Welche Vorstellungen haben Schüler über Geographie? Empirische

Magazin
Didakt ische Impulse
J u l i a n bette und Jan Christo p h Sc hube r t
Welche Vorstellungen haben Schüler über Geographie?
Empirische Befunde einer explorativen Interviewstudie
Im Laufe der Schulzeit haben Schülerinnen und Schüler in der Regel umfangreiches
geographisches Wissen erworben, aber welche Vorstellung haben sie dabei vom Wesen
des Faches entwickelt?
In einem kompetenzorientierten Unter­
richt müssen vor allem die „großen
­Linien“ des konzeptuellen Verständnisses eines Fachs, d. h. Wissen über
das Wesen des jeweiligen Fachs, sorgfältig entwickelt werden. Dazu kann
die aktive Arbeit mit Schülervorstellungen einen wichtigen Beitrag leisten
(vgl. Klieme 2011, S. 57). Metawissen ist
im Aktionsraum Schule spätestens seit
der Erarbeitung Nationaler Bildungsstandards, die auf die „Kernideen“ und
„Grundprinzipien“ des jeweiligen Fachs
fokussieren, bildungspolitisch und -theo­
retisch gefordert (vgl. ­Klieme u. a. 2003,
S. 25 f.). Empirische Befunde stützen die
lernpsychologische Relevanz von Metawissen. Bisher liegen im deutschsprachigen Raum jedoch ­ keine Erkenntnisse zu Schülervorstellungen über das
Wesen des Fachs Geographie vor, die
für didaktische Strukturierungen von
Unterricht und Lernmaterial genutzt
werden könnten, um ein metakonzeptionelles Verständnis zu fördern. Deshalb sollen in diesem Beitrag wesentliche Ergebnisse einer explorativen
Interviewstudie zu Schülervorstellungen über Geographie ­(Bette 2011) vorgestellt ­werden.
Die Untersuchung
Die Schülervorstellungen wurden mithilfe qualitativer, leitfadengestützter
­Interviews im Forschungsrahmen der
Didaktischen Rekonstruktion (Kattmann u. a. 1997) erhoben, ausgewertet und verallgemeinert. Ein derartiger
qualitativer Zugriff erlaubt es, individuelle Vorstellungsstrukturen in ­ ihrer
­Tiefe und Qualität zu erfassen (vgl.
ebd.). Diese individuellen Konzepte (als
Beispiel siehe Abb. 1) wurden verallgemeinert, indem ähnliche Konzepte zusammengeführt oder individuelle Konzepte abstrahiert wurden. Dabei liegt
ein Verständnis von Verallgemeinerung zugrunde, wonach etwas Allgemeines im Besonderen gesucht wird. Im
Rahmen der Hauptstudie wurden drei
Interviews mit Schülerinnen und Schülern der 9./10. Klasse detailliert ausgewertet, drei weitere einer Kurzanalyse
unterzogen.
Vorstellungen über
Forschungsgegenstände
In der Vorstellungswelt der ­Lernen­den
existieren zahlreiche Gegenstände,
die von Geographen erforscht werden. Diese werden von den Schülern
zumeist als physisch-materiell angesehen. Zwei ­Forschungsgegenstände sind
von heraus­ragender Bedeutung, das
Mensch-Umwelt-System und die Landschaft:
Mensch-Umwelt-System: Die Erforschung des Systems erfolgt in der Vorstellungswelt der Schüler teilweise auf
holistische Weise (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Concept Map von Marcels Vorstellungswelt zum Forschungsgegenstand der Geographie
(grau: Begriffe und Relationen geäußert aufgrund von Interventionen)
Quelle: Bette 2011, S. 87
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Marcel, 9. Klasse: „Es geht bei Erd­
kunde um die Wechselwirkung zwi­
schen Mensch und Natur. Das ist das,
was Geographen inte­ressiert. (...) Man
Praxis Geographie 1|2012
kann sich als Geo­graph nicht nur mit
dem Menschen oder nur mit der Natur
­beschäftigen.“
Demzufolge untersucht die Geographie
immer sowohl anthropogene als auch
natürliche Aspekte, wobei der Schwerpunkt teilweise auf letzteren liegt. Für
einige Schüler ist das „Mensch-Umwelt-System“ einziger und ­originär geo­
graphischer Gegenstand. Dabei wird
dem Faktor Mensch ein größerer Einfluss auf den Faktor Natur zugewiesen als umgekehrt. Der Natur wird ein
eher statischer Charakter unterstellt.
Die ­ Dynamik des Gesamtsystems ist
den Lernenden nicht immer offensichtlich. Daneben tritt die Vorstellung auf,
dass sich die Geographie einzelnen
­Subsystemen separat zuwenden kann.
„Landschaft“: Dieser Forschungsgegen­
stand wird ebenfalls in seiner Gesamtheit erforscht.
Karla, 10. Klasse: „Landschaften sind
für mich besondere Landschaften, (...)
wie zum Beispiel die Toskana. (...). Land­
schaft ist (...) eher natürliche Land­
schaft. Die Stadt ist zum Beispiel eine
veränderte, nicht mehr natür­liche Land­
schaft.“
Der Begriff „Landschaft“ ist semantisch hochgradig aufgeladen und fokussiert vor allem auf Physiognomie und
naturnahe Landschaften. Damit steht
die Vorstellungswelt der Schüler im
­Widerspruch zum fachlichen Verständnis des Begriffes.
Neben der Untersuchung von Forschungsgegenständen wird von den
Schülern teilweise auch „Suche“ bzw.
„Entdeckung“ von bisher unbekannten
Dingen (bspw. Rohstoffen) als Teil geographischer Arbeit angesehen. Auch
weniger differenzierte Schülervorstellungen treten auf. Demnach erforscht
die Geographie „fast alles“ oder „die
komplette Erde bzw. Welt“.
Wissenschaftliche Sicht
Bezogen auf die wissenschaftliche
Grundperspektive ließen sich zwei
grundlegende Vorstellungen identifizieren: Geographie als Natur- und Gesellschaftswissenschaft (dualistische
Vorstellung) und Geographie in ­ einer
­eigenen Position zwischen beiden
­Gruppen (Dritte Säule).
Praxis Geographie 1|2012
Motive für Forschung
Marcel, 9. Klasse: „Wegen der Folgen der
Umweltverschmutzung, die ein Resultat
der Wechselwirkung von Mensch und
Umwelt sind, ist es wichtig, sich hiermit
zu beschäftigen.“
Die Beweggründe Wissenschaft zu betreiben, werden v. a. wissenschafts­
extern gesehen (vgl. Abb. 1) und ergeben sich aus ihrer gesellschaftlichen
Relevanz. So verwundert es nicht,
wenn ­ geographische Themen für die
Lernenden einen aktuellen und rela­
tiv ­ allgemeinen Charakter ­ haben
(z. B. Globalisierung und Umwelt­
verschmutzung). Wissenschaftsinterne Forschungs­motive spielen eine eher
unter­geordnete Rolle.
„Raumlose“ Schüler
Die zentrale geographische ­ Kategorie
„Raum“ ist bei den Schülern nicht präsent und wird von ihnen nicht direkt
mit dem Fach assoziiert. Andere Konzepte stehen im Vordergrund. Ihre
Vorstellungen zu „Raum“ sind wenig
konkret und rekurrieren auf Alltagserfahrungen. Die Begriffe „Zimmer“,
„Grenze“ und „Abgrenzung“ dienen
dabei als Metaphern, um Raum zu beschreiben.
­ arcel, 9. Klasse, nach Konfrontation
M
mit dem ­Begriff Raum: „Raum und Zeit
kommen noch zur Untersuchung der
Wechselwirkung zwischen Mensch und
Natur hinzu. Sie sind die Rahmenbedin­
gungen.“
Die Schüler integrieren Raum nach
Konfrontation mit diesem Begriff zwar
in ihre vorhandenen Vorstellungen,
der Stellenwert der Kategorie Raum ist
verglichen mit dessen fachlicher Relevanz jedoch gering. Räume werden als
Mosaik­stücke verstanden, die zusammen einen über­geordneten Raum definieren.
Semantische Probleme
In den Schüleraussagen ist auffällig,
dass Wörter wie „Natur“, „Erde“ usw.
uneinheitlich, kontextabhängig sowie
teilweise synonym verwendet wurden.
Deswegen ist anzunehmen, dass hinter
diesen Wörtern keine konkreten Vorstellungen stehen. Insbesondere die Be-
grifflichkeiten „Natur“ und „natürlich“
erweisen sich als problematisch. Anzunehmen ist, dass diese umfangreiche
semantische und ästhetische Konnotationen in sich tragen. Zumeist dürften Schüler Begriffe wie „reproduzierte
­Natur“ oder „naturnah“ meinen.
Fazit
Differenzierte Metakonzepte über Geographie sind in den Vorstellungswelten
der Schüler kaum vorhanden. Die Vorstellungen sind meist weder kohärent
noch fest verankert und entstammen
zum großen Teil dem Schulkontext. Als
anschlussfähig zu den fachlichen Vorstellungen (DGFG 2008, S. 15 ff.) erweist
sich das Mensch-Umwelt-System, jedoch nicht die zentrale geographische
Kategorie „Raum“.
Für den Geographie­unterricht ergibt sich aus den dargestellten Ergebnissen vorrangig die Konsequenz, „Geo­
graphie als Wissenschaft“ explizit zum
Unterrichtsgegenstand zu machen und
dabei aktiv mit den Vorstellungen der
Schüler zu arbeiten. Zudem sollte die
Kategorie Raum nicht als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt, sondern
im Unterricht an den verschiedenen
Themen immer wieder bewusst auf­
gegriffen werden. Dabei bieten die unterschiedlichen Raumbegriffe (ebd.,
S. 13) Möglichkeiten, „Raum“ zu diskutieren.
L i t e ra t ur
Bette, J.: Schülervorstellungen und fachliche
Vorstellungen zur „Geographie“ und ihren
zentralen Konzepten. Eine empirische und
hermeneutische Untersuchung. Münster
2011 (= Online unter: http://nbn-resolving.
de/urn:nbn:de:hbz:6-44499641645)
Deutsche Gesellschaft für Geographie (Hrsg.):
Bildungsstandards im Fach Geographie
für den Mittleren Schulabschluss –
mit Aufgabenbeispielen. Berlin 52008
Kattmann, U. u. a.: Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion – Ein Rahmen für
naturwissenschaftsdidaktische Forschung
und Entwicklung. In: Zeitschrift für Pädagogik der Naturwissenschaften 3 (1997)
H. 3, S. 3–18
Klieme, E.: Bildungsstandards und Kompetenz­
orientierung – mehr Transparenz und
Eigenverantwortung. In: Schule NRW 63
(2011) H. 2, S. 54–58
Klieme, E. u. a.: Zur Entwicklung nationaler
Bildungsstandards. Eine Expertise.
­Bildungsreform. Bd. 1. Bonn 2003
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