FORUM Doris Lind Das Buch im Buch Ist es ein Rettungsversuch? Eine Liebeserklärung? Oder Zufall? Derzeit gibt es viele Titel, in denen das Buch eine Rolle spielt. Gemeinsam ist ihnen die Liebe: zum Buch und zu allem, was damit zu tun hat L iebe kann man nicht lernen. Liebe pas siert. Manchmal auf den ersten Blick, manch mal wenn man immer wieder aufeinander trifft. Man lächelt sich zu, es finden sich Herzen, man tritt in Beziehung und verbindet sich. Ob man glücklich wird, entscheidet die Augenhöhe: auf der gleichen sollte man sich begegnen. Das alles gilt auch fürs Buch. Wer es zu sehr erhöht und aus ihm ein Heiligtum macht, verpasst die wahre Liebe und das echte Leben. Denn das findet im Alltag statt. Wer Kinder und Jugendliche dazu bringen will, das Buch zu lieben, muss ihnen die Scheu und den Respekt davor neh men. Am besten geht das, wenn man sie all das mit Büchern tun lässt, worauf sie Lust haben: Seiten, die sie mögen, ausschneiden und aufhängen? Jede Menge Eselsohren machen? Den Text übermalen? Das Haustier daran knabbern lassen? Einen Schluck vom Lieblingsgetränk abgeben? In die Luft wer fen und nicht wieder auffangen? Es als Klei dungsstück verwenden? Am Rand der Bade wanne abhängen?¹ Ja, und unbedingt. Wer Dinge so anfassen darf, wie er es braucht, entwickelt eine Beziehung. Aus der Bezie hung entstehen Bindung und Liebe. Der Respekt kommt von selbst. Von solchen Bücherlieben, die alltagserprobt sind und 46 JuLit 1/15 trotzdem blühen, erzählen folgende Kinderund Jugendbücher. Von Seitenherzen und Buchstabenschwärmen Furia Faerfax ist 15 Jahre alt und lebt mit Vater und Bruder auf einem entlegenen Landsitz in England. Sie ist eine Biblioman tin und das bedeutet: Sie hat die Macht, die Magie der Bücher zu nutzen. Alles, was mit Büchern zu tun hat, ist im Jugendbuch Die Seiten der Welt von Kai Meyer beseelt, sogar die Einrichtungsgegenstände: Wenn Furia liest, spielt auf ihrer bibliomantischen Tapete die Handlung des Buches mit, ihre Leselampe und ihr Lesesessel können sprechen und sich bewegen. In der Bibliothek in den Kata komben des Anwesens leben Buchstaben schwärme mit Intelligenz, Humor und Verve. In Windeseile formieren sie sich zu Wörtern und warnen Furia vor allerlei Gefahren. Alle Bücher in Die Seiten der Welt sind mit magi scher, bibliomantischer Energie getränkt. So wie das geheimnisvolle Tagebuch, in dem Furia einen Briefwechsel über die Jahrhun derte führt: Sie schreibt mit ihrem 200 Jahre älteren Vorfahren Severin Rosenkreutz, aus dem später ein Schriftsteller wurde, dessen Vermächtnis nun die Welt von Furia bedroht. FORUM Abbildung © Fischer FJB 2014 Kai Meyer schafft ein Bücher-Universum Denn neben zweitklassigen Räubergeschich ten soll er auch die Leeren Bücher geschaffen haben – ihre leere Seiten sind wie biblioman tische Bomben, weil sie die Fähigkeit besit zen, alle anderen Bücher mit ihrer Leere zu infizieren, zu einem Zeitpunkt, den niemand genau kennt. Siebenstern, so sein Pseudo nym, ist der Feind aller Bibliomanten und weil er ein Vorfahre der Faerfax ist, will Furias Vater, um die Familienehre wieder herzustel len, alle seine Bücher zerstören. Auch er ist ein Bibliomant. Er springt mit Hilfe von Büchern in Sekundenschnelle von einem Ort zum anderen und schreibt mit Schattentinte, die von gefrorenem schwarzen Eis stammt. Wir kennen das Motiv aus Cornelia Funkes Tintenherz-Trilogie – so wie bei ihr ist auch in Die Seiten der Welt schwarze Tinte das Blut der Bücherwelt. Die magischsten Gegenstände in Kai Meyers Geschichte sind jedoch die See lenbücher. Sie sind das Alter Ego ihrer Besit zer und quasi ihr Zauberstab. Das Seelenbuch von Furia ist ein freches Schnabelbuch. Es spricht, flucht, macht Scherze und liebkost Furia, indem es seinen Schnabel an ihrem Hals reibt. Doch der Zeitpunkt, als sich die beiden das erste Mal begegnen, ist bewegt. Furias Familie wird von mächtigen Feinden bedroht, und sie selbst findet sich in einem Kampf um Ehre und Wahrheit, Leben und Freiheit wieder. Ihre magischen Kräfte setzt Furia frei, indem sie das Seitenherz ihres See lenbuches spaltet. Das muss sie oft tun, denn ihre Gegner sind zahlreich. Darunter auch so genannte Exlibri: Romanfiguren, die – ähnlich wie bei Funkes Tintenherz – versehentlich in die Wirklichkeit gestürzt und nicht von Frau und Mann, sondern Tinte und Feder gezeugt worden sind. Ihre Körper bestehen nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus einem Buch. So wie Isis Nimmeris, eine Agentin, die Furia in eine Exlibra verwandelt: „Die Agentin spreizte die Ränder ihres offenen Brust korbs. Doch dort waren nicht länger Fleisch und Knochen, vielmehr ein ledriger Einband. Dazwischen befanden sich keine Organe eines menschlichen Körpers, sondern Seiten aus honigfarbenem Pergament, bedeckt mit winzigen Schriftzeichen. Und dort, wo das Herz der Agentin sitzen hätte müssen, war nichts als die Falz eines lebenden, atmenden Buchs.“² Bei so viel Magie wundert es wenig, dass die Bücher in Die Seiten der Welt kleine Heiligtümer sind. Wer sie zerfleddert, wie der Stiefvater von Isis Nimmeris, um einzelne Seiten zu verkaufen, gilt als Biblioklast, ein quasi Gottloser, der unter Tage werken muss und für seine Tätigkeit verachtet wird.³ Und wenn Bibliomanten ihr Seelenbuch, das wie ihre persönliche Bibel ist, finden und das erste Mal das Seitenherz spalten, kommt dies einem religiösen Erlebnis gleich: Ein Leuchten wird sichtbar, von einer großen, inneren Kraft und einem goldenen Schein ist die Rede.⁴ JuLit 1/15 47 FORUM Am Anfang war das Wort Malcolm McNeill nimmt in seinem Jugend buch Der Wald der träumenden Geschichten ähnliche Motive auf: Bücher sind magisch, und Geschichten haben etwas Göttliches. So wie in der Bibel am Anfang das Wort war, so entstammen die Geschichten dem Wald des Anfangs, er ist der Ursprung aller Geschich ten. Dorthin geht der Waisenjunge Max, um seine Immerwährenden Eltern zu finden und ein seltsames Phänomen zu beenden: Men schen verschwinden, keiner weiß wohin, und Max wird in die Sache hineingezogen. Weil er etwas mit dem Verschwinden zu tun hat? Weil er gar keine richtigen Eltern hat? Über die Geburt von Max erzählt man sich seltsame Geschichten: „Der Blitz schlug ein, und ein nackter Säugling tauchte auf – genau in der schimmeligen Lücke im Bücherregal, nur wenige Zentimeter vor der Nasenspitze der Besitzerin.“⁵ Doch Max kann nicht glau ben, dass er keine Eltern hat, und findet auf wundersame Weise ein Geschichtenbuch, das ihm den Weg zu seiner wahren Herkunft weist und zu leben scheint: „Das Papier war blassgelb, warm und großporig wie Haut, und Max spürte deutlich das Erstaunen des Buches über die Berührung.“⁶ Auf seiner Suche trifft Max immer wieder auf Men schen, die ihn von der Macht der Worte überzeugen wollen: „Beim Lesen“, raunte der Mann, „erfährst du, wer du wirklich bist. Du findest Spuren von dir selbst, Teile, von denen du zuvor nichts geahnt hast.“⁷ Und so liest Max und liest und liest, um sich selbst und seine Immerwährenden Eltern zu finden, doch vergisst er dabei sein reales Leben. Als er im Drachenfeuer – einer Art Initiationsritus im Wald des Anfangs – steht, kommt er sei ner rätselhaften Herkunft zwar ein Stück näher, doch so richtig klärt sich erst alles im Reich der Kobolde, tief unter der Erde: Hier erfährt er nicht nur, wer er wirklich ist, son dern auch, warum die Menschen verschwin den und dass es die Geschichten sind, die die Welt erschaffen. Ein Buch weist dem Waisen Max den Weg 48 JuLit 1/15 Ein Buch kann das Leben bedeuten: es erschaffen, es festigen, es retten. So wie bei der Bücherdiebin: Liesl Meminger stiehlt ihr erstes Buch, als ihr Bruder stirbt und sie von ihrer Mutter getrennt wird – es bedeutet ihr Halt und Heimat, in einer Welt, die vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs keine Sicherheiten anzubieten hat. In der Bücherdiebin sind Bücher Symbole fürs Leben, wie bei Ilsa Hermann, der Frau des Bürgermeis ters, aus deren Bibliothek Liesl Bücher stiehlt: Seit ihr Sohn tot ist, liest sie nicht mehr. Doch öffnet sie Liesl stets ein Fenster, damit diese Bücher stehlen kann, die andere am Leben erhalten. So wie Max Vandenburg, den Juden, den Liesls Pflegeeltern im Keller verstecken. Abbildung © Fischer KJB 2014 Ein Buch, mein Leben FORUM Abbildungen © Diogenes 2014 / Hanser 2013 Bücherwunder ins Bild gesetzt Als er schwer krank ist, stiehlt Liesl für ihn ein Buch und liest ihm so lange vor, bis er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Weil ihre Freundschaft ihn am Leben erhält, schreibt und zeichnet Max für Liesl zwei Bücher, eines zu ihrem Geburtstag und eines, als er ihr Haus verlässt und das den Titel Die Worteschüttlerin trägt. Die Worte, und zwar ihre eigenen, sowie ein kleines, schwarzes Buch, das ihr die Frau des Bürgermeisters schenkt, retten der Bücherdiebin das Leben: Als die Himmelstraße ausgebombt wird und alle Menschen, die Liesl liebt, sterben, sitzt sie im Keller und liest ihre eigene, selbst geschrie bene Geschichte. Davor hat sie versucht, mit den Worten reinen Tisch zu machen: „Ihr Mistkerle, dachte sie. Ihr geliebten Mistkerle. Macht mich nicht glücklich. Bitte erfüllt mich nicht. Lasst mich nicht glauben, dass aus all dem etwas Gutes entstehen kann. Schaut euch meine Wunden an. (…) Sie riss eine Seite aus dem Buch und zerpflückte sie. Dann ein Kapitel. Schon bald lagen zwischen ihren Bei nen und um sie herum Wortfetzen. Warum musste es sie geben? Ohne sie wäre nichts hiervon wirklich. Ohne Worte wäre der Füh rer ein Niemand.“⁸ Doch dann beginnt Liesl zu schreiben und rettet sich selbst: „Als sie ihre Geschichte aufschrieb, fragte sie sich, ab welchem Augenblick genau die Bücher und Worte nicht mehr nur irgendetwas bedeute ten, sondern alles.“⁹ Wörterfabriken und Bücherwunder Wörter haben Macht, und Wörter sind ein Schatz. Ganz besonders in einem sonder baren Land, in dem die „große Wörterfabrik“ steht – hier, im gleichnamigen Bilderbuch von Agnès de Lestrade und Valeria Docampo, kann man Wörter nicht einfach aussprechen, man muss sie zuerst kaufen. Sprechen ist hier also teuer. Doch Paul ist arm, und deshalb hat er kaum Wörter. Manchmal aber gelingt es ihm, sie mit Schmetterlingsnetzen einzu fangen, wenn sie aus den Schornsteinen der Wörterfabrik in die Luft steigen. Das tut er auch, als Marie Geburtstag hat. Während der reiche Oskar Marie mit Wörtern über schüttet, gewinnt Paul mit drei unschein baren Wörtern ihr Herz. Und als er noch ein Wörtchen hinzusetzt, das er sich für einen JuLit 1/15 49 FORUM besonderen Moment aufgehoben hat, zeigt sich: Wörter verbinden. Auch Bücher verbinden: Menschen mit Menschen, Menschen mit sich selbst. So wie Im Land der Bücher, dem Bilderbuch von Quint Buchholz für Kinder, Jugendliche und Erwach sene. Hier ist man am Abend nie allein, zieht mit einem bekannten Gefährten in eine alte Schlacht, baut an einer anderen Zeit, möchte trotzdem nicht verzagen, meidet Lärm und Geflimmer, findet Reime für die Nacht und noch viel mehr: „Einer von uns steigt durch dicke Bände weit hinauf ans hohe Himmels zelt. Was er sucht und gerne einmal fände, ist der Blick auf diese ganze …“ Ja, ein Buch, das ist die ganze Welt, und es lässt die Gedanken fliegen. Wie auch die Zeichnungen von Quint Buchholz: Wie Traumbilder wirken sie, die an uns vorbei schweben und stets etwas offen lassen – für unsere Phantasie. Was der Kuss für die Liebe, ist die Phantasie fürs Lesen, ohne sie geht gar nichts. Knigi, das Bilderbuch von Benjamin Som merhalder, zeigt es: Knigi ist ein kleines Gespenst und bekommt von seiner Tante ein Buch geschenkt. Doch irgendetwas stimmt damit nicht, denn alle Seiten sind weiß. „Wie soll ich dieses Buch denn lesen“, fragte er sich, „es ist ja ganz leer!“ Und so erforscht er die Sache: In der Nacht geht er in die Biblio thek und stellt fest, dass alle Bücher, die er aufschlägt, leer sind. Dann zieht er die Fle dermäuse zu Rate, probiert es mit Hypnose und verhält sich ganz still, um das Buch nicht zu erschrecken. Als das alles nichts hilft, und die Seiten immer noch leer bleiben, wirft er es in die Ecke, legt sich auf den Teppich und beginnt zu träumen. Da hört er es: flip, flap, flip, flap. Und dann? Knigi erlebt ein buntes Bücherwunder – und wir mit dazu. Liebe kann man nicht lernen. Liebe pas siert. Vor allem, wenn die Geschichten gut sind. Setzen wir in der Literaturvermittlung also Menschen ein, die gut erzählen und gut (vor)lesen können, die Geschichten leben dig machen und Figuren in die Wirklichkeit rutschen lassen. Nehmen wir Kindern und Jugendlichen die Scheu vor dem heiligen Buch und holen wir es vom Podest herunter in den Alltag. Lassen wir WhatsApp und andere zeitgenössische Geschichtenmaschinen ans Werk, denken wir daran: Eine Beziehung ist glücklich, wenn man sie auf Augenhöhe lebt. Was dann passiert? Laut Leo Timmers gleich namigen Bilderbuch macht’s Bumm. Lesen kann gefährlich sein. So schön. So bunt. So aufregend. So lustig. (Große Liebe) Na bumm! Dr. Doris Lind hat an der Universität Graz zum Thema „Von monroemäßigen Männerlippen und burschikosen Bubiköpfen. Bilder von Schwulen und Lesben in der Kinder- und Jugendliteratur“ (2000) promoviert. Sie arbeitet als selbständige Literaturmanagerin und Texterin. (www.literaturmanagement.at) Primärliteratur Buchholz, Quint: Im Land der Bücher. München: Hanser 2013. Funke, Cornelia: Tintenherz, Tintenblut, Tintentod. Ham burg: Dressler 2003, 2005, 2007. de Lestrade, Agnès / Docampo, Valeria: Die große Wörterfabrik. München: mixtvision 2012. McNeill, Malcolm: Der Wald der träumenden Geschichten. Frankfurt / Main: Fischer KJB 2014. Meyer, Kai: Die Seiten der Welt. Frankfurt: Fischer KJB 2014. Sommerhalder, Benjamin: Knigi. Zürich: Diogenes 2014. Timmers, Leo. Bumm. Lesen kann gefährlich sein! Müns ter: Coppenrath 2013. Zusak, Markus: Die Bücherdiebin. München: Blanvalet 2005. Anmerkungen 1 Inspiriert von: KeinBuch. Nicht lesen. Machen! mixtvision 2009. 2 Meyer, S. 384. 3 Ebda., S. 429431. 4 Ebda., S. 280. 5 McNeill, S. 186. 6 McNeill, S. 90 7 Ebda., S. 84. 8 Zusak, S. 556. 9 Ebda., S. 36 50 JuLit 1/15
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