«Auf dem Bau herrschen anspruchsvolle Ausbildungsbedingungen»

Lehrvertragsauflösungen
«Auf dem Bau herrschen anspruchsvolle Ausbildungsbedingungen»
Das Bauhauptgewerbe verzeichnet überdurchschnittlich viele Lehrver­
tragsauflösungen. Das zeigt eine Studie von Patrizia Hasler, Projektlei­
terin Berufsbildungspolitik beim Schweizerischen Baumeisterverband.
Im Interview spricht sie über Hintergründe und Gegenmassnahmen.
«Die Betriebe sehen die Situation realistisch und sind froh, wenn sie praxisnahe Unterstützung erhalten», sagt Patrizia Hasler.
Rolf Marti
Frau Hasler, wie hoch ist die Quote der
Lehrvertragsauflösungen im Bauhaupt­
gewerbe?
20 Prozent der Maurer beenden ihr Lehrverhältnis frühzeitig und verlassen die Branche,
weitere 7 Prozent wechseln den Lehrbetrieb
oder wechseln von einer drei- in eine zweijährige berufliche Grundbildung. Etwas besser sehen die Zahlen bei den Strassenbauern
aus – aber auch sie liegen über dem Durchschnitt aller Berufe. Hinzu kommt, dass nur
zwei Drittel der Lernenden ihre Ausbildung
innerhalb der vorgesehenen drei Jahre abschliessen.
Welche Gründe führen zur Auflösung der
Ausbildungsverhältnisse?
In der Regel kommen mehrere Ursachen
zusammen. Der Hauptgrund: Die Lernenden
sprechen ihre Probleme nicht an und warten zu,
bis die Situation eskaliert. In vielen Fällen ziehen
Lernende und Lehrbetrieb dann abrupt einen
Schlussstrich. Ein weiterer Grund: Auf dem Bau
herrschen anspruchsvolle Ausbildungsbedingungen. Lärm, Hektik, Zeitdruck sind die Stichworte dazu. Der Polier, der die Baustelle leitet,
ist zugleich für die Ausbildung verantwortlich.
Er steht unter enormem Druck und hat oft zu
wenig Zeit, um die Lernenden anzuleiten bzw.
zu begleiten. Schliesslich verzeichnet das Bauhauptgewerbe einen relativ hohen Anteil an
Lernenden, die im falschen Beruf gelandet sind.
Im falschen Beruf? Wie kommt das?
Die Baubranche zieht überdurchschnittlich
viele Jugendliche aus bildungsfernen Schichten
an. Sie erfahren bei der Berufswahl meist wenig
Unterstützung durch ihre Eltern und sind froh,
überhaupt eine Lehrstelle zu finden. Neigung
und Eignung spielen eine untergeordnete
Rolle. Entscheidend ist, dass die Ausbildung
ein existenzsicherndes Einkommen verspricht.
Pointiert ausgedrückt: Diese Jugendlichen packen die erstbeste Gelegenheit beim Schopf.
Andererseits schauen viele Lehrbetriebe bei der
Selektion zu wenig genau hin oder nehmen
aus Mangel an qualifizierten Bewerbungen
Jugendliche in die Lehre, welche die Voraus­
setzungen nicht vollumfänglich erfüllen. Solche Lehrvertragsabschlüsse erfolgen oft aus
sozialem Engagement und sind daher nicht
grundsätzlich falsch. Aber sie bedürfen einer
genauen Risikoanalyse und setzen – insbesondere zu Beginn der Lehre – ein grösseres En­
gagement der Betriebe voraus.
Was bedeuten die vielen Lehrvertragsauf­
lösungen für die Branche? Droht ein Fach­
kräftemangel?
Solange das Bauhauptgewerbe immer noch
auf dem Arbeitsmarkt nach Bedarf aus einem
Pool an unqualifizierten Arbeitskräften Mitarbeitende rekrutieren und nachqualifizieren
kann, droht kein Fachkräftemangel. Das Pro­
blem ist qualitativer Art: Wenn sich immer
we­niger leistungsstarke Jugendliche für einen
Bauberuf entscheiden, wird es zunehmend
schwierig, die Kaderpositionen mit gut quali­
fiziertem Nachwuchs zu besetzen.
Eine Lehrvertragsauflösung ist nicht gleich­
zusetzen mit einem Lehrabbruch. Welche
Wege gehen die Jugendlichen nach der Ver­
tragsauflösung?
Zwei Drittel der Jugendlichen mit einer Vertragsauflösung bleiben in der Branche. Aber
viele von ihnen wechseln in einen anderen
Beruf – ein weiteres Indiz dafür, dass die Berufswahl nicht solide gemacht wurde. Über das
verbleibende Drittel kann ich keine Aussage
machen, dazu fehlt eine Längsschnittstudie.
Sie haben von anspruchsvollen Ausbildungs­
bedingungen gesprochen. Konkret: Was ist
das Problem?
Eine Baustelle gleicht zuweilen einem Bienenhaus. In diesem Umfeld ist es für die Ausbildungsverantwortlichen schwierig, die Lernenden mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu
begleiten. Das ist zunehmend ein Problem,
weil wir mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund oder aus tiefen sozialen Milieus in
der Ausbildung haben. Sie weisen bezüglich
Selbst- und Sozialkompetenz vermehrt Defizite auf und brauchen daher mehr Unterstützung, mehr Sicherheit, mehr Beziehung.
Was unternimmt die Branche, damit künf­
tig weniger Lehrverträge aufgelöst werden?
Als Branche haben wir wenig Einfluss auf den
Berufswahlprozess. Dieser wird primär von den
Eltern und der Schule gesteuert. Dagegen können wir beim Selektionsverfahren ansetzen. Wir
haben einen Fragebogen erarbeitet, mit dem
die Betriebe die Persönlichkeit der Bewerber/innen besser erfassen können. Er liefert in Ergänzung zur Schnupperlehre und zum Eignungstest wichtige Entscheidungsgrundlagen
– beispielsweise darüber, ob eine drei- oder eine
zweijährige berufliche Grundbildung angezeigt
ist. Dann bieten wir neu Schulungen für Berufsbildende an, um ihnen aufzuzeigen, wie sie
die Lernenden besser begleiten können. In der
Region Basel bauen wir im Rahmen eines Pilot­projekts einen Coachingpool an pensionierten Fachkräften auf, welche die Lehrbetriebe
bei der Begleitung der Lernenden unterstützen.
Wie reagieren die Lehrbetriebe auf diese
Of­fensive?
Bisher gibt es nur positive Rückmeldungen.
Die Betriebe sehen die Situation realistisch und
sind froh, wenn sie praxisnahe Unterstützung
erhalten. [email protected]
Studie
Die Studie «Lehrvertragsauflösungen im
Bauhauptgewerbe» wurde vom Schwei­
zerischen Baumeisterverband und vom
Fachverband Infra in Auftrag gegeben und
von Patrizia Hasler (M Sc in Berufsbildung)
verfasst. Auf der Basis der gewonnenen
Erkenntnisse hat die Branche Gegenmassnahmen eingeleitet (siehe Haupttext). Eine Kurzfassung des Schlussberichts kann
über folgenden Link bezogen werden:
www.baumeister.ch › Berufsbildung ›
Grundbildung › Lehrvertragsauflösungen
Bauberufe
Informationen zu den Bauberufen, zu
Lehrstellen und zu Weiterbildungsmöglichkeiten finden Interessierte auf der
Website www.bauberufe.ch.
«espace einsteiger» ist eine Dienstleistung der Espace Media AG und des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des Kantons Bern und wird in Zusammenarbeit mit folgenden Partnern realisiert: BEKB | BCBE (www.bekb.ch) •
Die Schweizerische Post, Berufsbildung (www.post.ch/lehrstellen oder 0848 85 8000) • Berufsbildung Bundesverwaltung (www.epa.admin.ch/dienstleistungen/lehrstellenangebote) • Meyer Burger AG (www.meyerburger.com)