Fotos: Privat Sonntagsgottesdienst 6 FRAGEN 1 GEMEINDE Lernen durch Praxis-Erfahrungen anderer: Eine AUFATMEN-Serie mit Gemeindeporträts der anderen Art DIE EVANGELISCH LUTHERISCHE KIRCHE VELBERT-NIERENHOF VON CHRISTEL EGGERS Eine wachsende Landeskirche mit vitaler Gemeindearbeit und missionarischer Vision am Rande des Ruhrpotts. Christel Eggers sprach mit Pfarrer Dirk Scheuermann und der Kinder- und Jugendreferentin Claudia Scheuermann. 1. IN WELCHEN DREI BEREICHEN GAB ES IN DEN LETZTEN ZEHN JAHREN WACHSTUM? Dirk Scheuermann: Vor 20 Jahren hatten wir 80 Gottesdienstbesucher, heute sind es 400. In jedem Jahr gab es in allen Bereichen Wachstum. Nicht mit Riesenschritten, aber stetig. Wir wussten, die Kirchensteuern gehen zurück - und wir wollten trotzdem un78 A U FA TMEN | WIN TER 2 0 1 5 sere Mehrzweckhalle bauen, um unsere missionarische Vision zu leben. Dieses Bauvorhaben war für uns ein Glücksfall! Dadurch ist die Gemeinde im Grunde aufgewacht. Mitarbeiter haben erkannt: Wir werden gebraucht, die Kirchensteuern reichen nicht, wir müssen etwas tun! So wurde die Halle zu über 90% aus Spenden finanziert und danach auch die neuen Stellen in der Kinder- und Jugendarbeit! Im letzten Jahr gab es zum Beispiel drei Aufführungen des Weihnachtsmusicals – die waren jeweils mit knapp 700 Leuten besucht. Wir brauchten sogar noch eine Live-Übertragung in die Kirche – so entstehen natürlich viele neue Kontakte. Claudia Scheuermann: Wir haben die Seniorenarbeit „55 plus“ begonnen, die funktioniert in etwa wie das Frauenfrüh- stück: Die Leute kommen zum Frühstück, haben einen guten Vortrag, gute Gemeinschaft und bei bestimmten Themen noch Austausch an den Tischen – und es kommen immer neue Ältere. Dazu gibt es jedes Jahr eine Freizeit, die hilft, in die Gemeinde hineinzufinden. Dirk: Wenn du unseren Gottesdienst besuchst, wirst du auch viele Jugendliche sehen - ungefähr 60. Auch viele Familien, es sind wirklich alle Generationen da. Gerade in den letzten Jahren sind auch Ältere dazugekommen, durch ProChrist, durch Glaubenskurse, die Mitarbeit beim Hallenbau; das ist schon sehr bewegend. Claudia: Ganz neu sind der Kochbus und der Spielbus. Das ist ein Projekt, das aus unserem „Diakoniegebet“ gewachsen ist. WERKSTATT Ein Gemeindemitglied hat eine Stiftung gegründet („Lichtblick“) für die Stadt Velbert, mit dem Zweck, Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien zu fördern – in Schulen, in Wohngebieten, auf der Straße. Die Busse fahren an die Brennpunkte der Stadt und bieten dort für Kinder und Jugendliche ein Programm an. Wir haben eine gute Partnerschaft mit der Stiftung, die auch 3-4 FSJler über das „Pais-Projekt“ finanziert, die zu 80% in Schulen zum Religionsunterricht gehen und zu 20% in der Gemeinde arbeiten. Dirk: Es kommen inzwischen auch viele Männer zu uns. Männer, die voll im Beruf arbeiten und sich nebenher noch unglaublich engagieren. Und ihre Gaben sind gefragt, sie können richtig anpacken. Da ist kein frauenbetontes Image - da kannst du Bagger fahren, Steine schichten. Ohne diese Männer könnten wir nicht jeden Samstag die Halle umbauen. Es gibt drei „Rödelteams“, die sind jeden Samstag da: Stühle stellen, Bühne aufbauen, Technik reinfahren usw. Ohne die würde das gar nicht gehen! Und Männer ziehen Männer ... Oder sie bauen „Menschenkicker“ – das können wir wieder beim Winterspielplatz toll einsetzen. Männliche Gaben sind gefragt. Ein Arzt etwa bietet ein monatliches Bibelfrühstück an und gibt einen Großteil seines Vermögens für benachteiligte Menschen. Claudia: Finanzen, die zur Verfügung stehen, schaffen natürlich auch Möglichkeiten und Freiheiten. Auch im Sportbereich sind wir gewachsen, das dürfen wir nicht vergessen! 2. DIE DREI WICHTIGSTEN ENTSCHEIDUNGEN DER LETZTEN ZEHN JAHRE? Claudia: Erstens der Hallenbau und zweitens der Entschluss, in Hauptamtliche zu investieren, damit Bereiche gefördert und verstärkt werden konnten. Vor zehn Jahren war Dirk der einzige Hauptamtliche. Dirk: Eine Grundsatzentscheidung vor 20 Jahren war, dass wir wirklich in allen Bereichen missionarisch arbeiten wollten. Wir wollten uns nicht um uns selbst drehen, sondern Menschen erreichen um ihrer selbst und um Jesu willen. Diese Vision teilen sehr viele in der Gemeinde. Wir haben gute Erfahrungen gemacht mit PRO CHRIST und Alpha-Kursen, da hat unsere Gemeinde enorm profitiert. Claudia: Heute haben wir 35 Kleingruppen Claudia Scheuermann (Kinder- und Jugendreferentin) und Pfarrer Dirk Scheuermann Die zu kleine Kirche Nierenhof Ein „Rödelteam“ richtet die Halle für den Gottesdienst her Die Mehrzweckhalle neben der Kirche und Hauskreise. Wir haben dann auch Jugend-Kleingruppen eingeführt und Jugend-Mentoring angeboten. Früher nannte man das Zweierschaft. Das nehmen heute etwa 20 Jugendliche in Anspruch. Dirk: Eine gute Entscheidung war, den Gemeindebeirat viermal im Jahr stattfinden zu lassen. Wer will, kann sich informieren. Die Kommunikation ist viel besser, dort wird nicht mehr nur über den kaputten Kühlschrank geredet, sondern da werden Ideen entwickelt, geistliche Dinge bewegt. Als entscheidende Voraussetzung für vieles aber sehe ich das „Diakoniegebet“: Wir kamen als Team zurück von einem Willow-Kongress, haben uns zusammengesetzt und eingeladen, ein Jahr lang einmal im Monat sonntags abends zu beten und zu fragen: „Was will Gott, dass wir hier tun sollen für unsere Stadt?“ Der Winterspielplatz ist eine Frucht davon. Wir haben eine Halle – dann öffnen wir sie doch im Winter! Im Gebet ist uns klar geworden, das ist wirklich ein Dienst - ein ganz niederschwelliges Angebot für Familien der Stadt mit ihren Kindern. gestalten. Jeder musste sich für seine Gruppe treffen, könnten wir das nicht bündeln? Gemeinsames Gebet, geistlichen Impuls und dann kann jede Gruppe für sich tagen und vorbereiten? Aber das stellte sich als schwierig heraus, wurde eher zu einem zusätzlichen Termin - alle zu einem gemeinsamen Termin zusammenzubekommen, war illusorisch. Dann haben wir versucht, die Kleingruppenleiter zu schulen, drei bis vier Abende pro Jahr - aber das war auch zu viel. Jetzt machen wir einen Samstagvormittag und einen Abend im Jahr und hoffen, dass wir damit viele gewinnen. 3. WELCHE ENTSCHEIDUNGEN BRACHTEN NICHT DAS GEWÜNSCHTE ERGEBNIS? Dirk: Der Versuch, die Mitarbeiter mit Terminen zu entlasten. Die Idee war, einen gemeinsamen Mitarbeiterabend zu 4. WELCHE VORBILDER UND MODELLE WAREN BESONDERS HILFREICH? Dirk: Willow war sehr hilfreich. Pro Christ war enorm hilfreich. Die Matthäus-Gemeinde in Bremen und die Gemeinde in Kelzenberg haben wir uns angeschaut und vieles abgeguckt. Am meisten haben wir wohl von Willow Creek gelernt. Da geht es um die Philosophie dieser vorbildlichen Gemeinde - die Liebe zu Jesus, die Liebe zu denen, die Gott nicht kennen und die Liebe unter den Mitarbeitern. Diese Leidenschaft hat uns alle angesteckt. Auch die Ehrlichkeit. Es wird oft gesagt, Willow Creek sei oberflächlich. Aber das stimmt nicht! Willow 79 D I E E V. KI R C HE N GE M E I N DE N I E R E N HOF I M KUR Z P ORT R Ä T Engagiert beim Weihnachtsmusical dabei hat Tiefgang, verbunden mit einer klaren Philosophie. Und die Professionalität hat uns sehr beeindruckt. Dass da Leute reden, die es vorher ausprobiert haben und nicht vom Grünen Tisch kommen. Auch das, was von Michael Herbst kommt, finden wir hervorragend, er ist ein genialer praktischer Theologe. Was er schreibt, was er verkündigt, ist einfach Mut machend. Unsere fünf Leitsätze haben wir übrigens von Saddleback abgekupfert, haben „Leben mit Vision“ durchgearbeitet. Pfarrer Fritz Schwarz hier in der Nähe in Herne war der Erste, der mich inspiriert hat. Wo quellfrisches Evangelium in der Gemeinde gelebt wird, das fasziniert uns, das würden wir gerne nach Nierenhof bringen. 5. DREI FAKTOREN, OHNE DIE DIESE ENTWICKLUNGEN NICHT STATTGEFUNDEN HÄTTEN? Dirk: Die Ursprünge dieser Gemeinde hat ein Pfarrer in den 50er Jahren gelegt. Er hat den CVJM gegründet, damit wurde die Gemeinde missionarisch und biblisch – das war ganz wichtig. Beim CVJM sind heute unsere Kinder- und Jugendreferenten angestellt, das hätte die westfälische Kirche nicht gemacht. Wir haben lange dafür gebetet, dass von unserer Gemeinde Leute rausgehen und haben erlebt, dass in den letzten Jahren jedes Jahr drei bis fünf Leute nach der Schule oder Ausbildung ein missionarisches Jahr gemacht haben. Das verändert auch die Gemeinde, verändert den Horizont. Claudia: Durch die „Stiftung Lichtblick“ – gegründet von engagierten Leuten aus unserer Gemeinde - wurden wir auch in der politischen Gemeinde bekannt. Der Winterspielplatz, das Weihnachtsmusical, Koch- und Spielbus. Dirk: Hinter dem Wachstum liegt auch ein Geheimnis, das wir nicht wussten: Dieser Pfarrer (Kurt Alfred Paschen), der den CVJM gegründet hat, hat immer um Erweckung für diese Gemeinde gebetet; der hat die Mitarbeiter damit aufgeregt, 80 A U FA TMEN | WIN TER 2 0 1 5 Die ELK Nierenhof gehört zur Westfälischen Landeskirche, die auch die Kosten für eine Pfarrstelle bezahlt. Infrastruktur: U-förmige Anlage, Kirche von 1934, angeschlossenes Gemeindehaus mit Büro- und Gruppenräumen, Pfarrhaus und Mehrzweckhalle (bestehend aus einer Turnhalle, Jugendraum, Büros), eingeweiht 2006. Die Mehrzweckhalle wird samstags für den Gottesdienst hergerichtet und anschließend wieder zurückgebaut. Hauptamtliche: Neben der Pfarrstelle werden 200 % Stellenprozente über Spenden finanziert (Kinderreferentin und Jugendreferent je 50%, plus 100% für beides). Dazu eine Sekretärin mit 18 Stunden. Jährliches Budget: 200.000,- Euro (ohne Pfarrstelle). Gottesdienst: Sonntags 10 Uhr, dreimal pro Jahr „Komma“-Gästegottesdienst um 11 Uhr. Gottesdienstbesucher aus allen Generationen: 400, Gemeindemitglieder: 2000. Wichtige Angebote: Sport (Fußball, Basketball, Badminton, Kletterwand) Winterspielplatz, CVJM, Weihnachtsmusical für Kinder, Freizeiten, Beteiligung mit Partner „Stiftung Lichtblick“ an Kochund Spielebus, Mentoring für Jugendliche. Motto: Bei Jesus ein Zuhause finden! Webseite: www.kirche-nierenhof.de dass er fast jedes Gebet mit der Bitte um Erweckung abgeschlossen hat. Ein Freund hat mir mal erzählt: „Weißt du eigentlich, was der gebetet hat und dass seine Gebete erhört wurden?“ Dass dieser vorbereitete Boden hier war, das wussten wir nicht. Und nicht zu vergessen: Die Pfarrersfrauen – im Grunde haben wir die Arbeit zusammen gemacht, meine Frau Claudia war bis vor einem Jahr ehrenamtlich voll engagiert. Claudia: Ohne die ehrenamtlichen Mitarbeiter wäre überhaupt nichts möglich. Wir haben viele sehr begabte Mitarbeiter, die ihre Gaben gerne einbringen, das ist ein solcher Segen! Zu unserem Presbyterium gehören Männer und Frauen, die Jesus aus ganzem Herzen nachfolgen. Wichtige Entscheidungen werden einmütig getroffen. Dirk: Ohne Gebet wäre es auch nicht so geworden. Es gibt seit 21 Jahren einen Männergebetskreis am Dienstag morgen um sechs Uhr. Es gibt mehrere und andere Gebetskreise. Vor wichtigen Entscheidungen beten wir, damit wir von Gott den richtigen Weg gezeigt bekommen. Und: Diese Gemeinde – und das war auch vor uns schon so – ist sehr gastfreundlich. Die Türen standen immer weit auf. Ohne diese Einstellung hätte es kein Wachstum gegeben. 1997 und 2000 hatten wir Pro Christ in der Kirche, dann Pro Christ regional mit Ulrich Parzany – es sind jedes Mal Menschen zum Glauben gekommen, viele. Beim zweiten Mal in der Kirche wussten wir fast nicht, wie wir die Leute weiter begleiten konnten, das war beinahe wie eine Erweckungsveranstaltung. 6. WAS WÜRDEN SIE IM RÜCKBLICK ANDERS MACHEN? Dirk: Ich sage es mal positiv: Die Veränderungsprozesse sind allmählich abgelaufen. Nicht so, dass wir gesagt haben: Heute machen wir es ganz anders. Und das würde ich genauso wieder machen! Wir haben zwar einige Mitarbeiter verloren, aber ganz wenige. Für wichtige Entscheidungen müssen wir eine Einmütigkeit haben. Keine Kampfabstimmungen. Mit wesentlichen Entscheidungen also Zeit lassen, manchmal hieß es: „Dann eben erst bei der nächsten Sitzung.“ Das hat uns manchmal schon gequält, dass es langsamer ging, aber wir haben es trotzdem richtig gemacht und gewartet, bis alle dafür waren. Claudia: In die Mentoringarbeit, diese intensive Begleitung junger Menschen, da würden wir aus heutiger Sicht wohl schon viel früher investieren, das würden wir heute anders machen. ◀
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