahme und die
Zusammenfassung zu sein
Die Stellungnahme wurde beim Training oft diskutiert: potentiell
kontrovers/ konfliktauslösend
Manche Psychiater hatten ihre Lösung noch nicht gefunden;
einige wenige meinten, man soll so nicht das Gespräch
anfangen
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Diskussion (2)
Wieso geht die Zusammenfassung vergessen?
Er kann etwas technisches sein: der Gutachter hat die Zusammenfassung
vergessen oder er hat die Information nicht so im Kopf, dass er sie nicht
zusammenfassen kann
Es kann auch sein, dass der Gutachter Angst hat, dass die Zusammenfassung
nicht stimmt und dass er deswegen angreifbar ist.
Die Zusammenfassung ist, in unserem Vorgehen, auch eine Festlegung der
Meinung des Antragstellers und damit würde sich der Gutachter auch etwas
festlegen.
Und die Zusammenfassung kann konfrontativ sein: dies ist was der
Antragsteller meint und möchte, und der Gutachter soll sich dazu äussern.
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Interviews mit den Psychiatern
• Alle Psychiater meinten, die funktionsorientierte
Begutachtung sei der richtige Weg
• Sechs aus 12 Psychiater meinten, sie hatten das
funktionsorientierte Interview in der Studie gut
umgesetzt
• Alle Psychiater meinten, es braucht mehr Übung und
Feedback, um dies zu lernen
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Schlussfolgerung
• Anwendung der ICF in der Begutachtung ist zum Teil
trivial, zum Teil wirklich schwierig:
• Effektive Gesprächsführung
• Eindeutige Festlegung in einem Instrument
• Die Erhebung der Funktionalität, über die
Selbsteinschätzung, fragt Übung und Feedback
• Ausserhalb der RELY Studie ist Supervision/
Intervision erwünscht
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