Erinnern und Gedenken der »Euthanasie«-Opfer

12 | Psychosoziale Umschau 022015 | Psychiatrie & Gemeinde
Erinnern und Gedenken der »Euthanasie«-Opfer
Von Martina Gauder
Bundespräsident Joachim Gauck hält eine
Rede im Bundestag, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht einen Tag vorher auf
der Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz-Komitees: Es ist der 27. Januar
2015. Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz liegt genau 70 Jahre zurück.
Ein historisches Datum, an dem seit 1996
landesweit mit mehreren Gedenkveranstal-
Anlehnung an den Ort »Aktion T4«. Sie erfassten dort Opfer zentral, selektierten sie
und veranlassten den Abtransport in sechs
Tötungsanstalten. Erwiesenermaßen hatte
dieses Verfahren Vorbildfunktion für die sogenannte »Endlösung«.
Nach Protesten aus der Bevölkerung aufgrund des störenden Geruchs dezentralisierten die Täter nach August 1941 ihr Pro-
Dr. Thomas Beddies
tungen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert wird. Seit 2010 findet an diesem Tag auch regelmäßig eine Gedenkveranstaltung für Opfer der NS-»Euthanasie«
in Berlin statt.
Die Nationalsozialisten nannten sie »lebensunwertes Leben«: Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen,
Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Bei der stigmatisierenden und degradierenden Bezeichnung Anfang der 1930er-Jahre
blieb es nicht: Etwa 300.000 Menschen fanden unter dem Stichwort »Euthanasie« den
Tod durch Vergasen, Verhungern oder Medikation und etwa 400.000 Menschen wurden zwangssterilisiert.
Die Schaltzentrale hierfür befand sich von
April 1940 bis August 1941 in der Berliner
Tiergartenstraße 4 und unterstand dem
direkten Befehl der Führerkanzlei. Die Nationalsozialisten nannten ihr Programm in
gramm: Die Opfer wurden in sogenannte
Pflegeanstalten deportiert und kamen in
Gaskammern, bei medizinischen Experimenten oder durch den Hungertod ums Leben.
Sich der »Euthanasie«-Opfer zu erinnern
und zu gedenken, aber auch die Frage zu
wagen, wer die Täter waren, ist essenziell.
Denn, so Bildhauerin und BPE-Ehrenmitglied Dorothea Buck, selbst in den 1930erJahren zwangssterilisiert, »was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen,
wenn die äußeren Lebensumstände sich
entscheidend verschlechtern«.
Die Erinnerungskultur an die Opfer der
NS-»Euthanasie« blickt auf keine lange Tradition zurück: Seit acht Jahren findet im
September an der ehemaligen Tiergartenstraße 4 in Berlin eine Gedenkveranstaltung
statt, u.a. organisiert von den Mitgliedern
des Kontaktgesprächs Psychiatrie, zu dem
u.a. die Aktion Psychisch Kranke (APK), der
Dachverband Gemeindepsychiatrie, der
Bundesverband der Angehörigen psychisch
Kranker (BApK) und der Bundesverband der
Psychiatrie-Erfahrenen (BPE) gehören. Wiederum seit fünf Jahren findet eine zweite,
staatlich organisierte Gedenkfeier für Bürger und Politiker mit anschließender Kranzniederlegung am T4-Gedenkort für die Opfer der »Euthanasie«-Verbrechen im Januar
statt.
Im Rahmen dieser Gedenkveranstaltung
lud Verena Bentele, Bundesbeauftragte für
Belange behinderter Menschen, am 27. Januar, dem historischen Tag der Befreiung
Auschwitz, dieses Mal in die Topographie
des Terrors: »Es sind nicht die Zahlen, um
die es heute geht, sondern die Menschen«,
sagte sie in ihrer Begrüßungsrede. »Es ist
daher in meinen Augen unabdingbar, den
Opfern eine Stimme zu geben.«
Dr. Thomas Beddies vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité griff in seiner Rede vor allem Schicksale von ermordeten Kindern und
Jugendlichen in den sogenannten Kinderfachabteilungen auf und die Rolle von Ärzten. Auch ein Ausschnitt des Theaterstücks
»Fridas Weg«, aufgeführt von der Theaterwerkstatt Göttingen, beleuchtete diese
Aspekte. Die Kinderfachabteilungen, eine
NS-Tarnbezeichnung, waren eigens eingerichtete Stationen, auf denen Kinder vergiftet, ermordet und vernachlässigt wurden.
Dr. Beddies sagte diesbezüglich: »Es wiegt
meines Erachtens besonders schwer, dass
bei den Medizinverbrechen an Kindern
nicht nur in Hinblick auf das Arzt-Patienten-Verhältnis schwere Verfehlungen festzustellen sind, sondern darüber hinaus die
allzeit bestehende Abhängigkeit des Kindes
vom Erwachsenen (…) in gröbster Weise
missbraucht wurde.«
Auch Eltern und andere Angehörige seien
vorsätzlich getäuscht worden: Sie hätten
ihre Kinder häufig in der Hoffnung auf eine
moderne, Erfolg versprechende Behandlung
in die Hände der Mediziner und damit der
Täter gegeben. Zum Beispiel in die Kinderfachabteilung Wiesengrund in Berlin-Reinickendorf – direkt gegenüber dem Rathaus.
Der Krankenmord ist laut Dr. Beddies
gekennzeichnet gewesen durch jegliches
Fehlen von Mitleid und Empathie. »Wir befinden uns nicht mehr auf dem Feld frag-
Fotos: Jürgen Kramer
Psychiatrie & Gemeinde | Psychosoziale Umschau 022015 | 13
Ausschnitt aus dem Theaterstück »Fridas Weg«
würdig ethischen Verhaltens, sondern im
Bereich kriminellen Vorgehens und zwar
auch nach zeitgenössischen Maßstäben«,
betonte er. Nach damaligen Täterangaben
seien 5.000 Kinder während des Nationalsozialismus getötet worden, jedoch gehen
Anzeige
vorsichtige Schätzungen heute von deutlich
über 10.000 minderjährigen Opfern aus.
Doch wer waren die Täter?
Verena Bentele rückte neben dem Gedenken der Opfer die Täterprofile in den Mittelpunkt des Erinnerns: »Wie in ›Fridas Weg‹
dargestellt wird, waren die Täter keine abstrakten Personen, die außerhalb stehen, es
waren, wie man heute sagt, Menschen aus
der Mitte der Gesellschaft: Es waren die
nette Ärztin, der nette Arzt von nebenan,
die Krankenschwestern, die Fürsorge und
Daseinsvorsorge und Pflege machen müssen und sollten, die an den Morden beteiligt
waren.«
Dr. Thomas Beddies mutmaßte: »Doch bedienten sich die Täter dabei (der Ermordung
behinderter Kinder in der NS-Zeit) eines offenbar zeitlosen Topos der Abwehr und
Angst gegenüber beschädigtem und als belastend empfundenem Leben.« Ohne einen
Zusammenhang zur menschenverachtenden Ideologie und Praktiken der Nationalsozialisten herzustellen, verwies er mit den
Schlagworten Erfüllung eines Kinderwunsches, Designerbaby und ungewolltes Leben
auf Thematiken, die gegenwärtig zum medizinischen Alltag gehören.
Was gemahnt wird, bleibt zumindest
augenblicklich unvergessen: Daran erinnerten auch Tage später noch die niedergelegten Blumen am T4-Denkmal. ■
Martina Gauder ist freie Journalistin und lebt in
Berlin.