Selbstbestimmt leben im Alter - Verband Katholisches Landvolk

Auf dem Weg zu sorgenden Gemeinschaften
Carin Communities
Fachtag des Verband Katholisches Landvolk e.V. am 12.10.2015
Vortrag von Brigitte Lösch MdL, Landtagsvizepräsidentin
„Selbstbestimmt leben im Alter – Gesetzliche Rahmenbedingungen“
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Debler
sehr geehrte Herr Sauter,
Sehr geehrter Herr Ordinariatsrat Dr. Drumm
sehr geeehrte Rednerinnen und Redner
sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr als Abgeordnete, Landtagsvizepräsidentin und ehemalige
Sozialausschussvorsitzende auf Ihrem Fachtag des Verbands Katholisches Landvolk
einen Redebeitrag zum Thema „Caring Communities“ halten zu können.
Wie sagt es so schön Joachim Fuchsberger in seinem Buch: „Altwerden ist nichts für
Feiglinge!“ und Sie wissen ja selber: alt werden wollen wir alle – aber alt sein –
niemand.
Grundsätzlich wichtig ist mir zum Einstieg wie wir die Rolle der älteren Menschen in
einer alternden Gesellschaft betrachten!
Wir lesen in der Zeitung von der „Altenlast“, „Rentenlast“, „Pflegelast“ - Ältere werden
nur als Lastquoten gesehen – in der Sprache der Versicherung – als
„Langlebigkeitsrisiko“!
Das halte ich für den grundsätzlich falschen Ansatz – vielmehr ist es doch das
Gegenteil – und ich frage mich warum diskutiert man nur die Kosten der Älteren und nicht die Nutzen?
Warum sieht man ältere Menschen nicht als Verbraucher, als Gewinn, als WerteSchaffende?
Was würde unsere Gesellschaft ohne „die Alten“ machen?
Es kommt darauf an, die Stärken des Alters zu erkennen und auch zu nutzen.
Der demografische Wandel, der Kopfstand der Bevölkerungspyramide ist nicht nur
durch mehr Alte , sondern durch weniger Junge zustande gekommen..
Jene, die von einer Überalterung der Gesellschaft reden, sollten sich mal überlegen,
ob wir nicht eher an einer „Unterjüngung“ leiden.
Wir haben nicht zu viele Alte, wir haben zu wenig Junge.
Wir werden älter als Generationen vor uns, sind aber dabei auch gesünder und
kompetenter als unsere Eltern und Großeltern im gleichen Alter – wenn sie dieses
überhaupt erreicht haben. Und man zählt heute länger zur Jugend (bis 35) – und wird
früher den Senioren zugeordnet (ab 50).
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Neben der erfreulichen Entwicklung, dass die Menschen heutzutage immer älter
werden, auch dank medizinischem Fortschritt, steigt im Alter dann aber auch die Zahl
der Menschen mit Erkrankungen und Betreuungsbedarf, so dass immer mehr
Menschen eben Pflege- und Betreuungsleistungen benötigen.
Damit ist und wird das Thema Pflege und Sorge zu einer der großen gesellschaftsund sozialpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte.
Seine Bedeutung geht dabei weit über einen neuen Begriff von Pflegebedürftigkeit
und eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung hinaus.
Es ist auch eine kulturelle Frage wie wir mit Themen der Verletzlichkeit und Würde
des Menschen, mit der Verteilung von Sorgeaufgaben zwischen Generationen und
zwischen den Geschlechtern und zwischen Staat und Gesellschaft umgehen.
Denn eines ist klar: ein weiter so - geht nicht: Weder das klassische Familienmodell
noch das Setzen auf klassische Pflegeheime haben Zukunft. Die Aufgaben der
Pflege und Sorge gilt es neu zu verteilen und zu "vergesellschaften".
Situation Baden-Württemberg
- In Baden-Württemberg lebten Ende 2013 ca. 10,6 Mio. Menschen
- Der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen in Baden-Württemberg lag laut dem
Statistischen Landesamt 1950 noch bei 605.712, 2011 dagegen schon bei 2.102.228
– das sind mittlerweise rund 20% der Bevölkerung- mit steigender Tendenz.
- 278.295 (= ca. 13%) Menschen davon pflegebedürftig, wobei 68% zu Hause und
32% in Pflegeheimen versorgt wurden.
Von den zu Hause betreuten Personen wurden die Pflegeaufgaben zum Großteil von
Angehörigen übernommen. Der Trend ist bekannt. Es lässt sich an diesen wenigen
Zahlen eines sehr gut ablesen: wir wünschen uns im Alter Vertrautheit: Menschen
um uns, die wir kennen, die eigenen vier bekannten Wände, eine Infrastruktur, die
uns geläufig ist.
Das heißt - Leben im häuslichen Umfeld ermöglichen, umso so lange wie möglich in
ihrer eigenen Häuslichkeit leben wollen, sollte der ambulante Sektor ausgebaut und
unterstützt werden.
Das bedeutet auch, dass wir Pflege und Sorge geschlechtergerechter,
generationengerechter und transnational gerechter gestalten müssen – eben nicht
nur die Töchter und Ehefrauen die pflegen!
Die häusliche Betreuung muss als dritte Versorgungssäule neben ambulanter und
stationärer Pflege anerkannt und gefördert werden.
Und hier muss gewährleistet werden, dass Pflegehilfen in Privathaushalten nicht
illegale oder sogar ausbeuterisch beschäftigt werden - und auch hier müssen
Mindestlohns und Qualitätsstandards sicher gestellt werden.
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Kommunen müssen hierfür Verantwortung übernehmen und sich aktiv mit der
demografischen Entwicklung und den Herausforderungen vor Ort befassen und
diese gestalten.
Legale und qualitativ hochwertige Versorgung, Betreuung und Pflege im häuslichen
Umfeld sicherzustellen, dass geht wahrscheinlich nur über Subventionierung.
Hier existieren zum Teil schon Konzepte z. B. die Nachhaltigkeitsstrategie BadenWürttemberg mit dem Konzept für haushaltsnahe Dienstleistungen.
Für die häusliche Pflege unabdingbar ist das Ehrenamt - dies muss unterstützt,
koordiniert und ausgebaut werden. Aber ohne das Hauptamt geht es nicht, die
professionell die ehrenamtliche Initiativen begleiten.
Förderung von Wohngemeinschaften
Nicht alle auf Pflege angewiesene Menschen können in ihren eigenen Wohnungen
versorgt werden.
Da hierbei ambulant betreute Wohngemeinschaften in der Regel mehr
Teilhabequalität bieten als dies in stationären Pflegeeinrichtungen möglich ist, sollten
diese besonders gefördert werden.
Das bedeutet, eine Förderung ambulant betreuter Wohngemeinschaften über § 38 a
SGB XI hinaus (über die pauschalen Zuschlag von 205 Euro).
Und damit kommen wir zum Thema Quartiersentwicklung
Hier geht es darum, die Quartiere einer Stadt, eines Dorfes sozialraumorientiert zu
entwickeln - unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den
einzelnen Kommunen.
Teilhabe aller dort wohnenden Menschen ist hierbei das zentrale Stichwort – das
heißt auch aktiv am gesellschaftlichen Prozess mitzuwirken und die Gesellschaft
mitzugestalten.
Generationen helfen sich gegenseitig - man wird gemeinsam älter statt Einsam und
isoliert und die jeweiligen Potentiale des Alters können genutzt werden.
Diese Quartiersentwicklung wird ein zukünftiges Thema in Baden-Württemberg sein.
Mit Blick auf die Besonderheit von Baden-Württemberg – nämlich dem großen Anteil
ländlicher Gebiete – muss die Infrastruktur im Ländlichen Raum in den Bereichen
Verkehr/ Mobilität (hier das Stichwort Bürgerbusse) Gesundheitsversorgung, Einkauf,
öffentliche Verwaltung etc. verbessern / entwickeln werden. In Baden-Württemberg
gibt es bereits einige erfolgreiche Versuche der Quartiersentwicklung (Modellprojekte
in aktuell 4 Gemeinden bzw. Stadtteilen)
Bei allen Bereichen der Pflege und Sorge – im häuslichen – ambulanten oder
stationären Bereich gilt es das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe wahren.
Leider sind Autonomie, Selbstbestimmung und Teilhabe bei alten Menschen und bei
Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, insbesondere im stationären Bereich
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nicht immer realisiert, aber auch nicht immer im häuslichen Umfeld.
Deshalb müssen die Pflegeleistungen und das Pflegeangebot so gestaltet werden,
dass Pflege der sozialen Teilhabe dient und ein Altern in Würde ermöglicht wird.
Um dem Wunsch nach Selbstbestimmung zu entsprechen müssen die Hilfe- und
Pflegetätigkeiten mehr Wertschätzung erhalten.
Versorgungsstrukturen für ein selbstbestimmtes Leben im Alter sollten geschaffen
werden.
Pflege muss die individuellen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen mehr
berücksichtigen, auf Gewohnheiten Rücksicht nehmen und auf Wünsche eingehen.
und natürlich braucht es barrierefreie Wohnungs- und Wohnumfeldgestaltung
Und wie vorher schon angemerkt müssen ambulant betreute Wohngemeinschaften
befördert werden da sie mehr Teilhabe garantieren.
Das bedeutet ein anderes Leitbild
– das Leitbild der geteilten Verantwortung, welches gefördert werden sollte.
Das heißt, die Ausdifferenzierung der Hilfen sowie das Ineinandergreifen dieser
verschiedenen Hilfen sollte gefördert werden.
Denn Gute Pflege und Sorge lebt immer vom Zusammenwirken familialer und
ehrenamtlicher (Nachbarschaft) Hilfe und professionellen Hilfsformen – die eine
entsprechend gute Vernetzung braucht. Ein solcher Pflege- bzw. Hilfemix muss also
gefördert werden.
Das bedeutet auch, dass eine innovationsfreundliche Kultur und
Rahmenbedingungen geschaffen wird – eine Ermöglichungs- anstatt
Erledigungsverwaltung.
Was tut nun Baden-Württemberg hinsichtlich diesem Themas und Problematik?
Gerade weil das Thema Pflege für beide Seiten – die Pflegenden und die
Pflegedürftigen – aber auch für jeden einzelnen von uns so wichtig - aber auch so
komplex ist - hat der Landtag im Feb. 2014 eine Enquete-Kommission Pflege
eingesetzt.
Ziel der Enquetekommission ist es, die Situation der Pflege in Baden-Württemberg zu
untersuchen und zu überprüfen, wie die vorhandenen Rahmenbedingungen
verändert und welche Impulse gegeben werden müssen, um eine qualitativ
hochwertige Pflege dauerhaft sicherzustellen.
Zudem gilt es zu prüfen, welche Angebote im Bereich der Prävention und
Rehabilitation erforderlich sind, um den Menschen solange wie möglich ein
selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen – mit besonderer Berücksichtigung der
speziellen Bedürfnisse von Menschen mit physischen und psychischen
Einschränkungen.
Ziel der Enquetekommission ist es auch, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu
untersuchen. Dabei geht es auch um die Bezahlung und strukturpolitische
Maßnahmen, die für gute Arbeitsbedingungen notwendig sind, wie
Arbeitszeitmodelle und auch gesetzliche Maßnahmen.
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Es gilt, das Ansehen dieser Tätigkeit in der Öffentlichkeit zu steigern und den Beruf
auch für junge Menschen, aber auch für Quereinsteiger attraktiver zu machen. Und
vor allem brauchen die Pflegeberufe – die Arbeit am Menschen - mehr
Wertschätzung.
Aber was haben wir nun schon umgesetzt?
Damit komme ich zum Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz, das im Juni 2014
verabschiedet wurde. Wir haben damit die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen
für die Stärkung von selbstorganisierten und trägerunabhängigen Wohnformen sowie
für ambulant betreutet Wohnen geschaffen.
Darin werden Kommunen und Bürgergemeinschaften vor allem darin unterstützt,
eigene kleine Wohngruppen für Menschen mit Unterstützungsbedarf einzurichten.
Das ist ein großer Erfolg, denn damit werden nun bürgerschaftlich getragene
Altenhilfemodelle und ambulante Strukturen der Behindertenhilfe gestärkt.
Gleichzeitig soll das Gesetz den Schutz der BewohnerInnen stationärer
Einrichtungen und ambulant betreuter Wohngemeinschaften gewährleisen.
Mit der im Titel des Gesetzes aufgenommenen Zielsetzung einer gleichberechtigten
„Teilhabe“ wird ein weiterer thematischer Schwerpunkt gesetzt.
Konkret heißt das, für eine ambulant betreute Wohngemeinschaft gelten zukünftig
geringere Anforderungen (personelle Ausstattung oder bauliche Anforderungen) als
für stationäre Einrichtungen.
Außerdem definiert das Gesetz explizit, welche Wohnformen nicht unter das Gesetz
fallen (z.B. vollständig selbstverantwortete Wohngemeinschaften, Ambulant
betreutes Wohnen für behinderte Menschen bei getrennter Vertragsgestaltung von
Miet- und Betreuungsvertrag, etc.). Damit werden selbstverantworteter
Wohngemeinschaften gestärkt – d.h. sie unterliegen keinen regelmäßigen Kontrollen
durch die Heimaufsicht.
Für die Versorgung von Menschen mit Behinderung oder Pflegebedarf bleiben
weiterhin die stationären Einrichtungen wichtig. Das WTPG unterstützt allerdings
auch im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung die
Umwandlung von Großeinrichtungen in kleinformatige, dezentrale Wohnformen.
Weniger Bürokratie und mehr Transparenz in den Pflegeheimen wird durch die
Zusammenarbeit der Prüforgane Heimaufsicht und MDK aufeinander abgestimmt.
Die Qualitätssicherung läuft über eine zwingende Vorlage des Konzepts zu Beginn
bei der Heimaufsicht und über das Beschwerderecht von BewohnerInnen und
Angehörigen. Insgesamt kann eine selbstverantwortete Wohngemeinschaft max. bis
zu 12 BewohnerInnen aufnehmen.
Auch gibt es mittlerweile eine landesweite Koordinierungsstelle, die Initiativen und
Organisationen beim Aufbau von neuen Wohnformen und -projekten berät. Diese
wurde beim KVJS eingerichtet.
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Sehr geehrte Damen und Herrn, Sie sehen es konnte eine sehr gute Mischung aus
verlässlichen Schutzvorschriften und Ansatzpunkten für neue, innovative Modelle
geschaffen werden. Damit sind vollständig selbstverantwortete Wohngemeinschaften
als zusätzliche Säule neben dem Wohnen in den eigenen vier Wänden, ambulanten
Wohngemeinschaften unter dem Dach eines Trägers und stationären Einrichtungen
möglich – vor allem mit Blick auf an Demenz erkrankte Menschen, die somit in einer
selbstverantworteten Wohngemeinschaft leben können.
Unser Prinzip „Ambulant vor Stationär“ ist als gesetzlicher Auftrag an die
gemeinsame Selbstverwaltung im SGB V verankert.
Das WTPG zeigt, dass individuelle Pflege- und Wohnstrukturen stärker gefördert und
die Übergänge zwischen den verschiedenen Angeboten vereinfacht werden und
fließender werden.
Also Sie sehen, sehr geehrte Damen und Herren, das Umdenken hin zu „Caring
Communities“ wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Und das Thema Alt werden und Pflege und Versorgung wird nicht nur uns sondern
auch viele nachfolgende Generationen - so lange es Menschen gibt – beschäftigen.
Ich denke mit unserem WTPG, der Quartiersentwicklung und den vielen
Empfehlungen der Pflege Enquete sind wir hier in Baden-Württemberg auf einem
guten Weg … der aber immer noch besser werden kann.
Vielen Dank!
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