Schweiz am Sonntag, Nr. 26, 28. Juni 2015 NACHRICHTEN 5 | «Es braucht neue Konzepte, beispielsweise Quartierhäuser» VON FABIENNE RIKLIN ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen wird sich bis 2030 auf 240 000 verdoppeln. Wie kann die Schweiz diese Aufgabe meistern? Markus Leser*: Wir müssen umdenken. AUFENTHALT IM PFLEGEHEIM KOSTET UNTERSCHIEDLICH VIEL Auch der Eigenanteil variert Bruttokosten pro Monat 12000 Eigenkosten pro Monat (vom Heimbewohner zu zahlen) 10000 8000 Die Pflegeheimkosten belaufen sich heute bereits auf 9 Milliarden Franken. 6000 4000 2000 0 GE ZH BL BS CH ZG BE LU GR SO AG SZ SG UR GL AI QUELLE: BFS GRAFIK: SAS/MTA Wo Alte arm werden ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● S o lange wie möglich zu Hause leben. Das ist der Wunsch von vielen älteren Menschen. Dank der verbesserten ambulanten Versorgung ist dies auch bei kleinen Gebrechen möglich. Durchschnittlich sind Männer 81 Jahre alt, wenn sie in ein Alters- und Pflegeheim zügeln, Frauen 85. Allerdings sind die meisten Senioren dann bereits pflegebedürftig. Und der höhere Pflegebedarf wirkt sich auf die Kosten aus. Heute belaufen sich die Pflegeheimkosten auf jährlich 9,2 Milliarden Franken. Das zeigen neuste Zahlen des Bundes. «Die Komplexität der Pflege nimmt zu, da Menschen im hohen Alter oft nicht mehr nur eine, sondern mehrere Krankheiten haben», erklärt Daniel Domeisen vom nationalen Dachverband für Pflegeheime Curaviva Schweiz. Rund 8750 Franken pro Monat oder 290 Franken pro Tag kostet ein Platz in einer Pflegeinstitution im Durchschnitt. Zwischen den Kantonen gibt es aber grosse Unterschiede. Die Betreuung und Pflege eines Heimbewohners in Genf beispielsweise kostet mehr als doppelt so viel wie im Appenzell. 12 038 Franken pro Monat sind es in Genf, 5740 Franken in Appenzell Innerrhoden. Aufs Jahr gerechnet sind das 75 500 Franken mehr pro Senior. «Zu solchen Differenzen kommt es, da wir 26 verschiedene Konzepte im Umgang mit betagten Menschen haben», sagt Domeisen. So seien in den urbanen Regionen wie Zürich, Genf und Basel die Lohn- und Immobilienkosten höher. Mehr Personal angestellt hätten dagegen Fribourg und Basel-Landschaft. Und ebenfalls sei in einigen Kantonen die Spitex stärker vertreten. Dadurch kämen die Senioren später, dafür als betreuungsintensivere und teurere Fälle ins Pflegeheim. FÜR DIE PFLEGEHEIMKOSTEN von 9,2 Milliarden Franken müssen die Betagten, die Krankenkassen sowie die öffentliche Hand aufkommen. Dabei übernehmen die 3,8 Milliarden Franken Pflegekosten alle drei Parteien: Krankenkassen (fixer Beitrag pro Pflegestufe, max. Fr. 108.– pro Tag), Heimbewohner (max. Fr. 21.60 pro Tag) und öffentliche Hand (Restfinanzierung). Für die 5,4 Milliarden Franken an Aufenthaltskosten, Betreuung und Hotellerie müssen die Heimbewohner dagegen selbst aufkommen. Dieser Löwenanteil beläuft sich monatlich auf rund 4000 Franken für die Bewohner in den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Tessin oder Schaffhausen. Über 6500 Franken selber bezahlen müssen dagegen betagte Genfer, Zürcher und Basler. Andi Meyer vom Verband Baselbieter Alters- und Pflegeeinrichtungen begründet dies auch mit damit, dass die Heime sehr dezentral liegen. Fest steht: Kommt ein älterer Mensch in ein Pflegeheim, sinken die Ersparnisse rasch. Beträgt doch der Eigenanteil beispielsweise im Aargau jährlich 65 208, in Zürich 78 408 Franken (siehe Grafik). Zur Finanzierung des Aufenthalts wird das Vermögen bis zu einer Minimalgrenze aufgebraucht, die je nach Kanton unterschiedlich hoch ist. Die Nachkommen werden nicht belangt. Ist kein privates Geld mehr da, haben die Senioren Anspruch auf Ergänzungsleistungen zur AHV und IV. Heute sind bereits 60 Prozent der Pflegeheimbewohner darauf angewiesen, Tendenz steigend. Eine neue Umfrage von Curaviva Schweiz bei seinen Kantonalverbänden zeigt zudem: Die Zahlungen für die Pflege, für die alle drei Parteien (Bewohner, Krankenkassen und öffentliche Hand) aufkommen müssten, sind vielerorts nicht mehr gedeckt. 13 kantonale Ver- Ja, aber sie sind nicht der grösste Block im Gesundheitswesen. Die Kosten der Pflegeinstitutionen machen 6,6 Prozent der Ausgaben der Krankenversicherung aus. Die Spital- oder Medikamentenkosten sind fast dreimal so hoch. Als wichtig erachte ich deshalb: Wir können die demografischen Herausforderungen nicht meistern, indem wir nur über Geld reden, sondern es braucht neue Ansätze und Konzepte für die Langzeitpflege. Wie sieht dieses Pflegeheim der Zukunft aus? In Genf zahlt ein Bewohner doppelt so viel fürs Alters- und Pflegeheim wie im Appenzell VON FABIENNE RIKLIN Wir arbeiten heute als Gesellschaft daran, dass der Mensch immer älter wird. Also sollten wir auch bereit sein, für das vierte Lebensalter, die Hochaltrigen, aufzukommen. Und das kann uns nur gemeinsam gelingen. bände stellen Lücken fest. Zwei Verbände konstatieren einen Fehlbetrag von 29 Millionen Franken. Daniel Domeisen von Curaviva Schweiz ist überzeugt: «Dieses Loch konnte entstehen, da viele Kantone und Gemeinden ihre Pflicht zur Restfinanzierung ungenügend wahrnehmen.» Das führe schweizweit in Pflegeheimen zu ungedeckten Kosten von jährlich bis zu 350 Millionen Franken. DIE NEUORDNUNG der Pflegefinanzierung, die seit Anfang 2011 in Kraft ist, hätte das Gesundheitssystem fit machen sollen. Doch bereits feilen Politik und Lobbygruppen wieder am Gesetz herum – viele Probleme sind ungelöst. Und auch wenn nur jeder vierte Mensch in seinem Leben auf ein Pflegeheim angewiesen ist, wird sich die Zahl der Heimbewohner bis 2030 auf 240 000 verdoppeln. Andreas Dummermuth, Präsident der Konferenz der Ausgleichskassen, sagt: «Die Dynamik geht voll zulasten der Steuerzahler.» Er schlägt deshalb eine Pflegeversicherung vor. «Ein Pflegheim-Aufenthalt ist ein Risiko. Weshalb soll dann nicht wie bei Krankheit oder Unfall eine Versicherung dafür zahlen? Und zwar eine prämienfinanzierte und keine steuerfinanzierte Versicherung.» Eine Möglichkeit wären sogenannte Quartierhäuser. Das sind Zentren, die eine Kombination von betreutem Wohnen und verschiedenen Dienstleistungen anbieten. Neu ist hier, dass die Pflege in den Wohnungen erbracht wird. Es geht also nicht mehr um das Schaffen von zusätzlichen Pflegebetten. Quartierhäuser bieten private Rückzugsräume, gemeinsame Aufenthaltsräume und öffentliche Mehrzweckbereiche. Letztere sind auch für Aktivitäten für Vereine und Familien aus der Nachbarschaft geöffnet. So entsteht ein Austausch zwischen den Generationen. Ist das denn realistisch, dass ein Grossteil der Senioren in solchen Quartierhäusern lebt? Ältere Menschen wollen oft gerne zu Hause wohnen bleiben. Die Frage wird sein, ob sie dort noch leben können. Die Mehrheit, rund 90 Prozent aller über 65-Jährigen, wird weiter am angestammten Wohnort bleiben können. Für die anderen haben wir die Aufgabe, ein qualitativ hochstehendes Angebot bereitzuhalten. Ich verstehe sehr gut, dass die meisten Senioren die Planung für einen Umzug im hohen Alter aufschieben. Das ist menschlich. Der Schritt im hohen Alter in ein Pflegeheim oder in eine neue Wohnform ist in der Regel der Letzte in unserem Leben. Davor zögern wir. * Markus Leser ist Gerontologe und Leiter des Fachbereichs Menschen im Alter beim nationalen Dachverband Curaviva Schweiz. Grenzgänger Rex: Importhunde nehmen überhand 2015 kommt erstmals die Mehrheit der neu registrierten Hunde aus dem Ausland – wegen tiefer Preise und Onlinebörsen. Ein Trend mit Gefahren VON BENJAMIN WEINMANN ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● «Hallo. Gebe meinen liebevollen, verschmusten Hund ab.» 650 Euro verlangt User Pascal aus dem süddeutschen Saarland auf Ebay.de für seinen 1,7 Jahre alten Chihuahua-Rüden. Die Chance, dass der Hund ein neues Herrchen in der Schweiz erhält, ist gross. «Dieses Jahr haben erstmals mehr als die Hälfte der neuregistrierten Hunde keinen Schweizer Pass», sagt Denise Delley, Geschäftsführerin der Tierdatenbank Anis. Im letzten Jahr war die Ausländerquote der neu gemeldeten Hunde hierzulande auf 49 Prozent angestiegen. Das sind rund 23 000 ausländische Hunde, oder fast doppelt so viele wie noch 2008. «Ich sehe keine Anzeichen, dass sich etwas an diesem Trend ändert», sagt Delley. Auf Rang eins liegt der Chihuahua, gefolgt vom Labrador Retriever. Am häufigsten werden die Tiere in den Nachbar- ländern Frankreich, Deutschland und Italien gekauft. Den Grund für den tierischen Einkaufstourismus sieht Delley unter anderem in den Onlinebörsen wie Ebay, Tutti oder Anibis. «Dort tummeln sich Hunderte von Inseraten.» Komme hinzu, das die Hunde im Ausland oft billiger zu kaufen seien, erst recht mit der aktuellen Währungssituation. In manchen Inseraten gäbe es Hunde bereits ab 50 Euro, während in der Schweiz ein Hund im Durchschnitt 400 Franken koste, so Delley. Zuchthunde aus einem Schweizer Tierheim hingegen würden mindestens 1500 Franken kosten. Sie erachtet den Kauf per Internet als problematisch: «In diesen Fällen hat der Käufer den Hund und seine Mutter vorher noch nie gesehen und hat oft keine Ahnung, wie sich der Hund verhält, wie er aufgewachsen ist und wie er vom Halter behandelt wurde.» Zudem wür- In der Schweiz leben 543 000 registrierte Hunde. THINKSTOCK den im Ausland Hunde zum Teil günstig in einer Massenproduktion herangezüchtet, sagt Delley. «Darunter leidet aber die Sozialisierung der Welpen. Oft werden sie nach wenigen Wochen oder gar Tagen der Mutter weggenommen.» In der Schweiz geborene Welpen würden in einem individuelleren Umfeld gezüchtet, was entsprechend teurer sei. DEN AUSLANDEINKAUF bekommen die Tierheime zu spüren. «Jedes Jahr werden rund 80 ausländische Hunde bei uns abgegeben», sagt Katja Holenstein, Leiterin des Tierheims Strubeli in Volketswil ZH. Oft hätten die Herrchen und Frauchen ihren Rex oder ihre Laika im Internet gekauft. «Diesen Hunden fehlt die mütterliche Erziehung», sagt Holenstein. Sie seien zum Beispiel nicht stubenrein oder würden ständig jaulen «Und dann kommen die Inhaber nicht mehr mit ihnen zurecht.»
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