nacht - Stadtform

die
nacht
einfangen
»Oh, the night is my world, city light painted girl,
in the day nothing matters, it’s the night time that flatters.«
KOLUMNE
Oh, Laura Branigan! Ich kann sie förmlich
spüren, die kalte Luft und mystische Finsternis dieser Nacht im Jahr 1984, wie sie aus Deinem von Synthies überlagerten Lied in meine
Adern fährt. Die kommerzielle Glorifizierung
der Nacht als eine Welt, in der andere Regeln
gelten, ist ja nichts Neues. Hier ist die künstlich erhellte Urbanität eine besondere Bühne,
wo Selbstdarstellung zur Handlungsmaxime
und die Eroberung der Stadt zum Abenteuer
zwischen Liebe und Verbrechen, Exzess und
Ekstase wird.
für ein Lebensgefühl, diverse Lebensstile und
eine nicht zu unterschätzende Ökonomie geworden. Mittlerweile ist die sogenannte Night
Time Economy zu einem ernstzunehmenden
und umkämpften Handlungsfeld der Stadtpolitik geworden. Melbournes »24-Hour-City«
Strategie etwa ist ein gezieltes Unterfangen, die
Stadt als durchgehend geöffneten Erlebnisspielplatz für die verdächtige Zielgruppe einer
gehobenen Mittelschicht aus Studierenden,
Kreativen und TouristInnen zu vermarkten.
Der Nutzen einer solch umfassenden Kommodifizierung der Nacht scheint selbstredend:
Legt sich die Nacht über den urbanen Raum,
finden wir also eine ganz besondere Form
von Stadt vor, die sich auf viele Arten von
der tageslichtdurchfluteten urbanen Umwelt
unterscheidet. Umso passender für die erste
Magazinausgabe von stadtform sich der Stadt
bei Nacht zu widmen. Was macht sie also bei
Nacht, die Stadt? Ihr Puls verlangsamt sich: »A city that is active 24 hours a day extends
Verkehrs- und Datenströme nehmen ab, ihr the hours of a city’s economy, generating more jobs,
Energieverbrauch sinkt, sie wird ruhiger. Man activities and social solidarity.«
könnte sagen, sie legt sich zur Ruh’. Doch
während das Tagesgeschäft in der Dämme- Der Kunstkritiker und Essayist Jonathan Crary
rung zergeht, sagen sich schon die Geschäfte nimmt sich dieses Phänomens 2013 in seiner
der Nacht an. Sie schläft nur scheinbar.
Polemik »24/7 – Schlaflos im Spätkapitalismus« an. Für ihn ist die Nacht die letzte BasTatsächlich kämpft die Stadt seit jeher gegen tion nicht-kapitalisierten urbanen Lebens, die
die sie übermannende Müdigkeit an: New er im beginnenden 21. Jahrhundert zunehYork, die Stadt, die niemals schläft, hat diesen mend in Gefahr sieht. In der Tat offenbaren
Kampf wohl als Erste gewonnen und schlägt sich den Urbanophilen und Stadtforschesich seitdem die Nacht um die Ohren. »Das rInnen vermehrt Kämpfe um ein »Recht auf
Nachtleben «, das Städte führen, ist Synonym Nacht«: AnrainerInnen gegen SexarbeiterIn-
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nen, Obdachlose gegen Sicherheitsdienste, feierlaunige NachtschwärmerInnen gegen Schlaftrunkene,
flexible Arbeit gegen geregeltes Privatleben. Vielleicht vermag man aus
genau diesem Grund auf noch drastischere Weise die guten und bösen
Geister urbaner Gesellschaften zu
sehen, die bei Tag bereits zum blinden
Fleck unserer Wahrnehmung geworden sind – weil sich die urbane Nacht
gerade in Veränderung befindet wie
noch nie.
Schließlich jedoch ist »Nacht« auch
eine Frage des Kontexts. Denn die Nacht
ist relativ wie alles andere. Ist es in Berlin stockduster, wird in anderen Teilen
der Erde gerade »Mahlzeit« gesagt. In
unserem weltweit vernetzten Alltag ist
das deutlicher denn je. Gebannt schauen wir nach weltpolitischen Ereignissen
auf die Eröffnung der Börse von Tokyo,
während in Frankfurt der DAX noch süß
vom gestrigen Punkteplus träumt. Die
amerikanische Twitteria ist spätabends
noch in hellem Aufruhr über die nächste
gesellschaftspolitische Entgleisung, die einer aufgeklärten Gesellschaft im 21. Jahrhundert unwürdig ist, da wankt Andreas
Gabalier in der Morgendämmerung erst
Richtung Kaffeemaschine. Die Zeitzonen,
die Utopien, die Antagonismen, ja nicht
einmal die Dunkelheit eint alle Städte dieser Welt, wenn es um die urbane Nacht
geht. Gerade das macht sie zum so spannenden Terrain.
Johannes Suitner
Stadtforscher
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