Wie in den 1990ern – BILANZ

Unternehmen
Das
Gespräch Das
Aymo
Thema
Brunetti
«Wie in den
1990ern»
«Mit einem Eurokurs
von 1.10 Franken
kann man insgesamt
wohl leben, auch
wenn es hart ist»:
­Wirtschaftsprofessor
­Aymo Brunetti.
DIRK SCHÜTZ UND FLORENCE V UICHARD INTERVIEW / JANOSCH ABEL FOTOS
Wirtschaftsprofessor Aymo Brunetti
warnt vor zu viel Selbstzufriedenheit
und Reformstau. Priorität hätten
die Rettung der Bilateralen und die
Erhöhung des Rentenalters.
BILANZ: Herr Brunetti, das erste Quartal 2015 war im Minus,
das zweite – wenn auch sehr knapp – wieder im Plus.
Hat die Schweiz den Frankenschock schon weggesteckt?
Aymo Brunetti: Nein. Der Schweizer Franken ist noch immer
stark überbewertet. Die Folgen werden erst mit einer gewissen
Verzögerung sichtbar. Das werden wir in den kommenden
Quartalen noch spüren. Die Preise sind auf breiter Ebene gefallen, das deutet darauf hin, dass Firmen die Frankenaufwertung
mit reduzierten Margen auffangen. Gewisse werden das wegstecken können, andere werden die Kosten reduzieren – und
auf Investitionen verzichten. Und die Arbeitslosigkeit wird
leicht steigen.
Ist denn die Prognose realistisch, dass die Schweiz im nächsten
Jahr wieder um 1,5 Prozent wächst?
Das hängt vom Euro-Wechselkurs ab. Wenn er bei 1.10 Franken
bleibt, dann ist das plausibel. Aber es dürfte eine Weile dauern,
bis wir wieder bei Wachstumsraten von rund zwei Prozent sind,
was einer gesunden Wirtschaftsentwicklung entspricht.
Das klingt wenig dramatisch. Wurde auf Vorrat gejammert?
Mit einem Eurokurs von 1.10 Franken kann man insgesamt
wohl leben, auch wenn es hart ist. Aber das Problem ist, was
passiert, wenn es die nächsten Turbulenzen in der Eurozone
gibt. Derzeit erleben wir eine Schönwetterlage in Europa, doch
das Griechenland-Problem ist nicht gelöst, die nächsten Turbulenzen sind absehbar. Der Frankenkurs war ja eine Art Fieber56 BILANZ 19/2015
kurve der Griechenland-Krise: Bei Bad News aus Griechenland
hat sich der Franken aufgewertet, bei positiveren Meldungen
hat sich die Situation beruhigt. Das macht mich nervös.
Ist es denn als kleine offene Volkswirtschaft noch sinnvoll, eine
eigene Währung zu haben?
Es ist möglich – und eine stabile eigene Währung bringt Vorteile für den Wirtschaftsstandort. Insgesamt ist die Schweiz gut
gefahren damit. Aber man ist den Schocks der Umgebung stärker ausgesetzt. Es ist kein Zufall, dass kleine Länder versuchen,
fixe Wechselkurse oder eine Währungsunion zu etablieren.
Der abtretende Raiffeisen-Chef Vincenz meint, dass die Schweiz
bei einem anhaltend starken Franken alle Optionen prüfen
sollte: sogar den Verzicht auf die Währungsautonomie.
Prüfen kann man immer alles! Aber ob das wünschbar oder
­politisch realisierbar wäre, ist eine andere Frage. Es herrscht
aus guten Gründen der Grundkonsens, dass wir eine eigene
Währung haben. Jedenfalls solange kein gravierender Unfall
passiert – und das wollen wir nicht hoffen.
Für die Industrie und den Tourismus ist das kein Trost.
•
Der Professor
Der frühere Chefökonom des Bundes,
Aymo Brunetti (52), ist seit 2012 Professor
am Departement Volkswirtschaftslehre
der Uni Bern und Direktor des Center for Regional
Economic Development. Er präsidierte
die Finanzmarktstrategie-Expertengruppe,
die Ende 2014 ihren Schlussbericht vorlegte.
Heute leitet er den ebenfalls vom Bundesrat
eingesetzten «Beirat Zukunft Finanzplatz».
Brunetti lebt in Baselland, ist verheiratet und
hat zwei Kinder.
19/2015 BILANZ 57
Unternehmen
Das
Gespräch Das
Aymo
Thema
Brunetti
•
Der starke Franken beschleunigt den Strukturwandel. Firmen, die jetzt abbauen oder auslagern, waren wohl schon beim
günstigeren Wechselkurs nahe der Rentabilitätsgrenze. So gesehen ist der starke Franken auch eine Produktivitätspeitsche.
Und das finden Sie gut?
Die Grenze ist für mich dann erreicht, wenn unter normalen
Bedingungen kerngesunde Unternehmen wegen des über
­Kapitalflucht verfälschten Wechselkurses schliessen oder ihre
Produktion ins Ausland verlagern müssen. Je stärker der Währungsschock, desto grösser die Kollateralschäden bei an sich
gesunden Firmen. Das ist die Herausforderung der Na­
t io­
nalbank. Und da handelt sie auch: Sie interveniert und lässt
nicht jeden Wechselkurs zu.
Dennoch: Macht Ihnen die Deindustrialisierung
keine Sorgen?
Den Begriff finde ich irreführend. Es gibt keine richtige Industriequote. Um Wohlstand und Beschäftigung zu sichern, muss
der Wirtschaftsstandort innovativ sein, die Arbeitsplätze produktiv. Mir scheint es aber unerheblich, ob diese der Industrie
oder dem Dienstleistungssektor angehören.
Und was kann der Staat gegen die Kollateralschäden tun?
Wir müssen die Rahmenbedingungen für alle verbessern. Ich
weiss, es ist ein Allerweltswort, aber letztlich ist das entschei-
«Die Grenze ist erreicht, wenn
kerngesunde Unternehmen
wegen des verfälschten
Wechselkurses schliessen.»
dend. Leider ist die Wachstumspolitik des Bundes ins Stocken
geraten. Beim ersten Paket Anfang der 2000er Jahre wurden
noch fast sämtliche Reformen angepackt, beim jüngsten Paket
wurde wenig realisiert. Das ist ein Indikator für Reformstau.
Hier sind für mich Parallelen zu den 1990er Jahren sichtbar.
Wie meinen Sie das?
Wie damals dominiert in der Schweiz Selbstzufriedenheit. Wir
glauben, dass wir alles besser machen als die anderen. Irgendwie ist diese Haltung auch verständlich, haben wir doch im
Vergleich zu unseren Nachbarländern die Banken- und Finanzkrise der letzten Jahre gut überstanden. Doch das war Ende der
1980er Jahre auch so: Da war ebenfalls eine Generation am
Ruder, die überzeugt war, dass die Schweiz das reichste Land
der Welt mit der tiefsten Arbeitslosenquote sei und dass das
immer so bleiben werde. Doch dann kam alles anders: Fünf
Jahre Nullwachstum, Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über fünf
Prozent. Dabei gab es damals Warnsignale. Wie auch heute. Ich
hoffe, wir hören sie diesmal und ersparen uns eine zweite
Durststrecke. Aber ich mache mir keine Illusionen: Solange wir
nicht spüren, dass es uns langsam schlechter geht, werden wir
wohl auch nicht bereit sein für Reformen.
58 BILANZ 19/2015
«In der Schweiz
­dominiert die Selbstzufriedenheit. Wir
glauben, dass wir
­alles besser machen
als die anderen.»
Welche Reformen braucht es?
Das Wichtigste ist die Rettung der bilateralen Verträge. Wie in
den 1990er Jahren müssen wir unser Verhältnis zu Europa klären. Doch heute ist die Lage dramatischer: Wenn wir jetzt Nein
sagen zu den Bilateralen, haben wir keine Alternative mehr.
Es gibt Stimmen, die sagen, die Bilateralen würden überschätzt.
Ohne Bilaterale haben wir nur eine Freihandelszone mit der
EU. Das heisst: tiefe Zölle, aber unzählige nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Da müssten wir unsere ganze Wirtschaft
­u mbauen. Das würde unglaubliche Verwerfungen bringen. Es
würden viele Firmen Jobs ins Ausland verlagern.
Wenn wir zu den Bestkapitalisierten gehören wollen, können
wir meines Erachtens die USA nicht einfach wegdefinieren.
Aber egal ob 4,5 oder 6 Prozent: Letztlich lösen wir damit das
«Too big to fail»-Problem nicht.
Wenn man die Wahrscheinlichkeit eines Konkurses reduzieren
will, sind die Prozentsätze schon wichtig. Je höher die Leverage
Ratio, desto mehr Milliarden Kapital sind vorhanden zur Deckung allfälliger Verluste. Und das ist in der Schweiz besonders
entscheidend, denn sie ist so stark exponiert wie kein anderes
Land. Die Bilanz der grössten US-Bank, J.P. Morgan, entspricht
etwa einem Sechstel vom US-BIP. Die Bilanzen unserer beiden
Grossbanken kommen je etwa auf das Anderthalbfache des BIP.
Wenn bei UBS oder CS etwas wirklich schiefgeht, dann könnte
das unter Umständen unsere Staatsfinanzen ruinieren.
Die SVP behauptet gar, das Interesse der EU sei grösser als
jenes der Schweiz.
Das ist schlicht falsch. Man muss sich nur die Handelsströme
anschauen. Natürlich sind die Verträge für einen Unternehmer
in Baden-Württemberg wichtig, aber schon seinem finnischen
Konkurrenten ist das weitgehend egal. Die direkte Betroffenheit
ist in der Schweiz insgesamt viel grösser als im Rest der EU.
Mehr Reformen brauchen wir nicht?
Doch. Die zweite Priorität ist die Sanierung der Sozialwerke.
Wir müssen das Rentenalter der Lebenserwartung anpassen,
das heisst erhöhen – und zwar generell und nicht nur um ein
Jahr für die Frauen.
Aber die letzte Finanzkrise hat gezeigt, dass die Staaten zur
Bankenrettung nicht die ganze Bilanz aufwerfen müssen.
Die nächste Finanzkrise wird sicher ganz anders aussehen als
die letzte. Wir können uns deshalb nicht in Sicherheit wiegen.
Wir müssen auch nicht davon ausgehen, dass die ganze Bilanzsumme wegfällt. Aber was ist, wenn eine Grossbank zehn oder
zwanzig Prozent vernichtet? Die USA können das beinahe aus
der Portokasse zahlen, in der Schweiz kämen in einem solchen
Fall die Staatsfinanzen in gewaltige Schieflage.
Was wäre das richtige Rentenalter?
Am besten wäre ein Mechanismus, das Rentenalter der Lebenserwartung folgend jedes Jahr leicht zu erhöhen. Hier hinkt die
Schweiz hinterher. Zahlreiche Länder haben solche Renten­
erhöhungsmechanismen eingeführt oder gar schon Rente­n­
alter 67 festgelegt.
Die Politiker wollen aber das heisse Eisen nicht anpacken.
Klar, es ist unpopulär. Aber die Überalterung der Bevölkerung
ist die wirtschaftliche Kernfrage der Zukunft, wir werden nicht
darum herumkommen, diese ernsthaft anzugehen. Zudem hat
eine Rentenaltererhöhung eine doppelte Dividende: Sie ent- •
Schwarz oder weiss, Herr Brunetti?
«Basler Zeitung» oder «NZZ»? «NZZ», weil es
die entscheidende Tageszeitung für Wirtschaftsfragen
in der Schweiz ist.
UBS oder CS? Beide.
Rotwein oder Weisswein? Rotwein.
Euro oder Franken? Franken.
Silvio Borner oder Peter Bernholz? Ich schätze beide sehr.
Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft?
Volkswirtschaft.
Bern oder Basel? Zum Leben Basel.
Roger Federer oder Xherdan Shaqiri? Roger Federer.
Buch oder Kino? Buch – und zwar sowohl Sachbücher
als auch Belletristik.
•
lastet die Finanzierung der Sozialwerke, dank mehr Einnahmen und weniger Ausgaben. Und sie bringt Wachstumseffekte
dank Mehrarbeit. Oder umgekehrt: Ohne Rentenaltererhöhung
dürfte das Durchschnittswachstum der Schweiz in den 2020er
Jahren deutlich fallen.
In einem ganz anderen Bereich wird jetzt einer Ihrer Reformwünsche umgesetzt: Der Bundesrat wird auf Anraten der von
Ihnen geleiteten Expertengruppe zur Grossbankenregulierung
die Leverage Ratio erhöhen, was der UBS aber gar nicht gefällt.
Die Grossbanken waren auf Niveau Verwaltungsratspräsident
in unserer Gruppe dabei und haben den Bericht mit den neun
entsprechenden Empfehlungen mitgetragen. Eine davon ist,
dass die Schweiz zu den Ländern mit den weltweit führenden
Kapitalanforderungen für Grossbanken gehören soll. Dazu gehört auch die Leverage Ratio.
Trotzdem: UBS-Chef Ermotti stellt sich quer und sagt,
die Leverage Ratios seien international nicht vergleichbar.
Insbesondere dank der Bemühungen im Rahmen des Basler
Ausschusses sind sie inzwischen durchaus vergleichbar. Die
Schweiz hat eine Leverage Ratio von de facto zwischen 4 und
4,5 Prozent, wenn wir das harte Kernkapital und Pflichtwandelanleihen dazurechnen. Amerika liegt bei 5 bis 6 Prozent.
Bilaterale retten, Rentenalter ­erhöhen und Grossbanken
­absichern. Reicht das als Reformprogramm?
Wenn man mit einer Liste von 20 Massnahmen kommt, hört
kaum jemand zu. Will man etwas erreichen, muss man sich in
der Kommunikation auf die zwei, drei wichtigsten Punkte konzentrieren. Dennoch enthalten die Wachstumsprogramme zu
Recht eine Reihe zusätzlicher Massnahmen in mehreren Bereichen, die in der Summe durchaus ebenfalls stark einschenken.
Und die Nationalbank ist aus dem Schneider?
Nein. Sie steht vor der sehr schweren Aufgabe, die ausser­
ordentlich expansive Geldpolitik in den kommenden Jahren
wieder zu normalisieren.
Die Hauptaufgabe der Nationalbank ist die Wahrung der
­Preisstabilität. Dem kommt sie heute aber nicht nach.
Die Nationalbank darf selber definieren, was sie als Preisstabilität erachtet – und das ist eine Inflation unter zwei Prozent.
Vom Ziel sind wir seit längerem ziemlich weit entfernt. Wir
haben eine negative Inflation – und die Nationalbank rechnet
selbst erst wieder ab 2018 mit einer Teuerung von null.
Die SNB spricht zu Recht von einer mittelfristigen Preisstabilität, interveniert also zum Beispiel nicht bei jeder Veränderung
von Erdölpreisen. Wenn allerdings negative Inflationsraten zum
Dauerzustand werden sollten, hat die Nationalbank innerhalb
ihres Konzeptes zunehmenden Erklärungsbedarf.
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