Print http://fazarchiv.faz.net/document/iframePrint Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2015, Nr. 66, S. 8 Bald ohne Geschichte? Neue Rahmenlehrpläne in Berlin und Brandenburg wollen Schulfächer zusammenlegen / Von Heike Schmoll BERLIN, im März Unter Berlins Geschichts- und Gymnasiallehrern herrscht Aufruhr. Denn gemeinsam mit Brandenburg will Berlin den Geschichtsunterricht als eigenständiges Fach in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe abschaffen. Das geht aus neuen Rahmenlehrplänen für die Klassenstufen eins bis zehn (Geschichte nur Klasse 5 bis 10) hervor, die im November vergangenen Jahres ins Internet gestellt wurden. Seither läuft ein Anhörungsverfahren, das Ende März enden soll. Für diesen Donnerstag ist eine Anhörung im Abgeordnetenhaus angesetzt. Berlin und Brandenburg wollen, wie viele andere Bundesländer, in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe ein neues Mischfach Gesellschaftswissenschaften einführen; in ihm sollen Geschichte, Erdkunde und Politische Bildung aufgehen. In BadenWürttemberg gibt es in den - immerhin noch schulformbezogenen - Lehrplänen ein ähnliches Mischfach, das in jeder Schulart aber anders heißt. Die Berliner Senatsverwaltung erhofft sich von der neuen Fächerkombination eine Stärkung des ursprünglich aus drei Fächern bestehenden Bereichs. Das wird allein deshalb nicht geschehen, weil die Schüler die einzelnen Fächer nicht mehr unterscheiden können, geschweige denn Grundlagen historischen Denkens lernen. Die obligatorischen Themen sprechen Bände. Pflicht sollen sein: Ernährung (Wie werden Menschen satt?), Wasser - für jedermann?, Stadt und städtische Vielfalt, Europa, Tourismus und Mobilität sowie Demokratie und Mitbestimmung; hinzu kommen Wahlthemen wie Religionen in der Gesellschaft, Medien, Vielfalt in der Gesellschaft, Mode und Konsum. Von Geschichte wird nicht viel übrig bleiben. Die Geschichtslehrer in Berlin und Brandenburg stören sich an weiteren Vorgaben des Rahmenlehrplans. In Klasse 7 und 8 soll künftig ausschließlich mit dem Längsschnittverfahren unterrichtet werden, obwohl in den Klassen 5 und 6 dazu keine 1 von 3 04.10.15 10:49 Print http://fazarchiv.faz.net/document/iframePrint Grundlagen geschaffen werden. Auch Themen wie Armut und Reichtum sowie Migration, Flucht und Vertreibung sollen fächerübergreifend mit Erdkunde und Politischer Bildung unterrichtet werden. Ferner sollen Wahlthemen nur im Längsschnittverfahren unterrichtet werden, also nie chronologisch. "Chronologie ist aber der Geschichte wesenseigen", sagt Peter Stolz vom Fachverband der Berliner Geschichtslehrer. Die Schüler stehen vor der unlösbaren Aufgabe, Fachkenntnisse fächerübergreifend zu verbinden, ohne jemals die Fächer kennengelernt zu haben. Dazu passt, dass für die Jahrgangsstufe 7 bis 10 als wichtigstes Lernziel genannt wird, historische Werturteile und Wertmaßstäbe zu entwickeln - und das auf der Grundlage der Menschenrechte. Außerdem sollen die Schüler historische Sachverhalte "nachprüfbar" zu einer Darstellung verbinden "sowie sinnhaft auf- und erzählen" können. Wie soll das ohne grundlegende Kenntnisse gehen? Martin Lücke, der an der Freien Universität Geschichtslehrer ausbildet, unterstützt die neuen Pläne. Er sagt, in Geschichte behandelten Längsschnitte Themen, die in der heutigen Lebenswelt der Schüler angesiedelt seien; das motiviere die Kinder und Jugendlichen. Er hält den bisherigen Ansatz im Geschichtsunterricht für wenig erfolgreich. Unter den Geschichtslehrern sei der Widerstand deshalb so groß, weil die neuen Rahmenlehrpläne mit einer Konvention brächen, hinter der die Vorstellung stecke, dass es "die Geschichte" überhaupt gebe, sagt Lücke. Als ihm aufgebrachte Geschichtslehrer bei einer Diskussion vorgeworfen haben, mit Längsschnitten werde kein Basiswissen vermittelt, entgegnete er, ihm sei kein Katalog von Basiswissen bekannt. Geschichtslehrer, vor allem aus den Gymnasien, wehren sich dagegen, dass ihnen vorgeschrieben wird, in den Klassenstufen 7 und 8 nicht chronologisch zu unterrichten, in der neunten und zehnten Klasse aber wieder chronologisch. Dabei dürften Längsschnitte allenfalls in der Oberstufe angebracht sein, wenn die Schüler bereits einen Überblick über bestimmte Schlüsselereignisse haben. Künftig wird es in Berlin und Brandenburg in der neunten Klasse nicht wenige Schüler geben, die weder etwas von Französischer Revolution gehört haben noch von Aufklärung, obwohl sie gerade in Berlin und Brandenburg von den Wirkungen beider Ereignisse umgeben sind. Neben den Geschichtslehrern erheben auch die Mathematiklehrer Einwände gegen die neuen Rahmenlehrpläne. Der Landesmusikrat in Berlin protestiert dagegen, in den Jahrgangsstufen 7 bis 10 Musik, Bildende Kunst und Darstellendes Spiel zu einem Lernbereich Künste zusammenzulegen, wo doch Baden-Württemberg und Hamburg ein ähnliches Mischfach wegen negativer Erfahrungen gerade abgeschafft hätten. 2 von 3 04.10.15 10:49 Print http://fazarchiv.faz.net/document/iframePrint Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte für F.A.Z.-Inhalte erwerben Sie auf www.faz-rechte.de 3 von 3 04.10.15 10:49
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