Aufatmen Winter 2015

Fotos: Privat
Sonntagsgottesdienst
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FRAGEN
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GEMEINDE
Lernen durch Praxis-Erfahrungen anderer:
Eine AUFATMEN-Serie mit Gemeindeporträts der anderen Art
DIE EVANGELISCH LUTHERISCHE
KIRCHE VELBERT-NIERENHOF
VON CHRISTEL EGGERS
Eine wachsende Landeskirche mit vitaler Gemeindearbeit und missionarischer Vision am Rande des Ruhrpotts.
Christel Eggers sprach mit Pfarrer Dirk
Scheuermann und der Kinder- und Jugendreferentin Claudia Scheuermann.
1. IN WELCHEN DREI BEREICHEN
GAB ES IN DEN LETZTEN ZEHN
JAHREN WACHSTUM?
Dirk Scheuermann: Vor 20 Jahren hatten
wir 80 Gottesdienstbesucher, heute sind es
400. In jedem Jahr gab es in allen Bereichen
Wachstum. Nicht mit Riesenschritten, aber
stetig. Wir wussten, die Kirchensteuern
gehen zurück - und wir wollten trotzdem un78
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sere Mehrzweckhalle bauen, um unsere missionarische Vision zu leben. Dieses Bauvorhaben war für uns ein Glücksfall! Dadurch ist
die Gemeinde im Grunde aufgewacht. Mitarbeiter haben erkannt: Wir werden gebraucht,
die Kirchensteuern reichen nicht, wir müssen
etwas tun! So wurde die Halle zu über 90%
aus Spenden finanziert und danach auch die
neuen Stellen in der Kinder- und Jugendarbeit! Im letzten Jahr gab es zum Beispiel drei
Aufführungen des Weihnachtsmusicals – die
waren jeweils mit knapp 700 Leuten besucht.
Wir brauchten sogar noch eine Live-Übertragung in die Kirche – so entstehen natürlich
viele neue Kontakte.
Claudia Scheuermann: Wir haben die
Seniorenarbeit „55 plus“ begonnen, die
funktioniert in etwa wie das Frauenfrüh-
stück: Die Leute kommen zum Frühstück,
haben einen guten Vortrag, gute Gemeinschaft und bei bestimmten Themen noch
Austausch an den Tischen – und es kommen immer neue Ältere. Dazu gibt es
jedes Jahr eine Freizeit, die hilft, in die
Gemeinde hineinzufinden.
Dirk: Wenn du unseren Gottesdienst besuchst, wirst du auch viele Jugendliche
sehen - ungefähr 60. Auch viele Familien,
es sind wirklich alle Generationen da. Gerade in den letzten Jahren sind auch Ältere dazugekommen, durch ProChrist,
durch Glaubenskurse, die Mitarbeit beim
Hallenbau; das ist schon sehr bewegend.
Claudia: Ganz neu sind der Kochbus und
der Spielbus. Das ist ein Projekt, das aus
unserem „Diakoniegebet“ gewachsen ist.
WERKSTATT
Ein Gemeindemitglied hat eine Stiftung
gegründet („Lichtblick“) für die Stadt Velbert, mit dem Zweck, Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien zu fördern – in Schulen, in Wohngebieten, auf
der Straße. Die Busse fahren an die Brennpunkte der Stadt und bieten dort für Kinder und Jugendliche ein Programm an.
Wir haben eine gute Partnerschaft mit der
Stiftung, die auch 3-4 FSJler über das
„Pais-Projekt“ finanziert, die zu 80% in
Schulen zum Religionsunterricht gehen
und zu 20% in der Gemeinde arbeiten.
Dirk: Es kommen inzwischen auch viele
Männer zu uns. Männer, die voll im Beruf
arbeiten und sich nebenher noch unglaublich engagieren. Und ihre Gaben
sind gefragt, sie können richtig anpacken.
Da ist kein frauenbetontes Image - da
kannst du Bagger fahren, Steine schichten. Ohne diese Männer könnten wir
nicht jeden Samstag die Halle umbauen.
Es gibt drei „Rödelteams“, die sind jeden
Samstag da: Stühle stellen, Bühne aufbauen, Technik reinfahren usw. Ohne die
würde das gar nicht gehen! Und Männer
ziehen Männer ... Oder sie bauen „Menschenkicker“ – das können wir wieder
beim Winterspielplatz toll einsetzen.
Männliche Gaben sind gefragt. Ein Arzt
etwa bietet ein monatliches Bibelfrühstück an und gibt einen Großteil seines
Vermögens für benachteiligte Menschen.
Claudia: Finanzen, die zur Verfügung stehen, schaffen natürlich auch Möglichkeiten und Freiheiten. Auch im Sportbereich sind wir gewachsen, das dürfen wir
nicht vergessen!
2. DIE DREI WICHTIGSTEN
ENTSCHEIDUNGEN DER LETZTEN
ZEHN JAHRE?
Claudia: Erstens der Hallenbau und zweitens der Entschluss, in Hauptamtliche zu
investieren, damit Bereiche gefördert und
verstärkt werden konnten. Vor zehn Jahren war Dirk der einzige Hauptamtliche.
Dirk: Eine Grundsatzentscheidung vor 20
Jahren war, dass wir wirklich in allen Bereichen missionarisch arbeiten wollten.
Wir wollten uns nicht um uns selbst drehen, sondern Menschen erreichen um
ihrer selbst und um Jesu willen. Diese Vision teilen sehr viele in der Gemeinde.
Wir haben gute Erfahrungen gemacht mit
PRO CHRIST und Alpha-Kursen, da hat
unsere Gemeinde enorm profitiert.
Claudia: Heute haben wir 35 Kleingruppen
Claudia Scheuermann (Kinder- und Jugendreferentin) und Pfarrer Dirk Scheuermann
Die zu kleine Kirche Nierenhof
Ein „Rödelteam“ richtet die Halle für den
Gottesdienst her
Die Mehrzweckhalle neben der Kirche
und Hauskreise. Wir haben dann auch Jugend-Kleingruppen eingeführt und Jugend-Mentoring angeboten. Früher nannte
man das Zweierschaft. Das nehmen heute
etwa 20 Jugendliche in Anspruch.
Dirk: Eine gute Entscheidung war, den Gemeindebeirat viermal im Jahr stattfinden
zu lassen. Wer will, kann sich informieren.
Die Kommunikation ist viel besser, dort
wird nicht mehr nur über den kaputten
Kühlschrank geredet, sondern da werden
Ideen entwickelt, geistliche Dinge bewegt.
Als entscheidende Voraussetzung für
vieles aber sehe ich das „Diakoniegebet“:
Wir kamen als Team zurück von einem
Willow-Kongress, haben uns zusammengesetzt und eingeladen, ein Jahr lang einmal im Monat sonntags abends zu beten
und zu fragen: „Was will Gott, dass wir
hier tun sollen für unsere Stadt?“ Der
Winterspielplatz ist eine Frucht davon.
Wir haben eine Halle – dann öffnen wir
sie doch im Winter! Im Gebet ist uns klar
geworden, das ist wirklich ein Dienst - ein
ganz niederschwelliges Angebot für Familien der Stadt mit ihren Kindern.
gestalten. Jeder musste sich für seine
Gruppe treffen, könnten wir das nicht
bündeln? Gemeinsames Gebet, geistlichen Impuls und dann kann jede Gruppe
für sich tagen und vorbereiten? Aber das
stellte sich als schwierig heraus, wurde
eher zu einem zusätzlichen Termin - alle
zu einem gemeinsamen Termin zusammenzubekommen, war illusorisch.
Dann haben wir versucht, die Kleingruppenleiter zu schulen, drei bis vier
Abende pro Jahr - aber das war auch zu
viel. Jetzt machen wir einen Samstagvormittag und einen Abend im Jahr und hoffen, dass wir damit viele gewinnen.
3. WELCHE ENTSCHEIDUNGEN
BRACHTEN NICHT DAS
GEWÜNSCHTE ERGEBNIS?
Dirk: Der Versuch, die Mitarbeiter mit
Terminen zu entlasten. Die Idee war,
einen gemeinsamen Mitarbeiterabend zu
4. WELCHE VORBILDER UND
MODELLE WAREN BESONDERS
HILFREICH?
Dirk: Willow war sehr hilfreich. Pro
Christ war enorm hilfreich. Die Matthäus-Gemeinde in Bremen und die Gemeinde in Kelzenberg haben wir uns angeschaut und vieles abgeguckt. Am meisten haben wir wohl von Willow Creek
gelernt. Da geht es um die Philosophie
dieser vorbildlichen Gemeinde - die Liebe
zu Jesus, die Liebe zu denen, die Gott
nicht kennen und die Liebe unter den
Mitarbeitern. Diese Leidenschaft hat uns
alle angesteckt. Auch die Ehrlichkeit. Es
wird oft gesagt, Willow Creek sei oberflächlich. Aber das stimmt nicht! Willow
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D I E E V. KI R C HE N GE M E I N DE N I E R E N HOF
I M KUR Z P ORT R Ä T
Engagiert beim Weihnachtsmusical dabei
hat Tiefgang, verbunden mit einer klaren
Philosophie. Und die Professionalität hat
uns sehr beeindruckt. Dass da Leute
reden, die es vorher ausprobiert haben
und nicht vom Grünen Tisch kommen.
Auch das, was von Michael Herbst
kommt, finden wir hervorragend, er ist
ein genialer praktischer Theologe. Was er
schreibt, was er verkündigt, ist einfach
Mut machend. Unsere fünf Leitsätze
haben wir übrigens von Saddleback abgekupfert, haben „Leben mit Vision“ durchgearbeitet. Pfarrer Fritz Schwarz hier in
der Nähe in Herne war der Erste, der mich
inspiriert hat. Wo quellfrisches Evangelium in der Gemeinde gelebt wird, das
fasziniert uns, das würden wir gerne nach
Nierenhof bringen.
5. DREI FAKTOREN, OHNE DIE
DIESE ENTWICKLUNGEN NICHT
STATTGEFUNDEN HÄTTEN?
Dirk: Die Ursprünge dieser Gemeinde hat
ein Pfarrer in den 50er Jahren gelegt. Er
hat den CVJM gegründet, damit wurde
die Gemeinde missionarisch und biblisch
– das war ganz wichtig. Beim CVJM sind
heute unsere Kinder- und Jugendreferenten angestellt, das hätte die westfälische Kirche nicht gemacht. Wir haben
lange dafür gebetet, dass von unserer Gemeinde Leute rausgehen und haben erlebt, dass in den letzten Jahren jedes Jahr
drei bis fünf Leute nach der Schule oder
Ausbildung ein missionarisches Jahr gemacht haben. Das verändert auch die Gemeinde, verändert den Horizont.
Claudia: Durch die „Stiftung Lichtblick“
– gegründet von engagierten Leuten aus
unserer Gemeinde - wurden wir auch in
der politischen Gemeinde bekannt. Der
Winterspielplatz, das Weihnachtsmusical,
Koch- und Spielbus.
Dirk: Hinter dem Wachstum liegt auch
ein Geheimnis, das wir nicht wussten:
Dieser Pfarrer (Kurt Alfred Paschen), der
den CVJM gegründet hat, hat immer um
Erweckung für diese Gemeinde gebetet;
der hat die Mitarbeiter damit aufgeregt,
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Die ELK Nierenhof gehört zur Westfälischen Landeskirche, die
auch die Kosten für eine Pfarrstelle bezahlt.
Infrastruktur: U-förmige Anlage, Kirche von 1934, angeschlossenes
Gemeindehaus mit Büro- und Gruppenräumen, Pfarrhaus und Mehrzweckhalle (bestehend aus einer Turnhalle, Jugendraum, Büros), eingeweiht 2006. Die Mehrzweckhalle wird samstags für den Gottesdienst hergerichtet und anschließend wieder zurückgebaut.
Hauptamtliche: Neben der Pfarrstelle werden 200 % Stellenprozente über Spenden finanziert (Kinderreferentin und Jugendreferent je 50%, plus 100% für beides). Dazu eine Sekretärin mit 18
Stunden.
Jährliches Budget: 200.000,- Euro (ohne Pfarrstelle).
Gottesdienst: Sonntags 10 Uhr, dreimal pro Jahr „Komma“-Gästegottesdienst um 11 Uhr. Gottesdienstbesucher aus allen Generationen: 400, Gemeindemitglieder: 2000.
Wichtige Angebote: Sport (Fußball, Basketball, Badminton, Kletterwand) Winterspielplatz, CVJM, Weihnachtsmusical für Kinder,
Freizeiten, Beteiligung mit Partner „Stiftung Lichtblick“ an Kochund Spielebus, Mentoring für Jugendliche.
Motto: Bei Jesus ein Zuhause finden!
Webseite: www.kirche-nierenhof.de
dass er fast jedes Gebet mit der Bitte um
Erweckung abgeschlossen hat. Ein Freund
hat mir mal erzählt: „Weißt du eigentlich,
was der gebetet hat und dass seine Gebete
erhört wurden?“ Dass dieser vorbereitete
Boden hier war, das wussten wir nicht.
Und nicht zu vergessen: Die Pfarrersfrauen – im Grunde haben wir die
Arbeit zusammen gemacht, meine Frau
Claudia war bis vor einem Jahr ehrenamtlich voll engagiert.
Claudia: Ohne die ehrenamtlichen Mitarbeiter wäre überhaupt nichts möglich. Wir
haben viele sehr begabte Mitarbeiter, die
ihre Gaben gerne einbringen, das ist ein
solcher Segen! Zu unserem Presbyterium
gehören Männer und Frauen, die Jesus aus
ganzem Herzen nachfolgen. Wichtige Entscheidungen werden einmütig getroffen.
Dirk: Ohne Gebet wäre es auch nicht so
geworden. Es gibt seit 21 Jahren einen
Männergebetskreis am Dienstag morgen
um sechs Uhr. Es gibt mehrere und andere
Gebetskreise. Vor wichtigen Entscheidungen beten wir, damit wir von Gott den
richtigen Weg gezeigt bekommen. Und:
Diese Gemeinde – und das war auch vor
uns schon so – ist sehr gastfreundlich. Die
Türen standen immer weit auf. Ohne diese
Einstellung hätte es kein Wachstum gegeben. 1997 und 2000 hatten wir Pro Christ
in der Kirche, dann Pro Christ regional
mit Ulrich Parzany – es sind jedes Mal
Menschen zum Glauben gekommen, viele.
Beim zweiten Mal in der Kirche wussten
wir fast nicht, wie wir die Leute weiter begleiten konnten, das war beinahe wie eine
Erweckungsveranstaltung.
6. WAS WÜRDEN SIE IM RÜCKBLICK ANDERS MACHEN?
Dirk: Ich sage es mal positiv: Die Veränderungsprozesse sind allmählich abgelaufen.
Nicht so, dass wir gesagt haben: Heute machen wir es ganz anders. Und das würde
ich genauso wieder machen! Wir haben
zwar einige Mitarbeiter verloren, aber ganz
wenige. Für wichtige Entscheidungen müssen wir eine Einmütigkeit haben. Keine
Kampfabstimmungen. Mit wesentlichen
Entscheidungen also Zeit lassen, manchmal hieß es: „Dann eben erst bei der nächsten Sitzung.“ Das hat uns manchmal
schon gequält, dass es langsamer ging, aber
wir haben es trotzdem richtig gemacht und
gewartet, bis alle dafür waren.
Claudia: In die Mentoringarbeit, diese intensive Begleitung junger Menschen, da
würden wir aus heutiger Sicht wohl schon
viel früher investieren, das würden wir
heute anders machen. ◀