20. Sonntag nach Trinitatis – 13. Oktober 2013 Wochenspruch Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Micha 6,8) Liedvorschläge Wochenlied: Wohl denen, die da wandeln (EG 295); weitere Lieder : All Morgen ist ganz frisch und neu (EG 440); Ein wahrer Glaube (EG 413); Ohren gabst du mir (EG 236) Psalmgebet Psalm 119,101 – 108 * Lesungen Markus 10,2 – 9.(10 – 16); Römer 13,8 – 10 Predigttext Markus 2,23 – 28 Eingangsgebet Vater im Himmel, in der Stille dieses Augenblicks sei du die Stimme, die uns Klarheit schenkt über unsere Hoffnungen, unsere Ziele. Dir gehören wir mit unserem ganzen Leben. Erfülle uns mit deinem Geist, vertreibe alles Dunkle und Böse. Mach du uns frei für ein Leben nach deinem Willen. (Nach „Gottesdienstbuch“, Stuttgart 2004, S. 175,8) Fürbitten Gott, unser Vater im Himmel, wir danken dir, dass du dich uns zuwendest. Hilf uns, dankbar und voll Hoffnung zu leben. Schütze uns vor Ängsten und Furcht. Wehre den Illusionen, wir seien Herren dieser Welt. Lass die Kraft deiner Liebe in uns wirken, damit wir Licht der Welt sein können, wie du es geboten hast. (Nach „Gottesdienstbuch“, Stuttgart 2004, S. 298,21) * Zur Predigt Gewiss: Jegliches Zusammenleben von Menschen bedarf der Regeln, Gesetze, Gebote, Verbote, auch gewisser Normen – und etliches muss strafbewehrt sein – meist halten sich aber die Leute daran! Ein Rekurs dazu auf griechische Denker und Philosophen, auf Kant oder sonst wen erübrigt sich hier, denn es geht in unserem Text ja zunächst um die 10 Gebote, näherhin um das 3. Gebot – ihm sind im Dekalog 2. Mose 20,2 – 14 vier Verse vorbehalten, ebenso 5. Mose 5,12 – 15. Wie jeder Jude kannte Jesus diese Gebote genau, ja er hat sie bestätigt und sogar im Kern noch verschärft (Mt 5,17 ff.). Welchen Grund gab es dann, zu behaupten, Jesus nähme das 3. Gebot nicht ernst, nicht ernst genug? Die Pharisäer jedenfalls werfen ihm vor, seine Jünger hätten das Sabbatgebot übertreten, weil sie beim Gang durchs Kornfeld am Sabbat Ähren ausrauften, und dies sei nicht erlaubt: Nach 5. Mose 23,26 darf man dies, aber es ist Erntearbeit und als solche darum am Sabbat verboten (2. Mose 20,10). Die „Gesetzeslage“ scheint eindeutig, und da zählt gewiss auch nicht, dass die Jünger hungrig waren (vgl. Mt 12,1). Nach jüdischer Sabbatordnung steht dieser Feiertag unter besonderem Schutz, was einschließt, dass auch in Notfällen nicht geholfen werden darf, wenn damit auch nur die Andeutung von Arbeit verbunden ist – unter Androhung gar der Todesstrafe bei Übertretung (vgl. Jub 50). Etwas zugespitzt ließe sich darum sagen: Gebot kennt keine Not! Homiletische Monatshefte, Jg. 88, Heft 10, Juli 2013 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen Ob es nicht auch heutzutage Menschen gibt, die auf unbedingter Relevanz und strikter Einhaltung von Ordnungen, Normen, Regeln, Geboten bestehen, koste es, was es wolle – auch z. B. im peniblen Blick darauf, was die „Bibel“ sage und vorschreibe? Jesus freilich hat die Vollmacht, die Autorität, zu klären und festzulegen, wie dies Gebot richtig zu verstehen und anzuwenden sei und wie nicht. Jetzt ist der „kairos“ (Mt 12,1), jetzt die Stunde, jetzt die richtige Gelegenheit dazu – doch zuerst verweist Jesus auf eine Begebenheit aus dem Alten Testament, bei der sich David Freiheit gegenüber dem Gebot erlaubt, ohne Gottes Wohlgefallen zu verlieren (3. Mose 24,5 – 9). Dann stellt Jesus fest, dass das Gesetz dem Menschen dient, aber der Mensch nicht Diener, gar Sklave des Gesetzes ist (W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus, S. 92). Jesu grundsätzliche Aussage zielt auf die Freiheit der Entscheidung „des Menschen“ vor Gott: Aus seiner Bindung an Gott kann und soll der Mensch in jeder Situation frei entscheiden, was zu tun ist. „In der Orientierung“ an Jesus „gewinnt die Freiheit Gestalt“ (W. Grundmann, aaO, S. 93). Etwas zugespitzt – auch hier – ließe sich darum sagen: „Not kennt kein Gebot“. Könnte, ja würde es für uns nicht nur hilfreich sein, sondern wahrhaft entlastend, wenn wir Freiheit hätten, uns in schwierigen Situationen so zu entscheiden, uns so zu verhalten, dass Raum zum Leben sich auftut, zu erfülltem, gottgewolltem Leben – auch wenn dem Wortlaut des Gebotes, des Gesetzes, der Leitlinie nicht entsprochen würde? Dreh- und Angelpunkt dabei ist die Liebe Jesu, mit der er für seine Jünger eintritt, die er uns schenkt und die wir weitergeben – sie ist Kriterium und Wirk-Kraft zugleich – und Liebe. Die Liebe Gottes und Jesu Liebe ist größer als alles, was Leben hindert – und unsere Liebe dann doch wohl auch! Verstehen wir Jesu Wort „So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat“ im Gesamten, im Ganzen seiner Botschaft, dann lautet die Maxime für sein – und unser! – Handeln und Tun: „Liebe tut not“ – die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung – des Gesetzes Erfüllung ist die Liebe (Röm 13,10). Solche Liebe aber ist frei, in Freiheit zu leben und zu handeln. N. L. von Zinzendorf: Wir wolln uns gerne wagen Die Liebe wird uns leiten, den Weg bereiten und mit den Augen deuten auf mancherlei, ob‘s etwa Zeit zu streiten, ob‘s Rasttag sei. Wir sehen schon von weitem die Grad und Zeiten verheißner Seligkeiten: nur treu, nur treu! (EG 254,2) Homiletische Monatshefte, Jg. 88, Heft 10, Juli 2013 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 21. Sonntag nach Trinitatis – 20. Oktober 2013 Wochenspruch Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Römer 12,21) Liedvorschläge Wochenlied: Ach Gott, vom Himmel sieh darein (EG 273); weitere Lieder : Zieh an die Macht, du Arm des Herrn (EG 377); Ein wahrer Glaube (EG 413); Wohl denen, die da wandeln (EG 295) Psalmgebet Psalm 19,10 – 15 * Lesungen Matthäus 5,38 – 48; 1. Korinther 13 Predigttext Johannes 15,9 – 12(13 – 17) Eingangsgebet Du tröstest uns, Gott, und du ermutigst uns; auf deine Gegenwart ist Verlass. Oft begegnest du uns, wie wir es nicht erwartet haben. Über Verlorenes und Zerbrochenes dürfen wir vor dir trauern, für Gutes und Schönes dir danken, in allem an dir festhalten. Du bist unser Helfer und Heiland. (Nach „Gottesdienstbuch“, Stuttgart 2004, S. 183,25) Fürbitten Gott, wir danken dir, dass du uns wunderbar gemacht hast. Du hast uns Leib und Seele gegeben, unsere Sinne und unseren Verstand. Du füllst unser Leben mit Reichtum der Erfahrung und des Erlebens. Erhalte uns die Freude am Leben. Schenke uns, dass wir uns ganz als von dir gewollte, bejahte und geliebte Menschen begreifen. (Nach „Gottesdienstbuch“, Stuttgart 2004, S. 316,14) * Zur Predigt Lässt sich „Liebe“ denn gebieten, anordnen, verordnen, befehlen – als Maxime fordern und aufstellen? Kann man „lieben“ in den Imperativ setzen – in der Hoffnung nicht nur, sondern in der Erwartung, ja Überzeugung, dies werde dann auch sinnvoll befolgt und ausgeführt? Kann Jesus solche Liebe verlangen – von seinen Jüngern wohlgemerkt? Fünf Mal jedenfalls scheint er es in unserem Text zu tun, und zwar gründlich und eindrücklich – aber auch überzeugend? Diese Sätze stehen in den „Abschiedsreden Jesu“, und hier versteht er sich selber als maßgebendes Beispiel: Er liebt seine Jünger, und so wie sein Vater ihn liebt und er in dessen Liebe bleibt, so sollen seine Jünger in seiner Liebe bleiben, indem sie seine Gebote halten – also sich untereinander lieben. Dann wird ihre Freude vollkommen sein. Jesu Liebe aber ist so groß und geht so weit, dass er sein Leben lässt für seine Freunde: Die Jünger sind seine Freunde, sind nicht mehr Knechte und Sklaven, weil er sie, und gerade sie, erwählt hat, damit sie Frucht bringen, indem sie einander lieben. Das sind wahrhaft gute Worte, tröstlich und ermutigend, freilich auch höchst anspruchsvoll. Lesen wir genau: Es sind dies nichts weniger als Liebes–Worte, als Liebes– Erklärungen Jesu an die Seinen, mit denen er ihnen seine Liebe schenkt und gibt – und damit ihre Liebe erwecken und hervorrufen will. Es klingt schier unglaublich: Dass Homiletische Monatshefte, Jg. 88, Heft 10, Juli 2013 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen Jesus uns erwählt hat und uns so sehr liebt, dass wir fähig werden sollen und können, ihn und uns untereinander auch zu lieben! Verfremden wir unseren Text für diesmal mit dem bekannt–berühmten Gedicht von E. Fried: Was es ist Es ist Unsinn – sagt die Vernunft. Es ist was es ist – sagt die Liebe Es ist Unglück – sagt die Berechnung. Es ist nichts als Schmerz – sagt die Angst. Es ist aussichtslos – sagt die Einsicht. Es ist was es ist – sagt die Liebe. Es ist lächerlich – sagt der Stolz. Es ist leichtsinnig – sagt die Vorsicht. Es ist unmöglich – sagt die Erfahrung. Es ist was es ist – sagt die Liebe. (E. Fried, „Es ist was es ist. Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte“, Berlin 1996) Mag wohl sein, dass das Eine oder Andere für unseren Text nicht ganz zutrifft, aber seine wichtigste, entscheidende Aussage trifft genau zu, und etliche Fragen stellt uns das Gedicht schon: Unsere Vernunft sagt uns, es sei unsinnig, ausnahmslos alle Mitchristen lieben zu sollen, lieben zu können – unsere Berechnung, wie das zu schaffen sei, macht uns unglücklich, weil wir dem nicht gerecht werden – unsere Angst davor und dabei spüren wir schmerzlich – unsere Einsicht konstatiert schlicht, es sei aussichtslos, auch wenn wir uns noch so sehr Mühe geben – unsere Vorsicht mahnt uns, nichts leichtsinnig zu riskieren – und unsere Erfahrung lehrt und sagt uns, dass „es“ menschenunmöglich ist. Selbst wenn wir diese Einwände in Frageform bringen wollten – unsere Zweifel, unsere Ängste würden eher noch deutlicher. Aber allen Einwänden und Widerständen zum Trotz hält das Gedicht das alles Entscheidende fest: „Es ist was es ist – sagt die Liebe“ – heißt für uns: Es ist die überwältigende Liebe Jesu zu uns, die so viel Kraft hat und schenkt, dass sie uns und unser Leben verändert und neu macht – zur Liebe hin, die alles erträgt, glaubt, hofft, duldet (1. Korinther 13,7). Und Jesu Liebe zu uns erweist sich gewiss auch dann, wenn wir scheitern: Es ist Liebe, sagt die Liebe – sagt Jesus! Was für eine Botschaft, die uns Freiheit und Raum und Weite öffnet! Ist dies aber nicht nur eine zwar gut gemeinte, jedoch die raue Wirklichkeit verfehlende Idealisierung? Mag vielleicht was dran sein, aber keine Frage: Jesus selber hat das vollbracht, ihm war es möglich – und gerade darum spricht er uns an, spricht er uns zu: Komm, sagt er, komm, sage mir, was du für Sorgen hast, für Bedenken und Ängste! Reich willst du werden? Warum? Bist du‘s denn nicht – bist du nicht in Wirklichkeit mein von mir geliebter Freund, meine von mir geliebte Freundin?! (Nach dem Gedicht von J. Ringelnatz, „Komm, sage mir, was du für Sorgen hast“) Es bleibt dabei – hören wir gut hin: Es ist, was es ist – Liebe ist es, sagt die Liebe – sagt Jesus uns zu! Homiletische Monatshefte, Jg. 88, Heft 10, Juli 2013 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 22. Sonntag nach Trinitatis – 27. Oktober 2013 Wochenspruch Bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. (Psalm 130,4) Liedvorschläge Wochenlied: Herr Jesu, Gnadensonne (EG 404); weitere Lieder : Aus meines Herzens Grunde (EG 443); Bei dir, Jesu, will ich bleiben (EG 406); Auf und macht die Herzen weit (EG 454) Psalmgebet Psalm 143,1 – 10 * Lesung Matthäus 18,21 – 35 Predigttext Micha 6,6 – 8 Eingangsgebet Heiliger Gott, du hast uns geschaffen, du begegnest uns in Jesus Christus als unser Retter und Heiland, du erneuerst uns durch deinen heiligen Geist. Wir beten dich an und bekennen: In dir ist unser Heil beschlossen. Dir, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist sei Lob und Ehre in Ewigkeit. (Nach „Gottesdienstbuch“, Stuttgart 2004, S. 158,75) Fürbitten Gott, wenn du sprichst, verwandelt sich unsere Welt. Wenn du uns erleuchtest, weicht unsere Beklommenheit. Wenn deine Liebe uns anrührt, schwindet unsere Angst. Dafür danken wir dir und bitten: Schenke uns die Hoffnung und die Zuversicht, ohne die wir nicht leben können. Lass die Bedrohten unter uns Schutz finden, und die Bedürftigen Hilfe. Lass deinen Geist in unseren Gemeinden wirksam werden. (Nach „Gottesdienstbuch“, Stuttgart 2004, S. 224,2) * Zur Predigt Fast könnte man meinen, hier werde anfangs kräftig zugespitzt – ja, fast könnte man den Eindruck haben, hier werde Problematisches auch noch übertrieben. Aber welchen Grund hätte der Prophet dafür, warum scheint er zu karikieren, gar zu ironisieren? Geht es ihm um den Kontrast, den Gegensatz zu dem, worauf es für ihn eigentlich ankommt? Seine Gravamina beschreibt er in Frageform, und seine Leitfrage lautet: Wie, auf welche Weise soll ich vor Jahwe treten, ihm begegnen, ihn ehren, ihm gerecht werden? Mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern? Gefallen ihm Tausende von Widdern, unzählige Bäche von Öl? Oder heißt es, den Erstgeborenen als Sühne hinzugeben? Abgesehen davon, dass kaum ein Israelit so viele Widder und so viel Öl hätte opfern können, und abgesehen davon, dass es genügend Aussagen gibt, die solche Versuche verwerfen (vgl. nur Ps 50,8 ff.; Jer 7,22; Amos 5,22) – Jahwe selber hat ausdrücklich Menschenopfer, speziell von Kindern, aufs Schärfste verurteilt (5. Mose 18,10; 2. Könige 16,3; 17,17; Jesaja 57,5; Jeremia 32,35). Kann der Prophet also ernsthaft fragen, ob er mit solchen Gräueln vor Gott treten solle? Und erst recht: Käme heutzutage jemand auf die abstruse Idee, Gott mit solchen Opfern gnädig stimmen zu können oder zu wollen (jedenfalls nicht in unseren Breiten)? Homiletische Monatshefte, Jg. 88, Heft 10, Juli 2013 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen Umso gewichtiger, auch umso deutlicher, klar und entschieden die Antwort des Propheten auf seine Leitfrage: Wie kann ich vor Gott bestehen, ihm gerecht werden? „Es ist dir gesagt, Mensch“ (Zürcher : „Er hat dir kundgetan, Mensch“), was nottut: „nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Zürcher : „Nichts anderes, als Recht zu üben und Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen“). Es könnte dies aber auch eine Antwort sein auf unsere „Leitfrage“: Wie kann ich erfülltes Leben finden und führen, das in Glauben und Handeln dem Gottes-Wort und mir selber entspricht – mich angenommen und aufgenommen wissen, geborgen und geleitet – Zeit und Kraft haben für Menschen, die mich brauchen – also ein Leben dann ohne unnötigen Krampf und Sorge, ohne kleinliche Furcht und Zweifel, ohne entmutigende Angst vor Versäumnissen und Versagen, ohne lähmenden Leistungsdruck und vergebliches eigenes Mühen um mein Heil?! „Gottes Wort halten“ – das bedeutet für uns heute, sich daran zu halten, was Gott zu uns sagt, uns zu–sagt – also: uns an Gottes Wort zu halten. Er spricht zu uns durch und mit Jesus Christus, seinem Sohn – er ist das wesentliche, verbindliche „Wort Gottes“ an uns – mit seinem Kommen, Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen. In und mit ihm kommt zur Sprache, was Gottes Sache mit uns ist: Er wendet sich uns zu, nimmt uns ohne jede Vorbedingung als seine Töchter und Söhne an, liebt uns so sehr, dass er gar sein eigenes Leben gibt für seine Freunde (Joh 15,13). Insofern ist durch Jesus Christus auch jeder weitere Opfergedanke aufgehoben (vgl. Hebr 9,26 ff.; 10,10 ff.). Wie von selbst, also ganz selbstverständlich, folgt daraus: Liebe üben. Geliebt vom himmlischen Vater sind seine Töchter und Söhne fähig und stark gemacht, die empfangene Liebe weiterzugeben – frei von den unsäglichen Lasten und Mühen eigener Anstrengungen und „Opfer“, sich selber Heil schaffen zu können, ja zu müssen – frei, mutig, tapfer, engagiert einzustehen für Recht gegen Unrecht, für Gerechtigkeit gegen Ungerechtigkeit, für gottgewollte Menschlichkeit gegen Unmenschlichkeit, gegen lebensfeindliche Strukturen und Organisationen jedwelcher Art, gegen Verkrustungen und Verhärtungen – für erfülltes Leben! Dies alles freilich im Wissen darum, dass Gott der Herr ist – unseres Lebens und unserer Welt. Nicht wir sind es, die „Schicksal spielen“ könnten oder sollten, nicht wir bestimmen Richtung und Ziel, Maß und Weise, sondern allein er, der Herr. Unsere Sache ist es, bei unserem Tun demütig zu sein vor unserem Gott – seine Sache ist, was er selber sagt: „Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Herzens sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen“ (Jes 57,15). Homiletische Monatshefte, Jg. 88, Heft 10, Juli 2013 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen Reformationstag – 31. Oktober 2013 Spruch des Tages Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. (1. Korinther 3,11) Liedvorschläge Nun freut euch, lieben Christen g’mein (EG 341); Ist Gott für mich (EG 351); Es ist das Heil uns kommen her (EG 342); Herr, für dein Wort sei hoch gepreist (196) Psalmgebet Psalm 46,2 – 8 * Lesung Matthäus 5,1 – 10 Predigttext Jesaja 62,6.7.10 – 12 Eingangsgebet Gott, du bist unsere Zuversicht und Stärke, du bewahrst und erhältst deine Gemeinde, du erneuerst sie durch deinen Geist. Wir danken dir für die frohe Botschaft vom Heil der Menschen, die wir glaubend annehmen. Gib deiner Christenheit Einigkeit und Mut, den Glauben an dich zu bekennen und allein dich zu rühmen und zu ehren. Durch Jesus Christus, unseren Herrn. (Nach „Gottesdienstbuch“, Stuttgart 2004, S. 165,94) Fürbitten Gnädiger Gott und Herr, wir bitten dich für deine Kirche: Lass sie in Wahrheit und Frieden wirken, leben und handeln; wo wir feige sind, ermutige uns; wo wir träge sind, erneuere uns; wo wir irren, schenke uns Einsicht und Erkenntnis durch dein Wort; wo wir auf rechtem Weg sind, stärke uns; wo wir in Not sind, sorge für uns; wo wir zerstritten sind, eine du uns, um Jesu Christi willen. (Nach „Gottesdienstbuch“, Stuttgart 2004, S. 269,47) * Zur Predigt Die Klimax im Text ist unübersehbar : Wächter sind über Jerusalems Mauern bestellt, die Tag und Nacht nicht mehr schweigen, sondern, ohne sich Ruhe zu gönnen, auch Jahwe keine Ruhe lassen und ihn so lange erinnern sollen, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es zum Lobpreis auf Erden setze. Dann der Aufruf, durch die Tore einzugehen, dem Volk den Weg zu bereiten, Bahn zu machen, Steine wegzuräumen, ein Zeichen für die Völker aufzurichten – und schließlich die verheißungsvolle Botschaft, die Jahwe bis an die Enden der Erde hören lässt: „Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt!“ Jahwe hat sein Volk gewonnen und erworben, und sie sollen genannt werden „Heiliges Volk“, „Erlöste des Herrn“, und Jerusalem wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“. Man könnte hier fast von so etwas wie „Revolution“ sprechen – im Sinne von „Umdrehung“, Veränderung, Neuerung, politischer Umwälzung auch. Die Situation lässt sich nur andeuten: Zerstörung Jerusalems, Gefangenschaft des Volkes, Rückkehr, Wiederaufbau (vgl. V. 8 f.) – jedenfalls geht es um wesentliche Veränderungen bisheriger deprimierender Situationen und Lebensumstände, und vor allem um die erneute Zuwendung Jahwes zu seinem Volk. Homiletische Monatshefte, Jg. 88, Heft 10, Juli 2013 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen Man könnte das damalige Geschehen aber auch als eine Art „Reformation“ verstehen – dies träfe mehr zu, und könnte für den Tag heute hilfreich sein – feiern wir doch „Reformationsfest“, an dem Erneuerung, Wiederherstellung von etwas ein wichtiger Aspekt der ganzen Thematik ist: im Blick auf den Text, auf das Geschehen ab 1517 und im Blick auf heute. Wir konzentrieren uns auf wesentliche Merkmale, die im Text, bei Martin Luther und für uns heute bedeutsam sind. Da gibt es zunächst „Wächter“ – Propheten, Gottesmänner, Bevollmächtigte, „Reformatoren“ auch; unsere Gemeinden heute und ihre Verkündiger. Ihre Aufgabe und ihre Funktion ist es, Gott und uns wieder zu er– innern, zurück–zuholen, zurück–zukommen auf das, was Jahwe als Schöpfer, als „Heilstäter“ Israels, als Vater Jesu Christi schon getan hat – also wieder aufzurichten, wieder zu beleben, was verschüttet, zugedeckt, überwuchert, verloren war und ist: durch Verehrung falscher Götter, Anbetung unfähiger Götzen, als da sind: Vertrauen auf sich selber, auf eigene Stärke, auf fremde Mächte; fatale, folgenschwere Missbräuche und Missstände in Rom und anderswo; heute Lieblosigkeit, mangelnde Wärme, Lähmung trotz hektischer Betriebsamkeit, Beharren auf Besitzständen, verfehlte Kirchenpolitik, Übernahme verquerer Ideologien und Konstrukte, Zentralisierungen, Anbiederungen, Verniedlichungen, Ausklammern, Bezweifeln und Verschwinden wesentlicher Glaubensinhalte und –botschaften. Statt all dessen aber unablässige Wächter-Rufe, laute Rufe, treffliche und treffende Worte – eingedenk dessen, was Gott tat und tut; ihm keine Ruhe lassen, ihn erinnern, bis er sein Wort wahrmacht – und wir auf sein Wort, und nur auf sein Wort, hören, das er in göttlicher Liebe durch seinen Sohn Jesus Christus uns zu–spricht: So fängt Reformation an. Sie geht weiter mit Öffnen verschlossener Türen und Herzen – für Menschen am Rand des Lebens und der Gesellschaft, für Ausgesperrte, zu kurz Gekommene, für Asylanten und Flüchtlinge, Sprachlose und Radebrechende, für Verzicht auf Gewalt und Privilegien; geht weiter mit dem Vertrauen auf Gott allein und sein Werk, mit dem Bereiten des Wegs, dem Wegräumen von Steinen – von Hindernissen, die entgegen stehen, die wir entgegen stellen: engstirniges ängstliches Festhalten an Positionen und Beschlüssen, Schielen auf Macht und Einfluss, mangelnder Glaubensmut und Gottvertrauen, Gefangensein in uns selber und unseren alten Vorstellungen, Hierarchien statt communio. Diese steingewordenen Hindernisse müssen weg – so wird der Weg frei, wird Freiheit möglich und geschenkt, Raum, Leben, Heil. Dann aber lässt sich der Herr hören bis an die Enden der Erde: „Siehe, dein Heil kommt“ – ist gekommen in Jesus Christus mit seiner Liebe, seinem Heil, seiner Erlösung. Gesucht und gefunden sind wir, geborgen und behütet, befähigt und beauftragt, wache Wächter zu sein, kluge kritische Wegbereiter, mutige Friedensstifter! Homiletische Monatshefte, Jg. 88, Heft 10, Juli 2013 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen
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