"Von Gottes Fülle: Predigt über Psalm 148", Prof. Dr. Matthias Zeindler

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Von Gottes Fülle: Predigt über Psalm 148
Matthias Zeindler
1. Liebe Gemeinde
Das letzte Jahr war ja für die Berner Kirchen weiss Gott ein bewegtes Jahr. Im September debattierte der Grosse Rat über das
künftige Verhältnis von Kirche und Staat und beschloss eine
sanfte Entflechtung in der Beziehung der beiden Partner, die vorher jahrhundertelang eng verbunden waren. Keine Angst, davon
will ich heute nicht sprechen. Ich möchte aber von etwas erzählen, was mich im Vorfeld dieser Debatte ordentlich beschäftigt
hat.
Pünktlich zur letztjährigen BEA erschien nämlich diese Zeitung –
„Kirche ist mehr als du glaubst“. Sie wurde breit gestreut, unter
anderem als Beilage zum „reformiert.“, vielleicht erinnern Sie
sich. Ich hatte die Ehre, das Projekt zu leiten und zusammen mit
einem hochkarätigen kreativen Team die Zeitung zu realisieren.
Auf acht Seiten und in zehn Kapiteln wird darin orientiert über die
vielfältigen Beiträge, die die Landeskirchen zum Zusammenleben
in unserer Gesellschaft leisten. Die Bilanz ist eindrücklich: Die Kirchen führen viele Menschen zusammen, sie animieren zu freiwilliger Arbeit, sie leisten unverzichtbare soziale Arbeit, begleiten
Menschen in schwierigen Lebenssituationen, sie sind ein Ort, wo
Glaubens- und Existenzfragen gestellt werden, sie helfen Menschen aus anderen Kulturen integrieren, pflegen den Dialog mit
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den Religionen, bieten Raum für ein reiches Musikleben, sind in
der Öffentlichkeit Anwältinnen für Schwache etc. etc. Eine wirklich
imposante Bilanz.
Ziel der Zeitung war Information. Vor allem den politisch Verantwortlichen sollte bewusst gemacht werden, wie wichtig das ist,
worüber der Grosse Rat entscheidet. Dass es dabei nicht um eine
Randfrage geht, sondern um eine zentrale gesellschaftliche Frage,
die alle betrifft. Es sollte nicht geschehen, dass nach dem Entscheid des Grossen Rats plötzlich jemand sagt: „Oops, wenn ich
das gewusst hätte …“ Ich war deshalb mit Leib und Seele bei der
Sache. Und trotzdem kann ich nicht verschweigen, es hat mich
bei der Arbeit immer auch ein gewisses Unbehagen begleitet. Warum das, bei einer so sinnvollen Arbeit? Die Antwort hat mit den
Bibeltexten zu tun, die uns heute in diesem Gottesdienst begegnen. Denn diese Texte wollen überhaupt nicht zu einer Zeitung
passen, bei der es von vorne bis hinten um die gesellschaftlichen
Leistungen der Kirchen geht.
2. Der Psalmist schenkt kräftig ein. „Hallelujah“, beginnt unser
Psalm, und dann: „Lobt den Herrn vom Himmel her (…). Lobt ihn,
alle seine Boten, lobt ihn, alle seine Heerscharen“ – also sämtliche
Engel. Der Himmel wird zum Lob aufgerufen, die Erde mit allen
Meeren. Und weiter geht es: „Feuer und Hagel, Schnee und Nebel“, alle Wetterelemente werden zum Lob aufgeboten. Die Berge,
die Bäume, die Tiere, zu Land und in der Luft. Die Nationen mit
ihren Herrschern, Männer und Frauen – einfach alle. Alles, was
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lebt, soll Gott loben. Das heisst: Soll sich an Gott freuen, soll über
ihn jubeln, ihn hoch leben lassen, ihm danken.
Unser Psalm ist übrigens einer von fünfen, die das Buch der 150
Psalmen abschliessen. In all diesen letzten fünf Psalmen wird in
ähnlich überschwänglicher Weise zum Loben aufgerufen. Damit
schliesst der Psalter, dieses Gebet- und Gesangbuch der Bibel, mit
einer unzweideutigen Botschaft: So sehr in den Psalmen auch geklagt und gelitten wird – in seiner höchsten Form ist der Glaube
an Gott Freude.
Die beiden Gleichnisse der neutestamentlichen Lesung sprechen
auch diese Sprache. Der Glaube wird da verglichen mit einem
grossen Fund. Mit der Entdeckung von etwas unglaublich Wertvollem, Grossartigem. Mit etwas, das mein Leben erfüllt, es über und
über reich macht. So dass ich ganz selbstverständlich alles hergebe für diesen Schatz, für diese Perle. Glaube, so sprechen die
Gleichnisse, ist Freude über einen Glücksfund.
3. Hätte unsere Zeitung so geklungen, hätten sie viele mindestens
als weltfremd taxiert. Heute spricht man anders von Religion.
Über etwas ist man sich innerhalb und ausserhalb der Kirche einig, nämlich dass es beim Glauben darum geht, einen Mangel zu
beseitigen. Sie können auf einem beliebigen Platz in einer beliebigen europäischen Stadt eine Umfrage machen, was Religion sei,
Sie werden immer in etwa dasselbe hören: Religion spendet Trost,
Religion gibt dem Leben einen Sinn, Religion lehrt uns Menschen
ethisches Verhalten. Und viele würden anfügen: Weil Menschen
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Trost, Sinn und Moral brauchen, darum ist Religion eine gute Sache. Vielleicht ahnen Sie nun, warum mich bei unserer schönen
Zeitung dieses bohrende Unbehagen begleitet hat, trotz allem.
Denn „Kirche ist mehr als du glaubst“ bleibt genau in dieser Logik.
Auch in diesem Druckerzeugnis steht Kirche für Trost, Sinn und
Moral.
Aber das kann nicht alles sein. Dazu möchte ich nochmals etwas
erzählen: Im Herbst 2013 war ich Teil der Berner Delegation an
der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in der
südkoreanischen Hafenstadt Busan. Gleich neben dem Kongresszentrum befand sich eine der berühmtesten Sehenswürdigkeit der
Stadt, „Shinsegae Centum City“, laut dem Guiness-Buch der Rekorde das grösste Einkaufszentrum der Welt – elf Stockwerke mit
Waren, dazu Kinos, Fitnesscenter und eine Kunstgalerie. Natürlich
haben wir in einer Konferenzpause das Center besucht. Und natürlich war es faszinierend. Aber wahrscheinlich kennen Sie das
Gefühl auch: Angesichts eines solchen glitzernden, übermässigen
Angebots fühlt man sich irgendmal einfach nicht mehr gut. Weil
man sich so penetrant reduziert fühlt auf sein Konsumieren. Dieses Bild von uns führt uns die Warenwelt immer wieder vor: Wir
seien Leute, die nie genug haben, die immer noch mehr wollen.
Nach wie vor arbeiten auch viele ökonomische Theorien mit der
Annahme eines homo oeconomicus, einem eigennützigen Wesen,
dem immer etwas fehlt. Und auch die Biologie zeichnet die Natur
als Ort des Kampfes um knappe Ressourcen, wo nur der oder die
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Stärkste überlebt. Unsere Welt ist eine Mangelwelt, der Mensch
ein Mängelwesen.
Und da haben wir nun ein Problem. Wenn wir den Glauben als
Mittel verstehen, Trost, Sinn und Moral zu vermitteln, dann übernehmen wir diese Deutung: Die Welt ist eine Mangelwelt, der
Mensch ein Mängelwesen, und Religion ein Mittel dagegen. Aber:
In einer Mangelwelt, unter Mängelwesen haben Lieder wie unser
Psalm oder Gleichnisse vom Schatz im Acker oder von der Perle
keinen Platz. In einer Mangelwelt und unter Mängelwesen ist
schwer zu verstehen, dass Glaube Freude ist, Freude über Gottes
reiche, überreiche Welt.
4. Dieser Gottesdienst steht am Ende einer Veranstaltungsreihe
„über die Grenzen des Redens von Gott“. Vielerlei Grenzen sind
da zur Sprache gekommen. Eine Grenze ist das Geheimnis Gottes,
dass er sich unserer irdischen Sprache immer wieder entzieht.
Eine andere Grenze sind Erfahrungen von grossem Leid, wo es einem die Sprache verschlagen kann. Aber es gibt noch eine dritte
Erfahrung, bei der wir an die Grenze kommen in unserem Sprechen von Gott. Das ist die Erfahrung, von der unsere Texte reden.
Im Psalm werden alle nur denkbaren Wesen zum Loben Gottes
aufgerufen. Und – man ahnt es – nicht einmal das wäre genug,
um Gottes Grösse und Grosszügigkeit gerecht zu werden. Auch
das Staunen über Gott und die Freude an Gott kann einem die
Sprache verschlagen.
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Der grosse Theologe Jürgen Moltmann hat kürzlich geschrieben:
„Freude ist der Sinn des menschlichen Lebens. Für die Freude an
Gott wurden Menschen geschaffen.“ Ein fast neunzigjähriger Mann
hat diese sprühenden Sätze verfasst. Das Leben ist von Gott als
Fest gedacht. Nicht nur Not lehrt beten, sondern auch und vor allem die Freude, das Staunen. Glaube ist wohl auch Trost und
Sinngebung, mehr noch aber Überwältigtsein, Musik, Schönheit.
Glaube füllt nicht den Mangel aus, er bringt Reichtum ins Leben.
So von Gott und Menschen zu sprechen, mutet uns eher fremd
an. Aber es ist die Sprache unseres Psalms.
5. Schon gut, Prediger, möchte nun vielleicht jemand rufen, nun
bist du aber ganz schön in Fahrt geraten. Und bist dabei vor lauter Hochleben und frommem Optimismus über die harten Realitäten hinweggeschossen – zu denen doch Sorge, Not und Ratlosigkeit einfach hinzugehören.
Mindestens die biblischen Texte tun dies nicht, die harte Realität
leugnen. Das ist für sie aber kein Grund, nicht von Gottes Fülle zu
sprechen. Sie zeigen uns hingegen etwas Wichtiges - die Fülle
Gottes ist auf dreifache Weise in dieser Welt gegenwärtig.
a. Zuerst als verborgener Schatz: Viele der Menschen, die diesen
Psalm gebetet haben, haben in armseligen Verhältnissen gelebt.
Um mit seiner Aufforderung zum Lob mitzugehen, muss man
nicht unbedingt viel haben. Auch nicht zwingend sorgenfrei sein.
Aber dieses Lied leitet dazu, anders zu sehen. Nämlich das Zu-
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sage ernstzunehmen, dass Gott uns reich beschenkt. Statt vor allem auf unsere Mangelwelt und uns Mängelwesen fixiert zu bleiben. Gottes Fülle ist da, in unserem täglichen Leben, in unseren
Beziehungen, unerwartet und überraschend manchmal. Sie ist da
und wartet darauf, entdeckt zu werden.
b. Und dann als Antrieb zum Protest: Viele Psalmen handeln wie
gesagt von menschlicher Not. Wer in Israel diesen Lobpsalm gesungen hat, kannte auch die andern. Er oder sie war weit davon
entfernt, die Härte des Lebens zu verkennen. Aber beides hängt
ja zusammen. Erst wer die Fülle kennt und liebt, erkennt die Not.
Und erst so jemand beginnt zu protestieren, zu klagen und zu
handeln. Wer nur die Not kennt, resigniert und endet im Zynismus. So paradox es klingt, aber erst aus der Freude gibt es auch
den Kampf gegen den Mangel.
c. Und zum Schluss wohnt Gottes Fülle unter uns als Versprechen,
als Hoffnung: In der Bibel weiss man nur zu gut um den unauflöslichen Widerspruch zwischen Fülle und Mangel. Aber wer unsern
Psalm betet, weiss, Gott ist ein Gott der Fülle. Und deshalb steht
dieser Gott ein dafür, dass seine Fülle sich einmal erfüllen wird.
Sind wir damit nicht wieder bei der Religion als Vertröstung, beim
bekannten Opium des Volkes? Psalm 148 sagt es eher so: Glaube
öffnet die Augen für Gottes Fülle in meinem Leben. Und er lehrt
mich, diese Fülle als Vorzeichen zu lesen für eine noch ganz andere Fülle, die auf uns wartet. Und spätestens bei dieser Aussicht
kann, ja, muss es einem doch die Sprache verschlagen. Amen.