ETH Zürich Frühjahrssemester 2015 051-0814-15L Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung Einführung in ethnografische Feldforschung als Methode zur Erfassung von sozialen Situationen und Nutzungskonflikten in urbanen Räumen Dr. Heinz Nigg Lehrveranstaltung mit Feldarbeit im Zürcher Kreis 5 Unterlagen Was ist Stadtethnologie? 2 Zur Ethnografie in der Stadtplanung 3 Mental mapping: Ein Textualisierungsverfahren 4 Methodenübung: Fotorecherchen 5 Facts & Figures zum Zürcher Keis 5 7 Anhang: Prof. Dr. Christian Schmid. Wir wollen die ganze Stadt! Die 80er-Bewegung und die urbane Frage 10 2 Was ist Stadtethnologie? Gegenstand und Ziele Stadtethnologie beschäftigt sich mit dem städtischen Raum, städtischen Akteurinnen und Akteuren, mit Stadtbildern und dem Vergleich von Städten. Stadtethnologie untersucht Symbole und Praktiken, welche den Alltag der Urbanisierung repräsentieren und mitgestalten. Stadtethnologie begreift Stadt nicht nur als gebaute Umwelt, sondern als gelebten kulturellen und sozialen Zusammenhang. Die Wahrnehmung lokaler Milieus, ihres Eigensinns, ihrer Kreativität und ihrer besonderen Lebensweise wird als bedeutsam angesehen, um die Stadt als zentralen Ort der gesellschaftlichen Entwicklung besser zu verstehen. Teilnehmende Beobachtung Teilnehmende Beobachtung bezeichnet eine Methode der Feldforschung in den Sozialwissenschaften. Damit sollen Erkenntnisse über das Handeln, das Verhalten oder die Auswirkungen des Verhaltens von einzelnen Personen oder einer Gruppe von Personen gewonnen werden. Charakteristisch für teilnehmende Beobachtung ist die persönliche Teilnahme der Forschenden an den Interaktionen der Personen, die das Forschungsobjekt sind. Durch unmittelbare Erfahrung einer Gruppe oder einer Situation werden die verschiedenen Aspekte des Handelns und Denkens beobachtet. Die "Teilnahme“ reicht von blosser physischer Anwesenheit bis zur vollständigen Interaktion mit eigener Rolle in der zu beobachtenden Gruppe. Teilnehmende Beobachtung bedeutet ein ständiges Abwägen zwischen Nähe (Teilnahme) und Distanz (Beobachtung). Die Distanz ist nötig, um die Erfahrungen wissenschaftlich zu reflektieren und soll vor dem "going native" beziehungsweise der schleichenden Übernahme des Selbstverständnisses der Gruppe bewahren. Aktualität Ethnografische Feldforschung liegt heute im Trend. Das zeigt sich am Beispiel von «Dérive», der Zeitschrift für Stadtforschung (Vgl. Anja Schwanhäusser 2010). "Dérive" heisst "umherschweifen" und geht auf eine Definition der Künstlergruppe «Situationistische Internationale» zurück. Indem man sich in der Stadt beobachtend treiben lässt, werden die Sinne für die "Anregungen des Geländes" geöffnet. Atmosphärische Stadterkundungen sind ein Mittel, um altbekannte Bewegungs- und Handlungsmotive im urbanen Raum hinter sich zu lassen und neue Erfahrungen zu machen: durch das Erforschen von Zwischenräumen, durch unerwartete Begegnungen mit Akteurinnen und Akteuren, die nicht im Rampenlicht der medialen Öffentlichkeit stehen. Diese von den Situationisten 1958 erfundene psychogeografische Praxis ist inzwischen als Methode der Stadtethnologie äusserst populär geworden. Dabei hat die Zeitschrift «Dérive» durch ihre Namensgebung und inhaltliche Ausrichtung eine Vorreiterrolle gespielt. In der stadtethnografischen Praxis findet dieser Ansatz vor allem in der Szene-Forschung und in der Erforschung von urbanen Bewegungen Anwendung. Szenen und Bewegungen sind fluide soziale Formationen, die durch ihre Zusammenkünfte an spezifischen locations, ihre Inszenierungen und spektakulären Konsumpraktiken (Musik, Mode, Lifestyle) und ihre widerständischen Projekte (Hausbesetzungen, Eroberung von Freiräumen) die Atmosphäre einer Stadt massgeblich prägen. Literatur Hannerz, Ulf (1983): Exploring the City. Inquiries toward an Urban Anthroplogy. New York: Columbia University Press Krusche, Jürgen und Professur Günther Vogt, Departement Architektur, ETH Zürich (Hrsg.) (2011) Strassenräume Berlin Shanghai Tokyo Zürich. Eine foto-ethnografische Untersuchung. Baden: Lars Müller Publishers Latour, Bruno (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory. Oxford: Oxford University Press ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 3 Lindner, Rolf (2008): Textur, ›imaginaire‹, Habitus. Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung. In: Helmuth Berking, Martina Löw (Hg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Sassen, Saskia (1991): The Global City. New York. London. Tokyo. Princeton: Princeton University Press. Schmid, Christian (2001): Wir wollen die ganze Stadt! Die Achtziger Bewegung und die urbane Frage. In: Nigg, Heinz (Hrsg.) Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen. Zürich: Limmat Verlag Schwanhäusser, Anja (2010): Stadtethnologie - Einblicke in aktuelle Forschungen. In: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung. No. 40, Oktober 2010 http://www.derive.at/index.php?p_case=2&id_cont=940&issue_No=40 Zur Ethnografie in der Stadtplanung1 Verständnisprobleme Wie sehen Raumplaner die Stadt? Wie ordnen und systematisieren sie ihr Feld? Welche kulturellen Regelsysteme und Normen berücksichtigen sie bei ihrer Arbeit? Die Fachsprache der Stadtplanung folgt dem Gesetz der Abstrahierung. Alltagssprache wird in Fachausdrücke übersetzt. Phänomene aus der Alltagswelt wie das Grün am Strassenrand oder das Hochhaus im Neubauquartier werden in eine wissenschaftlich-abstrakte Sphäre gerückt. Aus dem Grün am Strassenrand wird das Strassenbegleitgrün und das Hochhaus entpuppt sich als Punkthaus, ein spezifischer Hochhaustypus mit innerem Erschliessungskern und aussenliegenden Wohneinheiten. Aus dem sprachlichen Transformationsprozess resultieren zwei Wirkungen: Zum einen ist die Sprache für den Laien nur noch bedingt verständlich. Zum anderen wird durch die sprachliche Abstraktion das "Erleben" der Stadt eliminiert, wodurch eine Distanz zwischen Alltag und Fachwelt entsteht. Die Sprache der Planung Das Prinzip der distanziert-abstrahierenden Sprache kehrt auch in der Raumwahrnehmung wieder. Charakteristisch für diese ist die Karte bzw. der Plan. Will sich eine Planerin oder ein Planer einen Überblick von einem Gebiet verschaffen, wird ein Blick auf die Karte geworfen: Wo liegt das Gebiet? Welche infrastrukturellen Einrichtungen gibt es? Welche Strassen, Wohnungstypen usw. charakterisieren das Gebiet? Wo gibt es wichtige freie oder ungenutzte Flächen, die man beplanen könnte und von denen aus Impulse gesetzt werden könnten? Der städtische Raum wird auf seine symbolisch darstellbaren Funktionen reduziert: die Straße, das Haus, die Kirche, das Krankenhaus, U- und S-Bahn-Haltestellen usw. Alltägliches Leben, das sich nicht ohne weiteres durch bestimmte Icons symbolisieren lässt, wird in der Karte ignoriert. Wie die Fachsprache geht also auch die Karte auf Distanz: Der Blick auf die Stadt ist immer ein Über-Blick, ein Blick von oben, wogegen der Blick aus Augenhöhe in der planerischen Stadtwahrnehmung eine untergeordnete Rolle spielt. So wird verständlich, warum die raumplanerische Perspektive, in der die Stadt vor allem mit Blick von oben wahrgenommen wird, die alltäglichen Erfahrungsdimensionen der Stadt zwangsläufig übersehen muss. Bestandesaufnahme und ethnografische Erkundungen Einer der wichtigsten Schritte im Rahmen der planerischen Auseinandersetzung mit einem Gebiet ist die sogenannte "Bestandsaufnahme". Diese trägt Daten zur Sozial- und Wirtschaftsstruktur, zur Geschichte und zur baulich-materiellen Struktur zusammen. Klassischerweise beinhaltet die Bestandsaufnahme vier Formen der Datenerhebung: 1. Statistik, 2. Experteninterviews, 3. Bewohnerbefragungen und 4. Kartierungen. Auch derartigen Bestandsaufnahmen fehlt oft das "Leben" oder das Erleben der Stadt. Das heisst all jene Aspekte, welche die Gebiete plastisch, lebendig und unverwechselbar werden lassen. Um der Bestandesaufnahme Leben einzuhauchen braucht es die ethnografische Feldforschung. Sie liefert das Atmosphärische der Gebiete sowie die Interpretation und Reflexion darüber, welche Bedeutungen den Gebieten inne wohnen und woraus sie hervorgegangen sind - aus der Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner. Mit der Methode des «mental mapping» können zum Beispiel die Sicht- und Wahrnehmungsweisen von Individuen und 1 Zusammengefasst und zitiert aus: Lang, Barbara. Zur Ethnografie der Stadt (2000) In: Kokot, Waltraud; Hengartner, Thomas; Wildner, Kathrin (Hrsg.) Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Eine Bestandesaufnhame. S.55-68. Berlin: Dietrich Reimer Verlag ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 4 Gruppen dokumentiert werden. «mental maps» ergänzen die abstrahierende "objektive" Karte mit subjektiven, nicht weniger bedeutsamen Ansichten "von unten". So kann die Stadtplanung durch die Berücksichtigung der "Software" innerhalb der gebauten Stadt, das heisst durch die Beachtung sozialer Situationen und kultureller Praktiken, einer adäquateren Bestandsaufnahme der jeweiligen Stadträume näher kommen und daraus praktikablere Leitvisionen für die Planung entwickeln. Und umgekehrt kann die ethnografische Feldforschung vom Einblick in die Methode der Bestandesaufnahme der Stadtplanung profitieren, indem sie die "Hardware", das heisst der Materialität des Städtischen wie auch der regulativen Strukturen und Vorgaben, Gesetzen und Normen, die wesentlich für die Entwicklung von Siedlungsräumen sind, besser in ihre Überlegungen zu integrieren versucht. Mental mapping2 Mental mapping bedeutet das Aneignen, Deuten und Ordnen von Umwelt. Mental mapping ist ein Textualisierungsverfahren mit gestalterischen Mitteln. Mit Mental maps wird die Wirkung der gebauten und natürlichen Umwelt auf die räumliche Orientierung seiner Bewohnerinnen und Bewohner erkundet. Mit Mental mapping kann also die Selbst- und Fremdwahrnehmung des handelnden Subjekts in der Stadt als einem gesellschaftlichen Raum rekonstruiert werden. Es geht um die subjektiv erlebte Stadt in den Köpfen der Menschen. Die je individuellen Bilder sind lesbare Texte. Jeder dieser Text ist einmalig. Und doch suchen und finden wir in der Differenz der Texte nach Ähnlichkeiten, die es uns erlauben, Kategorien der Orientierung im städtischen Raum zu entwickeln. Mental map Zürich mit Bleistift oder Kugelschreiber Subjektiver Stadtplan: relevante Elemente wie Strassen, Plätze, Gebäude usw. blau Subjektiver Aktionsraum: persönlich relevante Aktivitätszonen wie Arbeit, Freizeit, Nachbarschaft, Freunde und Bekannte, andere Formen der sozialen Kommunikation grün Arbeitsweg mit Wegbewertung schwarz Auffälligkeiten im Stadtbild (hohe emotionale Bewertung und/oder hoher individueller Wert) rot Brennpunkte und Spannungsfelder urbaner Entwicklung 2 Hengartner, Thomas. Die Stadt im Kopf. Wahrnehmung und Aneignung der städtischen Umwelt (2000) In: Kokot, Waltraud; Hengartner, Thomas; Wildner, Kathrin (Hrsg.). Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Eine Bestandesaufnahme. S.87-105. Berlin: Dietrich Reimer Verlag ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 5 Methodenübung: Fotorecherchen Im oberen Kreis 5 unterwegs mit der Fotokamera. Zwischen Langstrasse und Hauptbahnhof Beobachtungsraster: A Was zieht an und gefällt? B Was stösst ab und nervt? C Was macht neugierig? - Nicht mehr als drei Bilder pro Person - Jedes Bild mit Legende/Kommentar versehen - Mit/ohne ohne Namen der beteiligten Studierenden Angaben pro Foto: Namen der Strasse/Platz/Hinterhof Kategorie: A, B oder C Legende: nicht länger als 180 Buchstaben inkl. Leerzeichen Alle Fotos samt Bildlegenden/Kommentaren werden hochgeladen auf: www.av-produktionen.ch/av/eth.html Danke fürs Mitmachen! Routen • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Limmatplatz Langstrasse Josefstrasse Heinrichstrasse Johannesgasse Fierzgasse Konradstrasse Josefstrasse Neugasse Zollstrasse Mattengasse Ackerstrasse Marstallweg Reishauerstrasse Klingenstrasse Hafnerstrasse Radgasse Limmatstrasse Ausstellungsstrasse Sihlquai Röntgenplatz und Röntgenstrasse Josefwiese und Viadukt Gasometer- und Motorenstrasse Fabrik- und Quellemstrasse Geroldstrasse Hardstrasse und Escher Wyss Platz Sihlquai Am Donnerstag, 26. März 2015, werden Resultate der Fotorecherche im Quartierhaus Kreis 5, Sihlquai 115 öffentlich präsentiert und diskutiert im Rahmen der Veranstaltung ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 6 «Wem gehört der Kreis 5?» Oberer Kreis 5 mit Quartierhaus, Sihlquai 115. Der obere Kreis 5 wird eingegrenzt durch Bahngeleise, die Sihl und die Langstrasse. ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 7 Facts & Figures zum Zürcher Kreis 5 Historische Entwicklung Die ehemals selbständige Gemeinde Aussersihl wurde 1893 eingemeindet und brachte das von ihr abgespaltene Industriequartier mit in die Stadt ein, welches den heutigen Kreis 5 bildet. Administrativ wird das Industriequartier vom statistischen Amt in die beiden Verwaltungseinheiten (Quartiere) Gewerbeschule (oberer Kreis 5) und Escher Wyss (unterer Kreis 5) geteilt. Das Industriequartier war von Anfang an ein Einwanderungsquartier. Strukturwandel heute Eine unvollständige Liste von Betrieben zeigt den Strukturwandel der letzten Jahre: Reishauer AG: Zahnflankenschleifmaschine, heute Berufsschule Bananen AG: Hute Berufsschule Städtisches Kornhaus: Heute Migros-Genossenschafts-Bund Trinkwasser-Filteranlagen: Heute Museum für Gestaltung und HGKZ Escher Wyss AG: Maschinenfabrik, heute Dienstleistungen, Schauspielhaus, Wohnungen Schoeller AG: Textilfabrik, heute Wohnungen Limmatwest Steinfels Seifen: Seifen und Waschpulver, heute Wohnungen, Kino Maag Zahnräder: Heute Planungsgebiet Stadtmühle: Heisst heute Swissmill Viaduktbögen: Lager und Gewerbe, heute: Ateliers und Läden Löwenbräu Zürich: Heute Kunst In den ehemaligen Industriegebäuden hat der Kanton und die Stadt in den letzten Jahrzehnten zudem eine grosse Anzahl Berufsschulen einquartiert. Kultur und Freizeit Die Entwicklung zum Trendquartier Zürich-West spiegelt sich auch im kulturellen Bereich, in Sport und Freizeit: Theater und Kulturzentrum Schiffbau: zwei Bühnen des Schauspielhauses Zürich, Jazzclub Moods (seit 2001) Sogar Theater: privates Kleintheater (seit 1998) Multiplexkino Abaton: 12 Säle (seit 1993) Kino/Bar/Bistro Riffraff: 4 Säle (seit 1998) Dutzende von Bars und Clubs (Angebot zahlreich und wechselnd) Grosses und vielseitiges Angebot an Restaurants mit Spezialitäten aus aller Welt und in sämtlichen Preisklassen Das Fussballstadion (Hardturm) und die Trainingsplätze (Förrlibuck) des Grasshopper Club Zürich Die meisten öffentlichen Sammlungen verdankt der Kreis 5 der Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK): Museum für Gestaltung, Plakatsammlung, Grafiksammlung und Designsammlung Kunsthalle Zürich Migros Museum für Gegenwartskunst Daros Collection (Sammlung Schmidheiny) Galerie Caratsch de Pury & Luxembourg Architektur Das älteste Profangebäude der Stadt Zürich: Der rund 800jährige Hardturm, steht im unteren Teil des Kreis 5. Er war Familiensitz der als Minnesänger bekannten Familie Manesse. Er ist in Privatbesitz und wird bewohnt. Die katholische St. Josefs-Kirche wurde 1912–1914 in einem Volksfrömmigkeits-Herz-Jesu-Stil von Prof. Karl Moser erbaut. Die reformierte St. Johannes von Paul Reber entstand 1898 im neugotischen Stil nach ersten Entwürfen des Landesmuseums-Architekten Ramseyer). ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 8 Beispiele moderner Architektur: Arbeiterhaus-Siedlung im Gebiet der Johannes-Gasse, sog. "Fierz-Häuser", benannt nach ihrem Initianten, Johann Heinrich Fierz Bernoullihäuser im Hardturm, bekannte Arbeiter-Reihenhäuschen im Zeichen der Gartenstadtbewegung 1924–1929 von Prof. Hans Bernoulli Wohnkolonien, sogenannte «Arbeiterburgen» (Hofrandüberbauung) an Limmatstrasse, Josefstrasse, Röntgenstrasse, Albertstrasse Schulhaus Limmat (1908–1926) Limmathaus Museum für Gestaltung Zürich und Hauptgebäude der Zürcher Hochschule der Künste im Bauhausstil Aus der Zeit der Jahrtausendwende: Röntgenareal (farbige Wohnkuben), Limmatwest (ehemalige Textilfabrik Schoeller Hardturm) und grosszügige grosstädtische Bauten rund um den Schiffbauplatz Umbrüche Der Umbruch vom Arbeiterwohnquartier und Industriestandort zum zentrumsnahen modernen Wohnquartier und Berufsschulstandort für den ganzen Kanton brachte es mit sich, dass während Jahren immer wieder Brachen entstanden. Diese wurden von Kulturschaffenden genutzt, und es gelang, ein vielfältiges Kulturangebot zu etablieren. Damit wurde der früher oft gemiedene Kreis für breite Gesellschaftsschichten attraktiv, was wiederum die ansässige Bevölkerung stärkte. Vom Rotlichtviertel und von der offenen Drogenszene in den späten 1980er-Jahre und 90er Jahre ist fast nichts mehr übrig geblieben. Zürich-West Zürich-West ist ein Teil vom Kreis 5 und liegt im Westen des Zentrums von Zürich, eingespannt zwischen der Limmat und dem Gleisfeld. Die Wohnbevölkerung wird bis ins Jahr 2015 auf 7'000 und längerfristig auf 8'000 Menschen ansteigen. Ende 2005 arbeiteten 19'200 Menschen in Zürich-West, 2012 waren es rund 27'000 Beschäftigte auf 24'000 Vollzeitstellen. Im Jahr 2015 werden es rund 30'000 und längerfristig 40'000 Arbeitnehmende sein. Die Entwicklungsplanung Zürich-West orientiert sich weitgehend am Entwicklungskonzept und den daraus entstandenen Leitlinien. Das ehemalige Industriequartier wird schrittweise und mit Bezug zu seiner Geschichte zu einem attraktiven, durchmischten und nachhaltigen Stadtteil umgeformt. Herausforderungen: Die Stadt begleitet verschiedene Areal- und Teilarealentwicklungen und setzt die städtebaulichen Konzepte planungsrechtlich um. Mittel- und langfristig leben mehr Schulkinder in Zürich-West. Deshalb ist auch die Schulraumplanung eine wichtige Aufgabe. Es gilt ausserdem, attraktive, öffentlich zugängliche Freiräume zu schaffen. Die Stadt koordiniert weiterhin grosse, komplexe Bauprojekte, sichert deren Qualität und gewährleistet den Informationsfluss. Entwicklungsziele: Ein vielfältiger Nutzungsmix (z. B. Forschung, Design, Unterhaltung und Kultur, Gastronomie, urbanes Wohnen, Gewerbebetriebe, Stadion) soll ermöglicht und gefördert werden. Die notwendige Infrastruktur ist zu erstellen: Schulen und andere wichtige Quartiereinrichtungen, Ausbau des öffentlichen Verkehrs, Ergänzungen und Anpassungen des Strassennetzes, öffentliche Räume, Verund Entsorgungsanlagen. Die Planung soll sich an realistische Etappierungsziele halten. Bauten und Anlagen sind so zu erstellen, dass sie mit hoher Flexibilität über lange Zeit genutzt werden können. Die Entwicklung ist dem Dreieck der Nachhaltigkeit (Wirtschafts-, Sozial- und Umweltverträglichkeit) unterstellt. Städtische Identität: Das Vorhandene bildet den Ausgangspunkt für die städtebauliche Umwandlung. Angestrebt wird eine hohe städtebauliche Dichte (200 – 300%) mit einem substanziellen Wohnanteil (mind. 20 – 30%). Neue öffentliche Räume tragen zur Vernetzung bei und schaffen ein städtebauliches Grundgerüst. Richtwerte für Freiraumflächen sind 5m2 pro Arbeitsplatz und 8m2 pro EinwohnerIn. Die maximale Quartierdurchlässigkeit für FussgängerInnen und VelofahrerInnen soll gewährleistet sein. Es ist eine hohe städtebauliche und architektonische Qualität sowohl im öffentlichen Raum als auch bei den Bauten und Anlagen gefordert. Die Entwicklung soll in kooperativen Verfahren realisiert werden. ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 9 Quartierleben Zürich-West wandelt sich mit den Menschen, die hier leben und arbeiten. Sie sollen sich wohl fühlen in ihrem Quartier. Die Stadt unterstützt und begleitet Bewohnerinnen und Bewohner bei der Umsetzung von Ideen und fördert Zwischennutzungen. Die Rolle der städtischen Quartierkoordination im Entwicklungsprozess: Die Quartierkoordination beteiligt sich in Zusammenarbeit mit anderen Dienstabteilungen der Stadt Zürich am laufenden Entwicklungsprozess Zürich-West. Sie sorgt dafür, dass die Sichtweise, die Anregungen und die Bedürfnisse der Quartierbevölkerung in die Planung einfliessen. Die Mitarbeitenden setzen sich für neue Gefässe, Strukturen und Orte ein, die Begegnungen und Austausch fördern. Sie schlagen Brücken zwischen Quartier, Politik, Verwaltung und Unternehmen. Die Quartierkoordination versteht Konflikte im Zusammenleben als Chance, soziale Netze aufzubauen und verschiedene Lebensweisen, Werte und Haltungen einander näher zu bringen. Schützeareal Das Schützeareal wird bis zum Baubeginn der Quartierinfrastruktur für Projekte wie Ausstellungen, Spielaktionen oder Festivals genutzt. Die Stadt begleitet Projekte und unterstützt Ideen. Im Sommer stellen jeweils die Fahrenden ihre Wagen und Zelte auf und informieren an den Zigeunerkulturtagen über ihre Geschichte und Kultur. Stadionbrache Seit 2011 stellt die städtische Liegenschaftenverwaltung dem Verein Stadionbrache das Areal des ehemaligen Stadion Hardturm zur Verfügung. Mittlerweile gibt es auf dem Areal eine Reihe von Projekten, unter anderem den Stadiongarten, der 2012 eröffnet wurde. Frau Gerolds Garten Seit 2012 steht das Areal in Privatbesitz an der Geroldstrasse hinter dem Freitagtower den Betreibern von «Frau Gerolds Garten» für fünf Jahre zur Verfügung. Das Areal darf kommerziell genutzt werden und der Betrieb besteht aus einem Gemisch aus Restaurant, Bar, Stadtgarten sowie Kunst und Design. Viaduktbögen Vor dem Ausbau der Viaduktbögen durch die SBB veranstaltete die Stadtentwicklung Zürich Beteiligungsworkshops. Diese ergaben, dass es ein Angebot für Kinder und Räume für Quartiernutzungen geben soll. 2010 entstand unter anderem der Kindertreffpunkt IM VIADUKT hinter der Josefwiese. Die Kinderbögen sind offen für Grund- und Primarschulkinder aus dem Kreis 5. Quellen: • • • • • • Informationen zu kooperativer Entwicklungsplanung in der Stadt Zürich (Überblick): https://www.stadtzuerich.ch/hbd/de/index/entwicklungsgebiete/zuerich_west/quartierleben.secure.html Kennzahlen zu Zürich-West: http://www.stadtzuerich.ch/hbd/de/index/entwicklungsgebiete/zuerich_west/kennzahlen.html Entwicklungskonzept: https://www.stadtzuerich.ch/hbd/de/index/entwicklungsgebiete/zuerich_west/entwicklungskonzept.secure.html Quartierleben: https://www.stadtzuerich.ch/hbd/de/index/entwicklungsgebiete/zuerich_west/quartierleben.secure.html Quartierspiegel Escher-Wyss: http://www.stadtzuerich.ch/prd/de/index/statistik/publikationsdatenbank/Quartierspiegel/QUARTIER_052.html Kreis 5. Das Industriequartier: http://www.kreis5.ch/startseite/ ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 10 Anhang Wir wollen die ganze Stadt! Die Achtziger Bewegung und die urbane Frage3 Prof. Dr. Christian Schmid Die Entwicklung heutiger Weltstädte ist ein widersprüchlicher Prozess. Auf der einen Seite transformieren sie sich zu globalen Macht- und Entscheidungszentren. Auf der anderen Seite sind sie Orte, an denen die Möglichkeiten und die Kreativität einer Gesellschaft zusammenkommen, wo gesellschaftliche und kulturelle Differenzen sich erkennen, anerkennen und auf diese Weise fruchtbar werden (Lefebvre 1968, 1972). Städte bilden also eine gesellschaftliche Ressource, sie ermöglichen den Zugang zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Reichtümern einer Gesellschaft. Die urbane Frage besteht nun darin, welche sozialen Gruppen Zugang zu den Ressourcen einer Stadt haben und welche von diesen Ressourcen ausgeschlossen bleiben. Die Achtziger Bewegung in Zürich ist das Beispiel einer urbanen Bewegung, die mit Vehemenz für ihr ”Recht auf die Stadt” gekämpft hat. Metropolenträume Während mehr als einem Jahrhundert war der Urbanisierungsprozess in der Schweiz durch eine stadtfeindliche Haltung gekennzeichnet (Marco et al. 1997, Hofer 1998). Bis heute bedeuten grosse Städte und urbanes Leben für breite Kreise der Bevölkerung eine Gefährdung ihrer regionalen und lokalen Interessen oder gar eine Bedrohung ihrer nationalen Identität. In Zürich wirkte diese stadtfeindliche Haltung besonders in den Nachkriegsjahrzehnten prägend: Während sich die Limmatstadt zum dominierenden wirtschaftlichen Zentrum der Schweiz entwickelte, versuchten Behörden und Bevölkerung von Stadt und Kanton, die Ausdehnung der Stadt zu begrenzen und ihren kleinstädtischen Charakter zu bewahren. In der Folge verlagerte sich der Urbanisierungsprozess in die Agglomeration, wo verstreut und kaum koordiniert Wohnsiedlungen und Einfamilienhauszonen entstanden. Erst gegen Ende der sechziger Jahre wurde diese Haltung durchbrochen: Eine Wachstumskoalition, die von Wirtschaftskreisen bis hin zur Sozialdemokratie reichte, wollte aus Zürich eine "moderne" Metropole machen. Die damaligen Pläne umfassten ein dichtes Netz von Schnellstrassen und 1 innerstädtischen Autobahnen, ein U- und S-Bahn-System sowie ein städtebauliches Projekt für eine moderne City-Erweiterung. Angrenzend an die bestehende City zwischen Bahnhofstrasse und Sihl sollte im Kreis 4, rund um die Kaserne, eine Art Klein-Manhattan entstehen (Blanc 1993, Hitz/Schmid/Wolff 1995a). Doch als diese Pläne in ihre Realisierungsphase traten, wurden sie durch veränderte soziale und politische Verhältnisse bereits wieder in Frage gestellt. Der Kampf gegen die Stadtzerstörung In den sechziger Jahren waren die Schattenseiten der Urbanisierung bereits an vielen Orten erfahrbar geworden: Die Städte entwickelten sich zu funktional entmischten, rational durchorganisierten "Reproduktionsmaschinen" (Hitz/Schmid/Wolff 1995b), der öffentliche Raum wurde vom Verkehr überflutet, die Wohnbevölkerung der Innenstädte aus ihren angestammten Quartieren verdrängt, und in den Vorstädten und Agglomerationsgemeinden – mit ihren Einfamilienhauszonen und Blocksiedlungen – machte sich Langeweile und Entfremdung breit. Kritische Intellektuelle diagnostizierten eine "Krise der Stadt": In den USA stellte Jane Jacobs (1961) den modernen Städtebau an den Pranger, und in Deutschland prägte Alexander Mitscherlich den Begriff der ”Unwirtlichkeit unserer Städte” (Mitscherlich 1965). Die städtische Krise bildete einen wichtigen, wenn auch selten thematisierten Ausgangspunkt der Achtundsechziger Bewegung. Diese Bewegung beschränkte sich nicht auf eine Kritik der allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern kämpfte auch gegen die rigide und repressive soziale Kontrolle im städtischen Alltagsleben und setzten sich für die Schaffung von nichtkommerziellen Treffpunkten und Kulturräumen ein. Das spektakulärste Beispiel für eine "Rückeroberung" der Stadt 3 In: Nigg, Heinz (Hrsg.) (2001) Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen. Zürich: Limmat Verlag ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 11 war der Mai 68 in Paris, der von Henri Lefebvre (1968) bereits damals als eine urbane Revolte bezeichnet und analysiert wurde. Auch in Zürich bildete der Kampf für eine "andere Stadt" einen wichtigen Aspekt der Achtundsechziger Bewegung. Bezeichnenderweise wurde die Forderung nach einem Autonomen Jugendzentrum im leerstehenden ehemaligen Provisorium des Warenhauses Globus an der Bahnhofbrücke – im Herzen der Stadt – zum lokalpolitischen Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen. Als die Polizei versuchte, eine Demonstration vor dem Globus-Provisorium gewaltsam aufzulösen, kam es am 29. Mai 1968 zum "Globus-Krawall", den schwersten Strassenschlachten in Zürich seit den dreissiger Jahren. Zwei Jahre später besetzten AktivistInnen der Bewegung einen leerstehenden militärischen Verteidigungsbunker unter dem Lindenhof – ebenfalls im Zentrum der Stadt – und betrieben für kurze Zeit das erste autonome Jugendzentrum Zürichs, die sogenannte "Autonome Republik Bunker". In den folgenden Jahren verbreitete sich das Unbehagen, und verschiedenste Aspekte der Stadtentwicklung und des städtischen Lebens kamen ins Kreuzfeuer der Kritik. Mit spektakulären Hausbesetzungen an der Venedigstrasse (1971) und am Hegibachplatz (1974) kämpfte die autonome Linke nicht nur gegen Wohnungsnot und Spekulation, sondern auch gegen die City-Ausdehnung und die Verödung der städtischen Kultur. Linksliberale und universitäre Kreise nahmen die geplanten innerstädtischen Autobahnen (das "Expressstrassen-Ypsilon") unter Beschuss und machten das im Bau befindliche Teilstück der Sihlhochstrasse zwischen Brunau und Sihlhölzli – deren Stützpfeiler gerade in den Flussschotter gerammt wurden – zum Symbol von Stadtzerstörung. An der Architekturabteilung der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) begannen die StudentInnen Marx zu lesen und den fordistischen Massenwohnungsbau zu analysieren 2 (Autorenkollektiv 1972). Der neue Schweizer Film entdeckte die Wohnfrage und den Städtebau . Mitglieder der "Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau" (ZAS) organisierten im Kunstgewerbemuseum (heute: Museum für Gestaltung Zürich) die Ausstellung "Zürich plant - plant Zürich?", an der sich auch das städtische Tiefbauamt beteiligte (Schilling 1971, 1986). Im neu gegründeten Tages-AnzeigerMagazin, der Wochenendbeilage der grössten Zürcher Tageszeitung, kritisierten junge JournalistInnen, PlanerInnen und ArchitektInnen die unterschiedlichsten Aspekte der Stadtentwicklung. Durch das System der direkten Demokratie wirkte sich dieses Unbehagen unmittelbar auf die realpolitische Ebene aus. Zwischen 1970 und 1974 scheiterten praktisch alle Projekte für den Bau von Strassen und Parkhäusern an den Urnen, und einige Grossprojekte wurden aufgrund der negativen 3 Stimmungslage bereits vor der Abstimmung zurückgezogen. Zum Waterloo für die Wachstumskoalition wurde schliesslich die Volksabstimmung über den Bau einer U- und S-Bahn von 1973, die noch wenige Monate vor dem Abstimmungstermin als unbestritten galt. Mit starker Mehrheit wurde die Vorlage in Stadt und Kanton verworfen. Diese Abstimmung markierte eine Trendwende in der Stadtentwicklung Zürichs. Da die U-Bahn das Rückgrat der Modernisierungspläne gebildet hatte, war mit ihrem Scheitern der bisherigen Politik die Grundlage entzogen. Im politischen Establishment machte sich Verunsicherung über den weiteren Kurs der Stadtentwicklung breit (Blanc 1993). Ein territorialer Kompromiss Mitte der siebziger Jahre setzte eine Wirtschaftskrise ein, die eine tiefgreifende ökonomische Restrukturierung nach sich zog. Im Zuge der Internationalisierung der Finanzmärkte entwickelte sich in Zürich eine "Headquarter Economy", die sich auf die Verwaltung und Kontrolle globaler Finanzströme spezialisierte. Damit stieg Zürich in die Liga der "Global Cities" auf. Mit diesem Begriff bezeichnet die Stadtforscherin Saskia Sassen (1996) diejenigen Städte, die innerhalb der globalisierten Ökonomie spezifische Steuerungs- und Kontrollaufgaben erfüllen. Die Kontrolle der globalen Ökonomie ist nicht eine abstrakte Grösse, sondern ein konkreter Produktionsprozess, der an ganz bestimmten Orten stattfindet: den Global Cities als strategischen Knoten eines global vernetzten Produktionssystems. Mit dem Aufstieg Zürichs zur "Global City" zeichnete sich in der Frage der Stadtentwicklung eine Polarisierung ab: Der Bedarf des Finanzplatzes nach zusätzlichen, zentral gelegenen Büroflächen und nach dem weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur kollidierte mit den Bedürfnissen von breiten Kreisen der Stadtzücher Bevölkerung nach günstigen Mietzinsen und besserer Wohnqualität. In der Folge kristallisierten sich in der Stadtentwicklungspolitik zwei gegnerische Lager heraus: Auf der einen Seite bildete sich eine neue Modernisierungskoalition aus Vertretern der bürgerlichen Parteien, der Wirtschaft, dem Gewerbe und Teilen der Gewerkschaften. Auf der anderen Seite formierte sich eine ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 12 brüchige Allianz, die eine Stabilisierung der Stadtentwicklung anstrebte. Sie reichte von der Sozialdemokratie, die sich unter dem Einfluss der achtundsechziger Generation von den früheren Modernisierungskonzepten abgewandt hatte, bis zu MieterInnen- und Umweltorganisationen, Quartiergruppen und Abstimmungskommittees. Interessanterweise deckten sich die Anliegen der Stabilisierungsallianz in manchen Punkten mit den Interessen konservativer Kreise, die sich mit heimatschützerischen und ordnungspolitischen Argumenten ebenfalls gegen zu einschneidende Modernisierungspläne wandten (Kipfer 1995). Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern blieb für die Stadtentwicklung Zürichs bis in die neunziger Jahre bestimmend. Beide Seiten konnten Erfolge vorweisen, doch keine vermochte sich 4 durchzusetzen. Das Resultat der jahrelangen Auseinandersetzungen kann als ein "territorialer Kompromiss" interpretiert werden: Er bedeutete eine Abkehr von den radikalen Modernisierungsstrategien der sechziger Jahre, ohne jedoch die Globalisierung Zürichs und die wirtschaftliche Dynamik der Stadtentwicklung grundsätzlich in Frage zu stellen (Hitz/Schmid/Wolff 1995a, Schmid 1996). Da den Expansionsmöglichkeiten in der City Grenzen gesetzt wurden, begannen Dienstleistungsunternehmen und Banken ihre Büros an anderen Standorten zu errichten, zunächst in freiwerdenden Industriezonen innerhalb der Stadt, in den achtziger Jahren zunehmend auch in der 5 urbanen Peripherie . An den verschiedensten Orten der Agglomeration entstanden neue CitySatelliten – strategische Knoten der Headquarter Economy. Auf diese Weise bildete sich eine neue Konfiguration des Städtischen heraus: die "urbane Region". Die urbane Region entspricht nicht mehr den klassischen Formen von "Stadt" oder "Agglomeration" und stellt keine kohärente Einheit dar; sie ist ein fragmentiertes, polyzentrisches Gebilde, das durch ausgedehnte Verkehrs- und Kommunikationsnetze zu einem übergreifenden Ganzen verknüpft wird (Hitz/Schmid/Wolff 1995b, Lehrer 1995). Im Licht dieser Entwicklung erwies sich der territoriale Kompromiss als zweischneidig. Einerseits gelang es teilweise, in den innerstädtischen Wohnvierteln einen vielfältigen Alltagsraum zu erhalten, ein urbanes Refugium mit sozialen Netzen und Treffpunkten; anderseits etablierte sich eine enge, defensive Konzeption des Städtischen, die an die stadtfeindliche Haltung der Nachkriegszeit anknüpfte und sich auf Erhaltung und Bewahrung beschränkte. Gerade diese Haltung sollte zum Ausgangspunkt eines neuen, ungleich heftigeren Konfliktes werden. Die urbane Revolte Die Politik des territorialen Kompromisses enthielt keine visionären Perspektiven. Alternativkultur galt als subversiv und wurde praktisch nicht gefördert. Wie ein roter Faden zieht sich durch die siebziger Jahre die Eliminierung von subkulturellen Freiräumen und der behördlich angeordneten Schliessung von Treffpunkten und Restaurants – meist unter dem Vorwand, dass an diesen Orten Drogen konsumiert würden (vgl. Altherr/Stemmle 1980). So kollidierten der wirtschaftliche Aufschwung und die damit verbundene ökonomische Globalisierung mit dem provinziellen politischen und kulturellen Klima Zürichs, mit kleinstädtischer Enge und einem eklatanten Mangel an städtischen Lebensformen. Als im Herbst 1979 das Polyfoyer, einer der letzten Orte für nichtkommerzielle Rockkonzerte, geschlossen wurde, war im kulturellen und sozialen Leben der wirtschaftlich prosperierenden Limmatmetropole der Tiefpunkt erreicht. Diese Situation wurde zum Auslöser der urbanen Revolte: Als die Polizei am 30. Mai 1980 eine Demonstration vor dem Opernhaus, die sich gegen die städtische Kulturpolitik richtete, gewaltsam 6 auflösen wollte, kam es zum "Opernhaus-Krawall" . Die während Jahren aufgestaute Unzufriedenheit 7 brach plötzlich auf, die "Kulturleichen dieser Stadt" forderten tatkräftig die Einlösung des "urbanen Versprechens", das die aufstrebende Wirtschaftsmetropole laufend abgab, aber nie einlöste. 8 (Lüscher/Makropoulos 1984) . Zwei Jahre lang wurde Zürich von Strassenschlachten von bis anhin nie gekannter Heftigkeit erschüttert. Die Achtziger Bewegung wird oft als "Jugendbewegung" bezeichnet. Diese Zuschreibung übersieht indessen die breite Front der damaligen Unzufriedenen und die grosse Vielfalt von Gruppen und Personen, die an der Achtziger Bewegung in der einen oder anderen Form beteiligt waren. Eine wichtige Rolle spielte die Gruppe "Rock als Revolte", die sich für nichtkommerzielle Punk- und Rockkonzerte einsetzte. Eine relativ heterogene Gruppe von mehr oder weniger etablierten KünstlerInnen und KulturarbeiterInnen forderte Kulturräume und einen angemessenen Anteil an den ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 13 städtischen Kultursubventionen. Politische Erfahrung und organisatorisches Know-how brachten politische AktivistInnen ein, die bereits in den städtischen Auseinandersetzungen der siebziger Jahre oder der Anti-Atomkraftwerk-Bewegung beteiligt waren. Dazu kamen Jugendliche, die ein Jugendzentrum forderten; bereits 1978 hatten sie das Schindlergut besetzt und für einige Monate als provisorisches Jugendhaus geführt. Viele andere stiessen spontan zur Bewegung: Studierende, Lehrlinge, Wohnungssuchende, bis hin zu Leuten von der Gasse. Die Radikalität der Revolte, die Wiederaneignung des öffentlichen Raumes, die Explosion von Kreativität in all ihren Ausdrucksformen, von Happenings über Graffitis bis zu Grafik und Video, zielte direkt ins Herz des öffentlichen Lebens, der städtischen Politik und Kultur: "Wir wollen die ganze Stadt!". Mit diesem Leitspruch formulierte die Achtziger Bewegung offensiv den Anspruch auf eine für alle zugängliche städtische Öffentlichkeit. In letzter Konsequenz forderte die Bewegung nichts weniger als eine neue urbane Kultur. Vom Lauf der Ereignisse völlig überrollt, stellten die Stadtbehörden Ende Juni 1980 ein leerstehendes Fabrikgebäude hinter dem Bahnhof für ein Autonomes Jugendzentrum (AJZ) zur Verfügung. Sogleich wurde das AJZ zum Treff- und Stützpunkt der Bewegung, zum Schauplatz von turbulenten und tumultuösen Vollversammlungen, von legendären Highlights und fürchterlichen Abstürzen, zum Schreckgespenst der bürgerlichen Öffentlichkeit. Im September 1980 von den Stadtbehörden unter nichtigem Vorwand geschlossen, im April 1981 unter dem Druck der Strasse erneut eröffnet, gelang es noch einmal für einen kurzen Sommer, das AJZ zum Leben zu erwecken, bis es an den internen und externen Problemen zerbrach, in Agonie und Drogenelend versank, von der Bewegung aufgegeben und schliesslich im März 1982 auf Anordnung der Stadtbehörden abgebrochen wurde. Nach knapp zwei Jahren war die Revolte zusammengebrochen, zerrieben zwischen inneren Widersprüchen und einer repressiven Antwort des Staates, die sich kaum von der Politik in anderen europäischen Städten wie Amsterdam oder Frankfurt unterschied. In den Lokalwahlen von 1982 wurde diese Politik mit der Festigung der bürgerlichen Hegemonie honoriert. Zürich als Weltstadt Das Ende des AJZ und der Zusammenbruch der Revolte bedeuteten für viele Bewegte eine bittere Niederlage. Doch in den folgenden Jahren zeigten sich die Früchte der Achtziger Bewegung: in der Kulturpolitik, im Alltagsleben und im öffentlichen Raum. Die Breite der Bewegung und nicht zuletzt die gravierenden Auswirkungen der Strassenkrawalle auf das Image des Finanzplatzes Zürich bewogen die Stadtbehörden nach der Zerschlagung der Revolte zu einer Integrationspolitik, die insbesondere auf jährlich steigenden Subvention für "Alternativkultur" basierte. Auf staatlicher und privater Basis 9 entstanden in den achtziger Jahren die unterschiedlichsten Kulturprojekte . Weniger spektakulär, doch nicht weniger tiefgreifend waren die Transformationen im Alltag und im öffentlichen Raum. Die Achtziger Bewegung hatte die andere, urbane Seite Zürichs, die lange in den Untergrund verbannt war, ins Zentrum der Öffentlichkeit katapultiert. Ihre Aktionen und Happenings hatten plastisch vor Augen geführt, dass der öffentliche Raum nicht nur dem Verkehr und dem Einkaufen dienen könnte, sondern auch dem Spiel, dem Vergnügen, der Begegnung. Im puritanischen Zürich begann sich so etwas wie mediterrane Lebenskultur auszubreiten. Solche Veränderungen sind schwierig zu erfassen, weil sie in kleinen Schritten und über einen grösseren Zeitraum stattfinden. Als Beispiel mögen hier die Parkanlagen am Zürichsee dienen, deren Benützung noch in den siebziger Jahren streng reglementiert war. Das Spielen auf dem Rasen war verboten, in Badekleidern zeigte man sich nur in den von den Parkanlagen säuberlich abgetrennten Badeanstalten. Die Parks dienten in erster Linie der Repräsentation. Sie bildeten den Schauplatz für intakte Kleinfamilien, die sich im Sonntagsstaat der Öffentlichkeit präsentierten. Während der achtziger Jahre erhielten diese Parkanlagen eine völlig neue Bedeutung. Sie wurden zu einem heterotopischen Ort, zum Freiraum und Treffpunkt verschiedenster Gruppen und Szenen. Bis heute ist die Seeanlage einer der lebendigsten und urbansten Orte von Zürich geblieben. Auf ähnliche Weise infiltrierte das Urbane das zuvor sorgsam gepflegte Stadtbild. Strassencafés entstanden, im Zürich der siebziger Jahre eine absolute Rarität, Treffpunkte und Discos, illegale Bars, Strassenfeste und Openair-Kinos. Auf Dachzinnen gediehen Hanfkulturen, und in Festzelten und alternativen Restaurants pflegten ehemalige BewegungsaktivistInnen eine neue Esskultur. Aus heutiger Sicht mögen solche Praktiken nur als Vorboten einer unverbindlichen "Spassgesellschaft" ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 14 erscheinen. Doch sie waren noch lange mit subversiver Bedeutung aufgeladen: Es ging nicht um Konsum, sondern um die Aneignung der Stadt – eine Haltung, die mit provokativer Selbstverständlichkleit in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wurde. Die kulturelle und soziale Öffnung hatte indessen auch eine andere Seite. Mit der Integration wurden die kreativen Energien der urbanen Revolte domestiziert und in eingezonte, befriedete kulturelle "Freiräume" kanalisiert. Oppositionelle Kultur wandelte sich zu einem konsumierbaren "kulturellen Angebot", das die wirtschaftliche Attraktivität Zürichs weiter erhöhte (Hartmann/Hitz/Schmid/Wolff 1986). Zugleich bildete sie die Basis für einen teilweise informellen Sektor der Kulturproduktion, der bis zu Design, Marketing und Image-Produktion reicht. Dieser Sektor spielt heute eine Schlüsselrolle im globalen Standortwettbewerb (Klaus 1998). Die von der Achtziger Bewegung geforderte und gelebte kulturelle Öffnung machte Zürich erst zur "Weltstadt", die sie allein mit der distinguierten Monokultur von Banken und Konzernen nie geworden wäre: Indem die urbane Revolte letztlich erfolgreich die alltagsweltliche und kulturelle Seite der Globalisierung einforderte, bildete sie selbst einen konstituierenden Faktor der Global City Zürich. Junky Town Zu Beginn der neunziger Jahre änderte sich die ökonomische und soziale Situation Zürichs erneut: Wiederum setzte eine wirtschaftliche Krise ein, die öffentlichen Haushalte gerieten in Finanznot, neoliberale Politiken begannen sich durchzusetzen. Zugleich zeigten sich, als Folge der 10 Globalisierung Zürichs, neue kulturelle und soziale Bruchlinien und Verwerfungen. Zum ersten Mal seit den dreissiger Jahre wurde Zürich in grösserem Ausmass mit Arbeitslosigkeit und Armut konfrontiert, und - wie in vielen anderen Orten Europas - machten sich rechtspopulistische und fremdenfeindliche Tendenzen breit. In dieser Situation wurde 1990 erstmals seit dem Roten Zürich der dreissiger Jahre eine nichtbürgerliche (rot-grüne) Mehrheit ins Stadtparlament gewählt, und im Stadtrat (Exekutive) bildete 11 sich eine Mitte-Links-Koalition. Der Wechsel der politischen Mehrheit hatte den unmittelbaren Effekt, dass die bürgerlichen Parteien ihre Reihen schlossen und eine aggressive politische Kampagne gegen die kulturelle und soziale Öffnung der achtziger Jahre lancierten. Als erstes Ziel wählten sie das Quartierzentrum Kanzlei, das 1984 aus der Achtziger Bewegung heraus entstanden war und als politischer, kultureller und sozialer Treffpunkt weit über das Quartier hinaus ausstrahlte. Nach zwei erbitterten und polemisch geführten Abstimmungskampagnen musste das Quartierzentrum Ende 1991 geschlossen werden. Danach lancierten rechtsbürgerliche Kreise eine aggressive Kampagne zum Drogenproblem. Nachdem die harte Drogenszene jahrelang von einem Ort zum andern vertrieben worden war (vgl. Vogler/Bänziger 1990), hatte sie sich Ende der achtziger Jahre an zentraler Lage auf dem Platzspitz hinter dem Hauptbahnhof installiert, der in der Folge als "Needle Park" internationale Schlagzeilen machte und zum Symbol für die ungelöste Drogenfrage in ganz Europa wurde. Unter massivem politischem und institutionellem Druck ordnete die Stadtregierung 1992 überstürzt und ohne alternative Strategie die Räumung des Platzspitzes an. In der Folge setzte sich die Drogenszene im angrenzenden Wohnviertel, dem Kreis 5, fest. Viele BewohnerInnen und lokale Geschäftsleute empfanden die Präsenz von Junkies und Dealern vor der eigenen Haustür, auf Treppen und in Hinterhöfen als Bedrohung. Die Boulevardpresse beschwor die "Schrecken der Stadt" und verglich die Situation mit den von Alkoholprohibition und Mafiakriegen geprägten Verhältnissen im Chicago der dreissiger Jahre. Die rot-grüne Regierung, die sich zunehmend in die Enge getrieben sah, machte "ausländische Dorgendealer" und "kriminelle Asylanten" für das Drogenproblem verantwortlich (Stern 1994). Um die Lage unter Kontrolle zu bringen, errichteten Bund, Kanton und Stadt ein umfassendes Dispositiv, das von verschärften "Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht" (dies der Name des Bundesgesetzes, das 1994 in der Volksabstimmung genehmigt wurde) bis zum Bau von neuen Gefängnissen und Ausschaffungszentren reichte. Als Folge der repressiven Drogenpolitik änderte sich die Qualität und die Bedeutung des öffentlichen Raumes erheblich, insbesondere im betroffenen Kreis 5: Gitter versperrten Durchgänge und Hinterhöfe, gespenstisches blaues Licht, das die Junkies vom Spritzen abhalten sollte, illuminierte Toiletten und Vorplätze, es kam zu massiven Polizeikontrollen, 12 willkürlichen Verhaftungen und entwürdigenden Leibesvisitationen auf offener Strasse . Die Erfolglosigkeit der rein repressiven Politik führte schliesslich zum Umdenken, und es wurde eine ganze Palette von präventiven und unterstützenden Massnahmen für Junkies eingeführt, unter ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 15 anderem auch die medizinisch kontrollierte Abgabe von Heroin. Mit dieser Mischung aus Repression und Unterstützung gelang es 1995, die Drogenszene zu regulieren und in eine verdeckte überzuführen. Obwohl sich die Lage allmählich "normalisierte", hinterliess diese Drogenpolitik ein deutlich verändertes Klima, im Viertel und in der Stadt. Viele der früheren sozialen Netze, die eine gewisse soziale Kohäsion oder zumindest einen gegenseitigen Respekt der verschiedenen sozialen Gruppen geschaffen hatten, waren zerrissen, und es etablierte sich ein ausgrenzender Diskurs, der sich immer stärker auch in das urban-kulturelle Milieu hinein ausbreitete. So markierte die Vertreibung der Drogenszene den Beginn einer Politik, die versucht, das Soziale aus dem öffentlichen Raum zu verbannen und ihn für die "erwünschten" Teile der Bevölkerung zu reservieren. In einer "Kaskade der Ausgrenzung" zielte diese Politik auf immer weitere soziale Gruppen: bestimmte Kategorien von Immigranten und Immigrantinnen, Sexarbeiterinnen (ein grosser Teil davon illegalisierte Flüchtlinge), 13 Obdachlose, Alkoholiker, Auffällige (vgl. Innen!Stadt!Aktion! 1997). Die innerstädtischen Viertel, deren Bevölkerung sich lange dem Prozess der Luxussanierung widersetzt hatte, waren offen für eine "Aufwertung". Vom Wiederentdecken des Städtischen Während der obere Teil des Kreis 5 noch im Drogenelend versank, begann sich das Urbane im unteren Teil des Kreis 5, auf dem brachliegenden früheren Industriegebiet westlich der Hardbrücke, zu installieren. In den achtziger Jahren war dieses Gebiet noch "terra incognita", vom Werkschutz bewachtes ”verbotenes” Terrain. Durch die Pattsituation in der Stadtentwicklungspolitik und unter dem 14 Einfluss der Wirtschafts- und Immobilienkrise blieb die Entwicklung jahrelang blockiert . Allmählich wurde diese eindrückliche industrielle Betonlandschaft mit ihren imposanten Hallen und ihrem herben Charme zu einem utopischen Ort, einer Projektionsfläche der Phantasie, einer Verheissung des Möglichen. Eine bald heimliche, bald offene Aneignung und Umnutzung begann. In den leeren Hallen richteten sich kleine, finanzschwache Betriebe ein, illegale oder halblegale Bars und Discos, Treffpunkte, Ateliers, Projekte aller Art. Zum Zentrum dieses Viertels wurde das Schöllerareal an der Limmat mit seiner ebenso vielfältigen Theater- und Kunstszene. Dieser Aneignungsprozess hatte von Anfang an auch eine martkwirtschaftliche Komponente, wie das Beispiel der früheren Waschpulverfabrik Steinfels in der Nähe des Escher-Wyss-Platzes zeigt, die in den frühen neunziger 15 Jahren zu einem multifunktionalen Komplex umgebaut wurde. So entstand eine hochurbane Mischung aus Kommerziellem und Ephemerem, die im helvetischen Kontext aussergewöhnlich war. Die neue Verbindung von Arbeiten, Wohnen und Kultur sowie die unkonventionelle Ambiance des neuen Stadtviertels "Zürich-West" zog die unterschiedlichsten Nutzungen an, von Hotels bis zu internationalen Consultingunternehmen. Eine veritable "Kulturmeile" entstand, mit verschiedenen renommierten Kunst- und Kulturinstitutionen – unter anderen auch die "avantgardistische" Dépendance von Zürichs Schauspielhaus, der "Schiffsbau". Im Verlauf der neunziger Jahre kam es so zu einer Verschiebung der Stadtentwicklung, Zürich-West wurde zum neuen urbanen Zentrum Zürichs. Diesem Wechsel hat sich auch die städtische Planung verschrieben, die innert kurzer Zeit eine ebenso dramatische Umorientierung vollzog wie der Kreis 5. Während die Stadtentwicklungspolitik bis in die neunziger Jahre darum bemüht war, die "Wohnstadt" gegen die "Arbeitstadt" zu verteidigen und die historisch geschaffenen Strukturen mit ihren alltagsweltlichen Qualitäten zu erhalten, wurde jetzt der Standortwettbewerb ins Zentrum gerückt: Internationale Investoren, globales Kapital und vermögende Bevölkerungsgruppen sollten wieder nach Zürich und im speziellen in das urbane Vorzeigestück Zürich-West gelockt werden. Viele Pionierprojekte aus der 16 "Gründerzeit" sind inzwischen bereits wieder verdrängt worden, während es einigen bemerkenswerten Alternativprojekten gelang, sich noch zu Zeiten tiefer Grundstückpreise ein Terrain 17 zu sichern. Nachdem die Drogenszene im oberen Kreis 5 von der sichtbaren Fläche verschwand, wandelte sich auch die ehemalige ”Drogenhölle” zu einem schicken urbanen Viertel, das den staunenden BesucherInnen als helvetisches Greenwich Village präsentiert wird. Ausgehend von dieser Entwicklung im Kreis 5 breitete sich in Zürich ein neues "urbanes Lebensgefühl" aus: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt sich Zürich clean, kaufkräftig und festfreudig. Die Sommermonate pulsieren im Takt der "Events", von Sportanlässen bis zur Streetparade. Auf den in einschlägigen Magazinen publizierten Ranglisten der "Trendstädte" Europas erreicht Zürich Spitzenplätze, und stolz verkündet der Verkehrsverein: "Zürich - downtown Switzerland!” ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 16 Neue Widersprüche "Wir wollen die ganze Stadt!": Dieser Slogan von 1980 hat heute viel von seiner Bedeutung verloren. Es ist nicht mehr möglich, ein "Wir" zu definieren, ein übergreifendes, gemeinsames Ziel, eine einheitliche Definition der Stadt oder des Städtischen. Kämpften damals ökonomisch weitgehend gesicherte, vorwiegend schweizerische Bevölkerungsgruppen gegen eine disziplinierende soziale Ordnung und für eine "andere Stadt", so haben sich in der Zwischenzeit die sozialen Widersprüche verschoben: Die heutige Global City ist durch zunehmende ökonomische Polarisierung und soziokulturelle Fragmentierung gekennzeichnet. In diesem Kontext hat der von der Achtziger Bewegung erkämpfte kulturelle und soziale Wandel zwar zu einer kosmopolitischeren Stadt, nicht aber zu einer offenen urbanen Gesellschaft geführt. Die mittlerweile akzeptierten Formen von "urbaner Kultur" oder "Urbanität" zelebrieren die Versöhnung von Widerstand und Kommerz, von Kunst und Konsum, geben sich weltoffen und zahlungskräftig. Die kosmopolitische Fassade verbirgt indessen die Tatsache, dass sozial und ökonomisch schwächere Bevölkerungsgruppen zunehmend isoliert und vom "Recht auf die Stadt" ausgeschlossen werden. Der Prozess der Gentrification, der ökonomischen und sozialen Aufwertung, hat heute bereits weite Teile der innerstädtischen Wohnviertel Zürichs erfasst. Die neue Urbanität droht gerade das zu vernichten, was sie zu schaffen vorgibt: die wirkliche Metropole - als Ort der Offenheit, der Unwägbarkeiten, der Möglichkeiten. Anmerkungen: 1 Geplant waren ein innerstädtisches Expressstrassen-System (das "Expressstrassen-Ypsilon"), eine Umfahrungsautobahn, eine Schnellstrasse rund um die City (der "City-Ring") und mehrere Tangenten (vgl. dazu Blanc 1993 und Kammann 1990). 2 Einige Besipiele: Die grünen Kinder von Kurt Gloor über den Massenwohnungsbau in Volketswil (1971), Zur Wohnungsfrage 1972 von Hans und Nina Stürm (1972), Der Bucheggplatz zum Beispiel von Sebastian C. Schröder über die Westtangente (1973), Beton-Fluss von Hans-Ulrich Schlumpf über den Bau der Sihlhochstrasse (1974). 3 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem die Abstimmungen über das Parkhaus unter dem Hechtplatz (1970) und über die Fortsetzung der Westtangente (Hardplatzvorlage, 1972). Zurückgezogen wurden unter anderem die im Jahre 1971 vom Stadtrat lancierte Idee einer "Waldstadt" auf dem Adlisberg zwischen Witikon und Fluntern und der Vorschlag, in Zürich olympische Winterspiele durchzuführen. Auch die verschiedenen Teilprojekte des "City-Rings" verschwanden zu Beginn der siebziger Jahre sang- und klanglos in den Schubladen der Stadtverwaltung. 4 Während die Modernisierungsallianz trotz erheblichem Widerstand verschiedene Grossprojekte und Strassenbauten sowie - im Verbund mit den Verfechtern des öffentlichen Verkehrs - ein milliardenschweres SBahn-Projekt durchsetzen konnte, gelang es der Stabilisierungsallianz bereits in den siebziger Jahren, neue Gesetze zur Erhaltung der bestehenden Stadtstruktur durchzubringen: auf kantonaler Ebene das "Wohnerhaltungsgesetz", das den Abbruch und die Umnutzung von Altbauwohnungen erschwert, auf städtischer Ebene den "Wohnanteilplan", der für jedes Grundstück einen minimalen Wohnanteil festlegt und der bis heute eines der effektivsten Instrumente gegen die weitere City-Expansion darstellt. In die gleiche Richtung zielte auch eine 1982 angenommene Initiative, die den Bau von Hochhäusern in der Zürcher Innenstadt verbietet (vgl. auch Scherr 1986). 5 Das weitaus wichtigste Gebiet für diese Auslagerung war Zürich-Nord (vgl. dazu Hitz/Schmid/Wolff 1995b, Campi/Bucher/Zardini 2001). 6 Konkreter Anlass dieser Demonstration war eine Abstimmungsvorlage über einen Beitrag von 60 Millionen Franken zur Sanierung des Opernhauses – während für "Alternativkultur" praktisch keine Mitel bereitgestellt wurden. So hatten die Stadtbehörden auch die Schaffung eines Kulturzentrums in der Roten Fabrik, das 1977 in einer Volksabstimmung bewilligt worden war, immer weiter verzögert. Für zusätzliche Empörung sorgte die Absicht, während dem Umbau des Opernhauses die Rote Fabrik als Kulissenlager zu benützen. 7 "Wir sind die Kulturleichen der Stadt" lautete der Slogan auf dem Fronttransparent der OpernhausDemonstration. 8 "Diese urbanen Revolten sind keine Revolten gegen die Verstädterung, sondern gegen den Mangel an städtischen Lebensformen in der Stadt. Sie klagen ein Versprechen ein, das die Städte laufend abgeben und laufend brechen. (...) Die alles umgreifende Möglichkeit, Lebensformen frei zu entwerfen, ist zunächst Fiktion. Dass diese Fiktion so wirklich werden könne, wie etwas eben wirklich werden kann, ist der Angelpunkt des urbanen Versprechens. Dass aber die Fiktion in den meisten Fällen vor dem Punkt steckenbleibt, an dem sie als ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 17 Intensität ohne Einbusse erfahren würde, ist der Zündfunke der urbanen Revolte" (Lüscher/Makropoulos 1984: 123/126). 9 Dazu gehörten z.B. das Kulturzentrum Rote Fabrik, das unter dem Druck der Bewegung im Herbst 1980 eröffnet wurde, das Quartier- und Kulturzentrum Kanzlei mit dem Sofakino Xenix, das Theaterhaus Gessnerallee, das städtische Filmpodium im Studio 4 (Zürichs kommunales Kino), das Theaterspektakel, das alle Jahre im Spätsommer am See gastiert, der Jazz-Club Moods, der nach einer jahrelangen Odyssee 1992 endlich ein definitives Lokal beziehen konnte, bis hin zu einer ganzen Reihe von Kleintheatern, Discos und freien Kulturprojekten. 10 Global Cites sind durch eine starke ökonomische Polarisierung geprägt: Ein hochqualifizierter Sektor erbringt die Leistungen für die Weltökonomie, und in Abhängigkeit von diesem Sektor entwickelt sich ein Niedriglohnbereich, der die Reproduktion des hochqualifizierten Sektors garantiert: Reinigungs- und Ladenpersonal, aber auch Hilfskräfte im Gastronomie- und Kulturbereich, sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen. Ein grosser Teil der Beschäftigten im Billiglohnbereich sind Frauen und MigrantInnen aus ärmeren Weltregionen. Global Cities sind deshalb immer auch ”umkämpfte Territorien”, auf denen die Widersprüche einer polarisierten Welt aufeinanderprallen (Sassen 1996). 11 Im Stadtparlament ergab sich eine Mehrheit aus Sozialdemokraten, Grünen, Feministinnen und Alternativen. Im Stadtrat bildete sich eine Art Mitte-Links-Koalition aus drei SozialdemokratInnen und zwei Vertretern christlicher Parteien. Hintergrund dieser Wahlüberraschung war eine nationale politische Krise, ausgelöst durch den Skandal um die Bundesrätin Elisabeth Kopp und die "Fichen-Affäre", die bis auf die Zürcher Lokalpolitik durchschlug. Auf lokaler Ebene kam ein Skandal um die neue Bau- und Zonenordnung hinzu, in den zwei bürgerliche Stadträte verwickelt waren. 12 Zur Drogenfrage im Zürich der frühen neunziger Jahre vgl. Helller/Lichtenstein/ Nigg 1995. Eine fortlaufende Dokumentation von Polizeiübergriffen findet sich im Bulletin der Gruppe "augenauf". 13 Die Politik Zürichs zeigte in dieser Beziehung keinen grundlegenden Unterschied zu anderen westeuropäischen Städten. Dies wurde anlässlich der Kampagne Innen!Stadt!Aktion! deutlich, die im Juni 1997 gleichzeitig in 14 deutschen und schweizerischen Städten organisiert wurde, darunter auch Zürich. Diese Kampagne thematisierte nicht nur ausschliessende Politiken, sie erprobte auch Ansätze zu einer stärkeren Verknüpfung von verschiedenen Gruppen innerhalb und zwischen den beteiligten Städten (vgl. auch Grell/Sambale/Veith 1998). 14 In den späten achtziger Jahren war der untere Teil deskreis 5 das umstrittenste Gebiet der Stadtentwicklung Zürichs. Die damalige Bauvorsteherin Ursula Koch widersetzte sich den Forderungen des Finanzplatzes nach einer Öffnung der Industriezonen für Büronutzungen und liess einen Zonenplan ausarbeiten, der eine Umnutzung nur mit dem Mittel des Gestaltungsplanes zuliess und so der Stadt erhebliche Mitsprache sicherte. 15 Neben der alternativen Zwischennutzung durch Kleinbetriebe, KünstlerInnen und ein Szenencafé ("Glacé Garten"), die inzwischen einer zweiten Bauetappe wichen mussten, entstanden in der alten Waschpulverfabrik u.a. ein Muliplexkino ("Cinemax"), Studios einer Lokalfernsehstation ("Tele Züri") und Luxuswohnungen. Dieses Beispiel zeigt auch die Dramatik des Wandels: Wer hätte sich einige Jahre früher vorstellen können, dass an der verkehrsreichsten Stadtautobahn der Schweiz Luxuswohnungen entstehen könnten, die zu den teuersten der ganzen Stadt zählen? 16 Auf dem Schoeller-Areal, dem Ausgangspunkt der neuen Entwicklung, steht heute eine neue Wohnüberbauung, die insbesondere unter Architektur- und Medienschaffenden reissenden Absatz gefunden hat. Die Theater- und Kunstszene, die diesen Ort einst belebte, ist heute in alle Winde zerstreut. 17 Das grösste und bekannteste dieser Projekte ist Kraftwerk 1, ein wegweisendes Projekt für gemeinschaftliches Wohnen und Arbeiten, dessen Ursprünge in den urbanen Milieus der siebziger und achtziger Jahre liegen. Literatur (Auswahl) Ginsburg, Theo / Hitz, Hansruedi / Schmid, Christian / Wolff, Richard (Hrsg.): Zürich ohne Grenzen. Pendo, Zürich 1986. Heller Martin, Lichtenstein Claude, Nigg Heinz (Hrsg.). Letten it be. Eine Stadt und ihr Problem. Museum für Gestaltung, Zürich 1995. ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg 18 Hitz, Hansruedi et al. (Hrsg.). Capitales Fatales: Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich. Rotpunkt, Zürich 1995. INURA (Hrsg.). Possible Urban Worlds: Urban Strategies at the End of the 20th Century. Birkhäuser, Basel/Boston/Berlin 1998. Klaus, Philipp. Cities of the World Economy Need Places Like Zentralstrasse 150. In: INURA 1998, S.90-99. Lefebvre, Henri. Le droit à la ville. Anthropos, Paris 1968. Lefebvre, Henri. Die Revolution der Städte. List, München 1972. Lüscher, Rudolf M. / Makropoulos, Michael. Vermutungen zu den Jugendrevolten 1980/81, vor allem zu denen in der Schweiz. In: R.Lüscher: Einbruch in den gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse. Limmat Verlag, Zürich 1984, S.123-141. ETH Zürich. Frühjahrssemester 2015 Soziologie: Der Kreis 5 in Zürich: Eine Feldforschung. Dr. Heinz Nigg
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