Dr. Robert D. Hare Gewissenlos Die Psychopathen unter uns Copyright © 1993 Robert D. Hare, PhD Published by arrangement with The Guilford Press, New York ISBN-10 3-21 1-25287-8 SpringerWienNewYork ISBN-13 978-3-211-25287-1 SpringerWienNewYork Übersetzt von Karsten Petersen Im Gedenken an meine Eltern Yvonne und Henry, meine Schwester Charmaine Wir fühlen uns zugleich abgestoßen und fasziniert von kaltblütigen, gewissenlosen Mördern, die uns täglich in den Medien begegnen. Serienmörder sind nur die schockierendsten Beispiele von Psychopathen. Individuen mit dieser Persönlichkeitsstörung sind sich der Konsequenzen ihrer Handlungen vollauf bewußt – sie unterscheiden zwischen Gut und Böse und sind doch erschreckend egozentrisch und völlig unfähig, auf Gefühle ihrer Mitmenschen Rücksicht zu nehmen. Ihren arglosen Opfern erscheinen sie oft als völlig normal. Robert Hare präsentiert eine fesselnde Welt von Trickbetrügern, Schnorrern, Vergewaltigern und Räubern, die sich mit Charme, Lüge und Manipulation eine Schneise durchs Leben bahnen. Sind Psychopathen verrückt oder einfach nur böse? Wie können wir sie erkennen? Und wie können wir uns vor ihnen schützen? Der renommierteste Forscher zur Psychopathie hat präzise Erkenntnisse mit fesselnden Fallbeispielen verwoben. Ein beeindruckendes Buch: spannend zu lesen und doch wissenschaftlich fundiert. J. Monahan, University of Virginia Robert D. Hare, ein. Professor für Psychologie in Vancouver, Kanada, ist der weltweit führende Experte für Psychopathie. Er entwickelte die Psychopathie-Checkliste, die sich als das StandardTestinstrument in Forschung und klinischer Praxis durchgesetzt hat. Dr. Hare hat zwei Bücher und zahlreiche Artikel über Psychopathie verfaßt. 2 Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung ....................................................................................................................................... 6 Vorwort ....... ............................................................................................................................................ 7 0 Einführung: Das Problem ........................................................................................................ 10 1 Begegnungen mit Psychopathen ........................................................................................... 14 1.1 1.2 1.3 2 Das Bild wird klarer ................................................................................................................. 23 2.1 2.2 2.3 2.4 3 23 24 25 28 Die wichtigsten Symptome der Psychopathie ............................................................ Ein Warnhinweis ............................................................................................................. Heuchlerisch und oberflächlich .................................................................................... Egozentrisch und grandios ............................................................................................ Mangel an Reue oder Schuldbewußtsein .................................................................... Mangel an Einfühlungsvermögen ................................................................................. Hinterlistig und manipulativ .......................................................................................... Flaches Gefühlsleben ..................................................................................................... 31 31 32 34 36 38 40 44 Das Profil: Der Lebensstil ....................................................................................................... 47 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 5 Weitere Aspekte der Frage ............................................................................................ Einige Fachbegriffe ........................................................................................................ Ein historischer Überblick ............................................................................................. Wie erkennt man einen »echten« Psychopathen? ...................................................... Das Profil: Gefühle und Beziehungen ................................................................................. 31 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 4 Ray .................................................................................................................................... 15 Elsa und Dan ................................................................................................................... 19 Die Zwillinge ................................................................................................................... 20 Impulsiv ........................................................................................................................... Unbeherrscht .................................................................................................................... Sucht den »Kick« ............................................................................................................ Verantwortungslos .......................................................................................................... Verhaltensstörungen im Kindesalter ............................................................................ Gestörtes Sozialverhalten als Erwachsener ................................................................. Das ganze Bild ................................................................................................................ 47 48 49 50 53 54 54 Selbstbeherrschung: Der fehlende Faktor .......................................................................... 56 5.1 5.2 5.3 5.4 Regelverstöße .................................................................................................................. Sie sind wählerisch ......................................................................................................... Psychokino ....................................................................................................................... Rebell ohne Ziel .............................................................................................................. 3 58 60 61 62 6 Verbrechen: Die logische Entscheidung ............................................................................. 63 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 7 Heuchler ........................................................................................................................... Die Schwachen im Visier .............................................................................................. Das Naheliegende tun .................................................................................................... Subkriminelle Psychopathen ......................................................................................... Ein Psychopath im Unternehmen ................................................................................. Ergiebige Jagdgründe ..................................................................................................... Sie sind talentiert ............................................................................................................ 79 81 81 83 85 87 88 Worte aus der Manteltasche ................................................................................................... 91 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 9 65 66 66 69 70 71 72 73 Psychopathen im Geschäftsleben .......................................................................................... 76 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 8 Die Formel für Verbrechen ........................................................................................... Leben für den Moment ................................................................................................... Psychopathische Gewalt – kaltblütig und zufällig ..................................................... Sexuelle Gewalt .............................................................................................................. Der Psychopath als prügelnder Ehemann .................................................................... Die Nagelprobe: Können wir ihr Verhalten vorhersagen? ........................................ Bessern sie sich, wenn sie älter werden? ..................................................................... Die höchste Punktzahl .................................................................................................... Wer hat das Kommando? ............................................................................................... 93 Hohle Worte .................................................................................................................... 93 Unterhalb der emotionalen Armutsgrenze .................................................................. 97 Ihre Gestik ........................................................................................................................ 98 Gebrochene Wahrheiten ................................................................................................ 99 Wo war ich stehengeblieben? ..................................................................................... 100 Heißt das also, daß sie verrückt sind? ........................................................................ 103 Fliegen im Spinnennetz ......................................................................................................... 104 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 Bühne frei! ..................................................................................................................... Knöpfe ............................................................................................................................ Tödliche Anziehung ..................................................................................................... Verzerrung der Realität ................................................................................................ Welche Möglichkeiten haben wir? ............................................................................. 104 106 107 109 110 10 Die Wurzeln des Problems ................................................................................................... 111 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9 10.10 10.11 10.12 Junge Psychopathen ..................................................................................................... Verhaltensstörungen bei Heranwachsenden und Psychopathie ............................. Eine schwierige Herausforderung: Wie soll man reagieren? .................................. Jason ............................................................................................................................... Verbrechen und Gewalt ............................................................................................... Ursachen ......................................................................................................................... Anlage ............................................................................................................................ Umwelt ........................................................................................................................... Bezaubernde, schaurige Tess ...................................................................................... Ein interaktives Modell: Anlage und Umwelt .......................................................... Die Gesellschaft als Tarnung ...................................................................................... »Was habe ich falsch gemacht?« ................................................................................ 4 112 113 114 115 116 118 118 121 121 123 124 126 11 Die Ethik der Diagnose .......................................................................................................... 128 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 Nur die Bewährungskommission war überrascht ..................................................... Die Macht der Diagnose .............................................................................................. Ferndiagnose ................................................................................................................. Vorhang auf für »Dr. Death« ...................................................................................... Ein Werkzeug ist nur so gut wie sein Benutzer ........................................................ 129 130 131 132 134 12 Was kann man tun? ................................................................................................................. 136 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7 Warum nichts zu funktionieren scheint ..................................................................... Therapie kann ihr Verhalten verschlimmern ............................................................ Junge Psychopathen ..................................................................................................... Noch ein ernüchternder Gedanke ............................................................................... Sollten wir einfach aufgeben? ..................................................................................... Elemente eines neuen Programms .............................................................................. Wenn nichts funktioniert, was dann? ......................................................................... 138 140 141 142 142 144 145 13 Überlebenshilfe ........................................................................................................................ 146 13.1 13.2 Schützen Sie sich .......................................................................................................... 146 Schadensbegrenzung .................................................................................................... 150 Nachwort ............................................................................................................................................. 154 Fußnoten .............................................................................................................................................. 155 Bibliographie der in deutscher Übersetzung erschienenen Titel ........................................ 165 5 Vorbemerkung Psychopathie ist eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine ausgeprägte Kombination von Verhaltensweisen und daraus gefolgerten Charaktereigenschaften definiert wird. Die meisten dieser Eigenschaften werden von der Gesellschaft als negativ angesehen; daher ist es keine Bagatelle, jemanden als Psychopathen zu diagnostizieren. Wie bei jeder psychiatrischen Störung basiert die Diagnose auf zusammengetragenen Indizien dafür, daß eine Person zumindest die Minimalkriterien der Persönlichkeitsstörung erfüllt. Bei Fällen aus meinen eigenen Akten sind die jeweiligen Personen sorgfältig auf der Basis umfangreicher Informationen aus Interviews und den Akten diagnostiziert worden. Allerdings habe ich diese Personen durch die Veränderung von Einzelheiten und das Entfernen von Identifikationsmerkmalen unkenntlich gemacht, ohne jedoch die zu treffende Aussage zu verfälschen. Wenn auch das Thema dieses Buches Psychopathie ist, so sind doch nicht alle hier beschriebenen Personen Psychopathen. Viele der verwendeten Beispiele stammen aus öffentlich zugänglichen Berichten, den Nachrichtenmedien und persönlichen Gesprächen, und ich kann nicht sicher sein, daß die jeweils in Frage stehenden Personen Psychopathen sind, selbst wenn sie von anderen so bezeichnet worden sind. In jedem Falle stehen aber die belegten Aussagen über einen Verhaltensaspekt der jeweiligen Person mit dem Konzept der Psychopathie in Einklang, oder sie illustrieren einen für die Persönlichkeitsstörung zentralen Charakterzug oder ein typisches Verhalten. Solche Personen könnten Psychopathen sein oder auch nicht. Aber die Berichte über ihr Verhalten sind ein nützliches Vehikel, um die verschiedenen Eigenschaften und Verhaltensweisen zu erörtern, die Psychopathie definieren. Der Leser sollte aber keinesfalls aus dem Kontext, in dem eine Person in diesem Buch dargestellt wird, den Schluß ziehen, daß diese Person psychopathisch ist. 6 Vorwort Psychopathen sind soziale Raubtiere, die sich mit Charme und Manipulation skrupellos ihren Weg durchs Leben pflügen und eine breite Schneise gebrochener Herzen, enttäuschter Erwartungen und geplünderter Brieftaschen hinter sich lassen. Ein Gewissen und Mitgefühl für andere Menschen fehlt ihnen völlig, und so nehmen sie sich selbstsüchtig, was sie begehren und machen, was sie wollen. Dabei mißachten sie gesellschaftliche Normen und Erwartungen ohne jegliches Schuldbewußtsein oder Reuegefühl. Ihre fassungslosen Opfer fragen sich verzweifelt, »Wer sind diese Menschen?«, »Was hat sie zu dem gemacht, was sie sind?« und »Wie können wir uns schützen?«. Wenn auch diese und ähnliche Fragen seit mehr als hundert Jahren im Brennpunkt klinischer Mutmaßungen und empirischer Forschungen – und meiner eigenen Arbeit seit einem Vierteljahrhundert – stehen, ist es erst in den letzten Jahrzehnten gelungen, den Schleier um das tödliche Rätsel der Psychopathie ein wenig zu lüften. Als ich mich bereiterklärt habe, dieses Buch zu schreiben, wußte ich, daß es schwierig sein würde, wissenschaftliche Daten und Überlegungen allgemeinverständlich zu präsentieren. Ich hätte bequem in meinem akademischen Elfenbeinturm bleiben können, um tiefschürfende Diskussionen mit anderen Forschern zu führen und wissenschaftliche Bücher und Artikel zu schreiben, aber die Allgemeinheit ist in den letzten Jahren in dramatisch zunehmendem Maße den Machenschaften und Verheerungen von Psychopathen ausgesetzt gewesen. Die Nachrichtenmedien sind voll von spektakulären Berichten über Gewaltverbrechen, Finanzskandale und Verletzungen des öffentlichen Vertrauens. Zahllose Spielfilme und Bücher erzählen die Geschichten von Serienmördern, Betrügern und Mitgliedern der organisierten Kriminalität. Wenn auch viele dieser Berichte und Darstellungen von Psychopathen handeln, trifft das bei vielen anderen nicht zu, und dieser wichtige Unterschied ist den Nachrichtenmedien, der Unterhaltungsindustrie und der Öffentlichkeit oft nicht klar. Selbst die Akteure der Strafjustiz – Rechtsanwälte, Kriminalpsychiater und -psychologen, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Polizisten, Vollzugsbeamte –, deren Arbeit sie täglich mit Psychopathen in Berührung bringt, haben oft nur ein geringes praktisches Wissen darüber, mit welcher Art von Menschen sie es zu tun haben. Die fehlende Unterscheidung zwischen Straftätern, die Psychopathen sind und solchen, die es nicht sind, hat bittere Konsequenzen für die Gesellschaft, wie dieses Buch zeigen wird. Auf einer privateren Ebene ist es sehr wahrscheinlich, daß Sie eines Tages eine schmerzhafte Begegnung mit einem Psychopathen haben werden. Für Ihr eigenes leibliches, psychisches und finanzielles Wohl ist es entscheidend, daß Sie wissen, wie man einen Psychopathen erkennt und wie Sie sich schützen und den Ihnen zugefügten Schaden begrenzen können. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Literatur über Psychopathie ist technisch, abstrakt und schwer verständlich für Menschen, die keine Vorkenntnisse der Verhaltenswissenschaften haben. Mein Ziel war es, diese Literatur so zu übersetzen, daß sie nicht nur der Allgemeinheit, sondern auch dem Personal des Strafvollzugs und der Psychiatrie zugänglich wird. Ich habe versucht, theoretische Fragen und Forschungsergebnisse nicht zu sehr zu vereinfachen und den Stand unserer Erkenntnisse nicht zu optimistisch darzustellen. Ich hoffe, daß Leser, deren Interesse geweckt ist, anhand der Fußnoten tiefer in die Materie einsteigen werden. Der wissenschaftliche Anstrich dieses Buches reflektiert meinen Hintergrund in experimenteller Psychologie und kognitiver Psychophysiologie. Mancher Leser wird enttäuscht feststellen, daß ich der Abhandlung psychodynamischer Fragen wie unbewußter Prozesse und Konflikte, Abwehrmechanismen, etc. nur wenig Raum gewidmet habe. Obwohl in den letzten fünfzig Jahren zahlreiche Bücher und Hunderte von Artikeln über die Psychodynamik der Psychopathie geschrieben worden sind, haben sie meines Erachtens nur wenig zu unserem Verständnis der Persönlichkeitsstörung beigetragen. Das 7 liegt zum großen Teil daran, daß die meisten psychodynamischen Betrachtungen über Psychopathie eine betuliche Qualität haben und die Argumentation sich oft im Kreise dreht; daher sind sie für empirische Untersuchungen nicht sonderlich geeignet. Allerdings hat es kürzlich Versuche gegeben, psychodynamische Spekulationen über Psychopathie mit den Theorien und Verfahren der Verhaltenswissenschaften in Einklang zu bringen. Einige Ergebnisse dieser Arbeit sind interessant und werden, soweit relevant, in diesem Buch erörtert. Im Laufe der Jahre bin ich mit einem beständigen Strom hervorragender Studenten und Assistenten gesegnet gewesen. Unser Verhältnis war stets zum beiderseitigen Nutzen: Ich kann ihnen Führung und eine förderliche Umgebung bieten, während sie die neuen Ideen, die Kreativität und den Enthusiasmus beisteuern, die notwendig sind, um ein Forschungslabor vital und produktiv zu erhalten. Ihre Beiträge zeigen sich darin, daß sie oft die verantwortlichen Autoren der aus meinem Labor stammenden Veröffentlichungen sind. Insbesondere bin ich Stephen Hart, Adelle Forth, Timothy Harpur, Sherrie Williamson und Brenda Gillstrom zu Dank verpflichtet, die alle einen großen Einfluß auf mein Denken und meine Forschungen des letzten Jahrzehnts gehabt haben. Unsere Studien sind durch Stiftungen der »Medical Research Council of Canada«, des »The MacArthur Research Network on Mental Health and the Law« und der »British Columbia Health Research Foundation« unterstützt worden. Die meisten dieser Studien sind in Anstalten durchgeführt worden, die vom »Correctional Service of Canada« betrieben werden. Ich danke den Insassen und dem Personal dieser Anstalten für ihre Mitwirkung. Um die Identitäten der Insassen, die an den Studien teilgenommen haben, zu schützen, habe ich die Umstände der einzelnen Fälle verändert oder mehrere Fälle zusammengefaßt. Ich bedanke mich bei Judith Regan dafür, daß sie mich darin bestärkt hat, dieses Buch zu schreiben. Ich danke Suzanne Lipsett für ihre Hilfe dabei, aus wissenschaftlichem Material lesbare Prosa zu machen. Meine Lebenssicht ist von Mut, Zielstrebigkeit und Noblesse meiner Tochter Cheryl und meiner Schwester Noelle stark beeinflußt worden. In besonderer Schuld stehe ich bei meiner Frau und besten Freundin Averil, die – trotz einer eigenen, anspruchsvollen beruflichen Laufbahn – irgendwie die Zeit und Kraft gefunden hat, meine Arbeit aktiv zu unterstützen und zu fördern. Dank ihrer Warmherzigkeit, ihres Urteilsvermögens und ihrer Klugheit habe ich mich über all die Jahre glücklich, geborgen und geistig gesund gefühlt. 8 Gute Menschen sind nur selten mißtrauisch: Sie können sich nicht vorstellen, daß jemand etwas tut, wozu sie selbst nicht imstande wären; für gewöhnlich akzeptieren sie die unspektakuläre Lösung als die beste und lassen damit die Dinge auf sich beruhen. Dazu kommt, daß ein normaler Mensch dazu neigt, sich einen Psychopathen als jemanden vorzustellen, dessen Erscheinung ebenso monströs ist wie seine Psyche – aber kaum etwas könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. ... Diese Monster des Alltags hatten für gewöhnlich ein normaleres Aussehen und Verhalten, als ihre tatsächlich normalen Brüder und Schwestern; sie präsentierten ein überzeugenderes Bild der Tugend als die Tugend selbst – ähnlich der wächsernen Blüte einer Rose oder dem künstlichen Pfirsich, die dem Auge viel perfekter erscheinen als das mit Makeln behaftete Original, nach dessen Vorbild sie modelliert worden sind. William March, THE BAD SEED 9 0 Einführung: Das Problem Vor einigen Jahren habe ich gemeinsam mit zwei Doktoranden eine Studie an eine Fachzeitschrift zur Veröffentlichung eingereicht. Sie beschrieb ein Experiment, das mit Hilfe eines medizinischen Meßwertschreibers die Hirnströme von mehreren Gruppen erwachsener, männlicher Probanden aufzeichnete, die eine Sprachaufgabe bearbeiteten. Die Hirnströme wurden als eine Reihe von Kurven auf Papier dargestellt; ein solches Diagramm ist auch als Elektroenzephalogramm (EEG) bekannt. Der zuständige Redakteur hat uns die Arbeit mit Bedauern zurückgeschickt. Zur Begründung sagte er uns: »Offen gesagt fanden wir einige der abgebildeten Hirnstrom-Kurven sehr seltsam. Diese EEGs können eigentlich nicht von wirklichen Menschen stammen.« Einige der Hirnstrom-Aufzeichnungen waren tatsächlich merkwürdig, aber sie stammten nicht von Außerirdischen, und natürlich hatten wir die Daten nicht gefälscht. Sie stammten von einer Klasse von Menschen, die in jeder Rasse, Kultur, Gesellschaft und sozialen Schicht vorkommt. Jedermann ist solchen Menschen schon begegnet, ist getäuscht und manipuliert worden und war gezwungen, mit dem so angerichteten Schaden zu leben oder ihn zu reparieren. Für solche Menschen – häufig charmant, aber stets tödlich – gibt es eine klinische Bezeichnung: Psychopathen. Ihr Markenzeichen ist eine verblüffende Gewissenlosigkeit, ihr Spiel ist die Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf Kosten anderer. Viele von ihnen – aber durchaus nicht alle – landen im Gefängnis. Alle nehmen sie viel mehr als sie geben. Dieses Buch setzt sich direkt mit Psychopathie auseinander und beschreibt dieses beunruhigende Thema als das, was es ist – ein finsteres Rätsel mit erschütternden Auswirkungen für die Gesellschaft; ein Rätsel, dessen Lösung sich endlich anbahnt, nach Jahrhunderten der Spekulation und Jahrzehnten psychologischer Feldforschung. Die Dimension des Problems erschließt sich, wenn man bedenkt, daß es mindestens zwei Millionen Psychopathen in Nordamerika gibt. Unter den Einwohnern von New York City gibt es mindestens 100.000 Psychopathen. Und dies sind vorsichtige Schätzungen. Psychopathie ist weit davon entfernt, ein esoterisches, vereinzeltes Problem zu sein, das nur einige wenige von uns beeinträchtigt; nein, wir sind fast alle davon betroffen. Psychopathie ist in unserer Gesellschaft etwa so verbreitet wie Schizophrenie, eine verheerende Geisteskrankheit, die herzzerreißendes Leid für den Patienten und seine Angehörigen mit sich bringt. Die Schmerzen und die Verzweiflung, die von Schizophrenie verursacht werden, sind allerdings unbedeutend im Vergleich zu der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verwüstung, die von Psychopathen angerichtet wird. Sie fischen mit einem großen Netz, in dem fast jedermann sich auf die eine oder andere Art verfängt. Der auffälligste – aber keineswegs einzige – Ausdruck von Psychopathie besteht in abscheulichen und kriminellen Verletzungen der gesellschaftlichen Regeln. Es ist nicht überraschend, daß viele Psychopathen Verbrecher sind; vielen von ihnen gelingt es allerdings, dem Gefängnis zu entgehen. Mit Charme und chamäleonartiger Anpassungsfähigkeit schlagen sie eine breite Schneise der Verwüstung durch die Gesellschaft und lassen zerstörte Leben hinter sich. Zusammengesetzt ergeben die Einzelteile des Puzzles das Bild einer egozentrischen, gefühllosen und brutalen Persönlichkeit ohne jegliches Mitgefühl, unfähig, warmherzige Gefühlsbindungen einzugehen, eines Menschen, der ohne die Instanz eines Gewissens »funktioniert«. Man muß feststellen, daß in diesem Bild genau jene Qualitäten fehlen, die es uns ermöglichen, in gesellschaftlicher Harmonie zusammenzuleben. 10 Es ist kein schönes Bild, und gelegentlich wird bezweifelt, daß es solche Menschen gibt. Um solche Zweifel zu zerstreuen, muß man nur einige der in letzter Zeit immer häufiger in unserer Gesellschaft auftretenden, dramatischen Beispiele von Psychopathie betrachten. Dutzende von Büchern, Spielfilmen, Fernsehberichten, Hunderte von Zeitungsartikeln und Schlagzeilen erzählen die Geschichte: Die Menschen, über die in den Medien berichtet wird, sind zu einem großen Teil Psychopathen – Serienmörder, Vergewaltiger, Diebe, Schwindler, Betrüger, gewalttätige Ehemänner, Wirtschaftskriminelle, Anlagebetrüger, gewissenlose Aktienhändler, Kinderschänder, Bandenmitglieder, Rechtsanwälte und Ärzte, denen die Zulassung entzogen wurde, Drogenbarone, Mitglieder der organisierten Kriminalität, Terroristen, Sektenführer, Söldner und skrupellose Geschäftsleute. Liest man die Zeitungen aus diesem Blickwinkel, springen einem Hinweise auf das Ausmaß des Problems förmlich von den Seiten entgegen. Die dramatischsten Fälle sind jene kaltblütigen, gewissenlosen Mörder, die den Leser gleichzeitig abstoßen und faszinieren. Es folgt eine kleine Auswahl von Hunderten von Fällen, von denen viele verfilmt worden sind: ¾ John Gacy, ein Bauunternehmer aus Des Plaines, Illinois, war von der Handelskammer zum »Mann des Jahres« gewählt worden. Er pflegte den »Clown Pogo« für kleine Kinder zu spielen und ließ sich mit Präsident Carters Gattin Rosalynn fotografieren. Er hat in den Siebzigern 32 junge Männer ermordet und die meisten ihrer Leichen unter seinem Haus vergraben.1 ¾ Charles Sobhraj, ein in Saigon geborener Franzose, den sein Vater als »Zerstörer« bezeichnet hat, wurde ein Hochstapler, Schmuggler, Zocker und Mörder, der in den Siebzigern eine breite Spur von geleerten Brieftaschen, verwirrten Frauen, durch Drogen betäubte Touristen und Leichen quer durch Südostasien gelegt hat.2 ¾ Jeffrey MacDonald war Feldarzt bei den »Green Berets«, einer Spezialeinheit der US-Streitkräfte. Er hat 1970 seine Frau und seine beiden Kinder ermordet und behauptet, Drogensüchtige hätten die Verbrechen begangen. Buch und Film FATAL VISION erzählen seine Geschichte.3 ¾ Gary Tison war ein verurteilter Mörder, dem es meisterhaft gelang, die Justiz zu manipulieren. 1978 ist er mit Hilfe seiner drei Söhne aus einem Gefängnis in Arizona entflohen und hat eine grausige Mordserie begangen, die sechs Menschen das Leben kostete.4 ¾ Kenneth Bianchi war einer der »Hillside Stranglers«, die in den späten Siebzigern bei Los Angeles ein Dutzend Frauen vergewaltigt, gefoltert und ermordet haben. Er hat seinen Vetter und Komplizen Angelo Buono an die Polizei verraten und mehrere Sachverständige davon überzeugt, eine multiple Persönlichkeit zu sein und daß sein Alter Ego »Steve« seine Verbrechen begangen hätte.5 ¾ Richard Ramirez war ein satanistischer Serienmörder, der unter dem Namen »Night Stalker« bekannt wurde und sich selbst voller Stolz als »böse« bezeichnet hat. Er ist 1987 überführt worden, dreizehn Morde und dreißig andere Verbrechen begangen zu haben, darunter Raub, Einbruch, Vergewaltigung, Sodomie, orale Vergewaltigung und versuchter Mord.6 ¾ Diane Downs hat ihre eigenen Kinder erschossen, um für einen Mann, der keine Kinder haben wollte, attraktiver zu erscheinen; später hat sie sich selbst als das wahre Opfer dargestellt.7 ¾ Ted Bundy, der »All-American« Serienmörder, war für die Ermordung einiger Dutzend junger Frauen in den Mittsiebzigern verantwortlich; er machte geltend, zu viele pornographische Bücher gelesen zu haben und behauptete, eine »böse 11 Macht« hätte Besitz von ihm ergriffen. Er wurde vor kurzem in Florida hingerichtet.8 ¾ Clifford Olson war ein kanadischer Serienmörder, dem es gelang, die Regierung dazu zu bewegen, ihm 100.000 Dollar dafür zu bezahlen, daß er den Ermittlungsbehörden die Stelle zeigte, wo er seine Opfer vergraben hatte. Er ist um anhaltende Medienpräsenz sehr bemüht.9 ¾ Joe Hunt war ein redegewandter Manipulator, der sich in den frühen Achtzigern ein betrügerisches Anlagemodell für die Sprößlinge reicher Eltern (auch bekannt als der »Billionaire Boys Club«) in Los Angeles ausgedacht hat. Er hat wohlhabenden Leuten das Geld aus der Tasche gelockt und war in zwei Mordfälle verwickelt.10 ¾ William Bradfield war ein eloquenter Lehrer für klassische Literatur, der überführt wurde, eine Kollegin und ihre beiden Kinder getötet zu haben.11 ¾ Ken McElroy trieb jahrelang sein Unwesen. Er »beraubte, vergewaltigte, verbrannte, erschoß ... und verstümmelte die Einwohner von Skidmore, Missouri, ohne Gewissen oder Reue« – bis er schließlich 1981 in Gegenwart von 45 Menschen erschossen wurde.12 ¾ Colin Pitchfork war ein englischer Exhibitionist, Vergewaltiger und Mörder, der erste, der durch seinen »genetischen Fingerabdruck« überführt wurde.13 ¾ Kenneth Taylor war ein Zahnarzt und Schürzenjäger in New Jersey. Er hat seine erste Frau verlassen und versucht, seine zweite Frau umzubringen, schlug 1983 seine dritte Frau während ihrer Hochzeitsreise grün und blau, prügelte sie im Jahr darauf zu Tode und besuchte mit der Leiche im Kofferraum seines Autos seine Eltern und seine zweite Frau. Später hat er behauptet, er hätte seine Frau in Notwehr getötet – sie sei auf ihn losgegangen, nachdem er »entdeckt« hätte, daß sie ihr gemeinsames Baby sexuell mißbrauchen würde.14 ¾ Constantine Paspalakis und Deidre Hunt haben die Folterung und Ermordung eines jungen Mannes auf Video gefilmt und sitzen jetzt in der Todeszelle.15 Solche Individuen und ihre grausigen Verbrechen üben eine morbide Faszination aus. Häufig teilen sie die öffentliche Aufmerksamkeit mit diversen Mördern und Massenmördern, deren oft unsagbar grauenhafte Verbrechen auf schwere psychische Störungen zurückzuführen sind – zum Beispiel mit Ed Gein, einem psychotischen Mörder, der seinen Opfern die Haut abzog und sie aß;16 Edmund Kemper, dem »Studentinnenmörder«, einem nekrophilen Sadisten, der seine Opfer verstümmelt und zerteilt hat;17 David Berkowitz, der »Son-of-Sam Killer«, der jungen Liebespaaren in geparkten Autos aufgelauert hat;18 der »Son-of-Sam Killer« Jeffrey Dahmer, dem »Milwaukee Monster«, der sich der Folterung, Ermordung und Verstümmelung von fünfzehn Männern und Knaben schuldig bekannte und zu fünfzehnmal lebenslänglich verurteilt wurde.19 Obwohl solche Mörder häufig als »geistig gesund« eingestuft werden (wie Kemper, Berkowitz und Dahmer), kann man ihre unsäglichen Taten, ihre grotesken sexuellen Phantasien und ihre Fixierung auf Macht, Folter und Tod kaum als »gesund« bezeichnen. Demgegenüber sind psychopathische Mörder, nach gängiger Rechtssprechung und psychiatrischer Praxis, nicht verrückt. Ihre Taten entspringen nicht einer gestörten Psyche, sondern einem kühl berechnenden Kalkül in Verbindung mit einer beklemmenden Unfähigkeit, andere als denkende und fühlende Mitmenschen zu behandeln. Derartig moralisch unverständliches Verhalten einer scheinbar normalen Person erzeugt Verwirrung und Hilflosigkeit. So beunruhigend das auch sein mag, müssen wir an dieser Stelle doch darauf achten, den größeren Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, denn die meisten Psy12 chopathen spielen ihr böses Spiel, ohne Leute umzubringen. Konzentriert man sich allzu sehr auf die brutalsten und schlagzeilenträchtigsten Beispiele ihres Verhaltens, läuft man Gefahr, das große Bild nicht mehr zu sehen: Psychopathen, die nicht morden, aber unser geregeltes Leben stören. Die Gefahr, seine Ersparnisse an einen wortgewandten Schwindler zu verlieren, ist sehr viel größer, als von einem Killer mit stählernem Blick ermordet zu werden. Trotzdem sind solche spektakulären Fälle wichtig, denn oft sind sie ausführlich dokumentiert und erinnern uns so daran, daß es solche Menschen gibt und daß sie unsere Verwandten, Nachbarn, oder Arbeitskollegen waren, bevor sie erwischt wurden. Auch können solche Beispiele ein Thema illustrieren, daß sämtliche Fallbeispiele von Psychopathen durchzieht: ein zutiefst beunruhigendes Desinteresse an den Schmerzen und Leiden ihrer Mitmenschen – kurzum, das völlige Fehlen von Mitgefühl, der Voraussetzung für Liebe. In dem verzweifelten Versuch, diesen Mangel zu erklären, betrachtet man zunächst das familiäre Umfeld, aber das bringt einen kaum weiter. Zwar war die Kindheit mancher Psychopathen durch materiellen und emotionalen Mangel und physischen Mißbrauch geprägt, aber auf jeden erwachsenen Psychopathen aus einer gestörten Familie kommt ein anderer, dessen Familienleben warm und liebevoll war und dessen Geschwister normale, gewissenhafte und mitfühlende Menschen sind. Darüber hinaus werden nur die wenigsten Menschen, die eine schlimme Kindheit hatten, zu Psychopathen oder gefühllosen Mördern. Die Argumentation, daß aus Kindern, die Mißbrauch und Gewalt ausgesetzt waren, gewalttätige und mißbrauchende Erwachsene werden, führt uns hier nicht weiter (auch wenn sie für andere Betrachtungen der menschlichen Entwicklung durchaus hilfreich sein können). Mögliche Erklärungen für das Entstehen von Psychopathie sind tiefgründiger und schwieriger zu erfassen. Dieses Buch stellt meine Suche nach Antworten dar, die mich seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt. Ein großer Teil dieser Suche hat aus einer gemeinschaftlichen Anstrengung bestanden, ein präzises Verfahren zur Identifikation der Psychopathen unter uns zu entwickeln. Denn wenn wir sie nicht erkennen können, sind wir dazu verdammt, zu ihren Opfern zu werden – sowohl als Individuen wie als Gesellschaft im Ganzen. Ich will nur ein einziges, leider alltägliches, Beispiel dafür anführen: Die meisten Menschen sind verblüfft, wenn ein verurteilter Mörder, nachdem er auf Bewährung entlassen worden ist, umgehend ein weiteres Gewaltverbrechen begeht. Man fragt sich fassungslos: »Warum ist ein solcher Mensch entlassen worden?« Diese Fassungslosigkeit würde zweifellos in Wut umschlagen, wenn bekannt wäre, daß in vielen Fällen der Straftäter ein Psychopath war, dessen Rückfall vorauszusehen gewesen wäre – wenn die Bewährungskommission ihre Hausaufgaben gemacht hätte. Es ist meine Hoffnung, daß dieses Buch sowohl der Allgemeinheit als auch den Strafvollzugsbehörden dabei helfen kann, das Wesen der Psychopathie, die Größenordnung des Problems und mögliche Maßnahmen zur Verminderung ihrer verheerenden Auswirkungen auf unser Leben zu verstehen. 13 1 Begegnungen mit Psychopathen Ich sah, wie das dunkle Blut aus Halmeas Mund über das Laken hinabtropfte, auf den Teil ihres Körpers, der unter Hud lag. Ich verharrte still und ohne zu blinzeln; aber dann stand Hud auf und grinste mich an, während er seine rubinrote Gürtelschnalle schloß. »Ist sie nicht ein süßes Ding?«, sagte er. Er begann zu pfeifen und seine Hosenbeine in die Schäfte seiner roten Wildlederstiefel zu stopfen. Halmea hatte sich zur Wand hin zusammengerollt ... Larry McMurtry, HORSEMAN, PASS BY Im Laufe der Zeit habe ich mich an folgende Episode gewöhnt: Bei einem gelegentlichen Abendessen mit Bekannten pflege ich eine höflich interessierte Frage nach meiner Arbeit mit einer kurzen Beschreibung der typischen Charaktermerkmale eines Psychopathen zu beantworten. Unweigerlich wird jemand am Tisch plötzlich eine nachdenkliche Miene aufsetzen und dann ausrufen, »Mein Gott – ich glaube, Herr X war ...«, oder: »Wissen sie, es war mir bisher nicht klar, aber die Person, die sie beschreiben, könnte mein Schwager sein.« Solche nachdenklichen und beunruhigten Reaktionen erlebe ich nicht nur im Privatleben. Häufig gehen in meinem Labor Anrufe von Betroffenen ein, die über meine Arbeit gelesen haben und von einem Ehemann, Kind, Arbeitgeber oder Bekannten berichten, dessen unerklärliches Verhalten ihnen seit Jahren Kummer und Schmerzen bereitet hat. Solche wahren Geschichten von Enttäuschung und Verzweiflung belegen die Notwendigkeit, das Phänomen der Psychopathie zu untersuchen und zu erklären. Die drei in diesem Kapitel beschriebenen Begegnungen eröffnen einen Weg, sich diesem merkwürdigen und faszinierenden Thema anzunähern, indem sie das vertraute Gefühl vermitteln: »Irgendetwas stimmt hier nicht – aber ich weiß nicht genau, was.« Der erste Bericht handelt von einem Häftling. Die meisten Studien über Psychopathie werden in Gefängnissen durchgeführt, und zwar aus praktischen Gründen: Viele Psychopathen sind in Haft, und die zu ihrer Diagnose erforderlichen Informationen sind leicht verfügbar. Die beiden anderen Begebenheiten entstammen dem Alltagsleben, da Psychopathen nicht nur im Gefängnis anzutreffen sind. Eltern, Kinder, Ehegatten, Liebhaber, Arbeitskollegen und bedauernswerte Opfer auf der ganzen Welt versuchen in diesem Moment, mit dem Chaos und der Verwirrung umzugehen, die von Psychopathen angerichtet werden – und ihre Motive zu verstehen. Viele meiner Leser werden eine beunruhigende Ähnlichkeit feststellen zwischen den im folgenden beschriebenen Personen und Mitmenschen aus ihrem persönlichen Umfeld, die ihnen das Leben zur Hölle gemacht haben. 14 1.1 Ray Nach Abschluß meines Psychologie-Diploms in den frühen sechziger Jahren habe ich eine Arbeitsstelle gesucht, um meine Frau und unsere kleine Tochter zu ernähren und meine weitere Ausbildung zu finanzieren. Ohne jemals zuvor den Fuß in ein Gefängnis gesetzt zu haben, wurde ich als alleiniger Psychologe der Strafvollzugsanstalt von British Columbia angestellt. Ich hatte keine praktische Berufserfahrung als Psychologe und kein besonderes Interesse an praktischer Psychologie oder kriminologischen Fragen. Das Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe von Vancouver war eine furchteinflößende Anstalt, in der Schwerverbrecher eines Schlages untergebracht waren, den ich bis dahin nur aus Berichten in den Medien kannte. Man kann sagen, ich befand mich auf fremdem Territorium – und das ist eine Untertreibung. Ich nahm meine Arbeit völlig unvorbereitet auf – ohne einen einführenden Lehrgang oder einen weisen Mentor, der mir Hinweise hätte geben können, wie man zu einem Gefängnispsychologen wird. Am ersten Tag traf ich den Anstaltsleiter und seine uniformierten Untergebenen, von denen einige Handfeuerwaffen trugen. Das Gefängnis wurde im militärischen Stil geführt, und dementsprechend wurde von mir erwartet, eine »Uniform« zu tragen, die aus einem blauen Blazer, grauen Flanellhosen und schwarzen Schuhen bestand. Ich überzeugte den Anstaltsleiter, daß eine solche Montur nicht notwendig sei, aber trotzdem bestand er darauf, daß eine für mich angefertigt werden müsse, und daher wurde ich nach unten zum Maßnehmen geschickt. Das Ergebnis war ein früher Hinweis darauf, daß nicht alles in so guter Ordnung war, wie es zunächst den Anschein hatte. Die Jackenärmel waren viel zu kurz, die Hosenbeine hatten lächerlich unterschiedliche Längen, und die Schuhe unterschieden sich um zwei Größen. Den letzteren Umstand fand ich besonders irritierend, da der Insasse, der meine Maße genommen hatte, die Umrisse meiner Füße mit großer Sorgfalt auf einen Bogen Packpapier gezeichnet hatte. Wie daraus – selbst nach mehreren Reklamationen von mir – zwei Schuhe völlig unterschiedlicher Größe entstanden sein konnten, war schwer vorstellbar. Ich mußte annehmen, daß darin eine Botschaft für mich enthalten war. Mein erster Arbeitstag war ereignisreich. Ich wurde in mein Büro geführt, einen riesigen Raum im obersten Stockwerk des Gefängnisses – leider keineswegs die intime, vertrauensbildende Kammer, die ich mir erhofft hatte. Ich war vom Rest der Anstalt isoliert und mußte mehrere abgeschlossene Türen passieren, um mein Büro zu erreichen. An der Wand über meinem Schreibtisch war ein auffälliger, roter Knopf angebracht. Ein Wärter, der – ebenso wie ich – keine Ahnung hatte, was ein Psychologe wohl in einem Gefängnis zu tun hätte, erklärte mir, daß der Knopf für den Notfall gedacht sei, ich aber nicht erwarten sollte, daß sofort Hilfe kommen würde, falls ich ihn jemals betätigen müßte. Mein Vorgänger hatte eine kleine Bibliothek in meinem Büro hinterlassen. Sie bestand hauptsächlich aus Büchern über psychologische Tests, zum Beispiel den RorschachTest und den Thematischen Apperzeptions-Test. Ich hatte von solchen Tests gehört, sie aber nie verwendet, und so bestärkten die Bücher – einige der wenigen Objekte im Gefängnis, die mir vertraut waren – nur meinen Eindruck, daß ich es nicht leicht haben würde. Ich war noch keine Stunde in meinem Büro, als mein erster »Klient« erschien. Er war ein hochgewachsener, schlanker, dunkelhaariger Mann zwischen dreißig und vierzig. Die Luft um ihn herum schien zu vibrieren, und sein Augenkontakt zu mir war so direkt und intensiv, daß ich mich fragte, ob ich jemals vorher jemandem wirklich in die Augen 15 geschaut hatte. Er starrte mich unentwegt an, ohne zuweilen den Blick abzuwenden, wie es viele Menschen tun, um ihren Augenkontakt etwas abzumildern. Ohne eine Vorstellung abzuwarten, eröffnete der Häftling – nennen wir ihn Ray – das Gespräch. »Hallo Doc, wie geht’s? Ich habe ein Problem, ich brauche ihre Hilfe. Ich würde wirklich gerne mit ihnen darüber sprechen.« Ich war begierig darauf, meine Arbeit als echter Psychotherapeut aufzunehmen und bat ihn, mir von seinem Problem zu erzählen. Als Reaktion zückte er ein Messer und fuchtelte mir damit vor der Nase herum, während er ständig den intensiven Augenkontakt aufrechterhielt. Meine erster Impuls war, auf den roten Knopf hinter mir zu drücken, der sich in Rays Blickfeld befand und dessen Zweck unmißverständlich war. Aber ich drückte nicht auf den Knopf – vielleicht, weil ich spürte, daß er mich auf die Probe stellen wollte oder vielleicht, weil ich wußte, daß der Alarmknopf mir nicht helfen konnte, falls er mich tatsächlich angreifen wollte. Sobald er sicher war, daß ich nicht auf den Knopf drücken würde, erklärte er mir, daß er das Messer nicht gegen mich einsetzen wollte, sondern gegen einen anderen Häftling, der sich an seinen »Schützling« herangemacht hatte (ein Knast-Ausdruck für den passiven Partner eines homosexuellen Paares). Warum genau er mir das erzählte, war nicht sofort klar; aber mir kam schnell der Verdacht, daß er mir auf den Zahn fühlen wollte, um auszuloten, wie ich es mit meinen Dienstpflichten hielt. Sollte ich den Vorfall nicht an die Gefängnisleitung melden, würde ich eine strikte Regel verletzen, die dem Personal vorschrieb, jeglichen Waffenbesitz zu melden. Andererseits wußte ich: Falls ich ihn melden würde, wäre ich schnell bei den Insassen als jemand abgestempelt, der sich nicht vorrangig für die Häftlinge einsetzt – und das würde meinen Job noch schwieriger machen, als es ohnehin zu erwarten war. Nach unserer Sitzung, in deren Verlauf er sein »Problem« nicht ein- oder zweimal, sondern viele Male geschildert hatte, bewahrte ich Stillschweigen über das Messer. Zu meiner Erleichterung erstach er den anderen Häftling nicht – aber es wurde bald klar, daß er mich in eine Falle gelockt hatte. Ich hatte mich als »Weichling« erwiesen, der angesichts strikter Dienstanweisungen ein Auge zudrücken würde, um einen guten Rapport mit den Häftlingen zu etablieren. Von dieser ersten Begegnung an gelang es Ray, mir mein achtmonatiges Gastspiel in dieser Anstalt zu verleiden. Seine ständigen Anforderungen an meine Zeit und seine manipulativen Versuche, mich dazu zu bringen, etwas für ihn zu tun, waren endlos. Eines Tages überzeugte er mich, daß er einen guten Koch abgeben würde – er meinte, er sei ein Naturtalent, er wolle nach seiner Entlassung Koch werden und dies sei eine gute Gelegenheit, einige seiner Ideen zu erproben, wie man die Zubereitung der Anstaltsmahlzeiten rationalisieren könne. Also unterstützte ich sein Anliegen, aus der Werkstatt (wo er anscheinend das Messer angefertigt hatte) versetzt zu werden. Ich hatte nicht bedacht, daß es in der Küche Zucker, Kartoffeln, Früchte und andere Zutaten zur Herstellung von Alkohol gab. Einige Monate, nachdem ich seine Versetzung befürwortet hatte, ereignete sich eine mächtige Explosion unter den Dielen genau unter dem Schreibtisch des Aufsehers. Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, fanden wir eine aufwendige Destille unter besagtem Schreibtisch vor. Etwas war schiefgegangen, und einer der Töpfe war explodiert. Es war nicht ungewöhnlich, in einem Hochsicherheitsgefängnis eine Destille zu finden – aber die Unverschämtheit, sie genau unter dem Stuhl des Aufsehers zu installieren, war schon erstaunlich. Nachdem man herausgefunden hatte, daß Ray hinter der Schwarzbrennerei steckte, verbrachte er einige Zeit in der Einzelzelle. Kaum wieder aus dem »Loch« heraus, erschien Ray in meinem Büro, als wenn nichts gewesen wäre und verlangte seine Versetzung in die Autowerkstatt. Er fand, er hätte dafür ein Talent, er müßte sich für das Leben »draußen« vorbereiten, wenn er nur genug Zeit hätte zu lernen, könnte er draußen seine eigene Werkstatt betreiben ... Zwar ärgerte 16 ich mich immer noch darüber, seine erste Versetzung ermöglicht zu haben, aber nach einer Weile hatte er mich überredet. Bald danach beschloß ich, das Gefängnis zu verlassen, um im Fach Psychologie zu promovieren. Ungefähr einen Monat, bevor ich ging, gelang es Ray beinahe, mich zu überreden, ihm in der Firma meines Vaters – einem Dachdecker – einen Job zu verschaffen, um damit seinen Antrag auf Bewährung zu unterstützen. Als ich das gegenüber Arbeitskollegen im Gefängnis erwähnte, setzte großes Gelächter ein. Sie kannten Ray gut, sie waren alle von seinen Intrigen und guten Vorsätzen eingewickelt worden, und einer nach dem anderen hatten sie beschlossen, ihm mit gesundem Mißtrauen zu begegnen. Waren sie zynisch? Damals dachte ich so. Tatsächlich aber war ihr Bild von Ray viel klarer als meins – trotz meines Titels als »Psychologe«. Ihr Eindruck hatte sich durch jahrelange Erfahrungen mit seinesgleichen gebildet. Ray hatte eine unglaubliche Fähigkeit, nicht nur mich, sondern praktisch jeden hereinzulegen. Er konnte reden und lügen, mit einer Direktheit, die manchmal selbst die erfahrensten und zynischsten Mitglieder des Gefängnispersonals – zumindest vorübergehend – überrumpelte. Als ich ihm begegnete, hatte er bereits ein langes Vorstrafenregister (das, wie sich später gezeigt hat, noch länger werden sollte). Etwa die Hälfte seines erwachsenen Lebens hatte er in Gefängnissen zugebracht, und viele seiner Verbrechen waren gewalttätig gewesen. Und doch überzeugte er mich – und andere mit mehr Erfahrung – davon, daß er sich bessern wolle, daß seine kriminellen Neigungen völlig verdrängt worden seien von einer Leidenschaft fürs Kochen, Autos reparieren, oder was auch immer. Er log unaufhörlich, wie selbstverständlich, über Gott und die Welt, und es störte ihn kein bißchen, wenn ich ihn mit Widersprüchen zwischen seinen Lügen und den Tatsachen aus seiner Akte konfrontierte; er wechselte dann einfach das Thema. Nachdem ich ihn schließlich überzeugt hatte, daß er nicht der ideale Kandidat für einen Job in der Firma meines Vaters war, lehnte ich sein Gesuch ab – und war zutiefst erschüttert durch seine böse Reaktion. Als ich das Gefängnis verlassen wollte, um mich an der Universität einzuschreiben, zahlte ich immer noch einen 1958er Ford ab, den ich mir allerdings nicht wirklich leisten konnte. Einer der Aufseher bot mir an, seinen Morris Minor (Baujahr 1950) gegen meinen Ford einzutauschen und meine Ratenzahlungen zu übernehmen. Ich nahm sein Angebot an, und da der Morris in einem schlechten Zustand war, machte ich von der Möglichkeit Gebrauch, Fahrzeuge des Personals in der anstaltseigenen Autowerkstatt reparieren zu lassen. Wo Ray – dank meiner Fürsprache – immer noch arbeitete. Das Auto wurde sehr schön neu lackiert, Motor und Getriebe wurden überholt. Mit unseren sämtlichen Habseligkeiten auf dem Dach und dem Baby in einer Krippe aus Sperrholz auf dem Rücksitz des Wagens machten meine Frau und ich uns auf den Weg nach Ontario. Die ersten Probleme traten auf, als wir gerade Vancouver verlassen hatten – der Motor klang ein bißchen rauh. Später, als wir einige leichte Steigungen zu bewältigen hatten, kochte der Kühler über. Ein Mechaniker entdeckte ein Kugellager in der Vergaserkammer. Außerdem wies er uns darauf hin, daß zweifellos einer der Kühlschläuche manipuliert worden war. Diese kleinen Schäden waren schnell repariert. Aber das nächste, schwerwiegendere Problem trat auf, als wir einen langen Abhang hinunterfuhren. Das Bremspedal reagierte schwammig und gab plötzlich ganz nach – wir hatten keine Bremse mehr, und es war ein langer Abhang. Zum Glück schafften wir es bis zu einer Werkstatt, wo sich herausstellte, daß eine Bremsleitung durch einen Schnitt verletzt worden war, so daß die Bremsflüssigkeit langsam austrat. Vielleicht war es ein Zufall, daß Ray in der Autowerkstatt gearbeitet hatte, als das Auto überholt worden war – aber für mich stand fest, daß er durch die »Buschtrommel« gehört hatte, wer der neue Eigentümer des Wagens war. 17 An der Universität bereitete ich mich auf meine Dissertation über die Auswirkungen von Bestrafung auf menschliches Lernen und Leistungsfähigkeit vor. Im Zuge meiner Recherchen für dieses Projekt begegnete ich zum ersten Mal der Literatur über Psychopathie. Ich bin nicht sicher, ob ich dabei an Ray gedacht habe, aber er wurde mir bei anderer Gelegenheit wieder in Erinnerung gerufen. Meine erste Arbeitsstelle nach Abschluß meines Doktortitels trat ich an der Universität von British Columbia an, unweit der Strafvollzugsanstalt, an der ich einige Jahre zuvor gearbeitet hatte. Während der Orientierungswoche in jener Zeit, vor einer weiten Verbreitung elektronischer Datenverarbeitung, saß ich mit einigen Kollegen an einem Tisch, um lange Schlangen von Studenten für die Vorlesungen des Herbstsemesters einzuschreiben. Während ich mit einem Studenten beschäftigt war, wurde ich plötzlich durch die Nennung meines Namens aufmerksam. »Ja, ich habe als Dr. Hares Assistent in der Strafvollzugsanstalt mit ihm zusammengearbeitet, ungefähr ein Jahr oder so, würde ich sagen. Hab seinen Papierkram für ihn erledigt und ihm den neuesten Klatsch aus dem Gefängnis erzählt. Klar, er hat seine schwierigen Fälle mit mir besprochen. Wir haben großartig zusammengearbeitet.« Es war Ray, er stand am Kopf der benachbarten Warteschlange. Mein Assistent! Ich unterbrach sein Geschwätz mit einem »Ach, tatsächlich?« – und hatte erwartet, ihn aus der Fassung zu bringen. Er rief, »Hey Doc, wie geht’s?«, ohne aus dem Takt zu kommen. Dann setzte er seine Unterhaltung fort und wechselte schnell das Thema. Als ich später seine Antragsformulare prüfte, stellte ich fest, daß seine Nachweise über früher besuchte Vorlesungen gefälscht waren. Immerhin muß man ihm zugute halten, daß er nicht versucht hatte, sich für eine meiner Vorlesungen einzuschreiben. Was mich vielleicht am meisten fasziniert hat, war, daß Ray absolut ungerührt blieb, selbst nachdem seine Täuschung entdeckt worden war – und daß mein Kollege ihm auf den Leim ging. Wie konnte sich Ray durch seine psychische Konstruktion über die Realität hinwegsetzen, anscheinend ohne Hemmungen und Bedenken? Es hat sich gezeigt, daß ich die nächsten 25 Jahre mit empirischer Forschung zur Beantwortung dieser Frage verbringen würde. Die Geschichte von Ray hat, nach so vielen Jahren, ihre amüsanten Seiten. Weniger amüsant sind die Fallstudien von Hunderten von Psychopathen, die ich seitdem studiert habe. Ich hatte schon einige Monate im Gefängnis gearbeitet, als die Anstaltsleitung mir einen Häftling schickte, der vor seiner Anhörung durch den Bewährungsausschuß einer psychologischen Untersuchung unterzogen werden sollte. Er war wegen Totschlags zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. Als ich bemerkte, daß der gesamte Bericht zum Tatverlauf in meiner Akte fehlte, fragte ich ihn nach den Einzelheiten. Er berichtete, daß die kleine Tochter seiner Freundin stundenlang und pausenlos geschrieen hatte und daß er, da sie unangenehm roch, widerwillig beschlossen hatte, ihre Windeln zu wechseln. »Sie hat meine ganze Hand vollgeschissen und da bin ich ausgerastet«, sagte er – ein grausiger Euphemismus für seine Tat. »Ich packte sie an den Füßen und schmetterte sie gegen die Wand«, sagte er mit einem Grinsen – es war unfaßbar. Ich war schockiert von seiner saloppen Schilderung seines widerwärtigen Verhaltens und mußte an meine eigene kleine Tochter denken. Dann warf ich ihn – ziemlich unprofessionell – aus meinem Büro hinaus und lehnte es ab, ihn nochmals zu treffen. 18 Da es mich interessierte, wie dieser Fall sich weiter entwickelt hatte, nahm ich kürzlich Einsicht in seine Gefängnisakte. Ich stellte fest, daß er ein Jahr nach meinem Weggang aus dem Gefängnis auf Bewährung freigekommen und bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei nach einem mißglückten Banküberfall tödlich verunglückt war. Der Gefängnispsychologe hatte diesen Mann als Psychopathen diagnostiziert und sich gegen eine Freilassung auf Bewährung ausgesprochen. Man kann es der Bewährungskommission nicht vorwerfen, daß sie diesem professionellen Rat nicht gefolgt ist. Seinerzeit waren die Verfahren zur Diagnose von Psychopathie vage und unzuverlässig, und die Implikationen einer solchen Diagnose für eine Verhaltensprognose waren nicht bekannt. Wir werden sehen, daß sich die Lage mittlerweile grundlegend geändert hat. Jeder Bewährungsausschuß, der den aktuellen Wissensstand zu Psychopathie und Rückfallrisiken nicht berücksichtigt, läuft Gefahr, einen potentiell katastrophalen Fehler zu machen. 1.2 Elsa und Dan Sie traf ihn in einer Münzwäscherei in London, wo sie nach einer kontroversen und anstrengenden Scheidung ein Jahr unbezahlten Urlaub von ihrer Arbeit als Lehrerin verbrachte. Er war ihr schon in der Nachbarschaft aufgefallen, und als sie endlich ins Gespräch kamen, hatte sie das Gefühl, ihn zu kennen. Er war offen und freundlich und sie verstanden sich auf Anhieb. Von Anfang an fand sie ihn urkomisch. Sie hatte sich einsam gefühlt. Das Wetter war grau und regnerisch, sie hatte schon jeden Film und jedes Theaterstück in London gesehen, und sie kannte keine Menschenseele diesseits des Atlantik. »Ich verstehe – die Einsamkeit des Reisenden«, säuselte Dan voller Mitgefühl beim Abendessen. »Das ist das Schlimmste.« Nach dem Dessert stellte er peinlich berührt fest, daß er seine Brieftasche vergessen hatte. Mit Vergnügen bezahlte Elsa die Rechnung, und mit noch mehr Vergnügen begleitete sie ihn ins Kino und sah sich den Film (mit Überlänge) an, den sie bereits einige Tage zuvor gesehen hatte. Danach gingen sie auf ein Bierchen in ein Lokal, und er erzählte ihr, daß er als Dolmetscher für die Vereinten Nationen arbeitete. Er bereise die ganze Welt und befinde sich momentan zwischen zwei beruflichen Einsätzen. Viermal trafen sie sich in der ersten Woche, fünfmal in der Woche darauf. Dan lebte in einer Wohnung im Obergeschoß eines Hauses irgendwo in Hampstead, erzählte er ihr, aber schon bald war er praktisch bei ihr eingezogen. Zu ihrem großen Erstaunen gefiel ihr das Arrangement sehr gut. Es war gegen ihre Neigung und sie konnte sich nicht einmal erklären, wie es dazu gekommen war, aber nach ihrer langen Zeit der Einsamkeit amüsierte sie sich prächtig. Allerdings gab es Einzelheiten, die weder erklärt noch besprochen wurden – sie verdrängte sie. Nie lud er sie zu sich nach Hause ein, nie traf sie seine Freunde. Eines abends brachte er einen Karton mit Tonbandgeräten mit – in Klarsichtfolie eingeschweißt, frisch aus der Fabrik, ungeöffnet. Nach einigen Tagen waren sie wieder verschwunden. Als Elsa eines Tages nach Hause kam, fand sie drei Fernseher in einer Ecke aufgestapelt. »Ich bewahre sie für einen Freund auf«, war alles, was er dazu sagte. Als sie nachfragte, zuckte er nur mit den Achseln. 19 Als Dan sie zum ersten Mal versetzte, war sie außer sich vor Sorge, daß er bei einem Verkehrsunfall verletzt worden sein könnte – er hatte die Angewohnheit, abseits von Verkehrsampeln über die Straße zu laufen. Er war drei Tage verschwunden und schlief im Bett, als sie eines späten Vormittags nach Hause kam. Sie war angewidert von dem Geruch nach ranzigem Parfüm und abgestandenem Bier, der ihr entgegenschlug. Ihre Sorge um sein Leben schlug um in etwas für sie gänzlich Neues: quälende, kopflose, unkontrollierbare Eifersucht. »Wo bist du gewesen?«, schrie sie ihn an. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Wo warst du?« Er sah ziemlich übelgelaunt aus, als er aufwachte. »Frag’ mich das nie!«, schnappte er. »Ich verbitte mir das!« »Was –?« »Wo ich hingehe, was ich unternehme und wen ich treffe – das geht dich nichts an, Elsa. Untersteh’ dich, danach zu fragen.« Er war wie ein anderer Mensch. Aber dann schien er sich zusammenzureißen, schüttelte den Schlaf ab und reichte ihr die Hand. »Ich weiß, daß Dich das verletzt«, säuselte er auf seine bekannte, sanfte Art. »Aber stell’ dir Eifersucht einfach wie einen Schnupfen vor – das geht vorbei. Du wirst darüber hinwegkommen.« Wie eine Katzenmutter, die ihre Kleinen sauberleckt, schmeichelte er sich wieder in ihr Vertrauen. Aber trotzdem fand sie es sehr seltsam, was er über Eifersucht gesagt hatte. Sie war sicher, daß er nie den Schmerz eines gebrochenen Herzens erlebt hatte. Eines Abends fragte sie ihn beiläufig, ob er Lust hätte, ihr vom Kiosk an der Ecke ein Eis zu holen. Er antwortete nicht, und als sie zu ihm hochblickte, starrte er sie wütend an. »Du hast immer alles bekommen, was du haben wolltest, oder?«, sagte er in einem fremden, abfälligen Tonfall. »Jedes kleine Ding, das Klein-Elsa haben wollte – immer ist jemand aufgesprungen und hat es für sie gekauft, nicht wahr?« »Spinnst du? So bin ich nicht. Wovon redest du eigentlich?« Er stand auf und verließ das Haus. Sie hat ihn nie wieder gesehen. 1.3 Die Zwillinge Am dreißigsten Geburtstag ihrer Zwillingstöchter schauten Helen und Steve mit gemischten Gefühlen zurück. Jede Anwandlung von Stolz auf Ariels Leistungen wurde getrübt von schrecklichen Erinnerungen an Alices unberechenbares, meist zerstörerisches und häufig kostspieliges Verhalten. Sie waren zweieiige Zwillinge, aber sie sahen sich verblüffend ähnlich. Ihre Persönlichkeiten unterschieden sich allerdings wie Tag und Nacht – vielleicht wäre »Himmel und Hölle« eine passendere Metapher. Der Kontrast zwischen den beiden war über drei Jahrzehnte immer stärker geworden. Ariel hatte in der Woche zuvor mit guten Neuigkeiten angerufen – die älteren Partner ihrer Anwaltssozietät hatten ihr eröffnet, daß sie bei gleichbleibender Leistung in vier oder fünf Jahren in ihre Reihen aufgenommen werden könnte. Der Anruf von Alice – oder vielmehr, von ihrem Betreuer – war nicht so erfreulich. Alice hatte zusammen mit einer anderen Insassin im offenen Strafvollzug mitten in der Nacht die Anstalt verlassen und war seit zwei Tagen nicht mehr gesehen worden. Bei dem letzten Vorfall dieser Art war Alice in Alaska wieder aufgetaucht, ausgehungert und abgebrannt. Mittlerweile hatten ihre Eltern aufgehört zu zählen, wie oft sie ihr telegrafisch Geld angewiesen und einen Flug nach Hause gebucht hatten. Zwar hatte Ariel durchaus auch ihre Probleme gehabt, als sie aufwuchs, diese waren aber immer mehr oder weniger normal gewesen. Sie verhielt sich launisch und mürrisch, wenn sie nicht ihren Willen bekam, was sich während der Pubertät noch ver20 stärkte. Sie hatte in der elften Klasse Zigaretten und Marihuana ausprobiert und ihr Studium nach drei Semestern abgebrochen, da sie ihren Mangel an Zielstrebigkeit für fehlende Begabung hielt. Sie jobte für ein Jahr und beschloß dann, Jura zu studieren – und von da an konnte sie nichts mehr bremsen. Sie war zielstrebig, engagiert und ehrgeizig. Sie arbeitete an einer rechtswissenschaftlichen Zeitschrift der Universität mit, bestand ihr Staatsexamen »summa cum laude« und wurde schon bei ihrer ersten Bewerbung eingestellt. Bei Alice war immer alles ein bißchen anders. Beide Mädchen waren ausgesprochen hübsch, aber Helen mußte erstaunt feststellen, daß Alice selbst im zarten Alter von drei oder vier Jahren ihr Aussehen und ihre Niedlichkeit gezielt einsetzte, um zu erreichen, was sie wollte. Helen hatte sogar das Gefühl, daß Alice die Kunst des Flirtens beherrschte, sie gab sich besondere Mühe in der Gegenwart von Männern – obwohl solche Gedanken über ihre kleine Tochter ihr schreckliche Schuldgefühle bereiteten. Helen fühlte sich noch schuldiger, als ein kleines Kätzchen, das den Mädchen von einer Cousine geschenkt worden war, erdrosselt auf dem Grundstück aufgefunden wurde. Ariel war ganz offensichtlich untröstlich, während die Tränen von Alice etwas gekünstelt wirkten. Auch wenn sie versuchte, den Gedanken zu verdrängen, hatte Helen doch das Gefühl, daß Alice etwas mit dem Tod des Kätzchens zu tun hatte. Schwestern streiten sich, aber wieder stimmte etwas nicht in der Art, wie die Zwillinge sich stritten. Ariel war immer in der Defensive; Alice dagegen war immer die Aggressive, und es schien ihr besonderen Spaß zu machen, die Sachen ihrer Schwester kaputtzumachen. Es war für alle eine große Erleichterung, als Alice mit siebzehn das Haus verließ – wenigstens konnte Ariel fortan in Frieden leben. Bald wurde jedoch klar, daß Alice nach ihrem Auszug die Drogen für sich entdeckt hatte. Nun war sie nicht nur unberechenbar und aufbrausend und machte fürchterliche Szenen, um ihren Willen durchzusetzen – sondern sie war außerdem noch drogensüchtig und finanzierte ihre Sucht auf jede erdenkliche Art, einschließlich Diebstahl und Prostitution. Kaution und Drogentherapien wurden zu einer fortgesetzten finanziellen Belastung für Helen und Steve – in einem Fall bezahlten sie 10.000 Dollar für einen dreiwöchigen Aufenthalt in einer noblen Drogenklinik in New Hampshire. »Ich bin froh, daß wenigstens ein Mitglied dieser Familie solvent sein wird«, sagte Steve, als er die gute Nachricht von Ariel hörte. Er hatte sich schon seit einiger Zeit gefragt, wie lange er es sich wohl noch würde leisten können, für Alices Eskapaden zu zahlen. Tatsächlich fragte er sich allen Ernstes, ob seine Bemühungen, ihr ein Leben außerhalb von Gefängnismauern zu ermöglichen, klug waren. War sie es nicht letztlich selbst, die mit den Konsequenzen ihrer Taten leben mußte – und nicht er und Helen? Helen war in dieser Hinsicht unerbittlich: Keines ihrer Kinder würde auch nur eine einzige Nacht in Haft verbringen (Alice hatte schon viele Nächte im Gefängnis verbracht, aber das verdrängte Helen), solange sie in der Lage war, Kaution zu stellen. Daraus wurde eine Frage der Verantwortlichkeit: Helen war davon überzeugt, daß sie und Steve irgendetwas bei der Erziehung von Alice falsch gemacht hatten, obwohl sie auch nach dreißig Jahren intensiver Selbstbefragung beim besten Willen den Fehler nicht finden konnte. Vielleicht war es aber unterbewußt – möglicherweise war sie nicht so begeistert gewesen, wie sie hätte sein können, als ihr Arzt die Vermutung äußerte, daß sie Zwillinge bekommen würde. Vielleicht hatte sie unwissentlich Alice herabgesetzt, die nach der Geburt kräftiger war als Ariel. Vielleicht hatten sie und Steve irgendwie das »Jekyll und Hyde«-Syndrom ausgelöst, indem sie darauf bestanden hatten, daß die Mädchen sich unterschiedlich kleideten und sie in unterschiedliche Tanzschulen und Ferienlager geschickt hatten. Vielleicht ... aber Helen hatte ihre Zweifel. Machten nicht alle Eltern manchmal Fehler? Zogen nicht alle Eltern unabsichtlich ein Kind dem anderen vor, zumindest zeitweise? Waren nicht alle Eltern mal mehr, mal weniger glücklich mit ihren Kindern, im auf und 21 ab des Lebens? Ja, in der Tat – aber nicht alle Eltern hatten schließlich eine Alice. Während der Kindheit der Mädchen hatte Helen auf ihrer Suche nach Antworten andere Familien sehr genau beobachtet, und sie hatte einige sehr achtlose und ungerechte Eltern gesehen, die mit ausgeglichenen, gut entwickelten Kindern gesegnet waren. Sie wußte, daß wirklich gewalttätige Eltern in der Regel schwierige oder gar gestörte Kinder heranzogen, aber Helen war sich sicher, daß sie und Steve trotz ihrer eventuellen Fehler wohl kaum in diese Kategorie gehörten. Und so brachte der dreißigste Geburtstag der Mädchen gemischte Gefühle für Helen und Steve mit sich – sie waren dankbar, daß beide Mädchen gesund waren, glücklich, daß Ariel Sicherheit und Erfüllung in ihrer Arbeit gefunden hatte, und sie machten sich die alten, vertrauten Sorgen darüber, wo sich Alice herumtrieb und wie es ihr ging. Aber vielleicht das stärkste Gefühl, das dieses seit langen Jahren verheiratete Paar empfand, als sie auf den Geburtstag ihrer abwesenden Töchter anstießen, war die Enttäuschung, daß sich in all den Jahren nichts geändert hatte. Sie lebten im 20. Jahrhundert – eigentlich sollte es eine Lösung für ihre Probleme geben. Es gab Pillen gegen Depressionen, Therapien gegen zwanghafte Ängste, aber keiner der zahllosen Ärzte, Psychiater, Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter, die sich über die Jahre mit Alice befaßt hatten, konnte eine Erklärung oder eine Lösung für ihr Problem anbieten. Man war sich noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt psychisch krank war. Nach dreißig Jahren schauten sich Helen und Steve über den Tisch hinweg an und fragten sich traurig: »Ist sie verrückt? Oder einfach nur böse?« 22 2 Das Bild wird klarer Er wird dich auswählen, dich mit seinen Worten entwaffnen, dich durch seine Gegenwart steuern. Er wird dich erfreuen mit seinem Witz und seinen Plänen. Du wirst Spaß mit ihm haben, aber stets dafür bezahlen. Er wird dich anlächeln und täuschen, er wird dich ängstigen mit seinen Augen. Aber wenn er fertig mit dir ist – und er wird mit dir fertig sein – wird er dich verlassen und dir deine Unschuld und Würde nehmen. Du wirst trauriger sein als vorher, aber kaum klüger – und du wirst dich lange fragen, was passiert ist und was du falsch gemacht hast. Und wenn der Nächste an deine Tür klopft – wirst du sie öffnen? aus einem Aufsatz mit der Unterschrift EIN PSYCHOPATH IN HAFT. Die Frage bleibt: »Ist Alice verrückt oder böse?« Diese Frage hat nicht nur Psychologen und Psychiater, sondern auch Philosophen und Theologen seit langem beschäftigt. Formal ausgedrückt: Ist der Psychopath geisteskrank oder lediglich jemand, der die Regeln bricht, aber genau weiß, was er tut? Dies ist nicht nur eine semantische Frage, denn anders gestellt hat sie immense praktische Bedeutung: Sind die Behandlung oder Führung des Psychopathen Aufgaben der Medizin, der Psychologie oder der Justiz? Auf der ganzen Welt brauchen Richter, Sozialarbeiter, Rechtsanwälte, Lehrer, Therapeuten, Ärzte, Justizvollzugsbeamte und andere Betroffene eine Antwort – auch wenn sie sich dessen vielleicht nicht bewußt sind. 2.1 Weitere Aspekte der Frage Für die meisten Menschen beginnt die Verwirrung und Unsicherheit rund um dieses Thema schon bei dem Wort Psychopathie. Wörtlich bedeutet es »Geisteskrankheit« (von psyche, die Seele; und pathos, die Krankheit), und so wird der Begriff noch immer in manchen Wörterbüchern übersetzt. Die Verwirrung wird von den Medien noch gesteigert, die mit diesem Begriff häufig einen »Wahnsinnigen« oder »Verrückten« bezeichnen: »Die Polizei meldet, ein ›Psychopath‹ treibt sein Unwesen« oder »Der Mörder muß ein ›Psychopath‹ sein.« Die meisten Praktiker (»clinicians«) und Forscher verwenden den Begriff anders. Sie wissen, daß man Psychopathie nicht als eine herkömmliche Geisteskrankheit auffassen kann. Psychopathen sind weder desorientiert oder ohne Realitätsbezug, noch leiden sie unter Sinnestäuschungen, Halluzinationen oder schweren Angstzuständen, wie sie bei den meisten anderen Persönlichkeitsstörungen auftreten. Im Gegensatz zu psychotisch gestörten Personen wissen Psychopathen, was und warum sie etwas tun, sie sind rational. Ihr Verhalten ist ein Ergebnis ihres freien Willens. Wenn also jemand, der als schizophren diagnostiziert worden ist, die Regeln der Gesellschaft bricht – zum Beispiel, indem er einen Passanten umbringt, weil er den Befehl eines »Marsmenschen in einem Raumschiff« ausführt –, dann wird man diese Person als »geisteskrank« und daher schuldunfähig einstufen. Wenn allerdings jemand als Psychopath diagnostiziert worden ist und die gleichen Regeln bricht, wird er als geistig gesund beurteilt und inhaftiert werden. Trotzdem hört man oft nach Berichten über Schwerverbrechen, insbesondere Serienmord und Folterung: »Jemand, der so etwas macht, muß verrückt sein.« Das mag sein, trifft aber im strafrechtlichen oder psychiatrischen Sinne nicht immer zu. Wie ich bereits erwähnt habe, sind manche Serienmörder geisteskrank. So zum Beispiel Edward Gein,20 dessen grausige und groteske Verbrechen die Vorlage für eine Reihe von Spielfilmen und Büchern geliefert haben, darunter PSYCHO, DAS KETTENSÄGENMASSAKER und DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER. Gein ermordete und verstümmelte 23 seine Opfer, und manchmal verspeiste er sie. Er stellte groteske Gegenstände aus ihren Körperteilen und ihrer Haut her – Lampenschirme, Kleidungsstücke, Masken. Während seines Gerichtsverfahrens waren sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung darüber einig, daß er psychotisch war; die Diagnose lautete auf chronische Schizophrenie, und der Richter wies ihn in eine geschlossene Anstalt für geisteskranke Verbrecher ein. Allerdings sind die meisten Serienmörder anders als Gein. Auch wenn sie ihre Opfer foltern, töten und verstümmeln – entsetzliche Taten, die unsere Vorstellung von geistiger Gesundheit in Frage stellen –, gibt es doch meist keine Hinweise dafür, daß sie gestört, verwirrt oder psychotisch wären. Viele dieser Killer – Ted Bundy, John Wayne Gacy, Henry Lee Lucas, um nur einige zu nennen – sind als Psychopathen diagnostiziert worden; demnach waren sie nach anerkannter Rechtssprechung und psychiatrischer Praxis geistig gesund. Sie sind ins Gefängnis geschickt und in einigen Fällen hingerichtet worden. Die Unterscheidung zwischen geisteskranken Killern und geistig gesunden, aber psychopathischen Mördern war allerdings schwierig zu erarbeiten; sie ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen wissenschaftlichen Debatte, die hin und wieder metaphysische Züge angenommen hat. 2.2 Einige Fachbegriffe Für viele Forscher, Praktiker und Schriftsteller sind die Begriffe Psychopath und Soziopath austauschbar. Zum Beispiel bezeichnet Thomas Harris in seinem Buch DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER Hannibal Lecter als »echten Soziopathen«, während der Drehbuchautor des Spielfilms ihn einen »echten Psychopathen« genannt hat. Manchmal wird der Begriff »Soziopathie« verwendet, weil er nicht so leicht wie »Psychopathie« mit psychotischen Störungen oder Geisteskrankheit verwechselt werden kann. In seinem Buch THE BLOODING schreibt der Autor Joseph Wambaugh über Colin Pitchfork, einen englischen Vergewaltiger und Mörder: ... es war bedauerlich, daß der Psychiater ihn in seinem Bericht nicht als »Soziopath«, sondern als »Psychopath« bezeichnet hat, da der letztere Begriff häufig zu Mißverständnissen führt. Jedermann, der mit dem Fall zu tun hatte, schien das Wort Psychopath mit »psychotisch« zu verwechseln. In vielen Fällen reflektiert der verwendete Begriff die Ansichten des Anwenders über die Ursprünge und bestimmenden Faktoren des klinischen Syndroms oder der Störung, die in diesem Buch beschrieben werden. Daher bevorzugen manche Praktiker und Forscher – nebst Soziologen und Kriminologen –, die meinen, daß das Syndrom ausschließlich durch Sozialisation und Prägung hervorgerufen wird, den Begriff Soziopath, während diejenigen (einschließlich dieses Autors), die auch psychologische, biologische und genetische Faktoren als Ursachen für die Entstehung des Syndroms ansehen, gewöhnlich den Begriff Psychopath verwenden. Daher ist es möglich, daß dieselbe Person von einem Experten als Soziopath diagnostiziert wird, von einem anderen jedoch als Psychopath. Das folgende Gespräch fand zwischen einem Straftäter (S) und einem meiner Doktoranden (D) statt: D: Haben sie etwas von der Gefängnispsychiaterin gehört, die sie untersucht hat? S: Sie hat mir gesagt, ich wäre ein ... kein Soziopath ... ein Psychopath. Es war komisch. Sie sagte, ich solle mir darüber keine Sorgen machen, sogar ein Arzt oder Rechtsanwalt könne ein Psychopath sein. Ich sagte, »Ja, das verstehe ich. Würden sie in einem entführten Flugzeug lieber neben mir sitzen oder neben einem Soziopathen oder Neurotiker, der sich die Hosen vollscheißt und dafür verantwortlich 24 ist, daß wir alle umgebracht werden?« Sie fiel fast vom Stuhl. Wenn mich jemand diagnostizieren will, möchte ich lieber ein Psychopath sein als ein Soziopath. D: Ist das nicht dasselbe? S: Nein, auf keinen Fall. Sehen sie, ein Soziopath benimmt sich daneben, weil er falsch erzogen wurde. Vielleicht hat er etwas gegen die Gesellschaft. Ich habe nichts gegen die Gesellschaft. Ich empfinde keine Feindschaft. Ich bin eben so, wie ich bin. Ja, ich glaube, ich bin ein Psychopath. Der Begriff Antisoziale Persönlichkeitsstörung (»Antisocial Personality Disorder«) hat nur scheinbar fast dieselbe Bedeutung wie »Psychopath« oder »Soziopath«. Er wurde in der dritten Ausgabe des von der American Psychiatric Association herausgegebenen DIAGNOSTIC AND STATISTICAL MANUAL OF MENTAL DISORDERS (DSM-III; 1980) und einer späteren, überarbeiteten Ausgabe (DSM-III-R; 1987) eingeführt; dieses Handbuch ist als die »Diagnosebibel« für Geisteskrankheiten weit verbreitet.21 Die Diagnosekriterien für die antisoziale Persönlichkeitsstörung bestehen hauptsächlich aus einer langen Liste sozial abweichender und krimineller Verhaltensweisen. Als die Liste erstmalig erschien, war man der Auffassung, daß der durchschnittliche Praktiker nicht in der Lage sei, Charakterzüge wie Empathie, Egozentrik, Schuldbewußtsein usw. zuverlässig zu beurteilen. Daher begründete man die Diagnose auf Tatbestände, die mit größerer Wahrscheinlichkeit von Praktikern ohne Schwierigkeiten beurteilt werden können, nämlich objektiv gesellschaftsschädigendes Verhalten. Das Ergebnis war in den vergangenen zehn Jahren ein ziemliches Durcheinander. Viele Praktiker nahmen fälschlich an, daß »Antisoziale Persönlichkeitsstörung« und »Psychopathie« gleichbedeutend sind. Die antisoziale Persönlichkeitsstörung, nach den Regeln des DSM-III, DSM-III-R und des kürzlich erschienenen DSM-IV (1994) diagnostiziert, beschreibt im Wesentlichen eine Kombination von kriminellen und sozial abweichenden Verhaltensweisen. Die Mehrzahl der Straftäter erfüllt die Kriterien für eine solche Diagnose. »Psychopathie« hingegen ist definiert als eine Kombination von Charaktereigenschaften und sozial abweichenden Verhaltensweisen. Die meisten Straftäter sind keine Psychopathen, während viele Individuen, die sich in einer rechtlichen Grauzone bewegen und nicht im Gefängnis landen, Psychopathen sind. Das sollte man bedenken, falls man Anlaß haben sollte, einen Praktiker oder sonstigen Ratgeber zu Rate zu ziehen, weil man mit einem Psychopathen leben muß. Der Unterschied zwischen antisozialer Persönlichkeitsstörung und Psychopathie muß klar sein.22 2.3 Ein historischer Rückblick Einer der ersten Praktiker, die über Psychopathen geschrieben haben, war Philippe Pinel, ein französischer Psychiater des frühen 19. Jahrhunderts. Er verwendete den Begriff Wahnsinn ohne Delirium, um ein Verhaltensmuster zu beschreiben, das durch völlige Gewissenlosigkeit und Hemmungslosigkeit geprägt war, ein Muster, das sich seiner Ansicht nach von gewöhnlichen Verbrechen unterschied.23 Pinel gab keine moralische Bewertung für ein solches Verhalten ab, aber für andere Autoren waren diese Patienten »moralisch wahnsinnig«, die Inkarnation des Bösen. Aus diesem Gegensatz entwickelte sich eine Diskussion, die sich über Generationen erstreckte und die zwischen den gegensätzlichen Standpunkten pendelte, Psychopathen für »verrückt« zu halten oder sie als »böse« oder gar »teuflisch« zu bezeichnen. Das Dreckige Dutzend ist ein Hollywood-Klassiker, der einen alten Mythos glorifiziert: Im Kern des Psychopathen steckt ein Held. Die Handlung des Films entwickelt sich aus einem Angebot an eine Gruppe von üblen und rauhbeinigen Verbrechern, sich entweder freiwillig für ein Selbstmordkommando zu melden 25 oder im Knast zu bleiben. Die Mission besteht darin, eine Festung im Handstreich zu nehmen, in der sich das Oberkommando der deutschen Armee verschanzt hat. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß das Dreckige Dutzend die Festung erobert. Und es ist auch klar, daß sie als Helden verehrt werden, offenbar zur Erbauung mehrerer Generationen von Kinogängern. Der Psychiater James Weiss, Autor des Buches ALL BUT ME AND THEE, erzählt die Geschichte etwas anders. Sein Buch berichtet von einer während des zweiten Weltkriegs von Brigadegeneral Elliot D. Cook und seinem Assistenten Oberst Ralph Bing angestrengten Untersuchung. Sie fingen am Ende an – dem Armeegefängnis Camp Edwards auf Cape Cod – und arbeiteten sich von dort aus zurück bis zur Kompanie-Ebene, um herauszufinden, warum die über 2000 Insassen in das Gefängnis geraten waren. Weiss spricht von der sattsam bekannten »immer gleichen, traurigen Geschichte«. In dem Wissen, daß die Kompanie bald in ein Gefecht ziehen würde, meldete sich ein Soldat freiwillig, um Nachschub zu holen und ward nicht mehr gesehen. Ein anderer stahl erst Lebensmittel und dann einen Transporter, den er auf einer Spritztour zerlegte. Ohne jegliche Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse ihrer Kameraden, auf sofortige Erfüllung ihrer eigenen Wünsche erpicht und ohne die fundamentalen Überlegensregeln im Gefecht zu beachten, liefen diese Burschen ein viel größeres Risiko, erschossen zu werden – »Peterson ... reckte seinen Kopf hoch, während alle anderen in Deckung blieben; ein deutscher Scharfschütze machte ein Loch hinein« –, als daß sie Heldentaten hätten vollbringen können, die Planung, Gerissenheit und verantwortungsvolles Verhalten erforderten. Das Dreckige Dutzend in der Bearbeitung von Hollywood mag einen sauberen Eindruck machen, aber im wirklichen Leben, schließt Weiss, »findet eine Verhaltensänderung im Gefecht selten oder nie statt.« (James Weiss, Journal of Operational Psychiatry 5, 1974, S. 119) Der zweite Weltkrieg verlieh der Debatte eine neue, praktische Dringlichkeit – mehr als Spekulation war nun gefordert. Zunächst machte die Wehrpflicht es dringend notwendig, Individuen, die die militärische Disziplin stören oder gar zersetzen konnten, zu erkennen, zu diagnostizieren und, falls möglich, zu behandeln; dieses Problem stieß auf ein breites öffentliches Interesse. Darüber hinaus erwuchs jedoch aus der Enthüllung der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und dem kaltblütigen Programm zum Völkermord eine weit bedrohlichere Frage: Wie konnte eine solche Entwicklung stattfinden? Wie und warum konnten Individuen – oder gar, im höchsten Maße erschrekkend, ein einzelnes Individuum an der Spitze einer Nation – sich außerhalb der Rechtsordnung stellen, die von den meisten Menschen als Hemmnis für ihre niedersten Impulse und Phantasien akzeptiert wurde? Viele Autoren nahmen die Herausforderung an, aber keiner machte einen größeren Eindruck als Hervey Cleckley. In seinem erstmalig 1941 erschienenen und mittlerweile als Klassiker anerkannten Buch THE MASK OF SANITY24 (Maske der Vernunft) warb Cleckley um Aufmerksamkeit für ein seiner Ansicht nach gravierendes, aber kaum beachtetes gesellschaftliches Problem. Er schrieb dramatische Berichte über seine Patienten und ermöglichte der Allgemeinheit einen ersten detaillierten Einblick in die Psychopathie. So enthielt sein Buch zum Beispiel Notizen zum Fall Gregory, eines jungen Mannes mit einem ellenlangen Vorstrafenregister, dem die Ermordung seiner Mutter nur wegen einer Ladehemmung seines Gewehrs mißlang: Hunderte von Seiten wären notwendig, um den Werdegang dieses jungen Mannes adäquat zu beschreiben. Seine wiederholten asozialen Taten, die Banalität seiner augenscheinlichen Motive sowie seine 26 Unfähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, sich besser anzupassen und ernste Probleme zu vermeiden, haben mich davon überzeugt, daß er ein klassisches Beispiel einer psychopathischen Persönlichkeit ist. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß er sich weiterhin so verhalten wird, wie es in der Vergangenheit der Fall war, und ich kenne keine psychiatrische Behandlungsmethode, die hoffen ließe, sein Verhalten nennenswert zu beeinflussen oder ihm helfen könnte, sich besser anzupassen. (S. 173-174) Formulierungen wie »bauernschlau und gedanklich sehr beweglich«, »unterhaltsamer Gesprächspartner« und »außerordentlich charmant« tauchen immer wieder in Cleckleys Fallstudien auf. Er berichtet, daß ein inhaftierter Psychopath mit beträchtlichem sozialen Geschick den Richter davon überzeugte, daß er in einer psychiatrischen Anstalt viel besser aufgehoben wäre. Nachdem er dort eingewiesen worden war (wo ihn niemand haben wollte, weil er den Betrieb zu sehr störte), begann er, seine Entlassung zu betreiben. Cleckleys eigene Überlegungen zur Bedeutung des Verhaltens von Psychopathen sind in seine anschaulichen klinischen Beschreibungen eingestreut. Völlig fremd sind ihm [dem Psychopathen] die elementarsten Fakten oder Daten über das, was gemeinhin als persönliche Werte bezeichnet wird, und er ist völlig außerstande, solche Dinge zu verstehen. Es ist ihm unmöglich, sich auch nur am Rande für die Tragödien, Freuden oder das Streben der Menschheit zu interessieren, die in der Literatur oder den Künsten behandelt werden. Ebenso gleichgültig sind ihm solche Themen in seinem Leben. Schönheit und Häßlichkeit – es sei denn, in einem sehr oberflächlichen Sinne – bedeuten ihm nichts. Das Böse, die Liebe, das Grauen und der Humor können ihn nicht berühren. Außerdem kann er es nicht wahrnehmen, wenn andere bewegt sind. Es ist, als wäre er trotz seines scharfen Intellekts blind für diesen Aspekt des menschlichen Lebens. Es kann ihm nicht erklärt werden, da es nichts innerhalb des Horizonts seiner Wahrnehmung gibt, was die Kluft mit einem Vergleich überbrücken könnte. Er kann die Worte nachsprechen und Verständnis heucheln – und doch kann er niemals erkennen, daß er nicht versteht. (S. 90) MASK OF SANITY hatte großen Einfluß auf Forscher in den USA und Kanada und bildet den klinischen Rahmen für einen großen Teil der wissenschaftlichen Forschungen über Psychopathie im vergangenen Vierteljahrhundert. Meistens war es das Ziel solcher Forschungen, herauszufinden, wie ein Psychopath »funktioniert«. Darüber haben wir inzwischen einige wichtige Hinweise, die in diesem Buch beschrieben werden. Aber in dem Maße, wie unser Wissen über die von Psychopathen angerichteten, verheerenden gesellschaftlichen Schäden wächst, ergibt sich für die moderne Forschung ein noch wichtigeres Ziel – die Entwicklung von zuverlässigen Verfahren zur Identifizierung solcher Individuen, um das potentielle Risiko, das sie für andere darstellen, zu minimieren. Dieses Ziel ist von außerordentlicher Wichtigkeit sowohl für die Allgemeinheit als auch den Einzelnen. Meine Rolle in der Forschung begann in den sechziger Jahren an der psychologischen Fakultät der Universität von British Columbia in Kanada. Dort verband sich mein wachsendes Interesse an Psychopathie mit meinen beruflichen Erfahrungen im Strafvollzug zu dem, was mein Lebenswerk werden würde. Es gelang mir, meine Forschungen dort, wo ich einst gearbeitet hatte, fortzusetzen. 27 2.4 Wie erkennt man einen »echten« Psychopathen? Die Forschung in Haftanstalten bringt ein Problem mit sich: Die Häftlinge begegnen einem Außenstehenden – insbesondere einem Akademiker – durchweg mit Argwohn und Mißtrauen. Ich gewann die Hilfe eines Häftlings an der Spitze der Knast-Hierarchie, der fand, daß meine Studien keine negativen Folgen für die Teilnehmer haben würden und daß sie sogar nützlich für ein besseres Verständnis kriminellen Verhaltens sein könnten. Dieser Häftling, ein professioneller Bankräuber, wurde zu meinem Sprecher, der meine Arbeit unterstützte und seine Mithäftlinge wissen ließ, daß er selbst ein williger Proband war. Das bescherte mir zahlreiche Freiwillige – ein unverhoffter Segen, der aber sein eigenes Problem mit sich brachte: Wie sollte ich die »echten« Psychopathen unter all den Freiwilligen erkennen? In den sechziger Jahren bestand unter Psychologen und Psychiatern keineswegs Einigkeit darüber, was einen Psychopathen ausmacht. Das Problem der Klassifikation war eine große Hürde. Wir versuchten, menschliche Wesen einzuordnen, nicht Äpfel oder Birnen, und die Charaktermerkmale, die uns interessierten, waren psychologische Phänomene, vor dem prüfenden Blick der Wissenschaft wohl verborgen. Eine Frau in Florida kaufte ihm ein neues Auto. Eine Frau in Kalifornien kaufte ihm ein neues Wohnmobil. Wer weiß, wer ihm sonst noch etwas kaufte. »Nomen est omen«, hieß es in einem Zeitungsartikel über Leslie Galls flächendeckenden Heldentaten: der Name »Gall« (»get-all«) sagt alles. Der »Sweetheart Swindler«, wie eines seiner Opfer ihn nannte, hangelte sich von Witwe zu Witwe und nahm sich, was er brauchte – und viel mehr. Sie öffneten ihm ihre Herzen und ihre Scheckhefte. »Mit stählernen Nerven, Charme und einem Koffer voll falscher Ausweise hat er vermutlich Zehntausende von Dollars von älteren Damen, die er bei Senioren-Tanztreffen und Kaffeekränzchen traf, gestohlen. Die kalifornische Polizei stellte nach Prüfung seines länglichen Vorstrafenregisters fest, daß er vielfach wegen Betruges, Urkundenfälschung und Diebstahls vorbestraft war.« Als Gall erfuhr, daß die kalifornische Polizei ihm auf der Spur war, veranlaßte er seinen Anwalt, einen Brief an die Polizei in Florida zu schreiben, in dem er anbot, sich zu stellen, falls ihm zugesichert würde, daß er seine Strafe in einem kanadischen Gefängnis absitzen könnte. »Seit die Geschichte an die Öffentlichkeit gekommen ist«, hat Reporter Dale Brazao geschrieben, »klingelten die Telefone bei der Polizei in Kalifornien pausenlos. Ständig riefen Leute an, die meinten, Gall könnte auch mit ihrer Mutter oder Tante angebändelt haben. ›Er hat so ein ich-glaub-ich-kenn-den-Burschen-Gesicht ...‹ Wer weiß, wie viele Opfer sich noch melden werden.« Während er nun eine zehnjährige Haftstrafe in einem Gefängnis in Florida absitzt, stellt Gall sich als Menschenfreund dar: »Klar hab ich ihr Geld genommen – aber sie haben doch den Gegenwert von mir bekommen. Ich habe ihre Bedürfnisse befriedigt. Sie haben Aufmerksamkeit, Zuneigung, Kameradschaft, und, in einigen Fällen, sogar Liebe bekommen ... es gab Zeiten, wo wir gar nicht mehr aus dem Bett gekommen sind.« (Frei nach Artikeln von Dale Brazao, erschienen im Toronto Star vom 19. Mai 1990 und 20. April 1992.) Vielleicht hätte ich standardisierte psychologische Tests anwenden können, um psychopathische Insassen zu identifizieren, aber die meisten dieser Tests basieren auf Selbstauskünften – zum Beispiel, »Ich lüge (1) leicht; (2) mit Gewissensbissen; (3) nie.« Die 28 Insassen, mit denen ich gearbeitet habe, erkannten stets sehr schnell den Zweck von Tests und Interviews, die ihnen von Psychologen und Psychiatern präsentiert wurden. Meistens sahen sie keinen Grund, dem Gefängnispersonal irgendwelche bedeutsamen Informationen preiszugeben – im Gegenteil, sie stellten sich immer im besten Licht dar, im Hinblick auf eine mögliche Freilassung auf Bewährung, eine andere Arbeit im Gefängnis, Aufnahme in das eine oder andere Programm, und so weiter. Zudem konnten die Psychopathen unter ihnen meisterhaft die Tatsachen verdrehen und die Wahrheit zu ihren Gunsten formen. Ihre Stärke war es, einen guten Eindruck zu machen. Daher enthielten die Gefängnisakten häufig sorgsam verfaßte Persönlichkeitsprofile, die in peinlichem Widerspruch standen zu dem, was alle im Gefängnis über den fraglichen Häftling wußten. Ich erinnere mich an eine Akte, die eine ganze Batterie von Selbstauskunfts-Tests enthielt, auf deren Basis der zuständige Psychologe zu dem Schluß gekommen war, daß ein gefühlloser Mörder in Wahrheit ein sensibler, fürsorglicher Mensch war, der nur das psychologische Äquivalent einer herzlichen Umarmung brauchte! Durch die sorglose Anwendung von Persönlichkeitstests war (und ist) die einschlägige Literatur durchsetzt mit Studien, die den Anspruch erheben, von Psychopathie zu handeln, aber tatsächlich nur sehr wenig damit zu tun haben. Ein Häftling lieferte ein großartiges Beispiel dafür, warum mir die Anwendung psychologischer Tests widerstrebt. Während eines Interviews mit ihm für eines meiner Studienprojekte kam die Rede auf psychologische Tests. Er erzählte mir, daß er sie allesamt in- und auswendig kenne, insbesondere den unter Gefängnispsychologen populärsten Selbstauskunfts-Test (»self-report inventory«), den »Minnesota Multiphasic Personality Inventory« (MMPI). Es stellte sich heraus, daß dieser Bursche in seiner Zelle einen vollständigen Satz von Fragebögen, Bewertungsbögen, Bewertungsschablonen und Auswertungshandbüchern für den MMPI hatte. Er verwendete diese Materialien und das durch sie erlangte Fachwissen, um andere Insassen zu beraten – natürlich gegen Bezahlung. Er analysierte, welche Art von Profil sein Kunde haben müßte, unter Berücksichtigung seiner Umstände und Wünsche und übte mit ihm die Antworten auf die Fragen ein. »Grade im Knast angekommen? Du solltest ein bißchen gestört wirken, vielleicht depressiv und unruhig, aber nicht so gestört, daß Du nicht behandelt werden kannst. Komm’ kurz vor deiner nächsten Anhörung zur Bewährung wieder her, und wir werden üben, wie du zeigen kannst, wie gut du dich entwickelt hast.« Auch ohne solche »professionelle« Hilfe sind viele Kriminelle in der Lage, ohne große Schwierigkeiten die Ergebnisse psychologischer Tests zu verfälschen. Kürzlich fand ich im Rahmen einer meiner Studien drei völlig unterschiedliche MMPI-Profile in der Gefängnisakte eines Insassen vor. Sie waren etwa im Abstand eines Jahres erhoben worden. Das erste kam zu dem Ergebnis, daß der Mann psychotisch war; das zweite kam zu dem Schluß, daß er völlig normal sei; und das dritte befand ihn für »leicht gestört«. In unserem Interview hat er geäußert, daß die Psychologen und Psychiater »Hohlköpfe« seien, die alles glauben würden, was er ihnen erzählte. Im ersten Test hätte er vorgetäuscht, geisteskrank zu sein, um in die psychiatrische Station des Gefängnisses überwiesen zu werden, da er glaubte, dort ein »ruhiges Leben« zu haben. Als er feststellte, daß es ihm dort nicht gefiel (»zu viele abgedrehte Betrüger«), gelang es ihm, nochmals den MMPI zu absolvieren – diesmal mit dem Ergebnis, daß er »normal« sei. Er kam zurück in den regulären Vollzug. Bald darauf beschloß er, sich als rastlos und depressiv darzustellen und produzierte ein MMPI-Profil eines leicht Gestörten – daraufhin wurde ihm Valium verordnet, das er an andere Insassen verkaufte. Die Ironie liegt darin, daß der Gefängnispsychologe jedes der drei MMPI-Profile als stichhaltige Aussage über Art und Schwere der psychiatrischen Störung des Häftlings bewertet hat. 29 Ich beschloß, mich zur Lösung des Klassifikations-Problems nicht mehr nur auf Selbstauskünfte zu verlassen. Zur Datenerhebung stellte ich ein Team von Praktikern zusammen, die gründlich mit Cleckleys Arbeit vertraut waren. Sie sollten die Psychopathen unter den Gefängnisinsassen anhand von langen, ausführlichen Befragungen und sorgfältigem Aktenstudium identifizieren. Ich gab diesen »Juroren« Cleckleys Liste der Charaktereigenschaften von Psychopathen als Richtlinie an die Hand. Es stellte sich heraus, daß die Praktiker meistens untereinander einig waren; die wenigen Meinungsverschiedenheiten wurden diskutiert und beigelegt. Allerdings waren andere Forscher und Praktiker sich nie ganz sicher, genau wie wir denn zu unseren Diagnosen gekommen waren. Daher haben meine Studenten und ich mehr als zehn Jahre damit verbracht, unsere Verfahren zum Aufspüren der Psychopathen unter den Insassen einer Haftanstalt zu verbessern und zu verfeinern. Das Ergebnis ist ein sehr zuverlässiges Instrument, das jeder Praktiker oder Forscher zur Diagnose verwenden kann, um ein facettenreiches und detailliertes Profil der als Psychopathie bekannten Persönlichkeitsstörung zu gewinnen. Wir haben für dieses Werkzeug die Bezeichnung Psychopathie-Checkliste gewählt.25 Zum ersten Mal steht ein allgemein anerkanntes, nach wissenschaftlichen Methoden entwickeltes Werkzeug zur Verfügung, um Psychopathie zu diagnostizieren und zu messen. Die Psychopathie-Checkliste wird inzwischen weltweit eingesetzt, um Praktikern und Forschern dabei zu helfen, echte Psychopathen halbwegs zuverlässig von denjenigen zu unterscheiden, die sich nur nicht an die Regeln halten. 30 3 Das Profil: Gefühle und Beziehungen Mache ich mir etwas aus anderen Leuten? Gute Frage. Ja, ich glaube schon ... aber ich lasse mir meine Gefühle nicht in die Quere kommen ... ich bin so warmherzig und rücksichtsvoll wie jeder andere auch, aber machen wir uns doch nichts vor: Jeder versucht, einen zu bescheißen. Man muß auf sich aufpassen, seine Gefühle abstellen. Sagen wir, du brauchst etwas, oder jemand versucht, dich zu beklauen ... du kümmerst dich drum ... tust, was getan werden muß ... Fühle ich mich schlecht, wenn ich jemandem wehtun muß? Ja, manchmal. Aber meistens ist es ... äh ... [lacht] ... wie fühlst du dich, wenn du eine lästige Fliege zerquetschst? – Ein wegen Entführung, Vergewaltigung und Erpressung inhaftierter Psychopath Die Psychopathie-Checkliste erlaubt es uns, über Psychopathen zu sprechen, ohne dabei ein allzu großes Risiko einzugehen, es lediglich mit sozial abweichendem oder kriminellem Verhalten zu tun zu haben oder Menschen ein falsches Etikett aufzukleben, die nichts miteinander gemein haben, als das Gesetz gebrochen zu haben. Sie liefert aber auch ein differenziertes Bild der gestörten Persönlichkeiten der Psychopathen unter uns. In diesem und dem nächsten Kapitel werde ich dieses Bild im Detail beleuchten, indem ich die wichtigsten Merkmale einzeln beschreibe. In diesem Kapitel werden die emotionalen und sozialen Charakterzüge dieser komplexen Persönlichkeitsstörung erörtert; Kapitel 4 untersucht den unsteten, sozial abweichenden Lebensstil des Psychopathen. 3.1 Die wichtigsten Symptome der Psychopathie Emotional / zwischenmenschlich Abweichendes Sozialverhalten heuchlerisch und oberflächlich egozentrisch und grandios Mangel an Reue oder Schuldbewußtsein Mangel an Einfühlungsvermögen hinterlistig und manipulativ flaches Gefühlsleben impulsiv unbeherrscht sucht Erregung verantwortungslos gestörtes Verhalten als Kind abweichendes Sozialverhalten als Erwachsener 3.2 Ein Warnhinweis Die Psychopathie-Checkliste ist ein komplexes klinisches Werkzeug zum Einsatz durch geschultes Personal.26 Im folgenden wird eine allgemeine Zusammenfassung der wichtigsten Charakterzüge und Verhaltensweisen von Psychopathen gegeben. Es sollte nicht versucht werden, anhand dieser Informationen sich selbst oder andere zu diagnostizieren. Eine Diagnose erfordert eine gezielte Schulung und das formale Auswertungshandbuch. Sollten Sie den Verdacht haben, daß jemand, den Sie kennen, in das in diesem und dem folgenden Kapitel beschriebene Profil fällt und falls es für Sie wichtig ist, eine fundierte Meinung zu erhalten, sollten Sie die Dienste eines qualifizierten (eingetragenen) Kriminalpsychologen oder -psychiaters in Anspruch nehmen. Außerdem sollte man bedenken, daß auch Personen, die keine Psychopathen sind, einige der hier beschriebenen Symptome aufweisen können. Viele Menschen sind impulsiv, heuchlerisch, kalt und gefühlsarm oder asozial, aber das bedeutet nicht, daß sie Psychopathen sind. Psychopathie ist ein Syndrom – eine Kombination zusammen auftretender Symptome. 31 3.3 Heuchlerisch und oberflächlich Psychopathen sind oft geistreich und wortgewandt. Sie können amüsante, unterhaltsame und schlagfertige Gesprächspartner sein und unwahrscheinliche, aber glaubhafte Geschichten erzählen, die sie selbst in einem guten Licht erscheinen lassen. Sie können sich sehr geschickt gut darstellen und sind häufig liebenswert und charmant. Gelegentlich jedoch wirken sie aalglatt, als offenkundig unaufrichtig und oberflächlich. Ein sorgfältiger Beobachter gewinnt häufig den Eindruck, daß Psychopathen Theater spielen und mechanisch »ihren Text aufsagen«. Eine meiner Mitarbeiterinnen beschrieb ein Interview, daß sie mit einem Häftling durchgeführt hat: Ich setzte mich und nahm meinen Notizblock zur Hand, und das erste, was dieser Bursche mir sagte, war, daß ich wunderschöne Augen hätte. Er brachte eine ganze Menge Komplimente über mein Aussehen in dem Interview unter – er konnte sich gar nicht wieder beruhigen über mein Haar. Gegen Ende des Interviews fühlte ich mich ungewöhnlich ... äh, hübsch. Ich bin ein wachsamer Mensch, besonders bei der Arbeit, und erkenne normalerweise einen Schwindler. Als ich wieder draußen war, konnte ich kaum glauben, daß ich ihm auf den Leim gegangen war. Psychopathen neigen zum Fabulieren und erzählen gerne Geschichten, die ziemlich unwahrscheinlich klingen, wenn man bedenkt, was über sie bekannt ist. Gerne stellen sie sich als Experten der Soziologie, Psychiatrie, Medizin, Psychologie, Poesie, Literatur, Künste oder der Rechtswissenschaften dar. Meistens stört es sie kein bißchen, ertappt zu werden. In einer unserer Gefängnisakten ist ein psychopathischer Insasse beschrieben, der vorgab, akademische Titel in Soziologie und Psychologie zu führen, obwohl er nicht einmal die High School abgeschlossen hatte. Während eines Interviews mit einer meiner Studentinnen, einer Psychologie-Doktorandin, erhielt er die Posse aufrecht; sie merkte an, daß er so versiert im Gebrauch des Fachjargons war, daß er einen Laien wohl getäuscht hätte. Solchen Geschichten begegnet man bei Psychopathen immer wieder. Dick! Aalglatt und clever, das mußte man ihm lassen. Toll, wie der so was fingerte. Wie das Ding mit dem Verkäufer im Kleiderladen in Kansas City, Missouri. Das war das Geschäft, in dem sie, wie Dick beschloß, ihren ersten Fischzug machten ... Dick sagte zu ihm: »Du brauchst weiter nichts zu tun, als bloß dastehen. Du darfst bloß nicht lachen und dich über nichts wundern, was ich sage. Für diese Dinge muß man ein Gespür haben.« Und das hatte er offenbar. Er rauschte in den Laden und stellte Perry dem Verkäufer forsch als »Freund von mir, der heiraten will«, vor. Dann sagte er: »Ich bin sein Trauzeuge und helfe ihm dabei, die Sachen zu besorgen, die er braucht ...« Der Verkäufer »schluckte« das, und alsbald probierte Perry, nachdem er seine Drillichhose ausgezogen hatte, einen dunklen Anzug an, den der Verkäufer als »ideal für eine zwanglose Hochzeitsfeier« bezeichnete ... Danach stellten sie eine geschmacklos bunte Auswahl von Sporthosen und Jacken zusammen, die nach Dick für die Flitterwochen in Florida genau richtig wären ... Wie finden Sie das? Ein häßlicher Zwerg wie der schnappt sich ’ne Puppe, die nicht nur ’ne Filmfigur hat, sondern auch noch Zaster, während Burschen wie Sie und ich, die nach was aussehen ...« Der Verkäufer gab ihm die Rechnung. Dick langte in seine Gesäßtasche, runzelte die Stirn, schnippte mit den Fingern und sagte: »Verdammt! Ich hab meine Brieftasche vergessen.« Was Perry so fadenscheinig vorkam, daß selbst ein Idiot nicht drauf reingefallen wäre. Der Verkäufer war offenbar nicht dieser Ansicht, denn er kam mit einem Blankoscheck an, und 32 zahlte, als Dick ihn auf achtzig Dollar über die Gesamtsumme hinaus ausschrieb, ohne weiteres die Differenz in bar aus. Truman Capote, KALTBLÜTIG In seinem Buch ECHOES IN THE DARKNESS27 liefert Joseph Wambaugh eine anschauliche Beschreibung eines psychopathischen Lehrers, der seine gesamte Umgebung mit seiner angeblichen Gelehrsamkeit hereinlegen konnte. Das heißt, fast seine gesamte Umgebung – denjenigen, die sich ein bißchen im jeweiligen Fachgebiet auskannten, fiel schnell auf, wie oberflächlich sein Wissen war. Einer sagte, er hätte »zu jedem Thema einen oder zwei gute Sätze – aber nicht mehr.« Natürlich ist es nicht immer leicht, einen Heuchler von einem ehrlichen Menschen zu unterscheiden, vor allem, wenn wir nur wenig über die Person wissen. Nehmen wir einmal an, eine Frau trifft in einer Bar einen attraktiven Mann, und über einem Glas Wein sagt er: Ich habe einen großen Teil meines Lebens verschwendet. Man kann die Zeit nicht zurückholen. Ich habe versucht, die verlorene Zeit wettzumachen, indem ich mehr gemacht habe; dadurch wurde das Leben aber nur schneller, nicht besser. Ich will in Zukunft viel ruhiger leben und anderen Menschen vieles geben, was ich selbst nie hatte. Ihnen Freude machen. Ich meine nicht einen billigen Nervenkitzel, sondern Substanz im Leben eines Mitmenschen. Das wäre wahrscheinlich – aber nicht unbedingt – eine Frau. Vielleicht das Kind einer Frau oder jemand in einem Altersheim. Ich glaube – nein, ich weiß –, daß mir das viel Freude machen würde; ich würde mich als ein besserer Mensch fühlen. Ist dieser Mann aufrichtig? Hat er die Worte mit Überzeugung gesprochen? Sie stammen von einem 45jährigen Häftling mit einem erschreckenden Vorstrafenregister und der höchstmöglichen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste, der seine Frau brutal mißhandelt und seine Kinder verlassen hat. In seinem Buch FATAL VISION28 hat Joe McGinniss seine Beziehung zu Jeffrey MacDonald beschrieben, einem psychopathischen Arzt, der des Mordes an seiner Frau und seinen Kindern überführt worden war: Für sechs Monate nach seiner Inhaftierung, vielleicht auch sieben oder acht, während ich mich mit den schrecklichsten Tatumständen konfrontiert sah, die mir jemals als Autor begegnet waren, und während ich außerdem ständig von diesem liebenswerten und überzeugenden Mann bedrängt wurde, ihm zu glauben, hatte ich nicht nur mit der Frage seiner Schuld zu ringen, sondern einer weiteren, die in gewisser Weise noch beunruhigender war: Wenn er das getan haben könnte, wie konnte ich ihn dann mögen? [S. 668] Jeffrey MacDonald verklagte McGinniss mit diversen Anschuldigungen, unter anderem wegen »seelischer Grausamkeit«. Der Schriftsteller Joseph Wambaugh wurde im Prozeß als Zeuge gehört und äußerte sich folgendermaßen über MacDonald, den er für einen Psychopathen hielt: Ich fand ihn aalglatt ... ich glaube, ich bin noch nie einem solchen Heuchler begegnet, und ich war schockiert von der Art, wie er seine Geschichte erzählte. Er beschrieb entsetzliche Ereignisse, er konnte die Mordtaten erschreckend detailliert schildern ... in einer sehr distanzierten, glatten und beiläufigen Art ... Ich habe Dutzende von Leuten befragt, die Überlebende schrecklicher Verbrechen waren, manche unmittelbar danach, manche Jahre später, darunter die Eltern ermordeter Kinder, und ich bin in meiner ganzen Laufbahn 33 noch nie jemandem begegnet, der ein solches Ereignis so teilnahmslos beschreiben konnte wie Dr. MacDonald. [S. 678] 3.4 Egozentrisch und grandios »Ich. Ich. Ich ... und weiter umkreist die Welt ihr strahlendes Ich – sie war nicht der hellste, sondern der einzige Stern«, sagte Ann Rule über Diane Downs, die 1984 verurteilt wurde, weil sie auf ihre drei kleinen Kinder geschossen hatte, von denen eines starb und die anderen beiden bleibende Schäden davontrugen.29 Psychopathen haben ein narzißtisches und immens aufgeblähtes Bild ihres eigenen Wertes und ihrer Wichtigkeit, sind unglaublich egozentrisch, leben in der Gewißheit, daß ihnen alles zusteht (»sense of entitlement«) und sehen sich selbst als den Mittelpunkt des Universums an, als überlegenes Wesen, das das Recht hat, nur nach seinen eigenen Regeln zu leben. »Ich bin nicht gesetzlos«, sagte eine unserer Probandinnen, »ich folge meinen eigenen Gesetzen. Ich verstoße nie gegen meine eigenen Regeln.« Dann beschrieb sie diese Regeln, deren wichtigstes Ziel ihr eigenes Wohlergehen war. Ein anderer Psychopath, der unter anderem wegen Raub, Vergewaltigung und Betrug einsaß, gab auf die Frage nach seinen Schwächen folgende Antwort: »Ich habe keine Schwächen; man könnte höchstens sagen, daß ich zu fürsorglich bin.« Auf einer 10Punkte-Skala sah er sich »als eine volle 10. Ich hätte 12 gesagt, aber ich will ja nicht angeben. Mit einer besseren Bildung wäre ich brillant.« Die Grandiosität und Großspurigkeit mancher Psychopathen äußert sich manchmal dramatisch im Gerichtssaal. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, daß sie ihre Verteidiger kritisieren oder entlassen und ihre Verteidigung selbst übernehmen, meist mit kläglichen Ergebnissen. »Mein Partner bekam ein Jahr. Ich bekam zwei, wegen eines idiotischen Anwalts«, erzählte einer unserer Probanden. In seinem Berufungsverfahren verteidigte er sich selbst – und seine Strafe wurde auf drei Jahre erhöht. Psychopathen erscheinen oft als arrogante, schamlose Angeber – selbstbewußt, starrsinnig, dominant und eingebildet. Sie streben nach Macht und Kontrolle über andere und scheinen unfähig, andere Meinungen als stichhaltig anzuerkennen. Auf manche Menschen wirken sie charismatisch und »elektrisierend«. Nur selten machen Psychopathen sich Sorgen über ihre rechtlichen, finanziellen oder persönlichen Probleme. Sie sehen sie als vorübergehende Rückschläge an, als Ergebnis von Pech, illoyalen Freunden oder ein unfaires und untaugliches Gesellschaftssystem. Wenn auch Psychopathen häufig bestimmte Ziele vorgeben, zeigen sie doch wenig Verständnis für die erforderlichen Qualifikationen – sie haben keine Ahnung, wie sie ihre Ziele erreichen können und haben mit ihrem Werdegang und ihrem Desinteresse an fundierter Bildung kaum eine Chance, sie zu verwirklichen. Der psychopathische Häftling mag in seinen Überlegungen über eine Entlassung auf Bewährung vage Pläne äußern, ein Immobilienhai oder ein Rechtsanwalt für Arme zu werden. Einem nicht sonderlich gebildeten Häftling gelang es, sich den Titel für eine Autobiographie schützen zu lassen, die er schreiben wollte – in Gedanken rechnete er sich schon aus, welch ein Vermögen sein Bestseller ihm einbringen würde. Psychopathen sind überzeugt, mit ihren Fähigkeiten auf einem beliebigen Gebiet reüssieren zu können. Unter den richtigen Voraussetzungen – Gelegenheit, Glück, willige Opfer – kann sich ihre Grandiosität spektakulär auszahlen. So dreht zum Beispiel der psychopathische Unternehmer ein »großes Rad« – aber meistens mit dem Geld anderer Leute. Jack war wegen Einbruchs eingesperrt, einem von zahllosen Delikten, die er von früher Jugend an begangen hatte. Er erzielte die höchstmögliche Punktzahl auf der Psychopa34 thie-Checkliste. Eines Tages begann er ein Interview – typisch für ihn – mit übermäßigem Interesse an der Videokamera. »Wann können wir die Kassette sehen? Ich will sehen, wie ich aussehe, wie ich rüberkomme.« Dann ließ er eine (vier Stunden) lange Erzählung über seine Kriminalgeschichte vom Stapel, mit eingestreuten Ermahnungen an sich selbst, »Ach ja, das habe ich natürlich alles längst aufgegeben.« Er breitete die Geschichte eines kleinen Diebes und Betrügers aus – »je mehr Leute du triffst, desto mehr Geld kannst Du ihnen aus der Tasche ziehen – und sie sind nicht wirklich Opfer. Verdammt, sie kriegen immer von der Versicherung mehr erstattet, als sie verloren haben.« Mit den kleinen Diebstählen, die schließlich zu Einbrüchen und bewaffnetem Raub führten, gingen Körperverletzungen einher. »Oh ja, Homos-Klatschen war mein Hobby, seit ich 14 war – aber ich mache nichts Schlimmes, Frauen schlagen oder Kinder. Im Gegenteil, ich liebe Frauen. Ich finde, sie sollten sich alle um den Haushalt kümmern. Am liebsten wäre es mir, wenn alle Männer auf der Welt einfach sterben würden und ich als einziger übrig bliebe.« »Wenn ich dieses Mal rauskomme, will ich einen Sohn haben«, erzählte Jack der Psychologin, die das Interview durchführte. »Wenn er fünf ist, würde ich die Frau dazu bringen, zu verschwinden, und ihn dann auf meine Art großziehen.« Auf die Frage, wie seine kriminelle Karriere begonnen hätte, antwortete er: »Das hatte mit meiner Mutter zu tun, dem wunderbarsten Menschen auf der ganzen Welt. Sie war stark und arbeitete hart, um vier Kinder durchzubringen. Ein wunderbarer Mensch. Ich begann, ihren Schmuck zu klauen, als ich in der fünften Klasse war. Ich würde sagen, ich habe die Schlampe nie wirklich gekannt – unsere Wege trennten sich.« Jack machte einen schwachen Versuch, sein kriminelles Leben zu rechtfertigen – »Ja, ich mußte manchmal stehlen, um aus der Stadt rauszukommen, aber ich bin kein verdammter Krimineller.« Im späteren Verlauf des Interviews erinnerte er sich allerdings: »Ich habe 16 Einbrüche in zehn Tagen gemacht. Das war gut, gab mir ein echt gutes Gefühl. So ähnlich, als ob ich süchtig wäre und mir meinen Schuß besorgen würde.« »Haben sie jemals gelogen?«, fragte die Interviewerin. »Sie machen wohl Witze! Ich lüge wie ich atme, eins so selbstverständlich wie das andere.« Die Interviewerin war eine Psychologin mit einiger Erfahrung in der Anwendung der Psychopathie-Checkliste. Sie beschrieb das Interview als nicht nur das längste, sondern auch das unterhaltsamste, das sie je durchgeführt hatte. Jack war nach ihrer Einschätzung einer der großspurigsten Häftlinge, die ihr bis dahin begegnet waren. Obwohl er keinerlei Mitgefühl für seine Opfer an den Tag legte, war er ganz offenbar vernarrt in seine Straftaten und anscheinend darum bemüht, die Interviewerin mit seinen erstaunlichen Tricks zum Schaden anderer zu beeindrucken. Jack redete wie ein Wasserfall, mit der typischen Eigenart eines Psychopathen, sich in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen völlig zu widersprechen. Sein langes Vorstrafenregister reflektierte nicht nur seine Vielseitigkeit als Verbrecher, sondern auch seine ausgeprägte Unfähigkeit, aus Erfahrung zu lernen. Ebenso verblüffend war Jacks Unfähigkeit zu realistischer Planung. Obwohl er Übergewicht hatte und ziemlich aus der Form gegangen war durch jahrelanges Anstaltsessen im Gefängnis und billigem »Fast Food«, wenn er draußen war, erzählte er unserer Interviewerin mit der Zuversicht eines jungen Sportlers von seinem Plan, nach Ende seiner Haftstrafe eine Karriere als professioneller Schwimmer zu verfolgen. Er wollte anständig werden, von den gewonnenen Preisgeldern leben und davon Reisen finanzieren, nachdem er sich frühzeitig zur Ruhe gesetzt hätte. 35 Zum Zeitpunkt des Interviews war Jack 38 Jahre alt. Es ist nicht bekannt, ob er jemals zuvor ein Schwimmer gewesen war. 3.5 Mangel an Reue oder Schuldbewußtsein Psychopathen zeigen ein erstaunliches Desinteresse an den verheerenden Auswirkungen ihres Verhaltens für andere. Häufig sind sie darüber ganz offen und stellen gelassen fest, daß sie kein Schuldbewußtsein haben, daß die von ihnen verursachten Schmerzen und Zerstörungen ihnen nicht leid tun und daß es keinen Grund für Anteilnahme gäbe. Auf die Frage, ob er Reuegefühle wegen eines bewaffneten Raubüberfalls hätte, dessen Opfer anschließend drei Monate mit Stichverletzungen im Krankenhaus verbringen mußte, antwortete einer unsere Probanden: »Bleiben wir doch bei den Tatsachen! Er liegt ein paar Monate im Krankenhaus, während ich hier schmore. Ich habe ihn ein bißchen aufgeschlitzt, aber hätte ich ihn umbringen wollen, hätte ich ihm die Kehle durchgeschnitten. So bin ich nun mal; ich war noch nett zu ihm.« Befragt, ob er irgendeines seiner Verbrechen bereue, antwortete er: »Ich bereue gar nichts. Nichts kann ungeschehen gemacht werden; es muß damals gute Gründe gegeben haben und darum habe ich es getan.« Vor seiner Hinrichtung sprach der Serienmörder Ted Bundy in mehreren Interviews mit Stephen Michaud und Hugh Aynesworth über Schuldbewußtsein.30 »Was immer ich auch in der Vergangenheit getan habe«, sagte er, »es – die Unterlassungen oder Handlungen – berührt mich nicht emotional. Wie kann man die Vergangenheit fühlen? Man muß mit ihr leben. Sie ist nicht real. Sie ist nur ein Traum!« [S. 284] Bundys »Traum« umfaßte die Ermordung von bis zu hundert jungen Frauen – er hatte sich nicht nur aus seiner Vergangenheit davongemacht, sondern die Zukunft eines jeden einzelnen seiner jungen Opfer ausgelöscht. »Schuldbewußtsein?«, sagte er im Gefängnis, »Das ist der Mechanismus, mit dem Menschen gesteuert werden. Es ist eine Illusion. Es ist ein gesellschaftlicher Kontrollmechanismus – und es ist sehr ungesund. Es macht schreckliche Dinge mit unserem Körper. Und es gibt viel bessere Wege, unser Verhalten zu kontrollieren, als diese ziemlich ungewöhnliche Anwendung von Schuldbewußtsein.« [S. 288] Andererseits kommt es vor, daß Psychopathen Reue zeigen, sich aber dann in Wort oder Tat selbst widersprechen. Verbrecher lernen im Gefängnis schnell, daß Reue ein wichtiges Wort ist. Auf die Frage, ob er einen von ihm begangenen Mord bereuen würde, erzählte uns ein junger Häftling: »Ja, klar fühle ich Reue.« Auf Nachfrage hin sagte er, daß er sich »deswegen nicht schlecht fühlen« würde. Einmal war ich völlig entgeistert von der Logik eines Häftlings, der meinte, sein Mordopfer hätte von seiner Tat profitiert, indem es »eine harte Lektion über das Leben« gelernt hätte. »Er hatte sich das doch selbst zuzuschreiben«, sagte ein anderer Häftling über einen Mann, den er bei einem Streit über die Zeche in einem Lokal getötet hatte. »Jeder konnte sehen, daß ich an dem Abend in einer üblen Laune war. Warum hat er mich gepiesackt?« Er fuhr fort: »Jedenfalls hat der Bursche nicht gelitten. Ein Messerstich in eine Arterie ist die leichteste Art zu gehen.« Das Fehlen von Reue oder Schuldbewußtsein bei Psychopathen geht einher mit einer erstaunlichen Fähigkeit, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Jedwede persönliche Verantwortlichkeit für Handlungen, die ihren Verwandten, Freunden, Bekannten und anderen Mitmenschen, die sich an die Regeln gehalten haben, Schrecken und Enttäuschung bereiten, tun sie mit einem Achselzucken ab. Meistens haben sie wohlfeile Entschuldigungen für ihr Verhalten, und manchmal streiten sie es rundheraus ab. 36 Jack Abbott wurde in den Nachrichten bekannt, als der Schriftsteller Norman Mauer ihm bei der Veröffentlichung seines Buchs IN THE BELLY OF THE BEAST: LETTERS FROM PRISON half. Abbott kam durch seine Verbindung mit dem prominenten Romanautor und politischen Aktivisten nicht nur zu Berühmtheit; er erreichte auch seine Freilassung. Kurz nachdem er auf Bewährung freigekommen war, geriet er in einem Restaurant in New York in einen Streit mit einem Kellner, der ihn aufgefordert hatte, das Lokal zu verlassen. Abbott zierte sich und die beiden fanden sich im Hinterhof des Restaurants wieder, wo Abbott den – unbewaffneten – Kellner namens Richard Adan mit einem Messer tödlich verletzte. In einem Interview für die Fernsehsendung A Current Affair, einem Nachrichtenmagazin, wurde Abbott gefragt, ob er seine Tat bereue. »Ich glaube, das ist nicht das richtige Wort ... Reue bedeutet, daß Du etwas Falsches getan hast ... Falls ich ihn denn erstochen haben sollte, war es ein Unfall.« Abbott wurde des Verbrechens überführt und wieder ins Gefängnis gesteckt. Einige Jahre später strengte Adans Witwe einen Zivilprozeß wegen Schadenersatz und Schmerzensgeld für den Tod ihres Gatten an; in diesem Verfahren verteidigte Abbott sich selbst. Ricci Adan, die Witwe des Opfers, über Abbotts Verhalten im Gerichtssaal: »Erst entschuldigte er sich, um mich dann aus heiterem Himmel zu beleidigen.« »Jeder im Gerichtssaal wußte, daß die Anschuldigungen gegen mich falsch waren«, sagte Abbott dem Fernsehreporter. Seine Bemerkung, »Er hatte keine Schmerzen, es war eine saubere Wunde«, erlaubt Rückschlüsse auf die Tiefe seiner Gefühle über den Tod des Kellners. Dann äußerte er über Richard Adan selbst: »Er hatte keine Zukunft als Schauspieler – wahrscheinlich hätte er ohnehin die Branche gewechselt.« The N. Y. Times News Service meldete am 16. Juni 1990, Abbott hätte zu Ricci Adan gesagt, das Leben ihres Mannes sei »keinen Dollar wert gewesen«. Trotzdem wurden ihr vom Gericht mehr als sieben Millionen Dollar zugesprochen. Erinnerungslücken, Gedächtnisschwund, Blackouts, multiple Persönlichkeiten und vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit tauchen immer wieder in Vernehmungsprotokollen von Psychopathen auf. So zeigt zum Beispiel ein weithin bekannter Ausschnitt eines Fernsehberichts über Kenneth Bianchi, einem der berüchtigten »Hillside Stranglers« aus Los Angeles, eine erbärmliche und durchsichtige Imitation einer multiplen Persönlichkeit.31 Auch wenn ein Psychopath manchmal seine Handlungen zugibt, wird er ihre Folgen für andere verharmlosen oder gar abstreiten. Ein Häftling mit einer sehr hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste hat behauptet, daß seine Verbrechen tatsächlich positive Auswirkungen für die Opfer gehabt hätten. »Am nächsten Tag konnte ich über einen meiner Streiche in der Zeitung lesen – einen Raub oder eine Vergewaltigung. Es wurden Interviews mit den Opfern abgedruckt – sie waren in der Zeitung! Frauen haben oft nette Sachen über mich gesagt, daß ich sehr höflich und rücksichtsvoll bin, sehr gewissenhaft. Ich war nicht gewalttätig zu ihnen, klar? Einige haben sich sogar bei mir bedankt.« Ein anderer Proband, wegen seines zwanzigsten Einbruchs in Untersuchungshaft, sagte: »Klar hab ich das Zeug geklaut. Aber hallo – die Leute waren doch bis zur Hutschnur versichert! Niemand wurde verletzt, niemand hat gelitten. Warum also das Theater? Tatsächlich habe ich ihnen einen Gefallen getan, dadurch, daß sie die Versicherungssumme kassieren konnten. Natürlich geben sie einen höheren Schaden an, als der Krempel wert war, das machen sie immer.« 37 In einer kühnen Verdrehung der Tatsachen sehen Psychopathen häufig sich selbst als die wahren Opfer an. »Ich bin zum Idioten und zum Sündenbock gemacht worden. Wenn ich zurückblicke, sehe ich mich selbst mehr als Opfer denn als Täter.« So äußerte sich John Wayne Gacy, ein psychopathischer Serienmörder, der dreiunddreißig junge Männer und Knaben gefoltert, ermordet und dann im Keller seines Hauses vergraben hat.32 Im Verhör über seine Morde stellte sich Gacy als das vierunddreißigste Opfer dar. »Ich war das Opfer, um meine Kindheit betrogen.« Er fragte sich nachdenklich, ob es wohl »irgendwo einen Menschen gibt, der verstehen kann, wie sehr es geschmerzt hat, John Wayne Gacy zu sein. In seinem Buch über Kenneth Taylor, den Zahnarzt, der seine Frau auf ihrer Hochzeitsreise brutal schlug, sie betrog und sie später zu Tode prügelte, zitiert der Autor Peter Maas ihn mit der Aussage: »Ich habe sie so sehr geliebt. Sie fehlt mir so sehr. Was passiert ist, ist eine Tragödie. Ich habe meine beste Geliebte und meine beste Freundin verloren ... Warum versteht denn niemand, was ich durchgemacht habe?«33 3.6 Mangel an Einfühlungsvermögen Viele der an Psychopathen zu beobachtenden Eigenschaften – insbesondere Egozentrik, Mangel an Reue, flaches Gefühlsleben und Hinterlist – stehen in enger Verbindung mit einem profunden Mangel an Einfühlungsvermögen (»empathy«; die Unfähigkeit, ein geistiges und emotionales Abbild einer anderen Person herzustellen). Sie scheinen unfähig zu sein, sich in andere Menschen »hineinzuversetzen« oder »einzufühlen«, außer vielleicht in einem rein intellektuellen Sinne. Die Gefühle ihrer Mitmenschen sind für Psychopathen uninteressant. In mancherlei Hinsicht sind sie wie die emotionslosen Androiden in Science FictionRomanen, unfähig, sich die Gefühle echter Menschen vorzustellen. Ein Vergewaltiger, weit oben auf der Psychopathie-Checkliste, fand es schwierig, sich in seine Opfer hineinzuversetzen. »Sie haben Angst, oder? Aber ich verstehe das nicht wirklich. Ich habe schon selbst Angst gehabt, ich fand das nicht unangenehm.« Psychopathen sehen Mitmenschen zumeist nur als Objekte an, die sie zur Befriedigung eigener Bedürfnisse benutzen können. Schwache und Verletzliche – die sie verspotten, anstatt sie zu bemitleiden – sind ihre beliebtesten Ziele. »Im Universum des Psychopathen gibt es niemanden, der einfach nur schwach ist«, schrieb der Psychologe Robert Rieber. »Wer schwach ist, ist auch ein Schwächling – also jemand, der es herausfordert, ausgenutzt zu werden.«34 »Oh wie schrecklich, sehr bedauerlich«, schnappte ein junger Häftling, als er vom Tod eines Jungen erfuhr, auf den er in einem Bandenkonflikt eingestochen hatte. »Versuchen sie nicht, mich mit diesem Mist aufzuweichen. Der kleine Arsch hat gekriegt, was er verdient hat, und ich kann mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Sie sehen ja,« – er zeigte auf die verhörenden Beamten – »daß ich hier meine eigenen Probleme habe.« Manchmal entwickeln normale Menschen, um physisch und psychisch zu überleben, eine gewisse Unempfindlichkeit für die Gefühle und Leiden bestimmter Personengruppen. Zum Beispiel könnten Ärzte, die zu sehr mit ihren Patienten mitfühlen, von ihren eigenen Emotionen überwältigt und so in der Ausübung ihrer beruflichen Aufgaben beeinträchtigt werden. Für sie ist mangelnde Sensibilität klar abgegrenzt, beschränkt auf eine bestimmte Zielgruppe. In ähnlicher Weise können Soldaten, Bandenmitglieder und Terroristen – sehr effektiv, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat – gedrillt werden, den Feind als Untermenschen, als ein seelenloses Objekt zu sehen. Psychopathen hingegen zeigen einen allgemeinen Mangel an Mitgefühl. Sie sind gleichgültig gegenüber den Rechten und Leiden von Verwandten und Fremden glei38 chermaßen. Wenn sie Bindungen zu ihren Ehepartnern oder Kindern pflegen, dann nur, weil sie sie als Besitztümer ansehen, ähnlich wie eine Stereoanlage oder ein Auto. Tatsächlich drängt sich der Schluß auf, daß für manche Psychopathen die Innereien ihres Autos wichtiger sind als die inneren Welten ihrer »Lieben«. Eine unserer Probandinnen ließ es zu, daß ihr Freund ihre fünfjährige Tochter sexuell belästigte, weil »er mich geschafft hat. Ich wollte an dem Abend nicht noch mehr Sex.« Die Frau hatte Schwierigkeiten zu verstehen, warum die Behörden ihr die Obhut für das Kind entzogen. »Sie gehört mir. Ihr Wohlergehen geht nur mich etwas an.« Sie widersprach allerdings nur matt – ihr Protest war wesentlich energischer, als ihr Auto während einer Vormundschaftsanhörung wegen unbezahlter Strafzettel beschlagnahmt worden war. Wegen ihrer Unfähigkeit, die Gefühle ihrer Mitmenschen zu verstehen, legen Psychopathen manchmal Verhaltensweisen an den Tag, die normale Menschen nicht nur erschreckend, sondern auch rätselhaft finden. So können sie zum Beispiel ihre Opfer mit ungefähr so viel Anteilnahme foltern und verstümmeln, wie unsereins fühlt, wenn wir eine Weihnachtsgans tranchieren. Allerdings verüben nur wenige Psychopathen – außer vielleicht in Filmen und Büchern – solche Verbrechen. Ihre Gefühlskälte offenbart sich typischerweise auf weniger auffällige, aber nicht minder verheerende Art: Schmarotzend bringen sie andere Menschen um ihre Besitztümer, Ersparnisse und Würde; aggressiv tun und nehmen sie, was ihnen gefällt; in schamloser Weise vernachlässigen sie das leibliche und seelische Wohlergehen ihrer Familien; gehen eine endlose Folge von zufälligen, unpersönlichen und belanglosen sexuellen Beziehungen ein, und so weiter. Connie ist fünfzehn, in der Schwebe zwischen Kindlichkeit und Weiblichkeit, manchmal vom einen zum anderen pendelnd an einem einzigen Tag. Sie ist eine Jungfrau, aber eingestimmt auf ihre aufkeimende Sexualität, als würde sie aufmerksam einer Melodie in ihrem Kopf lauschen. Eines heißen und schwülen Tages, alleingelassen von ihrer Familie, erscheint ein Fremder an der Tür – ein Fremder, der sagt, er hätte sie beobachtet. »Ich bin dein Geliebter, Schatz«, sagt er ihr. »Noch weißt du nicht, was das bedeutet ... aber bald wirst du es wissen. Ich weiß alles über dich ... Ich sage dir, wie es sein wird, ich bin zuerst immer ganz lieb, beim ersten Mal. Ich werde dich so fest halten, daß du weißt, du brauchst nicht versuchen zu fliehen oder mir etwas vorzuspielen, weil es vergeblich wäre. Und ich werde in dich hineinkommen, wo es ganz geheim ist und du wirst dich hingeben und mich lieben –« ... »Ich rufe die Polizei –« ...Zwischen den Zähnen stieß er einen kurzen Fluch aus, der nicht für ihre Ohren gedacht war. Aber selbst dieses »Mein Gott!« klang gezwungen. Dann begann er wieder zu lächeln. Sie sah sein Lächeln kommen, unbeholfen, als würde er durch eine Maske lächeln. Sein ganzes Gesicht ist eine Maske, dachte sie aufgeregt, es ist braungebrannt bis zur Kehle. »Also, Schätzchen: Entweder du kommst jetzt raus und wir machen eine schöne Spritztour zusammen. Oder, wenn du nicht rauskommst, werden wir warten, bis deine Leute wieder zuhause sind, und dann werde ich es ihnen allen besorgen ... Mein süßes, blauäugiges, kleines Mädchen«, sagte er mit einem halb gesungenen Seufzer, der nichts mit ihren braunen Augen zu tun hatte ... [Joyce Carol Oates, WHERE ARE YOU GOING, WHERE HAVE YOU BEEN?] 39 3.7 Hinterlistig und manipulativ Psychopathen sind Naturtalente im Lügen, Täuschen und Manipulieren. Mit ihrer regen Einbildungskraft und konzentriert auf sich selbst können Psychopathen durch die Möglichkeit – oder gar Gewißheit –, ertappt zu werden, kaum aus der Fassung gebracht werden. Bei einer Lüge ertappt oder mit der Wahrheit konfrontiert, reagieren sie nur selten ratlos oder verlegen – sie ändern einfach ihre Geschichte oder versuchen die Umstände neu zu erfinden, so daß sie zu der Lüge passen. Die Ergebnisse sind eine Reihe widersprüchlicher Aussagen und ein gründlich verwirrter Zuhörer. Ein großer Teil dieser Lügen scheint keine andere Motivation zu haben als den vom Psychologen Paul Ekman so bezeichneten »Spaß am Verkohlen« (»duping delight«).35 »Ich bin ein sehr sensibler Mensch. Man muß diese Kinder doch einfach lieben!«, hat Genene Jones gesagt, der Ermordung zweier Säuglinge überführt und in mehr als einem Dutzend weiterer Fälle verdächtigt. Sie war Krankenschwester in San Antonio und verabreichte lebensbedrohliche Drogen an Neugeborene auf einer lntensivstation, um sich daraufhin selbst als Heldin darzustellen, die die Kinder »von der Schwelle des Todes« wieder ins Leben zurückholte. Ihre »hypnotische Präsenz«, extrem kompetente und resolute Ausstrahlung in Verbindung mit einer abscheulichen, medizinisch plausiblen Vertuschungstaktik ermöglichten ihre Verbrechen, trotz zahlreicher Verdachtsmomente über ihre Rolle bei vielen Todesfällen und beinahe tödlichen Notfällen unter Säuglingen. In Gesprächen mit dem Schriftsteller Peter Elkind beklagte sich Jones, daß »ich als Sündenbock herhalten mußte, weil ich so ruppig war. ›Mein Mundwerk hat mir das eingebrockt‹, sagte Genene mit einem Grinsen, ›und mit meinem Mundwerk werde ich da wieder rauskommen.‹« Wie alle Psychopathen hatte sie ein erstaunliches Talent, die Wahrheit für ihre eigenen Zwecke zu manipulieren. »Am Ende unseres Gesprächs«, schrieb Elkind, »hatte Genene eine Lebensgeschichte erzählt, die sich sehr unterschied von allem, was ich von Dutzenden anderen Personen, die sie kannten, gehört hatte. Sie kollidierte mit den Tatsachen nicht nur aufgrund ihrer Schuld ... sondern auch in unzähligen Details, klein und unwichtig, außer vielleicht dadurch, daß sie in Genenes Selbstbild zu Tage traten. Genene widersprach sich nicht nur in ihren Erinnerungen an andere und in den umfangreichen Akten, sondern sie widersprach auch Tatsachen, die sie mir selbst vier Jahre zuvor berichtet hatte ... Für sie waren die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung, Gut und Böse und richtig und falsch ohne Bedeutung.« [Peter Elkind, THE DEATH SHIFT] Psychopathen scheinen stolz zu sein auf ihre Fähigkeit, zu lügen. Befragt, ob sie leicht lügen könne, lachte eine Frau mit einer hohen Punktzahl auf der PsychopathieCheckliste und antwortete: »Im Lügen bin ich die Beste. Darin bin ich wirklich gut – ich glaube, weil ich manchmal etwas Negatives über mich selbst eingestehe. Dann denkt man, na, wenn sie das zugibt, dann muß der Rest ja auch stimmen.« Sie fuhr fort, daß sie manchmal »die Suppe würzt« mit einem Körnchen Wahrheit. »Wenn man dir einen Teil der Geschichte abnimmt, dann glaubt man dir auch den Rest.« Bei vielen Beobachtern stellt sich der Eindruck ein, daß Psychopathen manchmal unbewußt lügen; es ist, als ob die Worte ein Eigenleben haben, unabhängig davon, daß der Sprecher weiß, daß der Zuhörer die Tatsachen kennt. Die Indifferenz des Psychopathen, als Lügner ertappt zu werden, ist wirklich außergewöhnlich; sie läßt manchmal den Zuhörer am Geisteszustand des Sprechers zweifeln. Häufiger jedoch wird der Zuhörer eingewickelt. Bei den Seminaren, die wir für psychisches und kriminologisches Personal abhalten, wird häufig Erstaunen geäußert angesichts des Vorstrafenregisters eines unserer Pro40 banden, nachdem eine Videoaufzeichnung eines Interviews mit ihm vorgeführt worden ist. Das Subjekt ist ein gutaussehender, redegewandter 24jähriger Mann mit zahllosen Plänen für sein Leben nach der Entlassung und einem anscheinend unerschöpflichen Vorrat schlummernder Talente. In einem stakkatoartigen Redeschwall hat er durchaus glaubhaft von seinen früheren Aktivitäten berichtet. Er ¾ verließ das Elternhaus mit acht; ¾ wurde Sportpilot mit elf, machte seinen Pilotenschein mit fünfzehn; ¾ war als Pilot in der Wirtschaft angestellt, mit Zweimotoren- und Instrumentenflugerfahrung; ¾ hat in neun verschiedenen Ländern auf vier Kontinenten gelebt; ¾ hat ein Mietshaus verwaltet; ¾ hat seine eigene Dachdeckerei betrieben; ¾ hat für ein Jahr eine Ranch betrieben; ¾ hat für sechs Monate als Waldbrand-Bekämpfer gearbeitet; ¾ hat zwei Jahre bei der Küstenwache verbracht; ¾ war der Kapitän eines 48-Fuß-Charterboots; ¾ war für vier Monate Tiefseetaucher. Zur Zeit sitzt er eine Haftstrafe wegen Mordes ab. Vier Anträge auf Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung wurden bereits abgelehnt, aber trotzdem hat er jede Menge Pläne: Er will ins Immobiliengeschäft einsteigen und Timesharing-Apartments verkaufen, die Berufspilotenlizenz machen und vieles mehr. Er will bei seinen Eltern leben, die er seit 17 Jahren nicht mehr gesehen hat. Über psychologische Tests, die er absolviert hatte, sagte er: »Für die Dinger bin ich zu clever, habe alle Tests haushoch bestanden, wurde immer als hochintelligent eingestuft.« Aus naheliegenden Gründen bekam er von uns den Spitznamen »Sprechmaschine« (»motor-mouth«) verpaßt. Seine Philosophie? »Wenn du genug Scheiße schmeißt, bleibt immer was kleben.« Es scheint zu funktionieren, da auch skeptische Zuhörer von seiner Aufrichtigkeit beeindruckt waren. So machte zum Beispiel ein Interviewer Notizen wie: »sehr beeindruckend«; »aufrichtig und geradeheraus«; »besitzt gute interpersonelle Fähigkeiten«; »intelligent und eloquent«. Nachdem der Interviewer seine Akte gelesen hatte, mußte er allerdings feststellen, daß praktisch nichts von den Erzählungen des Häftlings der Wahrheit entsprach. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß dieser Mann eine sehr hohe Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste erreicht hatte. Bedenkt man ihre Redegewandtheit und die Leichtigkeit, mit der ihnen Lügen von den Lippen gehen, ist es nicht überraschend, daß Psychopathen mit großem Erfolg ihre Mitmenschen beschummeln, belügen, betrügen, hereinlegen und manipulieren, ohne deswegen auch nur die geringsten Gewissensbisse zu haben. Häufig bezeichnen sie sich selbst geradeheraus als Schwindler oder Trickbetrüger. Ihre Äußerungen verraten ihre Überzeugung, die Welt würde aus »Gebern und Nehmern« bestehen, aus Jägern und Opfern, und daß es dumm wäre, die Schwächen anderer nicht auszunutzen. Außerdem haben sie häufig eine feine Nase für solche Schwächen und wie sie sie am besten zu ihrem Vorteil ausnutzen können. »Ich mag es, Leute hereinzulegen. Jetzt lege ich sie gerade herein«, hat einer unserer Probanden gesagt, ein 45jähriger Mann, der seine erste Haftstrafe wegen Anlagebetrugs absaß. Einige ihrer Manöver sind aufwendig und ausgeklügelt, andere dagegen ziemlich simpel: parallel mit mehreren Frauen anzubändeln, oder Verwandte und Freunde davon zu 41 überzeugen, daß Geld gebraucht würde, »um mir aus der Klemme zu helfen«. Selbst der mieseste Trick wird gelassen, selbstbewußt und dreist in die Tat umgesetzt. »Ach ja, die Siebziger«, erinnerte sich ein engagierter Sozialarbeiter, als wir ihn für dieses Buch befragten. »Ich habe ein Rehabilitationszentrum für Ex-Häftlinge betrieben und war ziemlich beschäftigt damit, diese Jungs zu beraten, Jobs für sie zu finden und das Geld zusammenzukratzen, um das Ganze am laufen zu halten. Einer von ihnen benahm sich wie mein bester Freund, ich mochte ihn wirklich gern; manchmal war er richtig lieb. Und dann hat er plötzlich den ganzen Laden ausgeräumt. Nicht nur einmal, nein, zweimal hat er das gesamte Inventar versetzt: Schreibmaschinen, Möbel, Lebensmittel, Büroausstattung, einfach alles. Nach dem ersten Mal gelang es ihm irgendwie, mich davon zu überzeugen, daß es ihm Leid täte – ich kann es nicht fassen, daß ich auf seine Reueschwüre hereingefallen bin, aber so war es. Ungefähr einen Monat später fälschte er einen Scheck und räumte unser Bankkonto ab – und das war das Ende von diesem Projekt. Ich stand mit einem Packen geplatzter Schecks in der Bank und redete wie ein Wasserfall. Mir kommt immer noch die Galle hoch, weil ich eigentlich kein Trottel bin. Ich war es gewohnt, mit ziemlich derben Jungs umzugehen und dachte, ich hätte sie im Griff. Ich hatte mir nicht träumen lassen, daß ich mich so vorführen lassen würde – aber da stand ich plötzlich und war selbst auf der Suche nach einem Job.« Die Fähigkeit, Freund und Feind gleichermaßen zu betrügen, macht es Psychopathen leicht, Betrug, Unterschlagung und Hochstapelei zu begehen, gefälschte Aktien und wertlosen Grundbesitz zu verscherbeln und alle nur denkbaren großen oder kleinen Schwindeleien anzustellen. Einer unserer Probanden erzählte uns folgende Geschichte: Er schlenderte eines Tages durch einen Yachthafen, als ihm ein junges Paar auffiel, das sich für ein großes Segelboot interessierte, an dem ein Schild »Zu Verkaufen« hing. Er ging hinüber zu dem Pärchen, stellte sich wie selbstverständlich als der Eigner des Bootes vor – »völliger Quatsch«, erzählte er uns – und lud sie ein, an Bord zu gehen und sich umzusehen. Nach einer angenehmen Stunde auf dem Boot machte das Paar ein Kaufangebot. Nachdem man sich handelseinig geworden war, verabredete er, sich am nächsten Tag mit dem Pärchen vor der Bank zu treffen und bat um eine Anzahlung von 1500 Dollar, um das Geschäft perfekt zu machen. Nachdem man sich freundlich voneinander verabschiedet hatte, ließ er sich ihren Scheck auszahlen und sah sie danach nie wieder. »Das Geld liegt auf der Straße«, sagte uns eine Psychopathin mit einem langen Register von Betrugsdelikten und Kleindiebstählen. »Man sagt, das stimmt nicht – oh doch, es stimmt sehr wohl. Ich will den Leuten nichts Böses tun – aber es ist ja so einfach!« In ganz ähnlicher Weise lernen Psychopathen im Gefängnis oft, die Vollzugseinrichtungen zu ihrem Vorteil zu nutzen und sich so ein vorteilhaftes Image für den Bewährungsausschuß aufzubauen. Sie bilden sich fort, studieren, nehmen an Drogen- und AlkoholTherapien teil, engagieren sich religiös oder quasireligiös und folgen stets dem letzten Trend zur Rehabilitation – nicht etwa, um sich zu »rehabilitieren«, sondern um einen guten Eindruck zu machen. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, daß ein besonders geschickter Manipulator sich als »wiedergeboren« im christlichen Sinne ausgibt – nicht nur, um den Bewährungsausschuß von seinem angeblich aufrichtigen Vorsatz zu überzeugen, sich zu bessern, sondern auch, um die wohlmeinende und gut ausgestattete Gemeinde der »Wiedergeborenen« für seine Unterstützung einzuspannen ... und natürlich von ihren materiellen Ressourcen zu profitieren. Und da heutzutage die Theorien vom »Zyklus des Mißbrauchs« (»cycle of abuse«) allgemein anerkannt sind, bemühen sich viele Psychopathen eifrig, ihre Fehler auf Mißbrauch im Kindesalter zu schieben. Wenn auch ihre Behauptungen schwer nachprüfbar sein mögen, sind doch stets zahlreiche wohlmeinende Menschen zur Stelle, die ihnen glauben. 42 Problem: Wie bringe ich eine Person dazu, das zu tun, was ich von ihr will? Steigerung: Wie gelingt mir das, wenn das, was ich von ihr will, ihren ureigensten Neigungen und allem, was sie für falsch, gefährlich und undenkbar zu halten gelernt hat, widerspricht – zum Beispiel, zu einem fremden Mann ins Auto zu steigen, besonders dann, wenn diese Person eine junge, hübsche Frau in der Öffentlichkeit ist? Ted Bundy, der vielleicht bekannteste Serienmörder, den die Vereinigten Staaten hervorgebracht haben – 1989 wurde er für den letzten einer langen Reihe von brutalen Morden an jungen Frauen hingerichtet –, muß sich mit diesem Problem lange und intensiv und aus jedem Blickwinkel beschäftigt haben. Er muß seine ganze Beobachtungsgabe eingesetzt haben, die beträchtlich war – er hatte sie durch sein Psychologiestudium schärfen können. Er muß die Tiefen seiner Kenntnisse und Erfahrungen über menschliche Probleme und Verletzlichkeiten ausgelotet haben – er hatte sie während seiner Zeit als Mitarbeiter einer Krisen-Hotline sammeln können. Wir können nicht sicher sein, was in Ted Bundy vorging, als er begann, seine Opfer in sein Auto zu locken, um mit ihnen an den Ort ihrer Ermordung zu fahren. Aber anhand der Lösungen, die er sich einfallen ließ, können wir davon ausgehen, daß die vorstehenden Vermutungen richtig sind – Variationen eines Motivs, daß er angeblich immer wieder durchspielte, um es zu perfektionieren. Ted Bundy kaufte sich ein Paar Krücken und ging sogar so weit, einen Gipsverband am Bein vorzutäuschen. Solchermaßen zeitweilig »behindert«, bat er sympathische junge Frauen um Hilfe – die wohl die Straßenseite gewechselt hätten, um einem Annäherungsversuch eines Fremden zu entgehen, aber anscheinend gerne anhielten, um einem Mann mit gebrochenem Bein zu helfen. Bundy variierte das Thema – manchmal trug er den Arm in einer Schlinge und fand sein Opfer an einer belebten Straße; manchmal war das Bein »verletzt« und er machte sich in Freizeitparks an junge Frauen heran und bat um Hilfe dabei, seinen Bootsanhänger am Auto zu befestigen –»es ist gleich da hinten«. Der Trick war ein grausiger Geniestreich. Manchmal klappte er nicht und die Frauen, die er ansprach, lehnten es ab, ihm zu folgen – aber er hatte nur allzu oft Erfolg, wie Ann Rule in ihrem Buch THE STRANGER BESIDE ME berichtet. Ann Rules Buch ist eine Studie über Bundys systematisch perfektionierte Fähigkeit, sich durch seine attraktive Erscheinung und seinen glatten Charme das Vertrauen von Frauen zu erschmeicheln. Durch einen unglaublichen Zufall haben Rule und Bundy für mehrere Jahre bei einer Krisen-Hotline zusammengearbeitet, bevor sie berufen wurde, im Rahmen polizeilicher Ermittlungen über einen bis dahin noch nicht identifizierten Serienmörder junger Frauen Fallberichte zu schreiben. In dem Maße, wie die Anzahl der Opfer stieg, wuchs ihr Verdacht. Aber um zu Tage zu treten, mußte sich dieser Verdacht einen Weg bahnen durch ihre Erinnerungen an Bundy als sympathischen und – das macht ihr Buch klar – sexuell attraktiven Arbeitskollegen, während der Nachtschicht am Schreibtisch gegenüber. Der Umstand, daß Ann Rule ihre Arbeit als Polizeischreiberin aufgab und Krimi-Autorin mit Bestseller-Auflagen wurde, machte aus diesem merkwürdigen Zufall eine Gelegenheit für sie, Bundys Macht über andere aus der Perspektive eines lnsiders darzustellen. Das Ergebnis? Ein seltsames und beklemmendes Buch über einen Psychopathen, der auf die Frage eines Fernsehreporters, ob er, Bundy, es verdient hätte, zu sterben, geantwortet hat: »Gute Frage – ich glaube, die Gesellschaft verdient es, vor mir und meinesgleichen geschützt zu werden.« 43 3.8 Flaches Gefühlsleben »Ich bin der kaltblütigste Hurensohn, dem du jemals begegnen wirst.«36 So beschrieb sich Ted Bundy nach seiner endgültigen Verhaftung gegenüber der Polizei. Psychopathen scheinen unter einer Art Gefühlsarmut zu leiden, die die Breite und Tiefe ihrer Emotionen beschränkt. Während sie manchmal kalt und gefühllos wirken, neigen sie andererseits zu dramatischen, flachen und kurzlebigen Gefühlsausbrüchen. Sorgfältige Beobachter gewinnen den Eindruck, daß sie Theater spielen und daß sich unter der Oberfläche nur wenig abspielt. Manchmal behaupten sie, starke Gefühle zu erleben, können aber die feinen Unterschiede verschiedener Gemütszustände nicht beschreiben. So setzen sie zum Beispiel Liebe mit sexueller Erregung gleich, Traurigkeit mit Frustration und Zorn mit Gereiztheit. »Ich glaube an Gefühle: Haß, Zorn, Lust und Gier«, sagte Richard Ramirez, der »Night Stalker.«37 Bemerkungen wie die folgende von Diane Downs, die auf ihre drei kleinen Kinder geschossen hat, geben Anlaß zu Betrachtungen über ihre völlige Unangemessenheit und die Art der ihnen zugrundeliegenden Gefühle. Noch Jahre nach ihrer Verurteilung besteht Diane Downs darauf, daß ihre Kinder – und sie selbst – in Wirklichkeit von einem »zotteligen Unbekannten« angeschossen worden wären. Zu ihrem eigenen Überleben (sie trug eine Armverletzung davon, die sie sich nach Überzeugung der Geschworenen selbst beigebracht hatte) sagte sie: Alle sagen, »Du hast aber wirklich Glück gehabt.« Nun, das finde ich nicht. Ich konnte mir zwei Monate lang noch nicht einmal die verdammten Schuhe zubinden! Es tut weh, es tut immer noch weh, ich habe eine Stahlplatte in meinem Arm – sie wird noch anderthalb Jahre drin bleiben. Die Narbe wird immer bleiben. Ich werde mich für den Rest meines Lebens an diese Nacht erinnern, ob ich es will oder nicht. Ich kann nicht finden, daß ich Glück gehabt habe. Ich meine, daß meine Kinder Glück hatten. Wenn ich genauso verletzt worden wäre wie sie, wären wir alle gestorben.38 Das offenkundige Fehlen normaler Affekte und emotionaler Tiefe brachte die Psychologen J. H. Johns und H. C. Quay zu der Einschätzung, ein Psychopath »kennt den Text, aber nicht die Melodie.«39 So hat zum Beispiel Jack Abbott in einem schwadronierenden Buch von Haß, Gewalt und Rechtfertigungen für sein Verhalten die folgende aufschlußreiche Bemerkung gemacht: Es gibt Gefühle – ein ganzes Spektrum von ihnen –, die ich nur durch Beschreibungen kenne, durch Lektüre und meine unreife Phantasie. Ich kann mir vorstellen, diese Gefühle zu haben (und weiß daher, was sie sind), aber ich habe sie nicht. Mit 37 Jahren bin ich lediglich ein blasiertes Kind. Meine Leidenschaften sind die eines Knaben.40 Viele Praktiker sind der Auffassung, daß die Gefühle von Psychopathen so flach sind, daß sie kaum mehr als Proto-Emotionen seien: primitive Reaktionen auf unmittelbare Bedürfnisse. (Ich werde die jüngsten Forschungsergebnisse zu diesem Thema in späteren Kapiteln erörtern.) Zum Beispiel hatte einer unserer psychopathischen Probanden, ein 28jähriger Geldeintreiber für einen Kredithai, folgendes über seinen Job zu sagen: »Wenn ich jemandem auf die Pelle rücken muß, der nicht zahlt, mache ich mich erst mal wütend.« Befragt, ob diese Wut sich unterscheide von seinem Gefühl, wenn ihn jemand beleidigen würde oder übervorteilen wolle, antwortete er: »Nein. Das ist alles 44 dasselbe. Es ist programmiert, alles künstlich. Ich könnte jetzt sofort böse werden, ich kann es ganz einfach ein- und ausschalten.« Ein anderer Psychopath hat im Rahmen unserer Forschungsarbeit gesagt, daß er nicht wirklich verstehen würde, was mit dem Ausdruck »Angst« gemeint sei. »Wenn ich eine Bank ausraube«, sagte er, »merke ich, daß der Mensch an der Kasse zittert oder nicht mehr sprechen kann. Eine Kassiererin hat über das ganze Geld gekotzt. Sie muß ziemlich fertig gewesen sein, aber ich weiß nicht, wieso. Wenn mir jemand eine Kanone vor die Nase halten würde, hätte ich wohl auch Angst, glaube ich, aber ich würde nicht kotzen.« Als er gebeten wurde, seine Gefühle in einer solchen Situation zu beschreiben, enthielt seine Antwort keine Aussage über körperliche Empfindungen. Er sagte Dinge wie, »ich würde das Geld herausgeben«; »ich würde überlegen, wie ich dem Räuber zuvorkommen könnte«; »ich würde versuchen, meinen Arsch zu retten«. Als er gefragt wurde, wie er sich fühlen würde, nicht, was er denken oder tun würde, schien er ratlos zu sein. Gefragt, ob er jemals Herzklopfen hätte oder Bauchschmerzen, antwortete er: »Natürlich! Ich bin doch kein Roboter. Ich komme ziemlich in Fahrt beim Sex oder bei einer Prügelei.« Laborexperimente mit einem medizinischen Meßwertschreiber haben gezeigt, daß Psychopathen die physiologischen Reaktionen, die normalerweise mit Angst einhergehen, nicht zeigen.41 Die Bedeutung dieser Erkenntnis liegt darin, daß für die meisten Menschen die Angst, die durch Androhung von Schmerzen oder Strafe verursacht wird, ein unangenehmes Gefühl und ein starkes Verhaltensmotiv ist. Angst hält uns von manchen Handlungen ab – »Mach das und es wird dir leid tun« –, aber sie läßt uns andere Handlungen ausführen – »Mach das oder es wird dir leid tun.« In jedem Falle ist es das emotionale Bewußtsein der Folgen, das uns zu einer bestimmten Handlungsweise treibt. Das gilt aber nicht für Psychopathen – sie machen unbekümmert weiter. Vielleicht wissen sie, was passieren könnte, aber es kümmert sie nicht ernsthaft. »Trotz seines gesellschaftlichen Ranges ist er wahrlich einer der gefährlichsten Soziopathen, die mir jemals begegnet sind«, sagte der Bundesrichter, nachdem er den angesehenen 37jährigen Rechtsanwalt Norman Russell Sjonborg aus San Jose wegen der brutalen Ermordung einer seiner Mandantinnen, von der er Geld unterschlagen hatte, verurteilt hatte. Seine dritte Frau Terry, die ihm zunächst ein Alibi verschafft hatte, sagte über ihr erstes Treffen mit ihm: »Er wirkte wie ein netter Kerl, sanft und außerordentlich charmant.« Aber sie merkte auch an: »Vom ersten Moment an sprach Russell von dieser Gefühlsleere, einer Unfähigkeit, zu fühlen wie andere Menschen; zu wissen, wann er weinen oder sich freuen sollte.« Terry fuhr fort, daß »sein Gefühlsleben wie Zahlenmalerei war« und daß »er psychologische Selbsthilfe-Bücher las, um die passenden emotionalen Reaktionen in Alltagssituationen zu lernen.« Als ihre Ehe zu zerbrechen begann, versuchte Russell, seine Frau davon zu überzeugen, daß sie dabei sei, verrückt zu werden. »Ich ging völlig hysterisch in die Therapiesitzungen«, erzählte sie, »während Russell ruhig und freundlich und rational dasaß. Er wandte sich dem Therapeuten zu und sagte, ›Sehen sie, womit ich es zu tun habe?‹ Ich fing an zu schreien und zu kreischen und sagte, ›Er ist der Verrückte von uns, nicht ich!‹ Aber der Therapeut hat Russell seine Show abgenommen und meinte, wir könnten als Paar keine Fortschritte machen, wenn ich meinem Mann für alles die Schuld geben würde.« Später entwickelte Russell mehrere Szenarien, mit den Problemen seiner Frau umzugehen, und notierte sie auf einem Zettel: »Nichts tun«; »Vaterschaftstest/ Familiengericht«; »Die Mädchen nehmen, niemanden umbringen«; »Die Mädchen nehmen, 4 umbringen«; »Die Mädchen und Justin umbringen.« Sein Bewährungshelfer sagte dazu, die Liste würde »die Psyche eines Mannes offen45 baren, der die Ermordung seiner eigenen Kinder mit der gleichen Distanz erwägt wie den Abschluß verschiedener Kfz-Haftpflichtversicherungen. Es ist die Wäscheliste eines Mannes ohne Seele.« Über Russells Mord an Phyllis Wilde sagte seine Frau: »Ich habe ihn nur einige Stunden, nachdem er sie zu Tode geprügelt hatte, getroffen. Es gab nichts in seinem Verhalten, das ihn hätte verraten können ... keine Angst, keine Reue, nichts.« In einer Eingabe an den Richter flehte Terry: »Bitte erkennen sie das Tier in ihm, hinter seiner respektablen Fassade.« Sie brachte ihre Befürchtung zum Ausdruck, daß er sie schließlich finden würde. »Ich weiß, daß das passieren wird. Er wird ein vorbildlicher Häftling sein, sich bei den anderen Insassen und den Aufsehern einschmeicheln. Schließlich wird er in eine Anstalt mit gelockertem Vollzug verlegt werden. Und dann wird er fliehen.« [Aus einem Artikel von Rider McDowell in der Zeitschrift Image vom 26. Januar 1992] Für die meisten von uns bringen Angst und Sorgen diverse unangenehme körperliche Empfindungen mit sich, wie zum Beispiel schweißnasse Hände, ein klopfendes Herz, einen trockenen Mund, Anspannung der Muskeln oder ein Schwächegefühl, Zittern und ein »mulmiges« Gefühl in der Magengrube. In der Tat, oft genug beschreiben wir Angst durch die körperlichen Empfindungen, die sie begleiten: »Ich war so entsetzt, daß mir das Herz bis zum Hals schlug«; »Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund war wie ausgetrocknet« und so weiter. Diese körperlichen Empfindungen sind kein Bestandteil dessen, was Psychopathen als Angst erleben. Für sie ist Angst – wie die meisten anderen Gefühle – bruchstückhaft, flach und überwiegend kognitiv geprägt – es fehlt der physiologische Aufruhr oder die »Färbung«, die die meisten von uns als ausgesprochen unangenehm empfinden und daher zu vermeiden oder reduzieren versuchen. 46 4 Das Profil: Der Lebensstil Das Gesamtbild der Persönlichkeit des Psychopathen unterscheidet ihn von einem normalen Kriminellen. Er ist aggressiver und impulsiver, und seine emotionalen Reaktionen sind flacher. Sein Mangel an Schuldbewußtsein ist jedoch das ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmal. Der normale Kriminelle hat moralische Regeln verinnerlicht – wenn diese auch verzerrt sein mögen. Verstößt er gegen diese Regeln, fühlt er sich schuldig. McCord und McCord, 42 THE PSYCHOPATH: AN ESSAY ON THE CRIMINAL MIND In Kapitel 3 habe ich beschrieben, wie Psychopathen über sich selbst und andere denken und fühlen – die in meiner Psychopathie-Checkliste aufgeführten emotionalen und zwischenmenschlichen Symptome. Dies ist aber nur eine Facette des Syndroms. Die andere Facette soll in diesem Kapitel beschrieben werden. Sie besteht aus den restlichen Symptomen der Psychopathie-Checkliste, einem chronisch labilen und ziellosen Lebensstil, der durch banale, aber auch ungeheuerliche Verstöße gegen gesellschaftliche Normen und Erwartungen gekennzeichnet ist. Gemeinsam stellen diese zwei Facetten – die eine schildert Gefühle und Beziehungen, die andere ein abweichendes Sozialverhalten – ein umfassendes Bild der psychopathischen Persönlichkeit dar. 4.1 Impulsiv Psychopathen verbringen nur wenig Zeit damit, die Vor- und Nachteile einer bestimmten Handlungsweise abzuwägen oder die möglichen Konsequenzen zu bedenken. »Ich habe das gemacht, weil mir danach war«, ist eine häufige Antwort. Der texanische Mörder Gary Gilmore erregte landesweit Aufsehen, indem er seine eigene Hinrichtung einklagte – mit Erfolg: Er war 1977 der erste, der seit zehn Jahren in den USA hingerichtet worden war. Auf die Frage, »Glauben sie, daß es einen dritten und vierten Mord gegeben hätte, wenn sie in jener Nacht nicht verhaftet worden wären?«, antwortete er: Ja, bis ich erwischt oder erschossen worden wäre oder so ... Ich hab nichts überlegt oder geplant, ich habs einfach gemacht. Es war wirklich Pech für die beiden Kerle ... Ich meine nur, durch Morden kann man Dampf ablassen. Wut ist kein Grund. Die Morde hatten keinen Grund. Man kann Mord nicht durch Logik verstehen.43 [Kursive Hervorhebung durch den Autor] Impulsive Handlungen sind weniger Gefühlsaufwallungen als vielmehr die Folge eines zentralen Motivs im Verhalten der meisten Psychopathen: dem Drang nach sofortiger Befriedigung, Vergnügung oder Entspannung. »Der Psychopath ist wie ein Kleinkind, das eingesponnen in seine eigenen Bedürfnisse ist und ungeduldig Befriedigung einfordert«, schrieben die Psychologen William und Joan McCord.44 Die meisten Kinder beginnen schon frühzeitig, ihr Vergnügen zurückzustellen und gehen Kompromisse mit den Beschränkungen ihrer Umgebung ein. Ein Elternteil kann meistens mit einem Versprechen die Befriedigung der Wünsche eines Zweijährigen aufschieben, zumindest für eine gewisse Zeit; aber Psychopathen lernen diese Lektion anscheinend nie – sie verändern ihre Wünsche nicht, sie ignorieren die Bedürfnisse anderer. Und so fragen sich Familienmitglieder, Arbeitgeber und Kollegen immer wieder ratlos, was denn passiert ist – Jobs werden aufgegeben, Beziehungen abgebrochen, Pläne geändert, Häuser geplündert, Menschen verletzt, offenbar häufig aus einer Laune heraus. Der Ehemann einer Psychopathin drückte es so aus: »Sie stand vom Tisch auf und dann habe ich sie für zwei Monate nicht mehr gesehen.« 47 Einer unserer Probanden, weit oben auf der Psychopathie-Checkliste, erzählte uns, daß er auf dem Weg zu einer Party beschloß, einen Kasten Bier zu kaufen, aber feststellte, daß er seine Brieftasche zu Hause vergessen hatte, vielleicht sechs oder sieben Häuserblocks entfernt. Er wollte nicht zurückgehen, suchte sich ein schweres Stück Holz und überfiel die nächste Tankstelle, wobei der Tankwart schwere Verletzungen davontrug. Psychopathen neigen dazu, in den Tag hinein zu leben und ihre Pläne oft zu ändern. Sie denken wenig über die Zukunft nach und machen sich erst Recht keine Sorgen darüber. Auch interessiert es sie kaum, wie wenig sie im Leben erreicht haben. »Na ja, ich bin ein Flaneur, ein Nomade – ich hasse es, mich festzulegen«, ist eine typische Bemerkung. Einer unserer Interviewpartner verwendete eine Analogie, um zu erklären, warum er »für den Moment lebt«. Uns wird immer gesagt, wir sollen defensiv fahren, schon im Voraus Ausweichmanöver für einen Unfall planen und weit über das Fahrzeug direkt vor uns hinausblicken. Aber dabei ist doch gerade das Auto unmittelbar vor uns die eigentliche Gefahr, und wenn wir immer zu weit vorausschauen, werden wir mit ihm zusammenstoßen. Wenn ich immer nur an morgen denke, kann ich nicht heute leben. 4.2 Unbeherrscht Über ihre Impulsivität – also aus einer momentanen Laune heraus zu handeln – hinaus neigen Psychopathen zu heftigen Reaktionen auf vermeintliche Beleidigungen oder Herabsetzungen. Die meisten von uns haben mächtige Steuerungsmechanismen, die unser Verhalten hemmen; auch wenn wir eigentlich aggressiv reagieren wollen, können wir uns doch meistens »zusammenreißen«. Bei Psychopathen sind diese hemmenden Mechanismen nur schwach ausgeprägt und die kleinste Provokation genügt, um sie zu überwinden. Daher sind Psychopathen häufig ungeduldig oder aufbrausend und neigen dazu, auf Frustration, Versagen, Disziplinierung und Kritik mit plötzlicher Gewalt, Drohungen und verbalen Attacken zu reagieren. Sie sind leicht beleidigt und werden wegen Lächerlichkeiten wütend oder aggressiv, häufig in einem Zusammenhang, der anderen unpassend erscheint. Allerdings sind ihre Ausbrüche, so extrem sie erscheinen mögen, gewöhnlich schnell vorbei, und sie kehren schnell wieder zu einem normalen Verhalten zurück – als ob nichts Ungewöhnliches passiert wäre. Der Häftling Carl rief seine Frau vom Münztelefon im Gefängnis aus an und erfuhr, daß sie ihn am Wochenende nicht würde besuchen können, um ihm die angeforderten Zigaretten und Lebensmittel zu bringen, da es ihr nicht gelungen sei, einen Babysitter für die Kinder zu finden. »Du verfluchte Schlampe«, brüllte er ins Telefon. »Ich bringe dich um, du Hure.« Er bekräftigte seine Drohung, indem er gegen die Wand boxte und sich die Knöchel blutig stieß. Unmittelbar, nachdem er aufgelegt hatte, fing er jedoch an, mit einigen Mithäftlingen zu lachen und zu scherzen; er schien völlig perplex, als ein Wächter, der einen Teil des Telefongesprächs mitgehört hatte, ihm verbalen Mißbrauch und bedrohliches Verhalten vorwarf. Ein Häftling wurde in der Warteschlange fürs Abendessen versehentlich von einem anderen gestoßen, woraufhin er ihn grün und blau schlug. Danach reihte er sich wieder in die Schlange ein, als ob nichts geschehen wäre. Obwohl er mit Einzelhaft für seine Übertretung bestraft wurde, war seine einzige Rechtfertigung: »Ich war sauer. Er hat meine Privatsphäre verletzt. Ich habe getan, was ich tun mußte.« In einem klassischen Fall einer »Ersatzhandlung« geriet einer unserer Probanden mit einem sehr kräftig gebauten Türsteher vor einem örtlichen Lokal in einen Streit, verlor die Beherrschung und versetzte einem unbeteiligten Zuschauer einen Faustschlag. Das Opfer fiel rückwärts gegen eine Tischkante, verletzte sich den Kopf und starb zwei Tage 48 später. »Ich sah rot und dieser Kerl hat über mich gelacht.« Er warf dem Opfer vor, ihn in Rage versetzt zu haben und machte das Krankenhaus für den Tod des Opfers verantwortlich. Wenn Psychopathen auch außerordentlich leicht reizbar sind und aggressiv werden, ist ihr nachfolgendes Verhalten nicht unkontrolliert. Im Gegenteil, wenn Psychopathen »ausrasten«, scheint es, als ob sie einen kontrollierten Wutausbruch inszenieren; sie wissen ganz genau, was sie tun. Ihr aggressives Verhalten ist »kalt«; ihnen fehlt die intensive emotionale Aufwallung, die andere verspüren, wenn sie die Beherrschung verlieren. So antwortete zum Beispiel ein Häftling mit einer hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste auf die Frage, ob er jemals die Kontrolle verliert, wenn er »sauer« wird: »Nein. Ich behalte mich unter Kontrolle. Ich entscheide, wie sehr ich dem Kerl wehtun will.« Es ist nicht ungewöhnlich, daß Psychopathen anderen Menschen ernsthafte physische oder emotionale Verletzungen zufügen, aber bestreiten, daß sie Schwierigkeiten damit haben, ihre Launen zu kontrollieren. In den meisten Fällen sehen sie ihr aggressives Verhalten als natürliche Reaktion auf eine Provokation an. 4.3 Sucht den »Kick« Psychopathen haben ein ständiges und übersteigertes Bedürfnis nach Erregung (»excitement«) – sie wollen »in der Überholspur« oder »am Abgrund« leben, dort, wo die »action« ist. In vielen Fällen bringt die »action« es mit sich, die Regeln zu brechen. In seinem Buch THE MASK OF SANITY (S. 208) beschreibt Hervey Cleckley einen psychopathischen Psychiater, der nie in nennenswerter Weise gegen das Gesetz verstoßen hatte, aber unfähig war, die in seinem Beruf erforderliche Selbstbeherrschung auszuüben und regelmäßige Gelage abhielt. Bei solchen Eruptionen am Wochenende pflegte er sein Image als professioneller Therapeut zu zerstören, indem er jedwede Frau, die sich in seiner Gesellschaft fand, erniedrigte, beleidigte und sogar physisch bedrohte. Viele Psychopathen konsumieren ein reichhaltiges Sortiment an Drogen auf ihrer Suche nach etwas Neuem und Aufregendem; häufig ziehen sie auf der Suche nach einem neuen »Kick« von Ort zu Ort und von Job zu Job. Ein Heranwachsender, den wir interviewt haben, hatte eine originelle Art, seinen Adrenalinspiegel anzuheben: Irgendwie gelang es ihm jedes Wochenende, seine Kumpel zu überreden, an einer Brücke über einen Fluß mit einem Güterzug »chicken« zu spielen. Die Gruppe postierte sich in Richtung Zug auf dem Gleis und der erste, der hinabsprang, mußte für die anderen Bier ausgeben. Unser Proband, ein geschwätziger Überredungskünstler, mußte kein einziges Mal das Bier bezahlen. Viele Psychopathen geben an, Straftaten um der Aufregung willen, wegen des »Kicks« zu begehen. Befragt, ob sie jemals aus Spaß verrückte oder gefährliche Sachen machen würde, antwortete eine unserer Probandinnen: Ja, alles Mögliche. Aber am aufregendsten finde ich es, mit Drogen in der Tasche durch einen Flughafen zu spazieren. Mann, was für ein »high«! Ein männlicher Psychopath erzählte, er würde seinen Job als »Gorilla« für einen Drogendealer gerne machen, wegen »der Adrenalin-Kicks. Wenn ich nicht arbeite, gehe ich in eine Bar und blase jemandem Rauch ins Gesicht, dann gehen wir raus und prügeln uns, und meistens findet er mich am Ende sympathisch, dann gehen wir wieder rein und trinken einen zusammen oder so.« Die Fernsehdokumentation DIABOLICAL MINDS enthielt eine interessante Passage über G. Daniel Walker, einen Verbrecher mit einer langen Historie von Betrug, Raub, Ver49 gewaltigung und Mord und der Vorliebe, jedermann in Sichtweite zu verklagen.45 In einem Interview mit dem ehemaligen FBI-Agenten Robert Ressler machte Walker folgende Bemerkung: Es bringt dir eine gewisse Spannung, wenn du aus einer großen Vollzugsanstalt ausgebrochen bist und du weißt, daß hinter dir die roten Lampen blinken und die Sirenen heulen. Das ist ein »Kick«, der ... es ist besser als Sex. Oh ja, das ist spannend. Die andere Seite dieser Gier nach Erregung ist die Unfähigkeit, Routine oder Monotonie zu ertragen. Psychopathen sind schnell gelangweilt. Man findet sie kaum in Berufen oder bei Aktivitäten, die langweilig oder monoton sind oder intensive Konzentration über längere Zeiträume erfordern. Ich kann mir vorstellen, daß Psychopathen leidlich gut als Fluglotsen funktionieren könnten, aber nur, solange der Verkehr hektisch und eilig ist. In ruhigen Phasen würden sie wohl Fehler machen oder sich schlafen legen, wenn sie denn überhaupt zur Arbeit erscheinen würden. Sind Psychopathen besonders gut geeignet für gefährliche Berufe? David Cox, ein ehemaliger Student von mir und jetzt Psychologieprofessor an der Simon Fraser University, glaubt das nicht. Er hat Mitglieder eines britischen Bombenräumkommandos in Nordirland untersucht. Zu Beginn seiner Studie hatte er erwartet, daß Psychopathen diesen Job hervorragend machen würden, da sie kaltblütig und belastbar sind und das Abenteuer suchen. Aber er fand heraus, daß die Soldaten, die die anspruchsvolle und gefährliche Aufgabe hatten, Bomben der IRA zu entschärfen oder zu zerlegen, Psychopathen als »cowboys« bezeichneten – unzuverlässige und impulsive Individuen ohne den Perfektionismus und die Achtsamkeit, die man in diesem Job zum Überleben braucht. Die meisten wurden schon in der Ausbildung ausgesondert – und die anderen überlebten nicht lange. Es ist ebenso unwahrscheinlich, daß Psychopathen gute Spione, Terroristen oder Gangster abgeben würden, einfach weil ihre Impulsivität, ihr Interesse nur für den Augenblick und ihr Mangel an Loyalität für Menschen oder eine Sache sie unberechenbar, unvorsichtig und unzuverlässig macht – wie eine »ausgeleierte Kanone«. 4.4 Verantwortungslos Verpflichtungen und Vereinbarungen bedeuten einem Psychopathen nichts. Ihre guten Absichten – »Ich werde dich nie wieder betrügen« – sind leere Versprechungen. So erzählen zum Beispiel wahrhaft horrende Kredithistorien die Geschichten von leichtfertig aufgenommenen Krediten, mit einem Achselzucken erledigten Schulden, dem leeren Versprechen, zum Unterhalt eines Kindes beizutragen. »Das kleine Mädchen bedeutet mir alles ... Ich würde alles tun, damit sie alles das hat, was ich als Kind nie hatte.« Sozialarbeiter und geschiedene Ehefrauen werden solchen Äußerungen wohl mit berechtigter Skepsis begegnen, nachdem ihre Versuche, gerichtlich angeordnete Unterhaltszahlungen vom Psychopathen einzutreiben, vom ersten Tag an gescheitert sind. Die Verantwortungslosigkeit und Unzuverlässigkeit von Psychopathen erstreckt sich auf jeden Bereich ihres Lebens. Ihre Leistung im Job schwankt und geht einher mit häufigem Fehlen, Mißbrauch von Ressourcen am Arbeitsplatz, Verstößen gegen Anweisungen ihres Arbeitgebers und allgemeiner Unzuverlässigkeit. Sie halten sich nicht an förmliche oder implizite Verpflichtungen gegenüber Personen, Organisationen oder Prinzipien. 50 In ihrem Buch über Diane Downs hat Ann Rule ein für Psychopathen typisches Muster verantwortungslosen elterlichen Verhaltens beschrieben.46 Diane Downs ließ häufig ihre kleinen Kinder ohne Babysitter allein. Die Kinder, zwischen fünfzehn Monaten und sechs Jahren alt, wurden von Nachbarn als hungrig, emotional ausgehungert und allgemein vernachlässigt beschrieben (man hat sie im Winter ohne Schuhe oder Mäntel draußen spielen sehen). Downs beteuerte, ihre Kinder zu lieben, aber ihre kaltherzige Gleichgültigkeit gegenüber ihrem leiblichen und seelischen Wohl sprach eine andere Sprache. Diese Gleichgültigkeit in Bezug auf das Wohlergehen von Kindern – sowohl ihrer eigenen als auch der Kinder des Partners, mit dem sie gerade zusammenleben – ist ein wiederkehrendes Motiv in unseren Akten über Psychopathen. Psychopathen sehen Kinder als lästig an. Manche, wie Diane Downs, beteuern, daß sie aufopferungsvoll für ihre Kinder sorgen, aber ihre Taten strafen sie Lügen. Es ist typisch, wenn sie ihre Kinder für längere Zeit sich selbst überlassen oder unter der Obhut eines unzuverlässigen Babysitters. Eine unserer Probandinnen und ihr Mann überließen ihren einmonatigen Säugling einem befreundeten Alkoholiker. Der Freund betrank sich und fiel ins Koma. Als er erwachte, hatte er vergessen, daß er auf ein Kind aufzupassen hatte und ging. Die Eltern kehrten etwa acht Stunden später zurück und waren empört, als sie feststellen mußten, daß ihr Kind in behördliche Obhut genommen worden war. Die Mutter war empört über diese Verletzung ihrer elterlichen Rechte und beschuldigte die Behörde, dem Kind ihre Liebe und Zuneigung zu verwehren – ein Standpunkt, auf dem sie auch dann noch beharrte, als man ihr mitgeteilt hatte, daß der Säugling erheblich unterernährt war. Psychopathen zögern nicht, die Ressourcen ihrer Familien oder Freunde einzusetzen, um aus einer Klemme zu kommen. Eine unserer Probandinnen, eine Frau, die ihren Eltern zahllose Enttäuschungen bereitet hatte, bewog sie, ihr Haus zu beleihen, um eine Kaution wegen einer Anklage wegen Drogenhandels zu stellen. Sie ist geflüchtet und ihre Eltern kämpfen jetzt um ihr Haus. Psychopathen werden nicht davon abgeschreckt, daß ihre Handlungen Schwierigkeiten oder Risiken für andere verursachen könnten. Ein 25jähriger Häftling aus einer unserer Studien wurde mehr als zwanzigmal wegen Verkehrsgefährdung, Fahrens unter Alkoholeinfluß, Unfallflucht, Fahrens ohne Führerschein und unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge verurteilt. Auf die Frage, ob er nach seiner Entlassung weiterhin fahren würde, antwortete er: »Warum nicht? Klar, ich fahre schnell, aber ich bin ein guter Fahrer. Es gehören zwei dazu, einen Unfall zu bauen.« Ein Arzt in einem westlichen Bundesstaat rief uns kürzlich an, um sich über den Einsatz der Psychopathie-Checkliste in einer Studie an HIV-positiven Patienten zu erkundigen. Nach seiner Erfahrung fahren manche mit HIV infizierte Patienten damit fort, ungeschützten Sex mit gesunden, arglosen Partnern zu haben. Er wollte seinen klinischen Eindruck verifizieren, daß viele dieser Leute Psychopathen waren, die sich nicht für die schrecklichen Folgen ihres verantwortungslosen Handelns interessierten. Ein in der Industrie beschäftigter Psychologe hat mir erzählt, daß Atomkraftwerke potentielle Angestellte aus naheliegenden Gründen sorgfältig überprüfen. Allerdings, vertraute er mir an, könnten die üblichen Testverfahren – Befragungen, Persönlichkeitstests, Arbeitszeugnisse – nicht immer eine Klasse von Individuen identifizieren, die für ihre Unzuverlässigkeit und Unverantwortlichkeit berüchtigt sind – nämlich Psychopathen. Psychopathen sind gut darin, sich aus einer Klemme herauszureden – »Ich habe meine Lektion gelernt«; »Du hast mein Wort, daß das nicht wieder vorkommt«; »Es war einfach ein großes Mißverständnis«; »Vertrau’ mir.« Fast immer gelingt es ihnen, die Justiz von ihren guten Absichten und ihrer Zuverlässigkeit zu überzeugen. Obwohl sie es oft schaffen, Bewährung zu erhalten, eine Aussetzung der Strafe oder vorzeitige Entlas51 sung zu erreichen, ignorieren sie schlichtweg die vom Gericht festgelegten Auflagen. Das heißt, daß sie sogar direkt unter dem Joch der Justiz ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Psychopathen kommen meistens nicht besonders gut miteinander aus. Das Letzte, was ein egozentrischer, selbstsüchtiger, fordernder, kaltherziger Mensch gebrauchen kann, ist ein anderer, der genauso ist. Zwei »Stars« sind einer zuviel. Bei passender Gelegenheit werden Psychopathen allerdings zu Kumpanen – eine finstere Symbiose mit bösen Folgen für ihre Mitmenschen. Gewöhnlich ist bei einem solchen Paar einer der »Sprecher«, der mit Charme, Täuschung und Manipulation bekommt, was er will, während der andere der »Macher« ist, der Taten bevorzugt – Einschüchterung und Gewalt. Solange ihre Interessen sich ergänzen, geben sie ein prächtiges Pärchen ab. Einige Beispiele aus meinen Akten mögen das illustrieren. In einem Fall wurden zwei junge, männliche Psychopathen einander auf einer Party vorgestellt. Der eine – der Sprecher – versuchte, einen minderjährigen Drogendealer dazu zu bewegen, ihm Kokain auf Kredit zu überlassen, ohne Erfolg. Der andere – der Macher – hörte das Gespräch mit und, in seinen Worten, »griff den Dealer bei den Eiern und überzeugte ihn, mir und meinem Freund eine kostenlose Warenprobe zur Verfügung zu stellen.« So begann eine jahrelange Dealer-Partnerschaft. Der Sprecher stellte die Kontakte her und handelte die Geschäfte aus; der Macher brach Beine. Als der Sprecher erwischt wurde, machte er sofort einen Handel mit dem Staatsanwalt und verpfiff seinen Partner. In einem anderen Fall beklagte sich eine wortgewandte, schmarotzende Psychopathin ständig bei ihren Freunden, daß ihre Eltern nicht genug zu ihrem ohnehin luxuriösen Lebensstil beitragen würden. Sie traf einen Mann im mittleren Alter, einen aggressiven, feindseligen Psychopathen, der sagte: »Da kann man doch was machen, oder?« Gemeinsam heckten sie den Plan aus, daß der Mann in das Haus der Frau einbrechen und ihre Eltern umbringen sollte. Die Frau sollte sich währenddessen auswärts bei Freunden aufhalten. Der Plan flog auf, als sie Freunden gegenüber damit prahlte, daß sie bald reich sein würde. Die Polizei bekam Wind davon, hörte ihr Telefon ab und sammelte genügend Beweise, um eine Anklage wegen Verabredung zum gemeinschaftlichen Mord gegen das Paar zu erheben. Beide versuchten, sich durch Aussagen gegen den jeweils anderen Vorteile zu verschaffen. Manchmal bilden ein Psychopath und ein Psychot mit Borderline-Störung eine bizarre, aber tödliche Partnerschaft, wobei der erstere den letzteren als Mordwerkzeug benutzt. Ein bekanntes Beispiel ist Truman Capotes Geschichte von Richard Hickock und Perry Smith, die 1959 für den Mord an vier Mitgliedern der Familie Clutter hingerichtet wurden (KALTBLÜTIG). Hickock hatte alle Attribute eines wortgewandten Psychopathen, während Smith als »nahezu ... paranoider Schizophrener« diagnostiziert wurde. Capote berichtet, daß Hickock Smith als einen geborenen Killer ansah und folgerte, »eine solche Begabung konnte unter seiner Anleitung gewinnbringend zur Entfaltung gebracht werden«. [S. 74] Erwartungsgemäß schob Hickock die Morde seinem Partner in die Schuhe: »Perry war es. Ich konnte ihn nicht dran hindern. Er hat sie alle umgebracht.« [S. 292] 52 4.5 Verhaltensstörungen im Kindesalter Die meisten Psychopathen beginnen schon als Kind, Verhaltensstörungen zu zeigen. Das können zum Beispiel ständiges Lügen, Schummeln, Diebstahl, Zündelei, Schuleschwänzen, Störungen des Unterrichts, Drogenmißbrauch, Vandalismus, Gewalttätigkeit, Schikanieren von Klassenkameraden, Ausreißen von zu Hause und verfrühte sexuelle Aktivitäten sein. Da viele Kinder zuweilen die eine oder andere dieser Verhaltensweisen zeigen, insbesondere Kinder aus sozialen Brennpunkten oder zerrissenen oder gewalttätigen Familien, muß man betonen, daß die Historie solcher Verhaltensweisen beim Psychopathen umfangreicher und gravierender ist als bei den meisten anderen, selbst wenn man sie mit Geschwistern oder Freunden aus einem ähnlichen Umfeld vergleicht. Ein psychopathisches Kind kann zum Beispiel aus einer anderweitig unauffälligen Familie stammen und im Alter von zehn oder zwölf mit Diebstahl, Drogenmißbrauch, Schuleschwänzen und sexuellen Erfahrungen anfangen. Kindliche Grausamkeit gegenüber Tieren ist gewöhnlich ein Zeichen für gravierende emotionale oder Verhaltensprobleme. So schockierte zum Beispiel Jeffrey Dahmer, der Serienmörder aus Milwaukee, Klassenkameraden und Nachbarn durch das Legen einer grausigen Spur von Hinweisen auf seine Aktivitäten: Der Kopf eines Hundes aufgespießt auf einem Stock, an Bäume gefesselte Frösche und Katzen und eine Sammlung von Tierskeletten.47 Erwachsene Psychopathen beschreiben gewöhnlich in unaufgeregtem Tonfall ihre Grausamkeit gegenüber Tieren im Kindesalter als normal oder gar vergnüglich. Ein Mann mit einer hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste lachte, als er uns erzählte, wie er mit zehn oder elf mit einem Schrotgewehr auf einen »blöden Köter« geschossen hatte. »Ich hab ihm in den Hintern geschossen und er fing an zu jaulen, ist eine Weile herumgekrochen und dann krepiert.« Ein anderer Proband, der wegen Betruges einsaß, erzählte uns, daß er als Kind gerne eine Schlinge um den Hals einer Katze legte, das andere Ende oben an einem Pfahl befestigte und dann die Katze mit einem Tennisschläger um den Pfahl schlug. Er erzählte, daß seine Schwester Welpen großzog und daß er diejenigen tötete, die sie nicht behalten wollte. »Ich hab sie an ein Geländer gebunden und ihre Köpfe für BaseballSchlagübungen benutzt«, berichtete er mit einem verhaltenen Lächeln. Grausamkeit gegenüber anderen Kindern – einschließlich Geschwistern – ist häufig ein Symptom der Unfähigkeit des jungen Psychopathen, die Art von Mitgefühl zu empfinden, das normale Menschen davon abhält, anderen Schmerzen zuzufügen, selbst im wütenden Zustand. »Die schockierenden Dinge, die er mit der Puppe seiner Baby-Schwester anstellte, waren wohl Warnungen, aber wir haben sie nicht beachtet«, hat mir eine Mutter erzählt. »Aber als er tatsächlich versuchte, seine Schwester in ihrer Krippe zu ersticken und an ihrer Nackenhaut mit einer Schere herumschnippelte, wurde uns mit Entsetzen klar, daß wir von vornherein unseren schlimmsten Ahnungen hätten trauen sollen.« Wenn auch nicht alle erwachsenen Psychopathen in ihrer Jugend dieses Maß an Grausamkeit gezeigt haben, so haben sich doch für gewöhnlich praktisch alle in diverse Schwierigkeiten gebracht: Lügen, Diebstahl, Vandalismus, Promiskuität, und so weiter. Interessanterweise berichten die Medien allerdings häufig, daß Zeugen und Nachbarn völlig überrascht auf irgendein sinnloses Verbrechen reagieren: »Ich kann gar nicht glauben, daß er dazu fähig war – es gab nicht den kleinsten Hinweis darauf, daß er so etwas tun würde.« Solche Reaktionen belegen nicht nur die Fähigkeit des Psychopathen, den Eindruck anderer Menschen von ihm zu manipulieren, sondern auch, daß die Zeugen die Vorgeschichte nicht kennen. 53 4.6 Gestörtes Sozialverhalten als Erwachsener Psychopathen halten die Regeln und Erwartungen der Gesellschaft für lästig und unzumutbar, für Hindernisse bei der freien Entfaltung ihrer Neigungen und Wünsche. Sie stellen ihre eigenen Regeln auf, als Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Impulsive, verlogene Kinder ohne Einfühlungsvermögen, die die Welt als ihr Eigentum betrachten, werden als Erwachsene nicht viel anders sein. Die lebenslange Kontinuität des egozentrischen, asozialen Verhaltens von Psychopathen ist wahrhaft erstaunlich. Diese Kontinuität ist zum großen Teil für die unter Forschern verbreitete Erkenntnis verantwortlich, daß das frühe Auftreten asozialen Verhaltens ein guter Indikator für problematisches und kriminelles Verhalten bei Erwachsenen ist.48 Viele der asozialen Akte von Psychopathen führen zu strafrechtlichen Verurteilungen. Selbst in Gefängnispopulationen fällt der Psychopath auf, vornehmlich weil seine asozialen und illegalen Aktivitäten vielfältiger und häufiger sind als diejenigen anderer Krimineller. Psychopathen haben anscheinend keine besondere Vorliebe für eine bestimmte Art von Verbrechen (eine »Spezialität«), sondern probieren alles einmal aus. Diese Vielseitigkeit im Verbrechen wurde durch die bereits erwähnte Fernsehsendung, in der Robert Ressler G. Daniel Walker interviewt hat, anschaulich illustriert.49 Hier ein kurzer Auszug aus diesem Interview: »Wie lang ist ihr Vorstrafenregister?« »Ich würde sagen, im Moment wohl 29 oder 30 Seiten.« »29 oder 30 Seiten! Charles Manson hat’s nur auf fünf Seiten gebracht.« »Der war ja auch nur ein Mörder.« Damit meinte Walker, daß er selbst nicht nur ein Killer war, sondern ein Verbrecher mit einer enormen Vielseitigkeit, worauf er sehr stolz zu sein schien. Er gab offen damit an, mehr als dreihundert Straftaten begangen zu haben, bei denen er nicht erwischt wurde. Nicht alle Psychopathen landen im Gefängnis. Viele ihrer Taten werden nicht entdeckt oder nicht verfolgt oder bewegen sich in einer »rechtlichen Grauzone«. Ihr asoziales Verhalten mag aus betrügerischer Anlageberatung, zweifelhaften Geschäftspraktiken, Mißhandlung von Ehefrau oder Kind, etc. bestehen. Viele andere verüben Handlungen, die zwar nicht illegal, aber skrupellos, unmoralisch oder schädlich für andere sind: Notorische Untreue, Fremdgehen, finanzielle oder emotionale Vernachlässigung von Familienmitgliedern, unverantwortliche Verwendung von Firmenressourcen oder -geld, um nur einige zu nennen. Die Schwierigkeit mit solchen Verhaltensweisen ist, daß sie ohne die aktive Mithilfe von Familie, Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern schwer zu dokumentieren und bewerten sind. 4.7 Das ganze Bild Natürlich sind es nicht nur Psychopathen, die einen sozial abweichenden Lebensstil pflegen. So weisen zum Beispiel viele Kriminelle die in diesem Kapitel beschriebenen Eigenschaften auf, aber da sie fähig sind, Schuldbewußtsein, Reue, Empathie und starke Gefühle zu empfinden, werden sie nicht als Psychopathen angesehen. Die Diagnose »Psychopathie« wird nur dann gestellt, wenn es solide Hinweise dafür gibt, daß der Betreffende das gesamte Profil erfüllt – das heißt, daß die meisten der in diesem und dem vorigen Kapitel beschriebenen Symptome vorliegen. Kürzlich ließ mich ein Ex-Häftling wissen, was er von der PsychopathieCheckliste hält: Er war nicht sonderlich beeindruckt! Inzwischen im mittleren Alter, hatte er als junger Erwachsener viel Zeit in Haft verbracht, wo er einst als Psychopath diagnostiziert worden war. Hier sind seine Kommentare: ¾ Heuchlerisch und oberflächlich – »Was ist negativ an Wortgewandtheit?« 54 ¾ Egozentrisch und grandios – »Wie kann ich etwas erreichen, wenn ich mir keine anspruchsvollen Ziele setze?« ¾ Mangel an Einfühlungsvermögen – »Sich in einen Feind einzufühlen, ist ein Zeichen von Schwäche.« ¾ Hinterlistig und manipulativ – »Warum sollte man zu einem Feind ehrlich sein? Wir sind doch alle mehr oder weniger manipulativ. Ist positive Manipulation nicht weit verbreitet?« ¾ Flaches Gefühlsleben – »Wut kann dazu führen, als Psychopath abgestempelt zu werden.« ¾ Impulsiv – »Kann man verbinden mit Kreativität, Leben im Jetzt, Spontaneität und Freiheit.« ¾ Unbeherrscht – »Gewalttätige und aggressive Ausbrüche können eine Verteidigungstaktik, eine Fassade, ein Werkzeug fürs Überleben im Dschungel sein.« ¾ Sucht den »Kick« – »Mut, die Routine, das Monotone oder Uninteressante abzulehnen. Leben am Abgrund, Dinge tun, die riskant, aufregend, herausfordernd sind, das Leben intensiv leben, lebendig sein statt öde, langweilig und fast schon tot.« ¾ Verantwortungslos – »Man sollte seine Zeit nicht mit verbreiteten menschlichen Schwächen verschwenden.« ¾ Verhaltensstörungen im Kindesalter und gestörtes Sozialverhalten als Erwachsener – »Ist ein Vorstrafenregister ein Zeichen für Bösartigkeit oder Unangepaßtheit?« Interessanterweise hatte er nichts über Mangel an Reue oder Schuldbewußtsein zu sagen. In einem kürzlich erschienenen Artikel für die New York Times schrieb Daniel Goleman: Die Statistik zeigt, daß etwa 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung Psychopathen sind – unter denjenigen, die in zerrissenen Familien in den Innenstädten leben, ist die Zahl doppelt so hoch.50 Allerdings verwechseln diese Aussage und andere, die ein Ansteigen der Psychopathie in unserer Gesellschaft proklamieren, Kriminalität und abweichendes Sozialverhalten mit Psychopathie. Während die Kriminalität – und das abweichende Sozialverhalten, das Psychopathie nur zum Teil definiert – in den unteren sozialen Schichten schon hoch ist und in der Gesellschaft insgesamt ansteigt, wissen wir nicht, ob das Verhältnis von Psychopathen an der Gesamtbevölkerung ebenfalls im Steigen begriffen ist. Soziobiologen vertreten den Standpunkt, daß die Verhaltensentwicklung von genetischen Faktoren beeinflußt wird, und sie könnten argumentieren, daß die Anzahl von Psychopathen ansteigen muß, ganz einfach weil sie promisk leben und eine große Anzahl von Nachkommen produzieren, von denen einige eine Prädisposition für Psychopathie geerbt haben könnten. Ich werde auf dieses Argument und seine beklemmenden Implikationen in späteren Kapiteln über die Ursachen von Psychopathie eingehen. Zunächst ist es jedoch notwendig, die bekannten Aspekte des Rätsels zu erörtern. Der nächste Schritt auf dem Weg zum Kern des Problems bringt uns zu der Rolle des Gewissens bei der Steuerung des Verhaltens. 55 5 Selbstbeherrschung: Der fehlende Faktor Hat dich ein Gauner geküßt, zähle deine Zähne nach. Hebräisches Sprichwort Elyse traf Jeffrey im Sommer 1984, und jenen Tag wird sie niemals vergessen. Sie war mit einigen Freunden am Strand, als sie ihn sah und gleich eingenommen war von seinem riesigen, strahlenden Lächeln. Er baute sich vor ihr auf und fragte sie nach ihrer Telefonnummer, und irgendwie war sie durch seine Unverfrorenheit entwaffnet – sie war seinem Lächeln und seinem Schneid erlegen. Am nächsten Tag rief er sie an und tauchte dann irgendwie an ihrem Arbeitsplatz auf. So begann es ... mit einem Lächeln. Sie arbeitete damals in einer Kindertagesstätte. Jeffrey begann, sie dort während ihrer Kaffeepausen zu treffen, dann in der Mittagspause und auf ihren Busfahrten nach Hause; wann immer sie das Gebäude verließ, war Jeffrey da und wartete. Er erzählte ihr sehr wenig über sich – er sei Cartoon-Zeichner und wolle versuchen, einen eigenen Comic-Strip zu veröffentlichen. Manchmal hatte er große Summen an Bargeld bei sich; zu anderen Zeiten war er völlig pleite und ließ sich von ihr aushalten. Er hatte keinen festen Wohnsitz, und seine Klamotten waren »geliehen«. Er war lustig – zum Totlachen, fand Elyse. Als es vorbei war, stellte sie fest, daß sein Humor sie sowohl anzog als auch ablenkte. Die ganze Zeit, in der er ihr Leben ausschlachtete, lachte sie sich tot über seine Witze. Er redete pausenlos von allen seinen Ideen, Projekten und Plänen, aber es kam nie etwas dabei heraus. Wann immer sie nach einem Plan fragte, von dem er erzählt hatte, schien er verstimmt zu sein. »Ach, die Geschichte! Ich hab was viel Besseres in Arbeit, viel besser.« Eines Tages wurde er plötzlich beim gemeinsamen Mittagessen verhaftet. Am nächsten Tag besuchte Elyse ihn im Gefängnis. Die Polizei sagte ihr, er hätte bei einem Freund übernachtet und am nächsten Tag dessen Kameraausrüstung versetzt. Sie konnte das nicht glauben, im Gegensatz zum zuständigen Richter. Es stellte sich heraus, daß die Polizei Jeffrey wegen einer ganzen Reihe von Angelegenheiten suchte. Jeffrey wanderte ins Gefängnis. Trotz seiner Inhaftierung verlor er niemals die Kontrolle über Elyse. Er schrieb ihr täglich aus dem Gefängnis, an manchen Tagen bis zu dreimal. Er schrieb über seine Talente, seine Träume, seine Pläne. Er schrieb über sie und das Leben, das sie zusammen führen würden. Beinahe ersäufte er Elyse mit seinem Wortschwall – »verbales Erbrechen« hat es ein Autor in seiner Beschreibung eines ähnlichen Falles genannt. Wenn Jeffrey nur die richtigen Kanäle für seine Energien finden könnte, wäre er König, dann könnte er alles erreichen, behauptete er. Und er würde ihr das Leben bieten, das sie verdient hätte – so sehr liebe er sie. Sie war so verdattert, daß die Aufforderung am Ende eines seiner Briefe, Geld zu schicken, sie nicht weiter störte. Nach acht Monaten wurde Jeffrey entlassen. Er fuhr ohne Umwege zu Elyse nach Hause und wickelte sie wieder ein, aber ihre Mitbewohnerinnen waren weniger beeindruckt. Jeffrey machte sich an eine von ihnen heran und kroch zu der anderen ins Bett, als Elyse schlief. Bei diesem Vorfall preßte er die junge Frau an den Schultern aufs Bett und hielt sie fest; währenddessen schien er sich an ihrem verängstigten Gesichtsausdruck zu weiden. Da Jeffrey Tag und Nacht im Haus war, zerbrach die Wohngemeinschaft natürlich. Bald war es klar, daß er nicht die Absicht hatte, zu gehen oder sich einen Job zu suchen. Trotzdem versuchte Elyse, Arbeit für ihn zu finden. Seine erste Bewerbung war erfolgreich, aber am ersten Arbeitstag leerte er die Kasse und verschwand für fünf Tage. Dann rief ein Freund an, um Elyse mitzuteilen, daß Jeffrey mit Drogen handele. Als er fröh56 lich und geschwätzig wieder auftauchte, stellte Elyse ihn zur Rede. Er stritt alles ab. Und sie glaubte ihm. Sie schwankte von Glauben zu Unglauben und wieder zurück. Die Eltern von Elyse traten auf den Plan und bestanden darauf, daß sie einen Psychiater konsultierte – sie waren besorgt wegen ihrer Beziehung zu Jeffrey. Sie waren immun gegen seinen Charme und redeten oft von seinem »seltsamen, flachen Blick«. Der Psychiater war allerdings nicht so wachsam. Er fand Jeffrey »optimistisch«, »peppig«, »ein bemerkenswerter Bursche«. Irgendwie öffnete es Elyse die Augen, zu sehen, wie der Doktor eingewickelt worden war. Sie beschloß auf der Stelle, sich von Jeffrey zu trennen. Als sie wieder auf der Straße waren, sagte sie ihm, daß Schluß war. Er ergriff ihren Arm und starrte ihr in die Augen. »Ich werde dich nicht gehen lassen, damit das klar ist« – und plötzlich ahnte sie, was ihre Eltern an seinen Augen störte. »Ich werde immer bei dir sein, Elyse.« Innerhalb weniger Tage zog sie um – und Jeffrey begann, ihr aufzulauern (»to stalk her«). Sie erhielt Botschaften – er würde sich umbringen, falls sie sich nicht mit ihm treffen würde, er würde nicht aufgeben, bis sie ihn treffen würde. Aber dann änderten sich die Botschaften. Jeffrey würde nicht sich selbst, sondern Elyse umbringen. Bald hatte er ihre neue Wohnung gefunden, trat die Tür ein und packte sie bei den Haaren. Zum Glück hatte ihr Bruder beschlossen, früh Feierabend zu machen und sie zu besuchen, er tauchte gerade noch rechtzeitig auf. Als er ihren Bruder sah, beruhigte Jeffrey sich schlagartig. Er lächelte freundlich, grüßte ihn lässig und verließ die Wohnung. Und das war das – der Sturm war vorbei. Er kam nie wieder. In den folgenden Jahren hörte Elyse immer mal wieder, daß Jeffrey verhaftet worden war, meistens wegen Raub und Betrug, einmal wegen Körperverletzung. Er wanderte in den Knast, kam wieder raus und arbeitete eine Weile auf einem Fischkutter. Das Letzte, was sie gehört hat, war, daß er wieder eine längere Gefängnisstrafe absitzt. Oft hat sie sich gefragt, wie sie ihm von Anfang an so rückhaltlos hatte vertrauen können. Darauf hat sie nie eine Antwort gefunden, und das Wissen darum, wie knapp sie Jeffreys Charme und dann seiner Wut entgangen war, ließ sie für lange Zeit bei Begegnungen mit Männern auf der Hut sein. Elyse ist eine ehemalige Studentin von mir; inzwischen weiß sie eine Menge über Psychopathen, aus persönlicher Erfahrung und durch berufliche Bildung. Aber immer noch findet sie es schwer zu begreifen, wie Typen wie Jeffrey so leicht in das Leben eines Menschen eindringen können, nur um dann einfach weiterzuziehen. »Für ihn«, sagt sie, »waren die Verhaltensregeln mit Bleistift geschrieben, und er hatte einen großen Radierer.« Seit dem Erscheinen von Buch und Film DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER haben mich immer wieder Journalisten und TV-Reporter gefragt, ob die furchteinflößende Hauptfigur Hannibal »the Cannibal« Lecter – sowohl brillanter Psychiater als auch kannibalischer Mörder – uns ein genaues Abbild eines Psychopathen liefern kann. Ohne Zweifel hat Lecter, so wie er beschrieben wurde, viele Charaktereigenschaften des Psychopathen. Er ist egozentrisch, grandios, kaltherzig, manipulativ und ohne Reue. Aber er scheint auch ziemlich verrückt zu sein; das überrascht nicht, da in dem Film sowohl Lecter als auch der Serienmörder Buffalo Bill – ein Transvestit, der seine weiblichen Opfer häutet – eine gewisse Ähnlichkeit mit dem echten, psychotischen Serienmörder Edward Gein haben. Der Direktor der psychiatrischen Anstalt für Straftäter, in der Lecter untergebracht ist, hat gesagt: »Ja, er ist ein Monster. Ein echter Psychopath. Die er57 wischt man nur selten lebend.« Das ist natürlich eine krasse Fehlinformation, die das verbreitete Vorurteil reflektiert, daß alle Psychopathen scheußliche Serienmörder sind, die aus Spaß foltern und verstümmeln. Falls Lecter ein Psychopath sein sollte, dann sicherlich kein typischer. Falls er gelebt haben sollte – er ist letztlich eine erfundene Figur –, wäre er Mitglied eines ziemlich exklusiven Klubs. Serienmörder sind extrem selten; wahrscheinlich gibt es keine Hundert in Nordamerika. Dagegen gibt es wohl 2 oder 3 Millionen Psychopathen in Nordamerika. Selbst wenn fast jeder Serienmörder ein Psychopath wäre, würde das bedeuten, daß auf jeden psychopathischen Serienmörder 20.000 bis 30.000 Psychopathen kommen würden, die keine Mordserien verüben. In anderen Worten: Darstellungen von Psychopathen als grotesken und sadistischen Killern wie Lecter vermitteln ein hochgradig verzerrtes Bild dieser Persönlichkeitsstörung. In den meisten Fällen ist es Egozentrik, Stimmung und die Aussicht auf sofortige Erfüllung seiner alltäglichen Bedürfnisse, die den Psychopathen dazu motivieren, das Gesetz zu brechen – und nicht die gierige Befriedigung bizarrer Machtgelüste und sexueller Phantasien. 5.1 Regelverstöße Die Gesellschaft hat viele Regeln; manche sind formell in Gesetzen festgelegt, während andere aus allgemein anerkannten Grundsätzen über richtig und falsch bestehen. Jede dieser Regeln schützt uns als Einzelpersonen und stützt das gesellschaftliche Gewebe. Sicherlich hat die Angst vor Bestrafung eine disziplinierende Wirkung auf uns, aber es gibt andere Gründe, warum wir uns an die Regeln halten: ¾ eine rationale Abschätzung des Risikos, erwischt zu werden; ¾ eine moralische oder theologische Vorstellung von Gut und Böse; ¾ ein Bewußtsein der Notwendigkeit sozialer Kooperation und Harmonie; ¾ die Fähigkeit, die Gefühle, Rechte, Bedürfnisse und das Wohlbefinden unserer Mitmenschen nachzufühlen und zu berücksichtigen. Das Erlernen gesellschaftlicher Regeln und Vorschriften ist ein komplexer Prozeß, der Sozialisation genannt wird. Auf einer praktischen Ebene lehrt er Kinder, »wie man sich verhält«. Im Verlauf der Sozialisation erlernen wir – im Elternhaus, in der Schule, durch soziale Erfahrungen, Religionsunterricht, und so weiter – ein System von Überzeugungen, Einstellungen und persönlichen Werten, das bestimmt, wie wir mit unserer Umgebung interagieren. Während der Sozialisation bildet sich auch das Gewissen aus, diese lästige innere Stimme, die uns hilft, Versuchungen zu widerstehen und ein »schlechtes Gewissen« erzeugt, wenn uns das nicht gelingt. Zusammen verhalten sich diese innere Stimme und die von uns verinnerlichten gesellschaftlichen Normen und Regeln wie ein »innerer Polizist«, der unser Verhalten steuert, auch in Abwesenheit anderer Instanzen wie Gesetze, gesellschaftlicher Erwartungen oder echter Polizisten. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, daß das Gewissen des Einzelnen die Gesellschaft als Ganzes zusammenhält. Im Gegensatz dazu zeigt unsere kollektive Verwunderung und Faszination angesichts der völligen Mißachtung gesellschaftlicher Regeln durch Psychopathen, welche Macht unser »innerer Polizist« tatsächlich über uns hat. Für Psychopathen wie Jeffrey aber hinterlassen die sozialen Erfahrungen, die normalerweise zur Entstehung des Gewissens führen, keinen bleibenden Eindruck. Solche Menschen haben keine innere Stimme, die sie führt; sie kennen die Regeln, aber befolgen davon nur eine Auswahl, ohne Rücksicht auf die Folgen für andere. Sie bieten Versuchungen nur wenig Widerstand und ihre Verstöße erzeugen kein Schuldbewußtsein. Ohne die Zügel eines nagenden Gewissens haben sie keine Hemmungen, ihre Bedürf58 nisse und Wünsche zu befriedigen und zu tun, was sie wollen. Jeder asoziale Akt, vom kleinen Diebstahl bis hin zur blutigen Mordtat, wird möglich. Wir wissen nicht, warum das Gewissen von Psychopathen – wenn es denn überhaupt existiert – so schwach ausgeprägt ist. Wir können aber einige begründete Vermutungen anstellen: ¾ Psychopathen sind kaum in der Lage, die emotionalen Reaktionen – Angst und Besorgnis – zu erfahren, die den Ursprung des Gewissens bilden.51 Bei den meisten Menschen entstehen durch Bestrafungen im frühen Kindesalter lebenslange Verknüpfungen zwischen gesellschaftlichen Tabus und Angstgefühlen. Die Angst vor möglicher Bestrafung für ein Verhalten hilft, dieses Verhalten zu unterdrükken. Tatsächlich kann diese Angst sogar helfen, den Gedanken an die Tat zu unterdrükken: »Ich war versucht, das Geld zu nehmen, habe den Gedanken aber schnell unterdrückt.« Bei Psychopathen sind jedoch die Verknüpfungen zwischen verbotenem Verhalten und Angst nur schwach ausgeprägt, und die Strafandrohung kann sie nicht von der Tat abhalten. Vielleicht sah deshalb Jeffreys Vorstrafenregister aus wie das eines Menschen ohne Gedächtnis: Keine Strafe hatte jemals auch nur die geringste abschreckende Wirkung, ihn von der Befriedigung seiner Impulse abzuhalten. Psychopathen sind sehr gut darin, sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf die Dinge zu konzentrieren, die sie am meisten interessieren, und andere Dinge zu ignorieren. Manche Praktiker haben den Prozeß mit dem Strahl eines Suchscheinwerfers verglichen, der nur ein jeweils eng begrenztes Sichtfeld ausleuchten kann. Andere vergleichen es mit der Konzentration eines Raubtiers, das sich an seine Beute anschleicht. Diese ungewöhnliche Konzentrationsfähigkeit kann vorteilhaft sein oder auch nicht, abhängig von der jeweiligen Situation. So halten zum Beispiel Spitzensportler typischerweise ihre Konzentrationsfähigkeit für die wichtigste Voraussetzung ihres Erfolgs. Der Schlagmann beim Baseball, der sich vom Ball durch einen vorbeifliegenden Vogel ablenken läßt, oder der abgelenkt wird, wenn jemand seinen Namen ruft, wird seine Trefferquote kaum verbessern. Andererseits gibt es viele komplexe Situationen, die es erfordern, eine Vielzahl von Umständen gleichzeitig zu beachten. Konzentriert man sich nur auf das Hauptgeschehen, läuft man Gefahr, etwas anderes Wichtiges zu verpassen, zum Beispiel ein Gefahrensignal. Psychopathen verhalten sich oft so: Sie sind so sehr auf Belohnung und ihr Vergnügen aus, daß sie Signale mißachten, die sie vor einer Gefahr warnen könnten. So haben sich zum Beispiel manche Psychopathen im zweiten Weltkrieg den Ruf furchtloser Gefechtspiloten erworben, die ihr Ziel mit der Verbissenheit eines Bullterriers verfolgten. Diese Piloten mißachteten jedoch häufig so langweilige Kleinigkeiten wie Treibstoffvorrat, Flughöhe und die Position ihres eigenen und anderer Flugzeuge. Manchmal wurden sie zu Helden, aber häufiger wurden sie abgeschossen oder waren verrufen als Opportunisten, Einzelgänger oder Draufgänger, auf die kein Verlaß war – außer, auf sich selbst aufzupassen. ¾ Der »inneren Stimme« von Psychopathen fehlt das Gefühl. Das Gewissen basiert nicht nur auf der Fähigkeit, sich die Folgen seiner Handlungen vorzustellen, sondern auch darauf, in Gedanken »mit sich selbst« sprechen zu können. So hat zum Beispiel der sowjetische Psychologe A. R. Luria gezeigt, daß Selbstgespräche – die innere Stimme – eine zentrale Rolle für die Steuerung unseres Verhaltens spielen.52 59 Wenn jedoch Psychopathen mit sich selbst sprechen, ist das ohne Gefühl. Als Jeffrey versucht hat, die Mitbewohnerin von Elyse zu vergewaltigen, mag er sich gedacht haben: »Scheiße. Wenn ich das mit ihr mache, wird das teuer für mich. Vielleicht hole ich mir AIDS, oder sie wird schwanger, oder Elyse bringt mich um.« Aber falls er diese Gedanken gehabt haben sollte, haben sie keine stärkeren Gefühle bei ihm ausgelöst, als wenn er gedacht hätte, »vielleicht schaue ich mir heute abend das Fußballspiel an.« Also hat er niemals ernsthaft die Folgen seines eigensüchtigen Verhaltens für die Beteiligten – einschließlich seiner selbst – bedacht. ¾ Die Fähigkeit von Psychopathen, sich die Folgen ihres Verhaltens »vorzustellen«, ist nur schwach ausgeprägt.53 Konkrete Belohnungen werden gegen vage zukünftige Konsequenzen abgewogen, wobei die Belohnungen einen klaren Vorteil haben. Das mentale Bild der Konsequenzen für das Opfer ist besonders verschwommen. So sah Jeffrey in Elyse nicht eine Freundin, sondern eine »connection« – einen Anbieter von Wohnraum, Kleidung, Essen, Geld, Erholung und sexueller Befriedigung. Die Konsequenzen seines Verhaltens für sie wurden ihm gar nicht erst bewußt. Als klar wurde, daß er seine Verbindung zu ihr so weit wie möglich ausgenutzt hatte, zog er einfach weiter zu einer anderen Quelle von »goodies«. 5.2 Sie sind wählerisch Natürlich sind Psychopathen nicht völlig unempfänglich für die zahllosen Regeln und Tabus, die die Gesellschaft zusammenhalten. Schließlich sind sie keine Automaten, die blind auf ihre momentanen Bedürfnisse, Regungen und Gelegenheiten reagieren. Es ist nur so, daß sie sehr viel freier sind in der Wahl der Regeln und Einschränkungen, die sie beachten wollen, als die meisten von uns. Für die meisten von uns beeinflußt schon das eingebildete Risiko von Kritik unser Verhalten. Wir plagen uns – mehr oder weniger – mit Zweifeln an unserem Selbstwertgefühl herum. Daher versuchen wir ständig, uns selbst und anderen zu beweisen, daß wir ein guter Mensch sind, ehrlich, zuverlässig und kompetent. Im scharfen Gegensatz dazu steht die Einschätzung einer Lebenslage – was sie ihm bringen könnte und zu welchem Preis – durch einen Psychopathen. Er wird nicht geplagt von den üblichen Bedenken, Zweifeln und Rücksichten wegen möglicher Peinlichkeiten, Verletzungen und Gefährdung von Zukunftsplänen, kurz gesagt, die unzähligen Möglichkeiten, die gewissenhafte Menschen in Erwägung ziehen, wenn sie über mögliche Verhaltensweisen nachdenken. Für diejenigen von uns, die erfolgreich sozialisiert worden sind, ist es fast unmöglich, sich in die Erfahrungswelt eines Psychopathen hineinzuversetzen. Parallel zur Steilküste in West Vancouver, wo ich mein Lauftraining absolviere, verläuft ein Bahngleis, daß nur wenige Male pro Tag benutzt wird. Vor etwa einem Jahr begann die Ampel am Bahnübergang zu blinken und der Verkehr begann, sich zu stauen. Ich hatte meinen Trainingslauf gerade beendet und ruhte mich in der Nähe aus. Bald wurde mir klar, daß die Ampel blinkte, weil sie defekt war und daß kein Zug kommen würde. Trotzdem blieb das erste Auto vor dem Bahnübergang stehen, obwohl die meisten anderen Autos an ihm vorbeizogen und das Gleis überquerten. Als ich mich etwa zehn Minuten später wieder auf den Weg machte, blinkte die Ampel immer noch und das erste Auto rührte sich immer noch nicht. Man kann sich den Fahrer dieses Autos und den Psychopathen an entgegengesetzten Enden einer Skala für Selbstbeherrschung vorstellen. Der erstere 60 befolgte sklavisch die Regeln, während der letztere sie schlichtweg ignoriert. Einer akzeptiert passiv die oberste Instanz seiner inneren Stimme, die »nein« sagt; der andere sagt ihr, »laß mich in Ruhe«. Diese innere Stimme verursacht denjenigen Probleme, deren Überzeugungen im Konflikt mit der Gesellschaft stehen. Ein Graffiti während der französischen Studentenunruhen im Jahre 1968 lautete: »In jedem von uns steckt ein schlafender Polizist. Er muß umgebracht werden.« 5.3 Psychokino Für die Allgemeinheit üben der aalglatte Trickbetrüger und der kaltblütige Killer, ungehemmt vom Diktat der Gesellschaft und seines Gewissens, heutzutage eine größere Faszination aus als je zuvor. GOODFELLAS, MISERY, PACIFIC HEIGHTS, SLEEPING WITH THE ENEMY (Der Feind in meinem Bett), IN BROAD DAYLIGHT (Am hellichten Tag), LOVE, LIES AND MURDER, SMALL SACRIFICES, CAPE FEAR (Kap der Angst), IN A CHILD’S NAME und der besonders beklemmende Thriller THE SILENCE OF THE LAMBS (Das Schweigen der Lämmer) sind nur einige der populärsten Spielfilme, als dieses Buch geschrieben wurde. Wahre und nachgespielte »Reality-Shows« über Verbrechen – HARD COPY, A CURRENT AFFAIR und AMERICA’S MOST WANTED – gehören heutzutage zum alltäglichen Fernsehprogramm. In dem am 10. Februar 1991 in der New York Times erschienenen Artikel KUSCHELN MIT DEM PSYCHOPATHEN TIEF IN UNS (Cozing up to the psychopath that lurks deep within) rief der Autor Bruce Weber in Erinnerung, daß die Faszination des Geschichtenerzählers von »dem pervers gestörten Charakter« nicht neu ist: Von Iago zu Norman Bates, Dr. Jekyll zu Harry Lime, Vladimir Nabokovs Humbert Humbert zu David Lynchs Leland Palmer/Bob wurde die Logik der Abscheulichkeiten fiktiv erforscht, in Büchern, auf der Bühne und der Leinwand, immer und immer wieder. Von der Macht ihrer Phantasie im Stich gelassen, ließen sich Schriftsteller und Schauspieler von der grausigen Realität inspirieren: Jack the Ripper, Lizzie Borden, Dick und Perry, Gary Gilmore, Charles Manson, ganz zu schweigen von Adolf Hitler, Joseph Stalin und Richard III. Zweifellos bringt inzwischen auch Saddam Hussein die Augen eines Romanciers zum Glänzen. Die Frage ist: Warum? Woher kommt die formidable Macht, die der gewissenlose Charakter über unsere kollektive Phantasie ausübt? »Offenbar ist das Böse verführerisch«, schrieb Weber, »nicht nur für diejenigen, die daraus ein Drama schmieden wollen. Von läßlicher Ungezogenheit bis hin zu teuflischen Verbrechen, anscheinend will die Allgemeinheit von bösen Taten hören. Dies ist einer der Gründe, warum der Psychopath, diese Inkarnation des erbarmungslosen Verbrechers, einen festen Platz im öffentlichen Bewußtsein hat.« Weber hat diesen Gedanken gemeinsam mit dem Kriminalpsychiater Ronald Markman vertieft, der zusammen mit Dominick Bosco das Buch ALONE WITH THE DEVIL verfaßt hat, einen Bericht über Markmans berufliche Erfahrungen mit Mördern. Er äußerte den Gedanken, daß wir uns als Publikum mit dem Psychopathen identifizieren und so unsere Phantasien von einem Leben ohne Selbstbeherrschung ausleben. »In ihnen steckt etwas, das wir in jedem von uns wiederfinden und wir fühlen uns zu ihnen hingezogen, um herauszufinden, was das ist«, schreibt Markman. In dem Interview mit Weber ging er noch weiter: »Unter der Oberfläche sind wir alle Psychopathen.« Die Psychiaterin Joanne Intrator hält am »Mount Sinai Medical Center« in New York die Vorlesung »Der Psychopath im Leben und im Film«. Darin erklärt sie, wie das Me61 dium Film diese Art der Identifikation fördert, indem er bei einem Kinobesuch beiläufiges Interesse zu gefühlsbeladenem Voyeurismus transformiert. Sie sagt, daß wir im Kino »leicht in die prickelnde Rolle des Voyeurs schlüpfen können. Ein abgedunkelter Raum lockert unsere bewußten Moralvorstellungen und erlaubt uns eine andere Erfahrungswelt, die nicht von den Zwängen des Superegos [Gewissens] dominiert wird. In der Dunkelheit erleben wir, mit wohligem Schauer, Aggressivität und sexuelles Vergnügen, scheinbar ohne einen Preis dafür zu zahlen.«54 Solche Kino-Erfahrungen können einen positiven Effekt auf psychologisch gesunde Menschen haben, indem sie sie an die Gefährlichkeit und zerstörerische Kraft erinnern, die Psychopathie mit sich bringt. Auf der anderen Seite können solche Erfahrungen aber auch ein starkes Vorbild abgeben für Menschen, die nur schwach ausgeprägte Moralvorstellungen oder gravierende psychologische Probleme haben oder sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. 5.4 Rebell ohne Ziel Im Jahr 1944 schrieb der Psychoanalytiker Robert Lindner eine klassische Studie krimineller Psychopathie, REBEL WITHOUT A CAUSE.55 Lindner betrachtete Psychopathie als eine Plage, eine schreckliche Kraft, deren destruktives Potential enorm unterschätzt wird. Er beschrieb Psychopathen anhand ihrer Beziehungen zur Gesellschaft: Der Psychopath ist ein Rebell, der stur die vorherrschenden Regeln und Normen mißachtet ... ein Rebell ohne Ziel, ein Agitator ohne Parole, ein Revolutionär ohne Programm; in anderen Worten: Seine Rebellion zielt nur darauf ab, Ziele zu erreichen, die nur für ihn selbst wichtig sind; er ist unfähig zu Anstrengungen zum Wohle anderer. Alle seine Bestrebungen verfolgen nur, unabhängig von ihrem vorgeblichen Zweck, die sofortige Befriedigung seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse. [S. 2] Die Kultur mag sich ändern, der psychopathische »Rebell« bleibt der gleiche. In den Mittvierzigern schrieb Lindner, daß Psychopathen oft am Rande der Gesellschaft anzutreffen seien, wo sie »mit dem Funkeln persönlicher Freiheit glänzen können, die Regeln und Einschränkungen der Gemeinschaft fehlen und es keine Einschränkungen gibt, weder im psychologischen noch im körperlichen Sinne.« [S. 13] Heute scheint der Psychopath überall unter uns zu sein, und wir müssen uns einige wichtige Fragen stellen. Wieso fasziniert uns Psychopathie immer mehr – im Film, im Fernsehen, in der populären Literatur und den Zeitschriften? Warum werden mehr und mehr gewalttätige Verbrechen von jungen Tätern verübt? Und was ist es in unserer Gesellschaft, das einen Experten zu der Aussage gebracht hat: Der junge Kriminelle von heute hat mehr Distanz zu seinem Opfer, er hat eine höhere Bereitschaft, zu verletzen oder zu töten. Der Mangel an Mitgefühl mit dem Opfer unter jungen Kriminellen ist nur ein Symptom eines Problems, das die Gesellschaft als ganzes plagt. Die generelle Lebenseinstellung des Psychopathen ist heutzutage weiter verbreitet; das Gefühl schwindet, selbst für das Wohlergehen anderer verantwortlich zu sein.56 Erlauben wir der Gesellschaft unwissentlich, sich zu einer perfekten Kinderstube – oder gar ein »killing field« – für Psychopathen zu entwickeln? Ein Blick in die Morgenzeitung zeigt, daß diese Frage von Tag zu Tag dringlicher wird. 62 6 Verbrechen: Die logische Entscheidung Wird die Stelle eines »Verbrechers« ausgeschrieben, ist ein Psychopath der perfekte Bewerber. In Fritz Langs 1931 erschienenem Kino-Klassiker M hat Peter Lorre einen Kinderschänder und -mörder gespielt, der sich seine unglücklichen Opfer auf der Straße schnappt, wenn ihn das Verlangen überkommt. Die Polizei schafft es nicht, den Killer dingfest zu machen, und so macht sich die Unterwelt selbst daran, ihn zu finden. Als sie ihre Beute gestellt haben, schleppt ihn der schäbige, gruselige Mob von Ganoven in eine verlassene Brauerei, wo sie ihm vor einem Unterwelts-Gericht den Prozeß machen und ihn verurteilen. Dieser Spielfilm war eine der gelungensten Verfilmungen des Themas »Ganovenehre«. Gibt es so etwas wie Ganovenehre? Kratzt man die Oberfläche eines durchschnittlichen Gefängnisinsassen an, wird man eine Art von Moralkodex finden – vielleicht nicht die Moral der Gesellschaft an sich, aber doch eine Moral mit ihren eigenen Regeln und Vorschriften. Diese Kriminellen, wenn auch im Konflikt mit den Regeln und Werten der Gesellschaft insgesamt, folgen doch womöglich den Regeln ihrer Gruppe – der Nachbarschaft, erweiterten Familie oder Bande. Folglich ist ein Krimineller nicht automatisch ohne Gewissen – oder auch nur schlecht sozialisiert. Menschen werden auf vielen verschiedenen Wegen zum Verbrecher, häufig unter dem Einfluß äußerer Umstände:57 Manche Straftäter erlernen kriminelles Verhalten – sie wachsen in Familien oder einem sozialen Umfeld auf, wo kriminelles Verhalten mehr oder weniger akzeptiert ist. So hatte zum Beispiel einer unserer Probanden einen »professionellen« Dieb zum Vater und eine Prostituierte zur Mutter. Von Kindheit an ging er mit seinem Vater »zur Arbeit«. Auffällige Beispiele einer solchen »kriminellen Subkultur« sind die MafiaFamilien und die in manchen Gegenden Europas anzutreffenden Zigeunerbanden. ¾ Manche Kriminelle kann man als das Produkt des sogenannten »Gewaltzyklus« betrachten. Es mehren sich die Hinweise, daß die Opfer von sexuellem, körperlichem oder emotionalem Mißbrauch im Kindesalter oft als Erwachsene zu ebensolchen Tätern werden. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, daß Kinderschänder selbst sexuell mißbraucht wurden, oder daß gewalttätige Ehemänner selbst als Kind Zeugen häuslicher Gewalt wurden. ¾ Wieder andere kommen mit dem Gesetz in Konflikt, um ein starkes Bedürfnis zu befriedigen – zum Beispiel Drogensüchtige oder Menschen ohne Ausbildung und Geld, die aus Verzweiflung ihr Gewissen über Bord werfen und sich mit Raub über Wasser halten. Viele Subjekte unserer Studien begannen ihre kriminellen Karrieren auf der Flucht aus einer zerbrochenen, verarmten oder gewalttätigen Familie; sie haben Trost und Erlösung im Drogenmißbrauch gesucht und ihre Sucht durch Straftaten finanziert. ¾ Andere wurden durch »Verbrechen aus Leidenschaft« zu Straftätern. Einer unserer Probanden, ein 40jähriger Mann ohne Vorstrafen und gewalttätige Historie, fand Kondome in der Handtasche seiner Frau, geriet in einen erhitzten Streit mit ihr, »drehte durch« und schlug sie zusammen. Er wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, wird aber sicherlich vorzeitig auf Bewährung entlassen werden. Für viele dieser Menschen haben negative soziale Faktoren – Armut, Gewalt in der Familie, Mißbrauch im Kindesalter, Probleme im Elternhaus, wirtschaftliche Not, Alkohol- und Drogenmißbrauch, um nur einige zu nennen – ihren kriminellen Werdegang gefördert, wenn nicht gar verursacht. Ohne diese Faktoren wären tatsächlich viele dieser Kriminellen nicht auf die schiefe Bahn geraten. 63 Aber manche Menschen begehen Straftaten, weil es sich auszahlt, leichter als Arbeit oder aufregend ist.58 Nicht alle sind Psychopathen, aber für diejenigen, die es sind, ist Verbrechen weniger das Ergebnis widriger sozialer Umstände als vielmehr einer Persönlichkeitsstruktur, die ohne Bezug zu den gesellschaftlichen Regeln und Vorschriften funktioniert. Auf die Frage, warum sie Straftaten begehen würde, gab eine Probandin in einer unserer Studien eine für Psychopathen typische Antwort: »Wollen sie die Wahrheit hören? Weil es Spaß macht.« Im Gegensatz zu den meisten anderen Kriminellen fühlen sich Psychopathen nicht an Gruppen, Normen oder Prinzipien gebunden, außer: »Jeder ist sich selbst der Nächste«. Die Strafverfolgungsbehörden machen sich oft diesen Umstand zunutze, wenn sie versuchen, einen Kriminalfall zu lösen oder eine Bande oder Terroristenzelle aufzubrechen. Das Angebot, »Sei nicht blöd, rette deine Haut; sag’ uns, wer noch dabei war und du kommst frei«, hat bei Psychopathen größere Aussicht auf Erfolg als bei gewöhnlichen Kriminellen. Der Spielfilm BADLANDS von Terrence Malick, der mörderischen Karriere von Charles Starkweather und seiner Freundin Caril Ann Fugate nachempfunden, ist eine beklemmende filmische Phantasie mit einem eisigen realen Hintergrund. Die Phantasie liegt in der Filmfigur des Kit Carruthers, dessen unwiderstehlicher Charme und aalglattes Geschwätz sehr gut zu einem psychopathischen Profil paßt – dessen Bindung zu seiner Freundin Holly allerdings zu tief und fest ist, um glaubwürdig zu sein. Man könnte versucht sein, diesen Film als die typische Hollywood-Romanze von einem Psychopathen mit einem Herz aus Gold abzutun, aber ein zweiter Blick lohnt sich. Hinter Kit sitzt Holly, rein zufällig dabei. Erst beim zweiten Ansehen tritt die reale Geschichte hinter dem Film zu Tage: Auch wenn Kit nur die Auslegung eines Filmemachers von einem psychopathischen Charakter sein sollte, ist Holly doch eine echte Psychopathin, brillant von Sissy Spacek gespielt wie eine sprechende Maske. Zwei Charaktereigenschaften von Holly offenbaren und deuten wichtige Aspekte der psychopathischen Persönlichkeit. Die eine ist ihre Gefühlsarmut und der von ihr vermittelte starke Eindruck, daß sie nur vorgibt, tief zu empfinden. Ein Hinweis darauf ist ihr manchmal frappierend unpassendes Verhalten: Nachdem Kit ihren Vater niederschießt, weil der etwas dagegen hat, daß Kit in ihrem Leben aufgetaucht ist, wird Kit von dem fünfzehnjährigen Mädchen geohrfeigt. Später plumpst sie in einen Sessel und beklagt sich über Kopfschmerzen; noch etwas später flieht sie mit Kit auf einer Mordtournee quer durchs Land, nachdem er ihr Elternhaus angezündet hat, um die Leiche ihres Vaters zu beseitigen. In einem anderen Beispiel, nach mehreren weiteren Morden, zwingt Kit mit lässig vorgehaltener Pistole ein entsetztes Pärchen, ihr Auto zu verlassen und treibt sie auf ein leeres Feld. Wie durch Zufall schließt Holly mit der verängstigten Frau auf. »Hi«, sagt sie mit ihrer flachen, kindlichen Stimme. »Was wird jetzt passieren?«, fragt die Frau verzweifelt und ratlos. »Oh«, antwortet Holly, »Kit sagt, er könnte explodieren. Ich fühle mich manchmal selbst so, sie nicht auch?« Die Szene endet damit, daß Kit die beiden in einem Kartoffelkeller in der Mitte des Feldes einschließt. Im Weggehen schießt er plötzlich unvermittelt auf die Kellertür. »Glaubst du, ich hab sie erwischt?«, fragt er, als hätte er im Dunklen nach einer Fliege geschlagen. Der vielleicht subtilste Hinweis des Films auf Psychopathie besteht in Hollys Begleiterzählung: monoton und verbrämt mit Floskeln, die direkt einer Hochglanz-Ratgeber-Postille für junge Mädchen entsprungen zu sein scheinen. Holly spricht von der Liebe, die sie und Kit füreinander empfinden, aber es gelingt der Schauspielerin, das Gefühl zu vermitteln, daß Holly die Gefühle, von denen sie 64 berichtet, gar nicht wirklich erfahren hat. Falls es jemals ein Beispiel dafür gegeben hat, den »Text zu kennen, aber nicht die Melodie«, dann ist es Spaceks Figur, die dem Zuschauer das seltsame Erlebnis, das vage Mißtrauen und das Frösteln vermittelt, von dem viele Menschen – Laien und Experten gleichermaßen – berichten, wenn sie mit einem Psychopathen zu tun gehabt haben. 6.1 Die Formel für Verbrechen In vielerlei Hinsicht ist es schwer vorstellbar, wie Psychopathen – mit ihrer Unbeherrschtheit, ihrer unkonventionellen Einstellung zu Anstand und Moral, ihrer kaltschnäuzigen, erbarmungslosen und egozentrischen Sicht der Welt, etc. – es vermeiden können, zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben mit der Gesellschaft in Konflikt zu geraten. Vielen von ihnen gelingt das natürlich nicht, und ihre kriminellen Aktivitäten decken das ganze Spektrum der Möglichkeiten ab, vom kleinen Diebstahl über Unterschlagung bis hin zu Körperverletzung, Erpressung und bewaffnetem Raub, von Vandalismus und Ruhestörung zu Entführung, Mord und Verbrechen gegen den Staat wie Landesverrat, Spionage und Terrorismus. Obwohl nicht alle Kriminellen Psychopathen sind und nicht alle Psychopathen Kriminelle, sind sie in unseren Gefängnis-Populationen zahlreich vertreten und sind im Verhältnis zu ihrer Anzahl weit überproportional für Straftaten verantwortlich:59 ¾ Im Durchschnitt sind etwa 20 Prozent der männlichen und weiblichen Gefängnisinsassen Psychopathen. ¾ Psychopathen sind für mehr als 50 Prozent der schweren Verbrechen verantwortlich. Machen wir uns nichts vor: Die Persönlichkeitsstruktur von Psychopathen bedeutet Ärger für den Rest von uns. So wie der große weiße Hai eine natürliche Mordmaschine ist, schlüpfen Psychopathen ganz selbstverständlich in die Rolle des Verbrechers. Ihre Bereitschaft, jede entstehende Situation zu ihren Gunsten auszunutzen, in Verbindung mit dem Fehlen jener inneren Hemmungen, die wir als Gewissen bezeichnen, ergibt eine potente Formel für Verbrechen. So wird zum Beispiel ein junger Psychopath wie Jeffrey, dessen blendendes Lächeln eine junge Frau am Strand entwaffnet, keine Zeit verschwenden, sich wie eine Klette an sie zu hängen und Wege zu finden, sich alle Wärme, sexuelle Befriedigung, Wohnraum, Nahrung und Geld zu nehmen, die er bekommen kann – und das alles im Namen der »Liebe«. Wenn ein junger Mann, der von Alter und Typ her John Wayne Gacy anspricht, sich zufällig in dessen Firma um Arbeit bewirbt, verschwendet Gacy keine Zeit, den Jungen zu Sexspielen zu nötigen. Und er läßt nicht von ihm ab, bevor er ihn nicht ermordet und seine Leiche unter seinem Haus verscharrt hat.60 Nach einem Streit mit seiner Freundin fährt der Utah-Killer Gary Gilmore mit einer anderen Frau in der Gegend herum, bis sein Drang, »Dampf abzulassen«, zu stark wird. Er fährt auf eine Tankstelle, läßt seine junge Begleiterin für einige Minuten mit dem Autoradio allein und erschießt den ersten Menschen, der ihm begegnet. Am nächsten Abend verfährt er nach dem gleichen Muster. Er sagt, die beiden von ihm erschossenen Männer waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, ein willkommenes Ziel für seinen Drang, zuzuschlagen.61 Eine kürzlich vom FBI durchgeführte Studie ergab, daß 44 Prozent der Täter, die einen Polizisten im Dienst getötet hatten, Psychopathen waren. [Killed in the Line of Duty, The Uniform Crime Reports Section, Federal Bureau of Investigation, United States Department of Justice, September 1992] 65 6.2 Leben für den Moment Wenn auch ein Jünger der New Age-Philosophie erschaudern mag angesichts der Entweihung ihm heiliger Prinzipien: ein großer Teil des Verhaltens und der Motivation von Psychopathen läßt sich erklären, wenn man ihn oder sie betrachtet als eine Person, die gänzlich in der Gegenwart lebt und einer guten Gelegenheit nicht widerstehen kann. Wie ein Häftling mit einer hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste bemerkte: »Was soll man machen? Sie hatte einen klasse Hintern, da hab ich mich bedient.« Er wurde wegen Vergewaltigung verurteilt. Ein anderer wurde von der Polizei verhaftet, nachdem er in einer Gameshow im lokalen Fernsehen aufgetreten war – in derselben Stadt, in der seine Opfer lebten. Für fünf Minuten ein Star – und dann zwei Jahre im Gefängnis! In dem Playboy-Interview kurz vor seiner Hinrichtung vermittelte Gary Gilmore einen Eindruck davon, wie es ist, so fest in der Gegenwart verankert zu sein. Gefragt, warum er – trotz seines sehr hohen IQs – so oft bei seinen Taten erwischt worden war, antwortete Gilmore: Ein paar Mal bin ich nicht erwischt worden. Ich bin kein guter Dieb. Ich bin impulsiv, plane nicht, denke nicht nach. Du mußt nicht superintelligent sein, um mit so was durchzukommen, du mußt nur nachdenken. Aber das mache ich nicht. Ich bin ungeduldig. Nicht ehrgeizig genug. Ich hätte mit vielen Dingern davonkommen können, bei denen ich erwischt worden bin. Äh, ich verstehe das nicht ganz. Vielleicht ist es mir auch schon längst egal.62 6.3 Psychopathische Gewalt – kaltblütig und zufällig Noch beunruhigender als ihre starke Affinität zum Verbrechen sind die Anzeichen, daß sowohl männliche als auch weibliche Psychopathen mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit als andere Menschen gewalttätig und aggressiv sind.63 Natürlich ist Gewaltbereitschaft unter Straftätern nicht ungewöhnlich, aber Psychopathen fallen trotzdem auf. Sie verüben mehr als doppelt so viele gewalttätige und aggressive Handlungen wie andere Kriminelle, sowohl im Gefängnis wie in Freiheit. Das ist zwar beunruhigend, aber nicht überraschend. Während die meisten von uns große Hemmungen haben, andere Menschen körperlich zu verletzen, trifft das auf Psychopathen nicht zu. Für sie sind Gewalt und Einschüchterung Instrumente, die gerne eingesetzt werden, wenn sie sich wütend, zurückgesetzt oder frustriert fühlen, und sie verschwenden kaum einen Gedanken an die Schmerzen und Erniedrigung ihrer Opfer. Ihre Gewalttätigkeit ist gefühllos und zweckgerichtet – zur Befriedigung eines einfachen Bedürfnisses, wie zum Beispiel Sex, eingesetzt, oder um etwas zu bekommen, was sie haben wollen. Die Reaktion eines Psychopathen auf einen solchen Vorfall wird eher Desinteresse, ein Machtgefühl, selbstzufriedenes Vergnügen oder Befriedigung sein als Bedauern über den angerichteten Schaden – jedenfalls nichts, was ihn um den Schlaf bringen könnte. Vergleichen wir einmal die Reaktion von Psychopathen mit der von Polizisten, die in Ausübung ihrer Dienstpflichten tödliche Gewalt einsetzen müssen. Im Gegensatz zu den fiktiven Figuren im Film, die zehn Schurken vorm Abendessen umlegen können und trotzdem einen gesunden Appetit haben – zum Beispiel »Dirty Harry« Callahan, gespielt von Clint (»Make my day«) Eastwood –, fühlen sich die meisten Polizeibeamten durch eine Schießerei sehr belastet. Vielen von ihnen fällt es schwer, ihre Erlebnisse emotional zu verarbeiten, und sie leiden unter einem posttraumatischen Streß-Syndrom. Die Nachwirkungen können so schwerwiegend sein, daß viele Gerichte routinemäßig 66 für jeden an einer Schießerei beteiligten Polizeibeamten psychologische Betreuung anordnen. Eine solche Betreuung wäre nutzlos für einen Psychopathen. Selbst erfahrene und hartgesottene Psychologen sind irritiert von der unbeteiligten Reaktion eines Psychopathen auf ein herzzerreißendes Ereignis, oder von der beiläufigen Beschreibung eines brutalen Verbrechens – als wenn ein Apfel geschält oder ein Fisch ausgenommen wurde. ¾ In einem Interview lieferte Gary Gilmore ein plastisches Beispiel für die hemmungslose Gewaltbereitschaft des Psychopathen in seiner Erklärung, wie er im Gefängnis zu dem Spitznamen »Hammersmith« gekommen war.64 LeRoy, ein Freund von Gilmore, wurde im Gefängnis ausgeraubt und zusammengeschlagen. Er ließ Gilmore wissen, daß er Hilfe bei seiner Rache an dem Täter Bill bräuchte. »An dem Abend erwischte ich Bill, als er sich gerade ein Fußballspiel anschaute«, erzählt Gilmore, »und schmetterte den Hammer in seinen Kopf. Dann drehte ich mich um und ging weg ... Wie sehr ich ihn verletzt habe? [lacht] ... sie steckten mich für vier Monate ins Loch und Bill schafften sie nach Portland für eine Gehirnoperation. Aber Bill war sowieso schon ziemlich im Arsch. Also, um ihre Frage zu beantworten, dieser Typ hat mich deswegen ›Hammersmith‹ genannt. Er hat mir einen kleinen Spielzeughammer geschenkt, den ich an einer Kette tragen sollte ...« Anscheinend behauptete Gilmore später, Bill mit dem Hammer getötet und einen anderen gewalttätigen Mord begangen zu haben. Die Interviewer fragten ihn: »Warum haben sie jedermann erzählt, daß sie sie umgebracht haben? Wollten sie angeben oder ein Geständnis ablegen?« Gilmore: »[lachend] Wahrscheinlich eher angeben, wenn sie’s genau wissen wollen.« ¾ Ein Ex-Häftling, vormals durch einen Gefängnispsychiater als Psychopath diagnostiziert, erzählte der Polizei seelenruhig, daß er einen Mann in einer Bar erstochen hatte, weil der seinen Tisch nicht räumen wollte. Seine Erklärung: er wollte sich seinerzeit ein Image als »harter Bursche« aufbauen, und das Opfer hatte ihm vor den anderen Gästen widersprochen. Am Neujahrstag 1990 tötete die 26jährige Roxanne Murray ihren 42jährigen Ehemann, mit dem sie seit fünf Jahren verheiratet gewesen war, mit einer 12mm-Schrotflinte. Sie erzählte der Polizei, sie hätte ihren Mann geliebt, aber hätte ihn töten müssen. Das Gericht schloß sich ihr an und die Mordanklage wurde fallengelassen. Der Ehemann, Doug (»Juicer«) Murray, war ein »Pseudo-Motorradrocker« mit einem »Hang zu starken Motorrädern und schwachen, gehorsamen Frauen und Hunden – als Besitztümer unter seiner Kontrolle. Im Laufe der Jahre war mehrfach gegen ihn wegen Vergewaltigung und Körperverletzung ermittelt worden, allerdings kam es wegen fehlender Zeugen nie zu einer Anklage. Er war zuvor mehrmals verheiratet gewesen und hatte seine Frauen terrorisiert und geprügelt. Makabererweise »betrieb er zeitweise ein Heim für sexuell mißbrauchte Teenager. Er beutete sie seelisch und körperlich aus, so wie er die meisten Frauen in seinem Leben ausgebeutet hat. Häufig machte er kompromittierende Fotos zum späteren Gebrauch.« Als Roxanne sich über die Futterrechnungen für ihre vierzehn Hunde beklagte, zerrte Doug sie in den Wohnwagen, schlug ihr mit einer geladenen Pistole auf den Kopf und erschoß ihren Lieblingshund vor ihren Augen. »So könnte es dir auch ergehen«, sagte er zu ihr. Er »schien unfähig zu sein, Sex ohne Gewalt oder absolute Kontrolle zu haben. Fellatio wurde zu jeder Zeit und an jedem Ort gefordert oder es setzte eine Tracht Prügel. Er zwang seinen Frauen brutale Rollenspiele seiner Vergewaltigungsphantasien auf. Er zwang einige von ihnen, mit scharfer Munition russisches Roulett zu spielen.« Roxannes beste Freundin 67 sagte aus, daß »Doug anscheinend mehrere Seiten hatte. Einige davon waren gut, oder er wollte sie als gut darstellen, wahrend andere unvorstellbar böse waren.« Mit seinem brutalen Verhalten hat Doug anscheinend der Gesellschaft geholfen, die Grenze zu ziehen, ab der mißbrauchte und terrorisierte Opfer das Recht haben, sich selbst mit drastischen Maßnahmen zu schützen. [Aus einem Artikel von Ken McQueen in The Vancouver Sun vom 1. März 1991] ¾ Ein Straftäter mit einer hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste tötete bei einem Einbruch einen älteren Mann und lieferte folgende beiläufige Beschreibung der Angelegenheit: »Als ich herumstöberte, kommt dieser alte Knacker die Treppe runter und ... äh ... fängt an, rumzuschreien und zu toben ... also brate ich ihm eins über die Birne, aber er hält immer noch nicht die Schnauze. Ich hacke ihm in die Kehle und er ... also ... stolpert nach hinten und fällt auf den Boden. Er gurgelt und macht Geräusche wie ein eingeklemmtes Schwein [lacht] und er geht mir verdammt auf die Nerven, also ... äh ... trete ich ihm ein paar Mal gegen den Kopf. Dann war er still ... inzwischen war ich müde, also hab ich mir ein paar Dosen Bier aus dem Kühlschrank geschnappt und den Fernseher angestellt, dann bin ich eingeschlafen. Die Bullen haben mich geweckt [lacht].« Solcherlei schlichte, leidenschaftslose Akte von Gewalt unterscheiden sich deutlich von Gewalttaten, die plötzlich aus einem erhitzten Streit, einem aufwühlenden Gefühlsschlag, aus unkontrollierbarem Ärger, Wut oder panischer Angst entstehen. Beispiele finden sich zur Genüge in den Nachrichten. Und die meisten Menschen wissen, wie es ist, »auszurasten«, bis hin zu Gewalttaten, und hinterher entsetzt über sich selbst zu sein. Während der Arbeit an diesem Kapitel wurde ein 65jähriger Mann ohne Vorstrafen des versuchten Mordes angeklagt. Während einer äußerst emotionalen Besprechung über das Sorgerecht für das gemeinsame Kind fügte er seiner Ex-Frau und deren Anwalt Stichverletzungen mit einem Taschenmesser zu. Ein hinzugezogener Psychiater attestierte, daß der Mann so außer sich war, daß er die Kontrolle verlor, »ausrastete« und sich hinterher nicht einmal an seine Tat erinnern konnte. Der Mann war entsetzt über sein eigenes Verhalten und wurde freigesprochen. Hätte man ihn verurteilt, wäre er ein aussichtsreicher Kandidat für eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung gewesen. Unter Kriminalwissenschaftlern ist bekannt, daß Tötungsdelikte, die im Affekt im Zuge häuslicher Auseinandersetzungen oder im Streit mit Freunden oder Bekannten begangen werden, durchweg einmalige Vorkommnisse sind, die von anderweitig rechtschaffenen, reumütigen Personen begangen werden und daß eine Wiederholungstat unwahrscheinlich ist. Demgegenüber fehlt der von Psychopathen verübten Gewalt die normale emotionale »Färbung«; häufig wird sie durch belanglose Ereignisse ausgelöst. In einer kürzlich durchgeführten Studie haben wir Polizeiberichte über die Umstände von Gewalttaten ausgewertet, die vor kurzem durch männliche Straftäter begangen worden waren, von denen etwa die Hälfte Psychopathen waren.65 Die von Psychopathen verübten Gewaltverbrechen unterschieden sich in einigen wichtigen Punkten von denen der anderen Verbrecher: ¾ Die Gewalt der anderen Verbrecher trat gewöhnlich während einer häuslichen Auseinandersetzung oder im Affekt auf, aber: ¾ Die Gewalt von Psychopathen trat häufig beim Begehen einer Straftat oder während eines Saufgelages auf, oder war durch Rache oder Vergeltung motiviert. ¾ Zwei Drittel der Opfer der anderen Verbrecher waren weibliche Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte, aber: 68 ¾ Zwei Drittel der Opfer der Psychopathen waren fremde Männer. Im Allgemeinen tendiert psychopathische Gewalt dazu, gefühllos und kaltblütig zu sein. Sie ist eher gradlinig, unkompliziert und geschäftsmäßig und weniger ein Ausdruck von Verzweiflung oder die Folge verständlicher Motive. Ihr fehlt der »Saft«, die heftigen Gefühle, die die Gewalt der meisten anderen Menschen begleiten. Der vielleicht beunruhigendste Aspekt psychopathischer Gewalt ist ihr Einfluß auf die Art der Gewalt in unseren städtischen Ballungsräumen. Überfälle, geplatzte Drogendeals, aggressives Betteln, Bandenkriminalität und Angriffe auf bestimmte Zielgruppen wie zum Beispiel Homosexuelle bringen häufig gefühllose und unprovozierte Gewaltanwendung gegen Fremde und zufällige Opfer mit sich. Ein Vorbild dieser neuen Welle von Gewalt ist der psychopathische Gangster, wie er häufig in Film und Fernsehen dargestellt wird: »Nimmt s nicht persönlich«, sagt er und gibt sich seinen selbstsüchtigen und gewalttätigen Gelüsten hin. Ein 15jähriges Mädchen drückt es so aus: Ich sehe etwas, das ich so sehr haben will, daß ich es mir einfach nehme. Einmal war es ganz schlimm, da habe ich ein Mädchen mit einem Messer bedroht, aber ich tue niemandem weh. Ich bin nur hinter den Sachen her.66 Ein »Geisterfahrer« hat ein Auto gerammt und eine Mutter und ihre kleine Tochter getötet. Zeugen berichteten, daß der Fahrer »nach dem Unfall unverschämt und widerwärtig war. Er interessierte sich ausschließlich für einen Termin, den er durch den Unfall verpassen würde.« Im Krankenwagen mit einem seiner Opfer, einem schwerverletzten, zwei Monate alten Säugling, reagierte der Fahrer – der anscheinend nicht unter Alkohol- oder Drogeneinfluß stand – auf das Weinen des Kindes mit dem Ausruf, »Können sie dem verdammten Balg nicht das Maul stopfen?« [Nach einem Bericht in The Province, Vancouver, 25. April 1990.] 6.4 Sexuelle Gewalt Vergewaltigung ist ein gutes Beispiel für den gefühllosen, selbstsüchtigen und zweckgerichteten Einsatz von Gewalt durch Psychopathen. Natürlich sind nicht alle Vergewaltiger Psychopathen. Viele von ihnen sind ohne Zweifel schwer gestörte Individuen, die unter einer ganzen Reihe psychiatrischer und psychologischer Probleme leiden. Andere sind das Ergebnis kultureller und gesellschaftlicher Traditionen, die Frauen eine unterwürfige Rolle zuweisen. Die Vergehen dieser Männer, wenn auch abstoßend für die Gesellschaft und furchtbar traumatisch für die Opfer, sind womöglich besser verständlich als solche, die durch Psychopathen begangen werden. Etwa die Hälfte der Wiederholungs- und Serienvergewaltiger sind Psychopathen.67 Ihre Taten sind das Ergebnis einer potenten Kombination von Faktoren: hemmungsloses Ausleben sexueller Triebe und Phantasien, Streben nach Macht und Kontrolle und Wahrnehmung der Opfer als Objekte des Vergnügens oder der Befriedigung. Diese Kombination wird durch John Oughton anschaulich illustriert, der von der Lokalpresse in Vancouver der »paper bag rapist« genannt wurde (er trug stets eine Papiertüte über dem Kopf, wenn er Kinder und Frauen vergewaltigte). Oughton wurde von einem Gerichtspsychiater als Psychopath diagnostiziert – »er hat kein Gewissen, ist manipulativ, egozentrisch, verlogen und unfähig, zu lieben« – und als Sexualsadist, der »sich sexuell erregt, indem er psychologischen Druck auf seine Opfer ausübt.«68 69 6.5 Der Psychopath als prügelnder Ehemann In den vergangenen Jahren ist die Öffentlichkeit häuslicher Gewalt mit zunehmendem Interesse und abnehmender Toleranz begegnet, was zu intensiverer Strafverfolgung solcher Täter und vermehrt gerichtlich angeordneter therapeutischen Maßnahmen geführt hat. Obwohl Ursachen und Entwicklung ehelicher Gewalt komplex sind und von zahllosen wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Faktoren beeinflußt werden, gibt es Hinweise, daß Psychopathen einen erheblichen Anteil der fortgesetzt mißhandelnden Ehemänner stellen. In einer kürzlich durchgeführten Studie haben wir die Psychopathie-Checkliste von männlichen Probanden beantworten lassen, die – entweder freiwillig oder im Rahmen einer gerichtlich angeordneten Maßnahme – an einer Therapie für gewalttätige Ehemänner teilnahmen.69 Wir fanden heraus, daß 25 Prozent der Probanden Psychopathen waren, ein ähnlich hoher Anteil wie in Gefängnispopulationen. Den Anteil von Psychopathen unter gewalttätigen Ehemännern, die nicht an Therapiemaßnahmen teilnehmen, kennen wir nicht, aber ich vermute, daß er zumindest ebenso hoch ist. Die Schlußfolgerung, daß viele der Männer, die fortgesetzt ihre Ehefrauen mißhandeln, Psychopathen sind, hat gravierende Folgen für therapeutische Maßnahmen, da Psychopathen notorisch therapieresistent sind (ein Thema, das ich in einem späteren Kapitel erörtern werde). Für gewöhnlich sind die für therapeutische Maßnahmen an mißhandelnden Ehemännern zur Verfügung stehenden Mittel beschränkt, und viele Therapiegruppen führen lange Wartelisten. Häufiger als andere Männer nehmen Psychopathen an solchen Programmen nur teil, um die Gerichte milde zu stimmen, und nicht etwa, um ihr Verhalten zu ändern. So wird oft wenig mehr erreicht, als daß ein Therapieplatz blockiert wird, der von einer anderen Person besser genutzt werden könnte. Dazu kommt, daß Psychopathen zweifellos den Verlauf solcher Therapien stören. Aber die wohl schwerwiegendste Folge der Teilnahme von Psychopathen an solchen Therapien ist das trügerische Gefühl von Sicherheit, das der jeweiligen Frau eines solchen Täters vermittelt wird. Sie könnte zu dem Schluß kommen, »Er war in Therapie und wird sich gebessert haben« – und so die Gelegenheit versäumen, sich von ihrem gewalttätigen Partner zu trennen. Herr Leblanc war wegen Körperverletzung an seiner Lebensgefährtin mit der Auflage verurteilt worden, an einer Therapiegruppe für gewalttätige Ehemänner teilzunehmen. Er gab sich charmant und liebenswürdig und beschrieb seinen Übergriff als einen unwichtigen, bedauerlichen Streit, in dessen Verlauf er im Zorn seine Lebensgefährtin geschlagen habe. Der Polizeibericht allerdings gab an, daß er ihr zwei blaue Augen und eine gebrochene Nase verpaßt hatte und daß sein Angriff nur der letzte in einer Serie ähnlicher Episoden mit zahlreichen anderen Frauen gewesen war. Im Vorgespräch zur ersten Therapiesitzung sagte er, daß er das Problem verstünde und lediglich lernen müßte, seinen Ärger zu kontrollieren. Dann hielt er einen länglichen Fachvortrag über die Psychodynamik und -theorie von Gewalt in Familien und kam zu dem Schluß, daß die Therapiegruppe ihm wohl wenig nützen könne; er sei jedoch gern bereit, an den Sitzungen teilzunehmen, da er den anderen Männern helfen könne, ihre Probleme besser zu verstehen. Während der ersten Sitzung erwähnte er beiläufig, er sei Fallschirmjäger in Vietnam gewesen, hätte an der Columbia University ein Diplom als Betriebswirt gemacht und mehrere erfolgreiche Firmen gegründet; die Einzelheiten blieben vage. Er behauptete, daß sein aktuelles Vergehen sein erstes gewesen sei. Als der Gruppenleiter anmerkte, daß er auch schon wegen Diebstahls, Betrugs und 70 Unterschlagung verurteilt worden sei, behauptete er lächelnd, daß das alles lächerliche Mißverständnisse gewesen seien. Er dominierte die Gruppendiskussionen und erging sich meistenteils in ziemlich oberflächlichen, »populärpsychologischen« Analysen der anderen Männer. Der Gruppenleiter fand ihn interessant, aber die meisten anderen waren überwiegend frustriert von seiner intellektuellen Überheblichkeit und seiner aggressiven Art. Nach einigen Sitzungen tauchte er nicht mehr auf; anscheinend hatte er die Stadt verlassen, in eklatanter Mißachtung gerichtlicher Anordnungen. Seine Behauptungen, an der Columbia University ein Diplom erworben zu haben und in Vietnam gedient zu haben, erwiesen sich als falsch. 6.6 Die Nagelprobe: Können wir ihr Verhalten vorhersagen? Der texanische Kriminalpsychiater James Grigson (»Dr. Death«) prognostiziert routinemäßig bei schweren Mordfällen, daß psychopathische Mörder weitere Morde begehen würden.70 Daher gibt es keinen Mangel an Insassen der Todeszellen. Im Gegensatz zu Grigsons fester Überzeugung sind viele Praktiker und Politiker der Meinung, daß sich kriminelles und gewalttätiges Verhalten nicht genau vorhersagen läßt. Wie so häufig liegt die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden extremen Standpunkten. Man muß kein Genie sein, um sich klar zu machen, daß Individuen mit einer kriminellen oder gewalttätigen Vorgeschichte gefährlicher sind als andere. Eine gute Prognose über das zukünftige Verhalten einer Person ergibt sich aus ihrem vergangenen Verhalten; eine Maxime, die die Grundlage für viele Entscheidungen der Strafjustiz ist. Die Ergebnisse von mindestens einem halben Dutzend jüngerer Studien zeigen an, daß Prognosen über kriminelles und gewalttätiges Verhalten erheblich verbessert werden können, wenn auch bekannt ist, ob der jeweilige Delinquent ein Psychopath gemäß Psychopathie-Checkliste ist.71 Diese Studien haben die Rückfallquoten (das Begehen neuer Straftaten) von Gewaltverbrechern nach ihrer Entlassung aus der Haft untersucht und gezeigt: ¾ Die Rückfallquote von Psychopathen ist im Durchschnitt doppelt so hoch wie die anderer Straftäter. ¾ Die Rückfallquote psychopathischer Gewalttäter ist im Durchschnitt dreimal so hoch wie die anderer Straftäter. Ein Thema von großem allgemeinen Interesse ist die vorzeitige Entlassung auf Bewährung von Sexualstraftätern. Wie bereits erwähnt, ist es wichtig, zwischen psychopathischen und anderen Sexualstraftätern zu unterscheiden. Die Bedeutung dieses Unterschiedes für Bewährungskommissionen wird von einer kürzlich durchgeführten Studie an nach intensiver Therapie aus der Haft entlassenen Vergewaltigern erhärtet.72 Fast ein Drittel der entlassenen Männer begingen erneut Vergewaltigungen. Die meisten der Wiederholungstäter hatten eine hohe Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste. Vor ihrer Entlassung wurde mit Hilfe eines elektronischen, am Penis angebrachten Meßgerätes festgestellt, daß sie auf abartige Weise durch sexuelle Gewaltdarstellungen erregbar waren. Unter Berücksichtigung dieser beiden Variablen – Psychopathie und abartige Erregbarkeit durch sexuelle Gewaltdarstellungen – waren drei von vier Prognosen darüber, welche der entlassenen Straftäter wieder vergewaltigen würden, zutreffend. Durch solche Erkenntnisse zeigt die Strafjustiz ein erneutes Interesse an dem Zusammenhang zwischen Psychopathie, Rückfallquote und Gewaltbereitschaft. Dieses Inter71 esse ist nicht auf kurz vor der Entlassung stehende Häftlinge beschränkt. So verwenden zum Beispiel inzwischen mehrere kriminalpsychologische Krankenhäuser die Psychopathie-Checkliste, um das durch einzelne Patienten bestehende Sicherheitsrisiko einzuschätzen.73 6.7 Bessern sie sich, wenn sie älter werden? Bitte denken Sie einmal an Verwandte oder Freunde, die Sie seit der Kindheit kennen: die schüchterne, gehemmte Freundin; der extrovertierte, kontaktfreudige Bruder; der schwatzhafte, schmierige Vetter; der wilde, feindselige, aggressive Nachbar. Wie waren sie im Alter von zehn Jahren? Auch wenn Menschen sich ändern, manchmal in hohem Maße, so bleiben doch viele Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen lebenslang erhalten. So wird zum Beispiel der kleine Junge, der Angst vor seinem eigenen Schatten hat, sicherlich eher zu einem schüchternen und ängstlichen Erwachsenen heranwachsen als ein robuster, furchtloser Kämpfer. Das soll nicht heißen, daß unsere Persönlichkeiten und Verhaltensweisen schon früh im Leben starr fixiert werden, oder daß Wachstum, Reifung und Erfahrung keine bedeutsamen Faktoren für die Persönlichkeitsentwicklung sind. Aber es gibt eine gewisse Stetigkeit in unserer Interaktion mit unserer Umgebung; so haben zum Beispiel mehrere Forscher in Bezug auf Kriminalität gezeigt, daß kindliche Charakterzüge wie Schüchternheit, Ruhelosigkeit und Aggressivität erstaunlich beständig sind, zumindest bis ins frühe Erwachsenenalter.74 So ist es auch nicht überraschend, daß die asozialen und kriminellen Aktivitäten von erwachsenen Psychopathen die Fortsetzung von Verhaltensmustern ist, die sich zuerst während der Kindheit gezeigt haben. Aber etwas Interessantes passiert am anderen Ende des Spektrums:75 ¾ Im Durchschnitt bleiben die kriminellen Aktivitäten von Psychopathen auf einem hohen Niveau; danach gehen sie stark zurück. ¾ Dieser Zurückgang ist für gewaltlose Vergehen stärker ausgeprägt als für Gewalttaten. Worauf ist der bei vielen Psychopathen im mittleren Alter zu beobachtende Rückgang ihres asozialen Verhaltens zurückzuführen? Verschiedene plausible Erklärungen sind vorgeschlagen worden: sie »brennen aus«, reifen, werden eines Lebens hinter Gittern oder im Konflikt mit dem Gesetz überdrüssig, entwickeln neue Strategien, um dem System ein Schnippchen zu schlagen, finden einen verständnisvollen Menschen, entwikkeln eine neue Sicht ihrer selbst und der Welt, etc. Bevor man allerdings zu dem Schluß kommt, daß alternde Psychopathen kaum noch eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen, sollte man folgendes bedenken: ¾ Nicht alle Psychopathen beenden im mittleren Alter ihre kriminelle Karriere; viele begehen weiterhin Straftaten bis ins hohe Alter. ¾ Ein Rückgang der Straftaten bedeutet nicht notwendigerweise eine grundlegende Änderung der Persönlichkeit. Dies sind wichtige Punkte. Manche Psychopathen begehen Straftaten, insbesondere gewalttätige, bis zum Tag ihres Todes. Und die Forschung legt den Schluß nahe, daß viele derjenigen, deren kriminelle Aktivitäten mit zunehmendem Alter abnehmen, trotzdem weiterhin die in Kapitel 3 beschriebenen Charaktereigenschaften beibehalten – das heißt, daß sie egozentrisch, oberflächlich, manipulativ und gefühllos bleiben. Der Unterschied ist, daß sie gelernt haben, ihre Bedürfnisse auf eine Art zu befriedigen, die 72 nicht mehr so eklatant asozial ist wie zuvor. Das bedeutet jedoch nicht, daß ihr Verhalten nunmehr moralisch und ehrenhaft wäre. So mag zum Beispiel eine Frau, deren Mann sich »gebessert« hat und nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt gerät, sie weniger regelmäßig betrügt als zuvor und sagt, daß er sie liebt, sich wundern, ob er sich »überhaupt geändert hat« – insbesondere, wenn sie nur selten weiß, wo er steckt und was er im Schilde führt. Wäre dieser Mann ein Psychopath, hätte ich ernsthafte Zweifel, ob er sich wirklich geändert hat. Im Alter von fünfunddreißig beschloß eine als Psychopathin diagnostizierte Frau mit einem länglichen Register kriminellen und gewalttätigen Verhaltens, ihr Leben zu andern. Sie besuchte im Gefängnis zahlreiche Fortbildungskurse und erwarb nach ihrer Entlassung im Alter von 42 Jahren einen Universitätsabschluß als Psychotherapeutin. Sie begann, mit Straßenkindern zu arbeiten und ist in den vergangenen fünf Jahren keiner Straftaten angeklagt worden. Manche Leute in ihrer Gemeinde halten sie für erfolgreich. Allerdings ist sie mehrfach wegen Untreue und Bedrohung ihrer Kollegen und Vorgesetzten entlassen worden. Da viele der Betroffenen ihre Drohungen ernstnehmen und da befürchtet wird, daß Öffentlichkeit ein schlechtes Licht auf die betroffenen Personen und Organisationen werfen würde, wurden keine rechtlichen Schritte gegen sie eingeleitet. Manche der Menschen, die sie kennen, halten sie für eine interessante Frau, deren kriminelle Vergangenheit das Ergebnis ungünstiger sozialer Umstände und Pech war; andere meinen, daß sie dieselbe Person wie früher sei – gefühllos, arrogant, manipulativ, egozentrisch – mit dem einzigen erkennbaren Unterschied, daß es ihr jetzt gelingt, nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. 6.8 Die höchste Punktzahl Ich werde dieses Kapitel mit einem kurzen Bericht über einen Straftäter beenden, der nach Ansicht zweier unabhängiger Gutachter die höchstmögliche Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste erhalten müßte – eine Punktzahl, die weniger als einer von zweihundert Schwerverbrechern erhalten. Earl war vierundvierzig Jahre alt und saß drei Jahre wegen Körperverletzung ab. Beide Gutachter fanden das Interview mit ihm interessant, sogar spannend, da er eine vereinnahmende Energie ausstrahlte, die sie in seinen Bann zog. Zugleich waren sie aber schockiert und abgestoßen von seinen Äußerungen und der beiläufigen und geschäftsmäßigen Art, in der er sie von sich gab. Einer der Gutachter sagte, »Dieser Kerl hat mich total fasziniert, aber er war nicht von dieser Welt. Er hat mir wirklich Angst gemacht!« Earl kam aus einer intakten Familie der Arbeiterklasse, das dritte von vier Kindern. Seine Probleme mit der Gesellschaft begannen schon früh: Im Kindergarten verletzte er eine Betreuerin mit einer Gabel, nachdem sie ihn dazu bewegt hatte, sich auf seinen Stuhl zu setzen; im Alter von zehn besorgte er für seine älteren Freunde junge Mädchen (einschließlich seiner 12jährigen Schwester) für sexuelle Gefälligkeiten; und im Alter von dreizehn wurde er überführt, seine Eltern bestohlen und ihre Unterschriften auf Schecks gefälscht zu haben. »Ja klar, ich hab ein paar Monate im Jugendknast gesessen, aber ich habe verdammt viel mehr auf dem Kerbholz als das, wofür sie mich verknackt haben.« Seitdem gibt es nur wenig, was Earl nicht gemacht hat, meistens zum Schaden anderer. Seine Akte ist voll von Ermittlungen wegen Raub, Verkehrsvergehen, Körperverletzung, Vergewaltigung, Diebstahl, Betrug, Freiheitsberaubung, Zuhälterei und versuchtem Mord. Trotzdem hat er erstaunlich wenig Zeit im Gefängnis verbracht. In vielen Fällen wurde die Anklage fallengelassen, da das Opfer nicht gegen ihn aussagen wollte 73 oder aus Mangel an Beweisen oder weil Earl mit einer überzeugenden Erklärung für sein Verhalten aufwarten konnte. Selbst wenn er überführt worden war, gelang es ihm meist, frühzeitig auf Bewährung entlassen zu werden – scheinbar unerklärlich in Anbetracht seines Verhaltens in Haft. Ein Eintrag in einem psychologischen Bericht erzählt die Geschichte: Earls auffallendstes Merkmal ist seine absolute Machtbesessenheit ... Er schätzt Menschen nur, wenn sie ihm zu Willen sind oder dazu gebracht oder manipuliert werden können, das zu tun, was er will. Ständig lotet er seine Möglichkeiten aus, Menschen oder Umstände für seine Zwecke auszunutzen. Eine andere Gefängnisakte beschreibt, wie er in seinem Streben nach Macht und Kontrolle auf einem schmalen Grat zwischen den Insassen und dem Aufsichtspersonal wandert und von beiden Seiten sowohl gefürchtet als auch bewundert wird. Er ist sehr geschickt in der Anwendung von Drohungen, Einschüchterung, Körperkraft, Bestechung und Drogen, und »er verpetzt regelmäßig andere Insassen, um seinen Arsch zu retten und Privilegien zu erlangen. Die Ganovenehre bedeutet ihm nichts, solange er nicht selbst einen Vorteil davon hat.« Seine Beziehungen zu Frauen sind ebenso oberflächlich und ausbeuterisch wie sein sonstiges Verhalten. Er behauptet, mit mehreren hundert Frauen zusammengelebt zu haben, von einigen Tagen bis hin zu Wochen, und im Laufe der Jahre unzählige sexuelle Kontakte gehabt zu haben. Auf die Frage, wie viele Kinder er denn habe, antwortete Earl: Ich weiß es nicht. Einige, schätze ich mal. Es ist manchmal behauptet worden, ich sei der Vater, aber ich antworte dann immer: »Leck mich! Woher soll ich denn wissen, daß es von mir ist?« Routinemäßig hat er die Frauen in seinem Leben terrorisiert und mißhandelt, seine Tochter sexuell mißbraucht und ihre Freundin vergewaltigt. Seine Vorliebe für sadistisches sexuelles Verhalten ist auch im Gefängnis bekannt, wo er für seine »aggressive Homosexualität« berüchtigt ist. Eines seiner markantesten Persönlichkeitsmerkmale ist seine Grandiosität; diverse Einträge in seinen Akten beziehen sich auf seine theatralische, aufgeblasene und pompöse Art. Einer meiner Gutachter schrieb: Wäre ich nicht von ihm so eingeschüchtert gewesen, hätte ich ihm ins Gesicht gelacht wegen seiner unverhohlenen Selbstanbetung. Mit Earls Worten: Mir wird ständig erzählt, wie großartig ich bin und daß es nichts gibt, was ich nicht kann – manchmal denke ich, sie verarschen mich, aber ein Mann muß an sich selbst glauben, nicht wahr? Wenn ich mich selbst betrachte, gefällt mir, was ich sehe. Zum Zeitpunkt des Interviews vor einigen Jahren wurde gerade Earls Antrag auf Entlassung zur Bewährung geprüft. In seinem Antrag an die Bewährungskommission führte er folgendes aus: Ich bin sehr viel reifer geworden und sehe keine Perspektive hinter Gittern. Ich habe der Gesellschaft eine Menge anzubieten, und ich habe hart daran gearbeitet, meine Schwächen und Stärken zu analysieren. Es ist mein Ziel, ein guter Bürger zu sein, bescheiden zu leben und eine von Liebe getragene Beziehung zu einer guten Frau zu führen. Ich glaube, daß ich jetzt ehrlicher und vertrauenswürdiger bin. Mein Ruf ist mir heilig. 74 Kommentar des Interviewers: Die Ironie dessen, daß Earl weithin als notorischer Lügner mit Dutzenden von Decknamen bekannt war, ist mir nicht entgangen. Überraschenderweise waren der Gefängnispsychologe und -psychiater der Meinung, daß Earl sich tatsächlich während seiner Haft gebessert hätte, und auf Grund ihrer Kontakte mit ihm hielten sie sein Rückfallrisiko für niedrig. Aber, wie einer meiner Interviewer sagte: Wenn auch nur die Hälfte dessen stimmt, was er mir erzählt hat, dürfte man ihn niemals rauslassen. Earl wußte, daß unsere Beurteilungen streng vertraulich waren, daß sie im Rahmen eines Forschungsprojekts abgegeben wurden und daß es uns rechtlich und moralisch verboten war, unsere Erkenntnisse an die Behörden weiterzugeben, solange keine Gefahr bestand, daß er sich selbst oder andere verletzte. Seine Selbstdarstellung uns gegenüber war daher offener als das, was er im Rahmen seines Antrags auf Bewährung präsentierte. Jedenfalls wurde Earls Antrag auf Bewährung abgelehnt und er begann, meinen Interviewer zu beschuldigen, vertrauliche Informationen über ihn unbefugt weitergegeben zu haben. Der Interviewer befürchtete Repressalien von Earls Freunden »draußen«, begab sich auf eine längliche Europareise und arbeitet jetzt in England. Earl wurde vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen; mein Interviewer hat nicht die Absicht, in absehbarer Zukunft nach Kanada zurückzukehren. 75 7 Psychopathen im Geschäftsleben Die Schwächen des Einbrechers sind die Stärken des Finanziers. George Bernard Shaw, im Vorwort zu MAJOR BARBARA Im Juli 1987 erhielt ich als Reaktion auf einen in der New York Times erschienenen Artikel,76 der meine Arbeit über Psychopathie zusammenfassend beschrieb, einen Leserbrief des New Yorker Staatsanwalts Brian Rosner. Er schrieb, daß er kürzlich im Gerichtsverfahren eines Mannes ausgesagt hätte, der internationaler betrügerischer Bankgeschäfte mit einem Schaden von mehreren Millionen Dollar überführt worden war: Ihre in dem Artikel zitierte Schilderung hat diesen Angeklagten exakt beschrieben ... Im Betrugsdezernat sind, um ihre Worte aufzugreifen, Winkeladvokaten, betrügerische Ärzte und Geschäftsleute unser täglich Brot. Ich meine, daß Ihre Arbeit uns dabei helfen kann, den Gerichten verständlich zu machen, warum gebildete Männer in dreiteiligen Anzügen Straftaten begehen und wie sie bestraft werden müssen. Zu ihrer Information habe ich einige Unterlagen aus diesem Fall beigefügt. Falls sie jemals Tatsachen benötigt haben, um eine Theorie zu erhärten – hier sind sie.77 Dem Brief lag ein Paket mit Unterlagen bei, in dem die Missetaten des 36jährigen John Grambling jr. beschrieben waren, der mit Hilfe eines Spießgesellen nicht nur eine oder zwei, sondern viele Banken auf betrügerische Art dazu gebracht hatte, bedenkenlos und vertrauensvoll Millionenbeträge auszuzahlen, obwohl die beiden keinerlei Sicherheiten zu bieten hatten. Ein Artikel über Gramblings betrügerische Karriere erschien im Wall Street Journal unter der Überschrift: »Es erfordert Phantasie, sich ohne Sicherheiten Millionen zu leihen, aber John Grambling weiß, wie man Banken einwickelt und Vermögenswerte vortäuscht.«78 Der Artikel begann folgendermaßen: Vor einigen Jahren versuchten zwei aufstrebende Geschäftsleute, 36,5 Millionen Dollar von vier Banken und einer Sparkasse zu stehlen. Ohne jemandem eine Knarre vor die Nase zu halten, sackten sie tatsächlich 23,5 Millionen ein. Kein schlechtes Ergebnis, aber sie wurden erwischt. Die Masche basierte fast gänzlich auf ihrem Auftreten. Grambling und seinem Kumpan gelang es, eine lange Reihe von Entscheidungsträgern in zahlreichen Kreditinstituten davon zu überzeugen, daß sie vertrauenswürdig seien. Tatsächlich konstruierten die beiden eine beeindruckende Bonität, indem sie in einem Schneeballsystem jeweils einen Kredit mit einem anderen zurückzahlten. Auf der Suche nach einer Erklärung für solche Betrügereien begegnete der Autor des Journal folgenden Reaktionen von Bankern: ¾ »Banken stehen untereinander in starker Konkurrenz für die Vergabe gewinnträchtiger Kredite.« ¾ Gramblings »geschliffene Umgangsformen« machten ihn glaubwürdig. ¾ Ein zielstrebiger Betrüger »wird Erfolg haben«. ¾ Grambling »sollte gezwungen werden, eine Alarmglocke um den Hals zu tragen«. Die gerichtlichen Verhandlungsprotokolle und andere der mir zugesandten Unterlagen belegen,79 daß Grambling seinen Lebensunterhalt bestreitet, indem er Charme, Täuschung und Manipulation einsetzt, um das Vertrauen seiner Opfer zu gewinnen. Wenn er auch in der Lage sein mag, plausible Erklärungen für sein Verhalten zu liefern, so lassen doch die erwähnten Unterlagen und ein kürzlich von Brian Rosner geschriebenes Buch80 keinen Zweifel daran, daß das dokumentierte Verhalten von John Grambling dem Konzept von Psychopathie entspricht, das in diesem Buch dargestellt wird. Diese 76 Geschichte ist zumindest ein anschauliches moralisches Lehrstück über eine Art von Räubern, deren charmantes Auftreten und unterentwickeltes Gewissen ihnen den Weg ebnen, um Institutionen und Menschen zu schröpfen – was gemeinhin verharmlosend als Wirtschaftskriminalität bezeichnet wird. Sie haben ein charmantes Lächeln und ein vertrauenerweckendes Auftreten, aber niemals – und dafür garantiere ich – tragen sie eine Alarmglocke um den Hals. Für Psychopathen mit einer unternehmerischen Ader ist der Fall von Grambling – und andere, ähnlich gelagerte Fälle – ein Beispiel dafür, wie man Bildung und Beziehungen einsetzen kann, um Menschen und Institutionen ohne den Einsatz von Gewalt um ihr Geld zu bringen. Im Unterschied zu »normalen« Wirtschaftsverbrechern haben die Täuschung und Manipulation dieser Täter nicht nur das Ziel, Geld zu machen, sondern sie prägen ihre Beziehungen zu allem und jedem, einschließlich Familie, Freunden und Justiz. Häufig schaffen sie es, Gefängnisstrafen zu entgehen, und selbst wenn sie erwischt und verurteilt werden, erhalten sie meist eine milde Strafe und frühzeitige Bewährung – nur um da weiterzumachen, wo sie unterbrochen worden sind. Trotzdem haben ihre Verbrechen verheerende Folgen für die Gesellschaft. Man bedenke die folgenden, von Staatsanwalt Brian Rosner während des Gerichtsverfahrens gemachten Ausführungen:81 ¾ Die Straftaten von Grambling sind kalkulierte Verbrechen der Habgier, getrieben von der Lust, Macht über die Leben und Besitztümer anderer Menschen auszuüben. Diese Lust kann man oft bei den bösartigsten Kriminellen beobachten ... Die Taten eines unberechenbar bösen Mannes. [S. 87] ¾ Er hat dieses Land mit zerstörten Karrieren und Hoffnungen übersät. Der finanzielle Schaden läßt sich beziffern; das menschliche Leid und der psychologische Schaden nicht. [S. 86] ¾ Wenn auch seine Mittel vornehm sind, so sind doch seine Motive so grausam wie die eines Straßenschlägers. [S. 83] Zusätzlich zum Betrug an Geldinstituten fälschte Grambling auf dem Briefpapier einer renommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft finanzielle Dokumente, mit deren Hilfe er sich Kredite erschlich. Gleichzeitig verführte er den Seniorpartner, einen philanthropischen Unternehmensberater, und einen seiner Kollegen, ihm bei der Einrichtung eines betrügerischen Wohltätigkeitsvereins für alte Menschen zu helfen. Über diese beiden Männer sagte Rosner: »Grambling ist schlichtweg der aalglatteste Betrüger, dem sie jemals begegnet waren.«82 Ein Charmeur schöpft seine Möglichkeiten stets voll aus und wird sich immer so schändlich benehmen, wie die Welt es ihm gestattet. – Logan Pearsall Smith, AFTERTHOUGHTS, S. 3. Seine Verbrechen beschränkten sich nicht auf anonyme Geldinstitute. So fälschte er zum Beispiel die Einkommensteuererklärung seiner Schwägerin und brachte sie dazu, eine Hypothek über 4,5 Millionen Dollar aufzunehmen. Er behielt das Geld und ließ sie für den Kredit haften. Nach seiner Verhaftung sagte sie, man könne sich nicht vorstellen, »wie erleichtert ich war, als ich wußte, daß er hinter Gittern sitzt ... Die kleinen Leute, die er geschädigt hat ... Mein Gott, jetzt kann er niemandem mehr schaden.«83 Sein Schwiegervater schrieb, daß Grambling für die Fehler, die er gemacht hatte, Reue gezeigt und sich über seine Therapie, seine »hundertprozentige Rehabilitation« und seine Pläne, alles wiedergutzumachen, ausgelassen hätte, »während er bereits dabei war, die nächste Bank zu betrügen.«84 Nachdem er schriftlich Wohlverhalten versprochen hatte, wurde er auf Bewährung freigelassen und beging umgehend weitere Betrügereien 77 in einer »flächendeckenden Verbrechenswelle«.85 Seine Reueschwüre wurden durch sein Verhalten zunichte gemacht. Und was hatte Grambling zu all dem zu sagen? Eine ganze Menge, wie sich herausstellen sollte. Einige seiner Äußerungen sind entlarvend und daher wert, hier wiedergegeben zu werden als Beispiel einer für Psychopathen typischen Eigenheit: das bedenkenlose Umformen der Realität selbst in dem Wissen, daß die Tatsachen bekannt sind. Die folgenden Zitate sind einem Brief, den er an das Gericht geschrieben hat, um ein mildes Urteil zu erwirken, sowie den Verhandlungsprotokollen entnommen. ¾ Durch meine Ausbildung im Finanzwesen bin ich zu einem Finanzarchitekten geworden. Ich bin ein Baumeister. Ich bin kein professioneller Betrüger oder Hochstapler.86 ¾ An keiner meiner Arbeitsstellen vor 1983 bin ich jemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, weder im Finanzwesen noch auf einem anderen Gebiet.87 ¾ Ich bin ein sehr sensibler Mensch.88 Grambling wußte genau, daß seine Aussagen mit den Erkenntnissen des Gerichts nicht in Einklang zu bringen waren. Er war ein Hochstapler, er war vor 1983 mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und allen Zeugenaussagen zufolge war er kein »sensibler Mensch« im landläufigen Sinne. Seine früheren Tricks und Konflikte mit dem Gesetz sind ausführlich dokumentiert. Als Student hatte er in den frühen Siebzigern mehrere Tausend Dollar seiner Burschenschaft unterschlagen. Um einen Skandal zu vermeiden, nahm die Burschenschaft einen Scheck von Gramblings Vater an und verfolgte die Angelegenheit nicht weiter. An seiner ersten Arbeitsstelle in einer großen Anlagebank beurteilte ihn sein Arbeitgeber als einen »professionellen Dilettanten« und »legte ihm nahe«, das Unternehmen zu verlassen.89 In einem späteren Finanzjob gab er nach außen einen falschen Rang vor und betrog die Firma. Grambling wurde es gestattet, zu gehen; dann machte er sich als Urkundenfälscher und Dieb »selbstständig«.90 Zum Thema Gefühle sagte Rosner über Gramblings Frau: Sie hatte Angst um ihre Söhne. Grambling war immer ein schlechter Vater gewesen, gefühllos und nie da. Er hatte seine Söhne über seine Verbrechen angelogen, so wie er jeden anlog, der ihn fragte. Und er hatte seine Frau angelogen, unzählige Male.91 [S. 362] Und: Sie wußte nie, woran sie mit ihrem Mann war: »Es war, als ob ich mit einem Pfadfinder zu Bett gegangen und mit Jack the Ripper wieder aufgewacht bin.« Er täuschte sie genauso wie jeden anderen. Sie hat gesagt, sie wünschte sich, einfach nur vergewaltigt worden zu sein, dann wäre es wenigstens vorbei ... Ein Freund, der sich für mitfühlend hielt, sagte zu ihr, er könne nicht verstehen, daß Gramblings Strafe so hoch ausgefallen war, obwohl er doch »nur ein Wirtschaftsdelikt« begangen hatte. Sie hätte den Freund erwürgen können. Immerhin mußte sie jeden Tag mit dem »Wirtschaftsdelikt« leben. [S. 390] Und Rosner und seine Kollegen kamen anhand eines ausführlichen Berichts über Gramblings familiäre Beziehungen zu dem Schluß, daß sie noch nie »eine umfassendere Analyse über das Wesen eines Wirtschaftsverbrechers gesehen hätten: der ständige Trieb, sich zu bereichern; das Ausnutzen von Menschen zu diesem Zweck; die Preisga- 78 be aller emotionalen und menschlichen Bindungen, abgesehen von Selbstliebe.« [S. 361] Gramblings Fähigkeit, sein Verhalten zu rationalisieren, ist typisch für die Einstellung von Psychopathen gegenüber ihren Opfern. Neben seinem Bedürfnis, von »jedermann gemocht zu werden«, seinem beschönigenden Selbstbild eines »Finanzarchitekten« und seiner »Angst, sein Gesicht zu verlieren«, hielt er seine Verbrechen für logische Reaktionen auf Frustrationen und Druck, oder eher für die »Schuld des Opfers als seine eigene.« Aus Gramblings Sicht »hat jeder, der dumm genug ist, ihm zu vertrauen oder zu glauben, die Konsequenzen verdient«, sagt Rosner.92 7.1 Heuchler Grambling konnte sich mit seinem Charme, seinem Auftreten und den Beziehungen seiner Familie das Vertrauen anderer erschleichen. Dabei kam ihm die verbreitete Haltung zugute, daß manche Menschen schon aufgrund ihres gesellschaftlichen oder beruflichen Ranges vertrauenswürdig sind. So müssen sich zum Beispiel Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Politiker, Therapeuten, etc. unser Vertrauen nicht erst verdienen; sie genießen es aufgrund ihrer beruflichen Stellung. Vielleicht sind wir vorsichtig, wenn wir es mit einem Gebrauchtwagenhändler oder Telefonverkäufer zu tun haben, aber häufig vertrauen wir blind einem Rechtsanwalt, Arzt oder Anlageberater unser Vermögen und Wohlbefinden an. In den meisten Fällen wird unser Vertrauen nicht mißbraucht, aber die simple Tatsache, daß wir so vertrauensselig sind, macht uns zu leichten Opfern eines jeden dahergelaufenen opportunistischen Glücksritters. Die gefährlichsten – die »Weißen Haie« unter den Heuchlern – sind Psychopathen. Haben sie unser Vertrauen erst einmal gewonnen, mißbrauchen sie es mit erschreckender Gefühlskälte. Einer unserer Probanden – ich werde ihn Brad nennen – war ein 40jähriger Rechtsanwalt mit einer hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste. Er gibt ein gutes Beispiel dafür ab, wie Psychopathen ihre berufliche Position einsetzen, um egoistisch ihre persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Brad kommt aus einer respektierten, beruflich erfolgreichen Familie und hat eine jüngere Schwester, die ebenfalls Anwältin ist. Er sitzt eine vierjährige Haftstrafe wegen Betrugs und Untreue mit einem Schaden von mehreren Millionen Dollar ab. Er hat das Geld von den Anderkonten verschiedener Mandanten abgehoben und Schecks seiner Schwester und Eltern gefälscht. Er sagte, er hätte sich das Geld nur geliehen, wegen einer unglaublichen Pechsträhne an der Börse und daß er die Absicht habe, »jeden Cent zurückzuzahlen, mit Zinsen«. Tatsächlich war Brads Vorliebe für ein Leben im Luxus bekannt: Er war dreimal verheiratet, fuhr einen Porsche, hatte eine teure Eigentumswohnung, konsumierte Kokain und häufte gigantische Spielschulden bei den örtlichen Buchmachern an. Er war sehr geschickt darin, »seine Spuren zu verwischen« – aber am Ende verlor er die Kontrolle. Brads Probleme waren nichts Neues. Als Teenager hatten ihm seine Eltern oft aus der Klemme geholfen, meistens wegen Kleinigkeiten wie Sachbeschädigung und Schlägereien, aber auch wegen sexueller Übergriffe auf eine 12jährige Cousine oder weil er ein altes Schmuckstück seiner Mutter versetzt hatte, das seit Generationen im Besitz der Familie gewesen war. Die Schule war kein Problem für ihn, sagte er: Ich war schlau genug, ohne viel Arbeit durchs Studium zu kommen. Einige meiner Seminare waren ziemlich groß und manchmal habe ich Kommilitonen dazu gebracht, Examen für mich zu schreiben. Während des Jurastudiums wurde er mit Drogen erwischt, entging aber einer Anklage, indem er behauptete, sie gehörten jemand anders. 79 Nachdem er 18 Monate für sein letztes Vergehen abgesessen hatte, wurde Brad auf Bewährung entlassen. Zwei Monate später wurde er jedoch im Auto seiner Mutter – das er ohne ihre Erlaubnis fuhr – bei dem Versuch erwischt, die Staatsgrenze zu überqueren, und seine Bewährung wurde widerrufen. In unseren Interviews wirkte Brad sehr angenehm und glaubwürdig. Über seine Opfer sagte er, daß niemand wirklich zu Schaden gekommen sei: Die Rechtsanwaltsinnung hat Gelder, um solche Angelegenheiten zu regeln. Ich habe mehr als genug gebüßt, indem ich eingesperrt worden bin. Tatsächlich erlitten die Partner seiner Anwaltssozietät und seine Familie erhebliche finanzielle Verluste. In Anbetracht ihrer Persönlichkeit ist es nicht überraschend, daß Psychopathen gute Hochstapler abgeben. Sie schrecken nicht vor der Fälschung und dreisten Verwendung beeindruckender Zeugnisse zurück, um chamäleonartig berufliche Positionen einzunehmen, die ihnen Prestige und Macht verleihen. Wenn die Posse – mit schöner Regelmäßigkeit – anfängt, durchsichtig zu werden, packen sie ein und ziehen weiter. Meistens wählen sie Berufe aus, für die die erforderlichen Qualifikationen leicht vorgetäuscht werden können, der Jargon leicht erlernt werden kann und die Zeugnisse wahrscheinlich nicht gründlich geprüft werden. Ist es im jeweiligen Beruf hilfreich, andere überzeugen oder manipulieren zu können, oder wie ein Heiler »die Hand aufzulegen«, dann umso besser. Daher fällt es Psychopathen leicht, als Finanzberater, Pfarrer, Therapeut oder Psychologe aufzutreten. Aber manche ihrer anderen Rollen sind sehr viel schwieriger in Szene zu setzen. Es gibt Psychopathen, die als Ärzte auftreten. Sie diagnostizieren Krankheiten, verabreichen Medikamente und führen sogar Operationen durch. Daß sie oft Gesundheit oder Leben ihrer Patienten gefährden, stört sie nicht im geringsten. Vor zehn Jahren lebte in Vancouver ein Mann, der sich als orthopädischer Chirurg ausgab. Fast ein Jahr lang führte er überwiegend einfache, aber auch komplizierte Operationen durch, pflegte einen luxuriösen Lebensstil und engagierte sich für soziale und wohltätige Zwecke. Als zunehmend Fragen über seine sexuellen Beziehungen zu Patienten, seine medizinischen Methoden und einige mißglückte Operationen aufkamen, verschwand er einfach und ließ eine peinlich berührte Ärzteschaft und eine Reihe körperlich und emotional verletzter Patienten zurück. Einige Jahre später tauchte er in England auf, wo er verhaftet und eingesperrt wurde, weil er sich als Psychiater ausgegeben hatte. In seinem Prozeß wurde bekannt, daß er zeitweise als Sozialarbeiter, Polizist, verdeckter Zollermittler und Therapeut für Eheprobleme aufgetreten war. Auf die Frage, wie er in so viele verschiedene Rollen habe schlüpfen können, antwortete er: »lch lese viel«. Seine Strafe war kurz. Vielleicht lebt er jetzt in Ihrer Nachbarschaft. 80 7.2 Die Schwachen im Visier Die Vorstellung, daß ein Psychopath sich als Rechtsanwalt oder Anlageberater niederläßt, ist nicht gerade beruhigend. Aber weit bedrohlicher ist der kühl kalkulierte Mißbrauch von Macht und Vertrauen, der von einigen wenigen Spezialisten – Ärzten, Psychiatern, Psychologen, Lehrern, Therapeuten, Kinderbetreuern – begangen wird, deren originäre Aufgabe es ist, den Schwachen zu helfen. So beschrieb zum Beispiel Hervey Cleckley in THE MASK OF SANITY eindrucksvoll einen psychopathischen Arzt und Psychiater. Er stellte fest, daß der eigentliche Unterschied zwischen solchen Individuen und Psychopathen, die im Gefängnis oder in der Psychiatrie landen, darin besteht, daß es ihnen einfach besser gelingt, eine glaubhafte und schlüssige Fassade von Normalität zu errichten. Aber ihr respektabler Deckmantel ist dünn und unbequem und wird leicht abgestreift, oft zum Entsetzen ihrer unglücklichen Patienten. Am häufigsten sind Therapeuten, die kalt berechnend ihre Position für sexuelle Übergriffe auf Patienten ausnutzen, die verwirrt und hintergangen auf der Strecke bleiben. Und wenn die Opfer sich beschweren, riskieren sie, noch weiter traumatisiert zu werden durch ein System, daß im Zweifel dem Therapeuten Glauben schenkt: »Mein Patient ist offensichtlich gestört, sehnt sich nach Zuneigung und neigt zu Phantasievorstellungen.« Der erschreckendste Mißbrauch von Vertrauen zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse wird an den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft begangen. Die Anzahl der Kinder, die von Eltern, Verwandten, Betreuern, Geistlichen und Lehrern sexuell mißbraucht werden, ist wahrhaft erschütternd. Die grausamsten Täter sind Psychopathen, denen es nichts bedeutet, den Kindern in ihrer Obhut verheerende körperliche und emotionale Schäden zuzufügen. Im Gegensatz zu anderen Kinderschändern, die häufig selbst als Kinder mißbraucht wurden, psychisch gestört sind und sich ihrer Taten schämen, sind psychopathische Täter völlig gleichgültig – »Ich nehme mir einfach, was ich kriegen kann«, sagte einer unserer Probanden, der wegen sexueller Übergriffe auf die achtjährige Tochter seiner Freundin verurteilt worden war. Vor einigen Monaten wurde ich von einer Psychiaterin in einem westlichen Bundesstaat angerufen. Sie berichtete, daß mehrere private Organisationen, die im behördlichen Auftrag gestörte und straffällig gewordene Heranwachsende therapieren sollten, des sexuellen Mißbrauchs ihrer Klienten beschuldigt wurden. Aus ihrer Erfahrung mit diesen Organisationen ergaben sich Hinweise, daß viele der unter Verdacht stehenden Therapeuten Psychopathen waren, die absichtlich ihre Macht- und Vertrauensstellung ausgenutzt haben, um ihre Patienten sexuell zu mißhandeln. Sie schlug vor, die PsychopathieCheckliste zu verwenden, um das Personal privater Organisationen, die Pflege- und Therapieleistungen anbieten, auf Eignung zu prüfen. 7.3 Das Naheliegende tun Sicherlich gibt es keinen Mangel an Psychopathen, die andere dazu bringen, etwas für sie zu tun – gewöhnlich, um Geld, Ansehen, Macht oder, falls in Haft, die Freiheit zu erlangen. In gewisser Hinsicht ist es kaum vorstellbar, wie sie anders sein könnten, ausgestattet mit einem natürlichen Talent für solcherlei Verhalten. Zählt man die universellen Türöffner eines attraktiven Äußeren und der Überredungskunst hinzu, ergibt sich ein potentes Rezept für ein Leben von Gaunereien und Schwindeleien, was jemand wie Brad bezeugen könnte. Die erstaunliche Leichtgläubigkeit der meisten Menschen und ihr unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen macht es ihnen sehr einfach. Kürzlich erschien ein Zeitungsartikel unter der Überschrift: »Die neuste Betrugsmasche: Die Wahrheit sagen«.93 Er beschrieb die Beutezüge eines Mannes, der in der Kleinstadt, in der er seit zehn Jahren gelebt hatte, zum »Mann des Jahres« und zum Präses der 81 Handelskammer gewählt worden (Serienmörder John Wayne Gacy läßt grüßen – seine Bewerbung um den Vorsitz der Jugendorganisation der Handelskammer wurde durch seine erste Verurteilung wegen Mordes jäh beendet) und ein Mitglied des Exekutivkomitees der Republikaner war. Er gab sich als Doktor der Psychologie der Universität Berkeley aus und bewarb sich für einen Sitz im Elternbeirat der örtlichen Schule. »Dafür gibt’s 18.000 Dollar«, sagte er später. »Und ich dachte mir, ich könnte das zu einem Sitz im Gemeinderat ausbauen, mit einem Verdienst von 30.000 Dollar. Dann vielleicht Abgeordneter im Repräsentantenhaus.« Ein Lokalreporter beschloß, die Biographie des Mannes anhand seiner Angaben zu überprüfen. Abgesehen von seinem Geburtsort und -tag waren alle Daten frei erfunden. (»Man muß immer ein bißchen Wahrheit mit einbauen«, war sein – kostenloser – Rat für den Reporter.) Der Reporter fand heraus, daß der Mann nicht nur ein kompletter Hochstapler war, sondern außerdem eine lange Historie von asozialem Verhalten, Betrug, Auftreten unter falscher Identität und diversen Vorstrafen aufzuweisen hatte. Sein einziger Kontakt zu einer Universität hatte in Fortbildungskursen bestanden, die er während einer Haftstrafe im Bundesgefängnis Leavenworth belegt hatte. Schon als Kind war er ein Betrüger, der eine Pfadfinderuniform gestohlen hat, um per Anhalter zu verreisen. Er hat den Leuten erzählt, er sei unterwegs, um sich ein Ehrenabzeichen der Pfadfinder zu verdienen. Später trat er in die Armee ein, nur um drei Wochen später zu desertieren. Dann gab er sich als Pilot der »Royal Air Force« aus und überzeugte jedermann davon, daß er ein Held sei ... Für zwei Jahrzehnte war er kreuz und quer durch Amerika auf der Flucht, den Gelackmeierten immer einen Schritt voraus. Auf dem Weg heiratete er dreimal, wurde dreimal geschieden und zeugte vier Kinder. Bis heute hat er keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist. Als man ihm endlich auf die Schliche kam, war der Mann gleichgültig und sagte, er sei sich stets sicher gewesen, daß, falls er jemals erwischt werden sollte, »diese gutgläubigen Menschen hinter mir stehen werden. Ein guter Lügner ist auch ein guter Menschenkenner« – eine Erkenntnis, die wohl mehr Wahrheit enthält als seine sämtlichen anderen Äußerungen zusammengenommen. Was ihn störte, war lediglich, daß es nur ein kleiner Lokalreporter war, der ihm auf die Schliche gekommen war. Trotzdem tat er das Detektivstück mit dem saloppen Kommentar ab: »Man hat es mir sehr leicht gemacht«. Bemerkenswert – aber keineswegs ungewöhnlich – an dieser Geschichte ist, daß die Gemeinde, die er so schändlich betrogen hatte, weit davon entfernt war, sein Verhalten zu kritisieren – im Gegenteil, man unterstützte ihn eifrig. Und er erfuhr nicht nur symbolische Unterstützung: »Ich halte ihn für ebenso aufrichtig, integer und pflichtbewußt wie Präsident Abraham Lincoln«, schrieb der republikanische Parteivorsitzende. Vermutlich war er mehr von den Reden des Hochstaplers beeindruckt als von seinen Taten. Oder er – und der Rest der Gemeinde – konnten es nicht ertragen, geleimt worden zu sein – nach dem bekannten Zitat: Die größte Demütigung, die sich ein Amerikaner vorstellen kann, ist es, als Trottel dazustehen.94 Das macht das Leben für Schwindler und Betrüger natürlich viel leichter. Unser Hochstapler sah, wie ihm bereitwillig sämtliche Türen geöffnet wurden und fühlte sich dadurch ermutigt, eine politische Laufbahn einzuschlagen. »Bekanntheit ist so wichtig für einen Politiker, und jetzt kennen mehr Menschen meinen Namen als jemals zuvor«, hat er gesagt. »Damit habe ich auf Jahre hinaus gute Perspektiven.« Die meisten von uns wären am Boden zerstört und würden sich durch die Bloßstellung als Lügner und Betrüger gedemütigt fühlen – aber nicht so der Psychopath. Er kann selbst dann noch vor 82 die Gemeinschaft treten und leidenschaftliche Versprechungen machen – »bei meinem Ehrenwort«. In einem Fall, der sich in ungemütlicher Nähe zu meinem Wohnort ereignet hat, wurde ich eingeladen, auf einem Kongreß über Kriminalität in Kalifornien einen Vortrag über meine Forschungen über Psychopathen zu halten. Ich sollte ein Honorar von 500 Dollar zuzüglich Spesen erhalten. Sechs Monate nach dem Kongreß war ich immer noch nicht bezahlt worden, also zog ich Erkundigungen ein und erfuhr, daß der Veranstalter im Laufe einer Regierungskonferenz in Washington verhaftet worden war. Ihm wurden mehrere Fälle von Betrug, Urkundenfälschung und Diebstahl vorgeworfen. Es stellte sich heraus, daß er ein langes Vorstrafenregister hatte, von mehreren Psychiatern als »klassischer Psychopath« diagnostiziert worden war und seine Bewerbungsunterlagen und Zeugnisse für seinen Job gefälscht hatte. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß ich nicht der einzige Redner war, der sein Honorar nicht erhalten hatte. Als Krönung der Angelegenheit hatte er mir kurz nach meinem Vortrag die Kopie eines Artikels über die Diagnose von Psychopathie geschickt – komplett mit seinen Anmerkungen. Nach seiner Verhaftung kam er auf Bewährung frei und ist seitdem verschwunden. Ironischerweise hatte ich einige Zeit mit dem Mann verbracht, bei einem gemeinsamen Mittagessen kurz vor meinem Vortrag und später in einer Bar. Mir fiel nichts Ungewöhnliches oder Verdächtiges an ihm auf; bei ihm hat mich meine Antenne im Stich gelassen. Hätte ich ihm Geld geliehen? Vielleicht. Ich kann mich daran erinnern, daß ich darauf bestanden habe, die Rechnung zu bezahlen. Er trug keine Alarmglocke um den Hals! 7.4 Subkriminelle Psychopathen Viele Psychopathen landen immer wieder im Gefängnis oder anderen Strafanstalten. Das charakteristische Muster ist ein fortwährendes Springen von dem einen oder anderen Job ins Gefängnis, dann wieder raus auf die Straße, rein und raus aus dem Knast oder vielleicht in die Psychiatrie und dann schnell wieder heraus, nachdem das Personal gemerkt hat, daß sie einen Störenfried als Patienten haben, der Ärger machen und den Anstaltsalltag durcheinander bringen wird. Das typische Ergebnis kann man mit einem wildgewordenen Tischtennisball vergleichen. Viele Psychopathen landen jedoch nie im Gefängnis oder einer anderen Anstalt. Anscheinend funktionieren sie – als Anwälte, Ärzte, Psychiater, Akademiker, Söldner, Polizisten, Sektenführer, Militärs, Geschäftsleute, Autoren, Künstler, Entertainer, etc. – einigermaßen, ohne das Gesetz zu brechen, oder zumindest, ohne erwischt und verurteilt zu werden. Diese Individuen sind genauso egozentrisch, gefühllos und manipulativ wie der gewöhnliche kriminelle Psychopath; allerdings sind sie durch Intelligenz, familiäres Umfeld, Umgangsformen und Lebensumstände in der Lage, eine normale Fassade zu errichten und zumeist ungestraft ihren Willen durchzusetzen. Sie werden gelegentlich als »erfolgreiche Psychopathen« bezeichnet. Von anderer Seite hört man, daß solche Menschen der Gesellschaft nützen würden. Das Argument lautet: Gerade weil sie die gesellschaftlichen Regeln mißachten, könnten intelligente Psychopathen die Grenzen konventionellen Denkens überwinden und Künste, Theater, Design, etc. kreativ beflügeln. Was auch immer der Wert solcher Argumente sein mag, er wird – aus meiner Sicht – mehr als zunichte gemacht durch die gebrochenen Herzen, zerstörten Karrieren und ausgenutzten Menschen, die sie hinter sich lassen, auf ihrem Zickzackpfad durch die Gesellschaft, getrieben von dem erbarmungslosen Drang, »sich auszudrücken«. 83 Anstatt diese Individuen als erfolgreiche Psychopathen zu bezeichnen, ziehe ich es vor, sie subkriminelle Psychopathen zu nennen – denn letztlich ist ihr Erfolg oft irreal und geht stets auf Kosten anderer. Ihr Verhalten, wenn auch formal nicht ungesetzlich, widerspricht meistenteils dem herkömmlichen Moralkodex und bewegt sich hart an der Grenze zum Illegalen. Im Gegensatz zu Menschen, die im Geschäftsleben rücksichtslos, gierig und offenkundig skrupellos sind, sich aber in anderen Lebensbereichen einigermaßen ehrlich und mitfühlend verhalten, zeigen subkriminelle Psychopathen durchweg das gleiche Verhalten und dieselben Einstellungen in allen Lebensbereichen. Wenn sie im Job lügen und betrügen und damit durchkommen oder gar dafür bewundert werden, dann werden sie auch im Privatleben lügen und betrügen. Zwei Geschäftsleute gehen gemeinsam die Straße entlang, jeder von ihnen trägt eine Aktentasche. »Wir sind nur moralisch bankrott«, sagt der eine. »Gott sei Dank!«, sagt der andere. – Aus einer Karikatur von Bill Lee in Omni, März 1991, S. 84. Wenn die Familien und Freunde solcher Personen bereit wären, ohne Angst vor Repressalien über ihre Erfahrungen zu sprechen, würde man mit Sicherheit auf ein Wespennest von emotionalem Mißbrauch, Ehebrecherei, Betrügereien und alltäglicher Schäbigkeit stoßen. Solche Wespennester werden manchmal auf spektakuläre Weise öffentlich gemacht. Man denke nur an die vielen prominenten Fälle, in denen eine »Stütze der Gesellschaft« ein schweres Delikt begeht – sagen wir, Mord oder Vergewaltigung – und die dunkle Seite des Täters im Zuge der Ermittlungen von Polizei und Presse sichtbar wird. Viele solche Fälle sind anschaulich in Büchern und Filmen dargestellt worden, und das schockierte – und sensationslüsterne – Publikum fragt sich, »Wie sind sie auf die schiefe Bahn geraten?« und »Warum haben sie das getan?« Die Antwort ist in den meisten Fällen, daß die Missetäter nicht plötzlich und aus heiterem Himmel einen »Fehltritt« begangen haben. Menschen, die sich am Rande des Gesetzes bewegen, laufen Gefahr, abzurutschen. In solchen Fällen ist das Vergehen eine schlichte Folge einer abweichenden Persönlichkeitsstruktur, die schon immer vorhanden war, aber bis dahin durch Glück, geschicktes Auftreten, Vertuschungsmanöver, eine besorgte Familie oder Freunde und Bekannte, die aus Bequemlichkeit die Augen vor der Realität verschlossen haben, nicht zu einem Verbrechen geführt hat, das der Justiz zur Kenntnis gelangt wäre. Man denke zum Beispiel an John Gacy (BURIED DREAMS), Jeffrey MacDonald (FATAL VISION), Ted Bundy (THE STRANGER BESIDE ME), Diane Downs (SMALL SACRIFICES), Kevin Coe (SON), Angelo Buono und Kenneth Bianchi (TWO OF A KIND: THE HILLSIDE STRANGLERS), David Brown (LOVE, LIES AND MURDER) und Kenneth Taylor (IN THE NAME OF THE CHILD) – um nur einige der spektakuläreren Fälle zu nennen, die in Büchern beschrieben worden und dadurch zu trauriger Berühmtheit gelangt sind. Heutzutage diagnostizieren wir die meisten dieser Individuen als Psychopathen, aber der Kern des Problems ist, daß die Persönlichkeitsstörung und das mit ihr einhergehende Verhalten nicht plötzlich aus dem Nichts entstanden sind. Bevor sie erwischt wurden, waren sie dieselben Menschen wie danach. Sie sind jetzt Psychopathen und sie waren vorher Psychopathen. Dies ist ein beklemmender Gedanke, da er die Schlußfolgerung nahelegt, daß die Fälle, die öffentlich bekannt werden, nur die Spitze eines riesigen Eisbergs bilden. Der Rest des Eisbergs ist fast überall zu finden – im Geschäftsleben, zu Hause, in den freien Berufen, beim Militär, unter Künstlern, in der Unterhaltungsindustrie, den Nachrichtenmedien, in akademischen Kreisen und in der Arbeiterschaft. Millionen von Männern, Frauen und Kindern erleiden täglich Terror, Angst, Schmerzen und Demütigungen durch die Psychopathen in ihrem Leben. 84 Es ist tragisch, daß die Opfer häufig bei ihren Mitmenschen auf Verständnislosigkeit stoßen. Psychopathen sind sehr geschickt darin, einen guten Eindruck zu machen, wenn ihnen daran gelegen ist, und häufig stellen sie ihre Opfer als die wahren Täter dar. Eine Frau – die dritte Ehefrau eines 45jährigen Lehrers an einer High School – erzählte mir kürzlich: Fünf Jahre lang hat er mich betrogen, mir Angst gemacht und gefälschte Schecks auf meinen Namen ausgestellt. Aber jedermann, einschließlich meines Hausarztes, meines Rechtsanwalts und meiner Freunde, gaben mir die Schuld. Er hat sie so sehr davon überzeugt, daß er ein großartiger Mensch und ich dabei sei, verrückt zu werden, daß ich selbst anfing, daran zu glauben. Selbst als er mein Bankkonto abräumte und mit einer 17jährigen Schülerin durchbrannte, konnten viele Leute es nicht glauben; einige wollten von mir wissen, wodurch ich ihn zu seinem seltsamen Verhalten getrieben hatte. In der New York Times vom 1. April 1990 erschien ein Artikel von Daniel Goleman über die Arbeit von Robert Hogan über Manager und Führungskräfte, die »des Charismas dunkle Seite« zeigen. Hogan, ein Psychologe am Institut für Verhaltenswissenschaften in Tulsa, beschrieb »Manager mit Schönheitsfehlern, deren glitzerndes Image eine dunkle, zerstörerische Seite versteckt« und die »sich verhalten, als würden die normalen Regeln für sie nicht gelten. Aber trotzdem steigen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit die Karriereleiter hinauf; sie können sich glänzend selbst verkaufen.« »Auch wenn sie sich charmant geben, ist es der Charme einer Schlange, wie bei J. R. Ewing in Dallas.« Die Arbeit des Psychologen Harry Levinson über gesunden und ungesunden Narzißmus bei Managern kommentierte Hogan mit der Feststellung, das ungesunde Narzißten ein fast grandioses Selbstbewußtsein, aber für ihre Untergebenen nur Verachtung übrig haben. »Sie sind besonders gut darin, sich bei Vorgesetzten einzuschmeicheln, während sie ihre Untergebenen brutal behandeln«, wird er zitiert. 7.5 Ein Psychopath im Unternehmen Die folgende Fallstudie wurde mir freundlicherweise von Paul Babiak, einem für die Industrie tätigen beratenden Psychologen in New York, zur Verfügung gestellt: Dave ist Mitte dreißig, hat einen Universitätsabschluß, ist zum dritten Mal verheiratet und hat vier Kinder. Babiak wurde durch seinen Chef auf ihn aufmerksam, gemacht, der ihn während einer Strukturanalyse in einer großen Firma in Colorado als »problematischen Mitarbeiter« bezeichnet hat. Er hatte in seinen Bewerbungsgesprächen einen ausgezeichneten Eindruck gemacht und daher war sein Chef überrascht, als einiges schief ging. Daves Chef bemerkte, daß sein erster größerer Bericht zu großen Teilen nicht von ihm stammte, sondern aus plagiiertem Fremdmaterial bestand. Darauf angesprochen, wischte Dave die Kritik mit der Bemerkung vom Tisch, es wäre eine Verschwendung seiner Zeit und Fähigkeiten, immer wieder »das Rad neu zu erfinden«. Oft »vergaß« er, die Arbeit an gewissen, weniger interessanten Projekten fortzusetzen, und bei mindestens einer Gelegenheit schickte er seinem Chef eine Aktennotiz, daß er nicht gewillt sei, noch weitere Aufgaben zu übernehmen. Babiak hat andere Angestellte aus Daves Abteilung befragt und den Eindruck gewonnen, daß Dave die Ursache für die meisten Konflikte in der Abteilung war. Seine Kollegen haben zahlreiche Beispiele für Daves störendes Verhalten geliefert. So erfuhr Babiak zum Beispiel, daß Dave kurz nach seinem Eintritt in die Abteilung sich lautstark mit der Sekretärin des Chefs gestritten hatte, dann in das Büro seines Chefs gestürmt war und gefordert hatte, die Sekretärin zu entlassen, da sie es abgelehnt hätte, ohne vor85 herige Ankündigung am Samstag im Büro zu erscheinen. Ihre Version des Vorfalls hörte sich allerdings ein bißchen anders an: Dave hatte sich ihr gegenüber rüde und herablassend verhalten und sich daran gestört, daß sie nicht sofort alles stehen und liegen ließ, um nach seiner Pfeife zu tanzen. Dave erschien oft unvorbereitet und verspätet zu Konferenzen. Falls er auftauchte, war damit zu rechnen, daß er ein langes Klagelied vom Stapel ließ. Als sein Chef ihn aufforderte, seine Ausbrüche zu kontrollieren, antwortete er, daß Auseinandersetzung und Aggression seiner Meinung nach notwendig wären und einen im Leben voranbringen würden. Sein Chef erwiderte, daß er anscheinend nicht in der Lage sei, aus Kritik zu lernen, nie einen Fehler zugebe und stets überrascht täte, wenn er kritisiert wurde und behaupten würde, ihm hätte noch niemand gesagt, er hätte einen Fehler gemacht. Die Schilderungen von Daves Kollegen waren erstaunlich übereinstimmend – sie fanden ihn unverschämt, egoistisch, unreif, egozentrisch, unzuverlässig und verantwortungslos. Fast alle berichteten, daß sie ihn ursprünglich gemocht hätten, ihm aber zunehmend mißtrauten und daß sie wußten, daß er sie anlüge, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Trotzdem spielten sie mit, da sie ihn nicht wegen seiner Lügen »verpetzen« wollten. Kollegen, die meinten, ihn durchschaut zu haben, beteuerten, daß er eigentlich nur Lügen von sich gab und daß man seinen Versprechungen keinesfalls glauben dürfe. In einem Gespräch mit Babiak beschrieb Dave sich als eine fleißige Führungspersönlichkeit, als jemand, der ein »Team zusammenschweißen« könne, ehrlich, intelligent, als die »Seele« der Abteilung. Tatsächlich schlug er sogar vor, sein Chef solle die Firma verlassen und er seine Stellung übernehmen. (Sein Chef berichtete, daß Dave ihm selbst bereits den gleichen Vorschlag gemacht hatte.) Er führte weiterhin aus, daß sein eigentlicher Chef der Vorstandvorsitzende des Unternehmens sei. Er wirkte ziemlich egoistisch und nicht sonderlich daran interessiert, was andere über ihn dachten. Seine Haltung und Ausdrucksweise erweckten den Eindruck, daß Menschen für ihn lediglich Objekte waren. Bei der Überprüfung von Daves Zeugnissen traten mehrere Unstimmigkeiten zu Tage. So hatte er zum Beispiel in seinem Bewerbungsschreiben und im Personalbogen unterschiedliche Studiengänge angegeben. In einem dritten Dokument, einem Brief, wurde ein dritter Studiengang angeführt. Babiak machte Daves Chef darauf aufmerksam (dem das nie aufgefallen war), der Dave daraufhin eine Aktennotiz schickte, in der er um eine Erklärung bat. Dave schickte das Memo zurück, nachdem er das vorgetäuschte Diplom durchgestrichen und eine vierte Variante eingetragen hatte! Dazu befragt, wurde er trotzig und wischte die Vorhaltungen mit der Bemerkung vom Tisch, es sei in Ordnung, verschiedene Studienabschlüsse für verschiedene Zwecke anzugeben, schließlich hätte er Vorlesungen in allen angegebenen Fächern belegt. Mit Beweisen für Unregelmäßigkeiten in Daves Spesenabrechnungen bewaffnet ging sein Chef zu seinem eigenen Vorgesetzten, um sich über ihn zu beschweren – von dem er allerdings nur zu hören bekam, daß Dave sich von Anfang an über ihn beschwert hätte. Nachdem er die »andere Seite« vieler Geschichten gehört hatte, kam der Manager auf die Idee, Daves Integrität auf die Probe zu stellen. Sie verabredeten, daß Daves Chef ihm am nächsten Morgen bestimmte Informationen mitteilen solle. Dieses Treffen fand wie geplant statt, und prompt rief Dave danach den höherrangigen Vorgesetzten an und bat um ein Treffen unter vier Augen. Bei diesem Treffen gab er die »Information« über seinen Chef weiter, und zwar völlig verzerrt. Das überzeugte den Manager davon, daß Dave ein Lügner war und versuchen würde, seinen Chef zu diskreditieren. Anschließende Maßnahmen gegen Dave wurden allerdings überraschend von mehreren Mitgliedern der Geschäftsführung verhindert. 86 Was Babiak an diesem Fall am interessantesten fand, war die Tatsache, daß Daves engste Kollegen von seinen Manipulationen, seiner Verantwortungslosigkeit und seiner mangelnden Integrität berichteten, während die höheren Ränge der Organisation von seinem Führungstalent und -potential überzeugt waren – und zwar durch Dave selbst. Trotz klarer Beweise für seine Unehrlichkeit waren sie nach wie vor von ihm »angetan«. Sein aufgeblasenes und verrücktes Verhalten wurde als Teil seiner kreativen, ja, fast künstlerischen Ader entschuldigt, während seine Aggressionen und Streitsucht als »Ehrgeiz« verklärt wurden. Daves Fähigkeit, die gegensätzlichen Standpunkte dieser zwei Gruppen zu steuern, bewog Babiak dazu, eine etwas systematischere Untersuchung seiner Persönlichkeit anzustellen. Es ist keine Überraschung, daß Dave eine hohe Punktzahl auf der PsychopathieCheckliste erreicht hat. Seine Persönlichkeit und sein Verhalten unterschieden ihn von einem typischen »schwierigen Mitarbeiter«. Aus Sicht des Unternehmens war Dave relativ erfolgreich; er wurde in zwei Jahren zweimal befördert, erhielt regelmäßige Gehaltserhöhungen (trotz einer negativen Bewertung seiner Leistungen durch seinen Chef) und ist im Beförderungsplan des Unternehmens als Angestellter mit vielversprechendem Potential berücksichtigt worden. Babiak hält ihn auch aus psychologischer Sicht für erfolgreich, dank seiner Fähigkeit, das obere Management so zu manipulieren, daß sie ihm seine Sicht der Dinge für über zwei Jahre abgenommen haben. Das ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß seine Kollegen, Untergebenen und sein direkter Vorgesetzter an ihm Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften festgestellt haben, die in der Forschung gemeinhin Psychopathen zugeschrieben werden. 7.6 Ergiebige Jagdgründe Im Geschäftsleben gibt es zahlreiche Chancen für Psychopathen, die im großen Maßstab denken. Die Wirtschaftsseiten jeder bedeutenderen Zeitung enthalten fast täglich Berichte über Ermittlungen wegen dubioser Geldanlagen und Geschäfte, ersonnen und durchgeführt von Gaunern und Betrügern. Diese Berichte reflektieren nur einen winzigen Bruchteil der zahllosen lukrativen Gelegenheiten, die sich einem redegewandten Psychopathen bieten, wenn er denn einen Sinn für Zahlen hat und Umgangsformen, die ihm einen überzeugenden Auftritt in Finanzkreisen ermöglichen. Für solche Individuen ist das Potential für Profit so enorm, die Regeln sind so lax und die Kontrolle so nachlässig, daß sie sich wie im Paradies fühlen müssen. Einige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit – eines eher belanglos, die anderen dafür umso bemerkenswerter – illustrieren die Unmenge an Honigtöpfen, die rührige Psychopathen anlocken – und aus denen sie sich natürlich gerne bedienen: ¾ Ein unter der Schlagzeile »Betrugshauptstadt der Welt« in Forbes erschienener Artikel beschrieb die Börse von Vancouver als »verpestet von Anlagebetrügern, den Söhnen von Anlagebetrügern und den Söhnen der Freunde von Anlagebetrügern.« Die Lokalzeitungen berichten ständig über eine endlose Reihe von Betrügereien, Gaunerstückchen, faulen Aktiengeschäften und dreist erfundenen Gerüchten, um die Kurse in die Höhe zu treiben. Meistens sind die Strafen im Falle des Erwischtwerdens lachhaft und tragen fraglos wenig dazu bei, das wilde und unersättliche Treiben einzudämmen. Falls ich Psychopathen nicht im Gefängnis untersuchen könnte, würde ich meine Probanden sehr wahrscheinlich an einem Ort wie der Börse von Vancouver suchen. ¾ In den späten achtziger Jahren lief das Faß über, das sich im Laufe eines Jahrzehnts fauler Geldanlagen, falscher Versprechungen, betrügerischer Geschäftspraktiken und unersättlicher Gier im Geschäftsbereich der Sparkassen in den USA 87 (»United States savings and loan [S & L] business«) gefüllt hatte, den Präsident Reagan in den frühen Achtzigerjahren dereguliert hatte. Ohne den Druck, sich unter strenger Aufsicht der Regierung an die Regeln halten zu müssen, hatten Teile des Sparkassenpersonals begonnen, sich Freiheiten mit den Einlagen der Sparer herauszunehmen, die sich allmählich zu einer regelrechten Schuldenlawine, zu einer Finanzkatastrophe beispielloser Ausmaße, auswuchsen. Während ich dies schreibe, werden die voraussichtlichen Kosten des als »S & L bail-out« bekannt gewordenen Skandals für den US-Steuerzahler auf fast eine Billion Dollar geschätzt – mehr als die gesamten Kosten des Vietnamkrieges. ¾ So unglaublich es scheinen mag, sogar der »S & L«-Skandal wurde unlängst von den Enthüllungen über ein weltweites Netzwerk unfaßbarer Gier und Korruption noch übertroffen. »Kein Skandal der modernen Finanzgeschichte reicht an das sich allmählich entfaltende Drama der Bank CREDIT AND COMMERCE INTERNATIONAL heran, dem 20-Milliarden-Dollar Gangster-Imperium, das die Bankenaufsichtsbehörden in 62 Ländern ... in einem spektakulären, globalen Schlag geschlossen haben. In keinem Skandal zuvor waren so viel Geld, so viele Nationen und so viele Prominente im Spiel ... Die Superlative sind schnell erschöpft: es ist das größte kriminelle Unternehmen aller Zeiten ... die umfassendste Geldwäscheanlage und der größte finanzielle Supermarkt, der je geschaffen wurde.«95 Während ich dies schreibe, wirft der mysteriöse Tod des Zeitungszars Robert Maxwell unzählige Fragen auf. Maxwells Geschäftsimperium ist kollabiert, während Anschuldigungen laut wurden, daß Hunderte von Millionen Dollar illegal abgeflossen seien. Der Fall ist hier relevant als ein gutes Beispiel dafür, wie ein sorgsam gesteuertes öffentliches Image dunkle Taten und ein schwarzes Herz verbergen kann. Auch wenn er weithin als Gauner und Scharlatan bekannt war, der sehr geschickt darin war, Geld von einer Firma in die andere zu verschieben, blieben die meisten, die ihn kannten – einschließlich der Journalisten – bemerkenswert schweigsam. Maxwell hatte große Macht und konnte seine Kritiker einschüchtern. Zudem profitierte er von der »Skrupellosigkeit der Gier« und einem Establishment, daß die Augen vor »nicht überführten, kriminellen Geldhaien« verschließt. (Die Zitate stammen aus einem Artikel von Peter Jenkins: CAPTAIN BOB REVEALED: A CROOK AND A CONSPIRACY OF SILENCE. Independent News Service, 7. Dezember 1991.) 7.7 Sie sind talentiert Es ist nicht schwierig, zu erkennen, warum Wirtschaftsdelikte eine solche Anziehungskraft für Psychopathen haben und warum sie darin so erfolgreich sind. Erstens bieten sich jede Menge lukrative Gelegenheiten. Mit den Worten eines unserer Probanden, des Verkaufs gefälschter Unternehmensanleihen überführt: »Ich wäre nicht im Knast, wenn es nicht so viele Honigtöpfe gäbe, die darum betteln, daß ich hineinlange.« Seine Honigtöpfe waren Rentenfonds, Aktienwerbung auf dem Börsenparkett, wohltätige Spendenaktionen und betrügerische Timesharing-Verträge – nur einige der vielen bequemen Nischen, in denen seinesgleichen unauffällig operieren kann. Zweitens haben Psychopathen, was man braucht, um andere zu betrügen und zu melken: Sie können gut reden, sind charmant, selbstsicher, treten in Gesellschaft selbstbewußt auf, sind belastbar, unbeeindruckt von dem Risiko, erwischt zu werden und völlig skrupellos. Und selbst, nachdem sie bloßgestellt worden sind, machen sie weiter, als wäre nichts passiert – was häufig ihre Ankläger verwirrt und verunsichert. 88 Zu guter Letzt sind Wirtschaftsdelikte lukrativ. Das Risiko, erwischt zu werden, ist gering und die Strafen sind in der Regel lächerlich. Man denke nur an die Händler mit Insider-Wissen, die Könige der Schrott-Anleihen und die S & L-Haie, deren finanzielle Raubzüge sich so spektakulär gelohnt haben – selbst wenn sie erwischt worden sind. In vielen Fällen sind die Regeln für das Spiel von Gier und Betrug im großen Maßstab nicht dieselben wie für das gewöhnliche Verbrechen. Häufig bilden die Spieler ein lokkeres Netzwerk, um ihre gegenseitigen Interessen zu schützen: Sie kommen aus denselben Gesellschaftsschichten und haben dieselben Schulen besucht, sind Mitglieder derselben Clubs und haben vielleicht sogar bei der Festlegung der Regeln mitgewirkt. Ein Bankräuber mag zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt werden – während ein Rechtsanwalt, Geschäftsmann oder Politiker, der die Allgemeinheit um Millionen betrügt, womöglich eine Geld- oder Bewährungsstrafe erhält, zumeist nach einem Prozeß voller Verzögerungen, Vertagungen und undurchsichtiger juristischer Manöver. Wir verdammen und meiden den Bankräuber, aber bitten den Betrüger um Rat, wie wir unser Geld anlegen sollen – oder in unseren Tennisclub einzutreten. Der Anwalt einer der Personen (»Herr X«), die unlängst in einem der Skandale um Insider-Handel verwickelt waren, reiste nach Vancouver, um sich meiner Hilfe bei der Verteidigung seines Mandanten zu versichern, der von einem Spielkumpan (»Herr Y«) »hereingelegt« worden sei. Der Anwalt schlug vor, daß ich die Psychopathie-Checkliste benutzen sollte, um herauszufinden, ob der Mann, der seinen Mandanten belastete, ein Psychopath sei. Mit dem Hinweis »Geld spielt keine Rolle« schlug er mir vor, Herrn Ys Freunde, Geschäftspartner, frühere Klassenkameraden und Nachbarn zu befragen. Er fuhr fort, ich könne mich in einem Strandhaus in der Nähe des Hauses, das Herr Y häufig benutzte, häuslich einrichten, und daß ich ihn nur gut genug kennenlernen müsse, um die Checkliste über ihn ausfüllen und auswerten zu können. Als ich wissen wollte, warum es nützlich für ihn sei, zu wissen, ob Herr Y ein Psychopath sei, erwiderte der Anwalt, daß es entscheidend für seinen Fall sein könnte, da Psychopathen – wie ja jedermann wisse – notorisch hinterlistig und unzuverlässig seien und stets darauf aus, ohne Rücksicht auf Verluste ihre eigene Haut zu retten. Falls Herr Y als Psychopath diagnostiziert werden könne, wäre seine Zeugenaussage unglaubwürdig, wodurch der Anwalt bessere Chancen hätte, mit dem Gericht ein mildes Urteil auszuhandeln. Obwohl ich möglicherweise sehr wohlhabend hätte werden können – »Geld spielt keine Rolle« –, lehnte ich das Angebot ab. Leider halten viele Menschen Wirtschaftsdelikte für nicht so schwerwiegend wie Straftaten gegen Menschen, wie zum Beispiel Raub oder Vergewaltigung. In dem am Anfang dieses Kapitels geschilderten Fall richtete John Grambling kurz vor seiner Verurteilung folgendes Plädoyer an den Richter: Ich sitze jetzt seit zwei Monaten im Gefängnis, wo ich die Zelle mit einem bedauernswerten, ungebildeten, illegalen Ausländer, einem kriminellen Karrieristen, einem Drogensüchtigen und einem Mörder teile. In der Gesellschaft dieser Elemente bin ich am Tiefpunkt meiner Gefühle und meiner Selbstachtung angelangt, und doch bin ich dort und werde aus unerfindlichen Gründen für ihresgleichen gehalten. Ich kann dem Gericht ohne zu zögern versichern, daß ich ihnen nicht gleiche. Ich sehe anders aus, rede anders, verhalte und fühle mich anders.96 Der Richter war anderer Meinung als Grambling und erläuterte, daß »es in der Praxis einen Unterschied gibt zwischen Straftaten gegen Personen und Straftaten gegen Eigentum ... zwischen einem Täter, der vergewaltigt oder mit Vergewaltigung, Mord oder Verstümmelung droht und jemandem, der möglicherweise ebensoviel Schaden mit ei89 nem Füllfederhalter anrichtet.«97 Der Staatsanwalt kommentierte: »Die Haftanstalten für die Reichen und Privilegierten ... bieten schmackhaftes Essen, Sportanlagen, aktuelle Spielfilme und Bibliotheken ... Die Haftanstalten für die Reichen und Privilegierten sind eine nationale Schande.«98 Diese Botschaften kommen an bei Psychopathen, die eine Vorliebe für das gute Leben haben. 90 8 Worte aus der Manteltasche Ein Wort ist nicht bei jedem Autor gleich. Einer schreibt es mit seinem Herzblut, der andere zieht es aus der Manteltasche. Charles Peguy, THE HONEST PEOPLE, Basic Verities (1943), ins Englische übersetzt von Ann und Julian Green Eine Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten der Opfer von Psychopathen: Wie konnte ich nur so dumm sein? Wie konnte ich nur auf diesen unglaublichen Unsinn hereinfallen? Und falls die Opfer sich diese Frage nicht selbst stellen, dann sicherlich jemand anders: »Wie, um alles in der Welt, konntest du so hereinfallen?« Die typische Antwort: Du hättest dabei sein müssen. Es hörte sich damals alles vernünftig und plausibel an. Die eindeutige – und weitgehend richtige – Folgerung ist, daß man in derselben Lage wohl selbst hereingefallen wäre. Manche Menschen sind schlichtweg zu vertrauensselig und leichtgläubig – leichte Opfer für jeden dahergelaufenen Schwätzer. Aber wie steht es mit dem Rest von uns? Es ist eine traurige Tatsache, daß wir alle potentielle Opfer sind. Nur wenige Menschen sind so gute und sensible Menschenkenner, daß sie nicht auf die Intrigen eines geschickten und entschlossenen Psychopathen hereinfallen würden. Selbst wir, die wir uns beruflich mit ihnen beschäftigen, sind nicht vor ihnen sicher; wie ich in früheren Kapiteln erwähnt habe, gehen auch meine Studenten und ich ihnen manchmal in die Falle, selbst wenn wir wissen, daß wir es wahrscheinlich mit einem Psychopathen zu tun haben. Natürlich kommt krankhaftes Lügen und Manipulieren nicht nur bei Psychopathen vor. Was Psychopathen allerdings von allen anderen unterscheidet, ist die erstaunliche Leichtigkeit, mit der sie lügen, die Intensität ihrer betrügerischen Manöver und die Rücksichtslosigkeit, mit der sie vorgehen. Aber ein anderes Merkmal ihrer Äußerungen ist ebenso rätselhaft: Die häufige Verwendung widersprüchlicher und unlogischer Aussagen, die zumeist nicht bemerkt wird. Neuere Untersuchungen über die von Psychopathen verwendete Sprache geben einige wichtige Hinweise zu diesem Rätsel und zu der unheimlichen Fähigkeit von Psychopathen, mit Leichtigkeit Worte – und Menschen – zu manipulieren. Aber zunächst möchte ich diesen Punkt mit einigen Beispielen illustrieren. Die ersten drei stammen von Straftätern mit einer hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste. ¾ Auf die Frage, ob er jemals ein gewalttätiges Delikt begangen habe, antwortete ein wegen Diebstahls einsitzender Häftling: »Nein, aber ich mußte einmal jemanden töten.« ¾ Eine Frau mit einer erstaunlichen Historie von Betrug, Täuschung, Lügen und gebrochenen Versprechen beendete einen Brief an die Bewährungskommission folgendermaßen: »Ich habe viele Menschen enttäuscht ... Man ist halt nur so gut wie sein Ruf. Mein Wort ist so gut wie Gold.« ¾ Ein wegen bewaffneten Raubes einsitzender Häftling antwortete auf die Aussage eines Augenzeugen: »Er lügt. Ich war nicht da. Ich hätte ihm seinen verdammten Schädel wegpusten sollen.« ¾ Ein Boulevard-Magazin im Fernsehen berichtete über einen klassischen Heiratsschwindler, der schamlos ältere Damen betrog.99 Als der Reporter ihn gefragt hat, 91 »Wo ziehen sie die Grenze zwischen richtig und falsch?«, antwortete er, »Ich habe moralische Maßstäbe – ob sie es glauben oder nicht, ich bin moralisch.« Auf die Frage des Reporters, »Und wo ziehen sie die Grenze?«, antwortete er, »Gute Frage. Ich will mich nicht um eine Antwort drücken, aber das ist eine gute Frage.« Auf die Frage, »Haben sie Blankovollmachten in ihrem Aktenkoffer mit sich herumgetragen?«, war seine Antwort, »Nein, ich habe sie nicht herumgetragen, aber ja, ich hatte sie in meinem Aktenkoffer.« ¾ Als Ted Bundy gefragt wurde, welche Wirkung Kokain auf ihn habe, antwortete er: »Kokain? Das hab ich nie genommen ... Ich habe nie Kokain probiert. Vielleicht hab ich es einmal probiert und es hat mir nicht gefallen. Nur ein bißchen geschnieft. Nein, ich mache nicht damit rum. Es ist zu teuer. Und ich könnte mir denken, wenn ich draußen wäre und genug davon hätte, könnte ich mich daran gewöhnen. Für mich gibt’s nur Haschisch. Das Einzige, was ich mache, ist ... ich stehe auf Joints. Und Valium. Und natürlich Alkohol.100 Man bedenke – nicht nur Lügen, sondern mehrere einander widersprechende Aussagen im gleichen Atemzug. Verblüffend. Es scheint fast so, als ob Psychopathen Schwierigkeiten dabei haben, ihren eigenen Redefluß wahrzunehmen und einen wirren Schwall unkoordinierter Worte und Gedanken produzieren. Manchmal setzen Psychopathen ihre Worte auf merkwürdige Art zusammen. Man bedenke zum Beispiel den folgenden Austausch zwischen einem Journalisten und dem psychopathischen Serienmörder Clifford Olson: »And then I had annual sex with her.« »Once a year?« »No. Annual. From behind.« »Oh. But she was dead!« »No, no. She was just unconscientious.« About his many experiences, Olson said, »I’ve got enough antidotes to fill five or six books – enough for a trilogy.« He was determined not to be an »escape goat« no matter what the »migrating facts.«101 [Hervorhebungen durch den Autor] * * Anmerkung des Übersetzers: Er verwechselt »annual« (jährlich) mit »anal« (anal), »unconscientious« (sorglos) mit »unconscious« (bewußtlos), »antidotes« (Gegengifte) mit »anecdotes« (Anekdoten), »trilogy« (Trilogie) mit »biography« (Biografie), »escape goat« (»Fluchtziege«) mit »scapegoat« (Sündenbock) und »migrating« (migrierend) mit »mitigating« (strafmildernd). Hier ist die wörtliche Übersetzung: »Und dann hatte ich jährlich Sex mit ihr.« »Einmal im Jahr?« »Nein. Jährlich. Von hinten.« »Aha. Aber sie war tot!« »Nein, nein. Sie war nur sorglos.« Über seine zahlreichen Erlebnisse sagte Olson, »Ich habe genug Gegengifte, um fünf oder sechs Bücher zu füllen – genug für eine Trilogie. Er war entschlossen, nicht die »Fluchtziege« zu sein, unabhängig von den »migrierenden Umständen«. – Aus der Fernsehsendung 48 HOURS vom 8. Mai 1991 Natürlich springen uns die Worte nicht von selbst aus dem Mund. Sie sind die Endprodukte sehr komplizierter Gehirnaktivitäten. Dadurch ergibt sich die interessante Möglichkeit, daß die Prozesse im Gehirn von Psychopathen nur mangelhaft gesteuert werden und nicht den herkömmlichen Regeln unterliegen. Dieses Thema wird in den folgenden Abschnitten erörtert, in denen Forschungsergebnisse präsentiert werden, die darauf hinweisen, daß die Hirnstrukturen von Psychopathen und ihre Kopplung zwischen Worten und Gefühlen von der Norm abweichen. Im nächsten Kapitel werde ich die damit zusammenhängende Frage behandeln, warum dem Zuhörer die verbalen Ausrutscher des Psychopathen oft nicht auffallen. Ein verurteilter Serienmörder, Elmer Wayne Henley, behauptete in seinem Antrag auf Bewährung, er sei das Opfer eines älteren Serienmörders gewesen, mit dem er zusammengearbeitet hat und daß er von sich aus nicht straffällig geworden wäre. Zusammen haben sie mindestens 27 junge Männer und Knaben umgebracht. »Ich bin passiv«, sagte er. »Ich will kein Psychopath sein, ich will kein Mörder sein. Ich will einfach nur anständig sein.« Man bedenke den fol92 genden Austausch zwischen einem Fernsehmoderator und Henley. Der Moderator sagt: »Sie behaupten, das Opfer eines Serienmörders zu sein, dabei sind sie doch ein Serienmörder.« »Bin ich nicht«, antwortete Henley. »Sie sind kein Serienmörder?«, fragte der Moderator ungläubig, und Henley antwortete, »Ich bin kein Serienmörder.« Dann sagte der Moderator, »Sie sagen, daß sie jetzt kein Serienmörder sind, aber sie haben doch eine Serie von Morden begangen.« Darauf antwortet Henley frustriert und herablassend, »Na ja, das ist ja nun Wortklauberei.« 8.1 Wer hat das Kommando? Bei den meisten Menschen haben die beiden Gehirnhälften unterschiedliche, spezifische Funktionen. Die linke Hirnhälfte ist darauf spezialisiert, Informationen analytisch und sequenziell zu verarbeiten. Sie spielt für das Verstehen und die Verwendung von Sprache eine entscheidende Rolle. Die rechte Hirnhälfte verarbeitet Informationen parallel, im Ganzen; sie spielt eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung räumlicher Beziehungen, bildlicher Informationen, Emotionen und bei der Verarbeitung von Musik. Die Natur hat es wahrscheinlich aus Gründen der Effizienz so eingerichtet, daß die beiden Hirnhälften unterschiedliche Aufgaben haben.102 Zum Beispiel ist es natürlich viel effizienter, wenn sämtliche für die Verwendung und das Verstehen von Sprache notwendigen, komplexen Hirnprozesse auf einer Seite stattfinden, als wenn sie über beide Gehirnhälften verteilt wären. Im letzteren Fall müßten Informationen zwischen den beiden Gehirnhälften hin- und hergeschickt werden, was die Verarbeitungsgeschwindigkeit verringern und das Fehlerrisiko erhöhen würde. Außerdem muß ein Teil des Gehirns die übergeordnete Steuerung der Prozesse übernehmen; würden die beiden Seiten um diese Steuerung konkurrieren, würde der Konflikt die Effizienz der Verarbeitung verringern. Das ist zum Beispiel die Ursache einiger Formen von Leseschwäche und Stottern: Die Sprachzentren sind bilateral – sie befinden sich in beiden Gehirnhälften. Konkurrenz zwischen den beiden Gehirnhälften ist für diverse Schwierigkeiten beim Verstehen und der Produktion von Sprache verantwortlich. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, daß bilaterale Sprachprozesse auch für Psychopathie charakteristisch sind.103 Das veranlaßt mich zu der Spekulation, daß die Neigung von Psychopathen zu widersprüchlichen Aussagen zumindest teilweise auf einer ineffizienten »Befehlskette« beruht – jede Gehirnhälfte versucht, die Show zu steuern, was dazu führt, daß die Sprache schlecht zusammengesetzt und kontrolliert wird. Andere Menschen mit bilateraler Sprache – manche Stotterer, Legastheniker und Linkshänder – lügen und widersprechen sich natürlich nicht, so wie das Psychopathen tun. Also muß noch ein anderer Faktor eine Rolle spielen. 8.2 Hohle Worte Die meisten Menschen mit viel Erfahrung im Umgang mit Psychopathen haben eine intuitive Vorstellung davon, worin dieser Unterschied bestehen könnte. »Er hat mir erzählt, wie sehr er mich liebt, und zunächst habe ich ihm geglaubt, selbst als ich ihn dabei erwischt habe, wie er mit meiner Schwester anbändeln wollte«, erzählte uns die entfremdete Frau eines unserer psychopathischen Probanden. Ich habe lange gebraucht, bis ich begriffen habe, daß ich ihm völlig egal bin. Jedes Mal, wenn er mich verprügelt hat, hat er gesagt, »Es tut mir leid, Taube. Du weißt, daß ich dich liebe.« Wie aus einem billigen Film! 93 Für Praktiker ist das keine Überraschung – es ist lange bekannt, daß Psychopathen offenbar die semantische Bedeutung von Worten kennen, aber nicht in der Lage sind, ihre emotionale Bedeutung zu begreifen. Man bedenke die folgenden Zitate aus der klinischen Literatur über Psychopathie: ¾ »er kennt den Text, aber nicht die Melodie.«104 ¾ »Die Konzepte gegenseitigen Teilens und Verstehens sind ihm fremd, im emotionalen Sinne; er kennt nur die formale Bedeutung von Worten.«105 ¾ »Er zeigt große Geschicklichkeit im Umgang mit Worten, die ihm nur wenig bedeuten, Form ohne Inhalt ... Sein vermeintlich gutes Urteilsvermögen und soziales Gespür sind so oberflächlich wie Worte.«106 Diese klinischen Beobachtungen kommen zum Kern des Rätsels der Psychopathie: Zweidimensionale Sprache, der es an emotionaler Tiefe fehlt. Eine einfache Analogie kann das veranschaulichen. Der Psychopath ist wie ein Farbenblinder, der die Welt in Grautönen sieht, aber gelernt hat, sich in einer farbigen Welt zurechtzufinden. Er hat gelernt, daß das oberste Lichtsignal einer Verkehrsampel »Anhalten« bedeutet. Wenn der Farbenblinde sagt, er hätte an der roten Ampel gehalten, meint er, daß er gehalten hat, als das oberste Signal geleuchtet hat. Er hat Schwierigkeiten, über die Farbe von Dingen zu sprechen, hat es aber gelernt, dieses Problem auf verschiedene Weise zu kompensieren. Manchmal werden selbst Menschen, die ihn gut kennen, nicht wissen, daß er keine Farben sehen kann. Wie dem Farbenblinden fehlt dem Psychopathen eine wichtige Erfahrung – in diesem Fall eine emotionale Erfahrung –, aber er mag die Worte anderer gelernt haben, um Erfahrungen zu beschreiben oder zu simulieren, die er nicht wirklich verstehen kann. Cleckley hat gesagt: Er kann lernen, die gängigen Ausdrücke zu benutzen ... und wird es auch lernen, Gefühle in passender Weise pantomimisch zu reproduzieren ... aber das Gefühl selbst fehlt ihm.107 Neuere Laborexperimente unterstützen diese klinischen Beobachtungen auf überzeugende Weise. Diese Experimente basieren darauf, daß für normale Menschen neutrale Worte weniger Information übermitteln als emotionale Worte: Ein Wort wie PAPIER hat eine semantische Bedeutung, während ein Wort wie TOD eine semantische und eine emotionale Bedeutung sowie unangenehme Konnotationen hat. Emotionale Worte haben eine stärkere Wirkung als andere Worte. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem Computerbildschirm, auf dem jeweils für Sekundenbruchteile wechselnde Buchstabenfolgen angezeigt werden. Elektroden zur Abtastung ihrer Hirnaktivitäten sind an Ihrer Kopfhaut befestigt und mit einem Elektroenzephalographen verbunden, der ein Diagramm Ihrer Hirnströme (EEG) aufzeichnet. Manche der auf dem Bildschirm angezeigten Buchstabenfolgen bilden gebräuchliche Wörter aus dem Wörterbuch; andere bilden keine Worte, sondern nur sinnlose Silben. Zum Beispiel bildet BAUM ein Wort, ABMU aber nicht. Ihre Aufgabe ist es, so schnell wie möglich auf einen Knopf zu drücken, wann immer Sie entschieden haben, daß ein wirkliches Wort auf dem Bildschirm zu sehen war. Der Computer mißt die Zeit, die Sie für Ihre Entscheidung brauchen; außerdem analysiert er dabei Ihre Hirnaktivitäten. Wahrscheinlich werden Sie auf ein emotionales Wort schneller reagieren als auf ein neutrales. So würden Sie – und die meisten anderen Menschen – zum Beispiel beim Wort TOD schneller auf den Knopf drücken als beim Wort PAPIER. Der emotionale Gehalt eines Wortes scheint eine Art »Turbolader« für den Prozeß der Entscheidungsfindung zu sein. Gleichzeitig rufen emotionale Worte stärkere Hirnaktivität hervor als 94 neutrale Worte, was den relativ großen Informationsgehalt emotionaler Worte reflektiert. Ein psychopathischer Mörder wurde von einer weiblichen Interviewerin gebeten, die Motive für seine Verbrechen zu erklären. Statt einer Antwort lieferte er eine drastische Beschreibung mehrerer besonders brutaler Morde und Verstümmelungen, für die er inhaftiert worden war. Seine Erzählung war lebhaft, aber unbeteiligt, als ob er ein Baseballspiel beschrieb. Zunächst versuchte die Interviewerin, neutral zu erscheinen und ein lediglich fachliches Interesse an seinem Bericht zu zeigen. Als allerdings ihr Gesichtsausdruck schließlich ihre Abscheu verriet, unterbrach er sich mitten im Satz und sagte, »Ja, es war schon ziemlich übel. Ich fühle mich beschissen. Ich muß vorübergehend verrückt gewesen sein.« Manchmal sagen und tun Psychopathen – wie die meisten Menschen – Dinge, nur um Eindruck zu machen oder zu schockieren. Allerdings haben sie wegen ihres öden Gefühlslebens kein intuitives Gefühl für die Wirkung ihrer Aussagen auf andere. Sie verwenden die Reaktionen ihrer Zuhörer als Hinweise darauf, wie sie sich in der jeweiligen Lage fühlen sollten. Als wir dieses Experiment mit Gefängnisinsassen durchgeführt haben, zeigten die Nicht-Psychopathen normale Reaktionsmuster – schnellere Entscheidungen und mehr Hirnaktivität bei emotionalen als bei neutralen Worten –, im Gegensatz zu den Psychopathen: Sie reagierten auf emotionale Worte, als wären sie neutrale Worte.108 Dieses spektakuläre Ergebnis stützt die These, daß Worte für Psychopathen nicht dieselbe emotionale oder affektive Färbung haben wie für andere Menschen. Einige unsere jüngsten Untersuchungen liefern zusätzliche Unterstützung für diese These, indem sie bestätigen, daß Psychopathen – aus welchen Gründen auch immer – die »fühlbaren« Komponenten von Sprache fehlen.«109 Dieses Defizit hat faszinierende Implikationen, besonders, wenn man es im Zusammenhang mit den sozialen Kontakten von Psychopathen betrachtet – manipulative Täuschung, ungehemmt durch Mitgefühl oder ein Gewissen. Bei den meisten Menschen können verbale Äußerungen starke Gefühle hervorrufen. So ruft zum Beispiel das Wort Krebs nicht nur eine klinische Beschreibung einer Krankheit und ihrer Symptome hervor, sondern ein Gefühl von Angst, Sorge, oder Betroffenheit und eventuell beunruhigende Vorstellungen davon, wie es sein könnte, selbst Krebs zu haben. Für den Psychopathen aber ist ein Wort nur ein Wort. Bildgebende Verfahren der Hirnforschung eröffnen die Aussicht, spannende neue Erkenntnisse über das Gefühlsleben von Psychopathen zu gewinnen. In einem von der Psychiaterin Joanne Intrator geleiteten gemeinsamen Forschungsprojekt mit den Medizinzentren Mt. Sinai und Bronx VA (»Veterans’ Affairs«) haben wir kürzlich begonnen, Abbildungen der Gehirne von psychopathischen und normalen Probanden anzufertigen, während diese verschiedene Aufgaben bearbeiteten. Die vorläufigen Ergebnisse eines Pilotprojekts (beim jährlichen Treffen der »Society for Biological Psychiatry« und der »American Psychiatric Association« im Mai 1993 in San Francisco vorgestellt) deuten darauf hin, daß Psychopathen zur Verarbeitung emotionaler Worte möglicherweise nicht dieselben Hirnbereiche verwenden wie normale Menschen. Falls diese Ergebnisse reproduziert und auf andere Arten emotionaler Informationen ausgeweitet werden können, würden sie den Schluß nahe legen, daß Psychopathen sich von anderen Menschen unterscheiden durch ihre Strategien, emotionales Material zu verarbeiten oder durch die Art, wie ihre Hirnprozesse organisiert sind. Jedenfalls könnten wir das Rätsel der Psychopathie ein gutes Stück besser verstehen als beim gegenwärtigen Stand der Forschung. 95 In einem Buch, in dem sie aus ihrer Sicht schildert, warum sie ihre drei Kinder erschossen hat, beschreibt Diane Downs ihre lockeren Beziehungen zu zahlreichen Männern als lieblos und nur von Sex motiviert.110 In Briefen an Robert Bertaluccini (»Bert«), ebenfalls Postbote, hat sie geschrieben von ihren »Versprechen unsterblicher Liebe, grenzenloser Hingabe und Schwüren, daß kein anderer Mann auf der Welt mich jemals berühren dürfte. Es war das Spiel, das ich mit Männern gespielt habe. Und mit Bert habe ich es am besten gespielt.« [S. 144] Nachdem sie ihre Kinder erschossen hatte, begann sie eine Affäre mit Jason Redding und schrieb: Aber Bert war Vergangenheit und Jason war Gegenwart. Es stimmt, ich habe Briefe an Bert geschrieben und beteuert, wie sehr ich ihn liebe, daß er der einzige Mann auf der Welt für mich ist ... Als er begann, die Briefe zurückzuschicken, habe ich sie in einem Heft aufbewahrt, jeden Abend einen, meistens nur ein Absatz oder zwei, höchstens eine Seite. Die Briefe waren immer gleich, nur unterschiedlich formuliert: »Ich liebe Dich, Bert, warum bist Du nicht hier, ich brauche Dich, Du bist der einzige Mann für mich.« ... Ich habe mir einen Drink gemacht und meine hohlen Worte von Liebe an Bert geschrieben, während ich in ein heißes Schaumbad sank ... Ich habe an Bert gedacht ... Minuten später klopfte Jason an die Tür, und als ich die Treppe hinunterlief, um ihn zu begrüßen, verflüchtigten sich meine Gedanken an Bert. [S. 36-37] Diane war stolz auf ihre »hohlen Worte von Liebe«, als ob sie sie mit voller Absicht benutzt hätte, formuliert für einen bestimmten Zweck. Wie bei allen Psychopathen allerdings konnten ihre Worte von Liebe nichts anderes als hohl sein, da ihr die Fähigkeit fehlt, ihnen wahres Gefühl zu verleihen. An anderer Stelle habe ich die Rolle der »inneren Stimme« bei der Entwicklung und Funktion des Gewissens erörtert. Es sind die emotional geladenen Gedanken, Vorstellungen und inneren Dialoge, die dem Gewissen »Biß« verleihen, für seine Macht über unser Verhalten verantwortlich sind und Schuldbewußtsein und Reue für Verfehlungen erzeugen. Dies ist etwas, was Psychopathen nicht verstehen können. Für sie ist Gewissen wenig mehr als die rationale Kenntnis der Regeln, die andere aufgestellt haben – leere Worte. Die Gefühle, die diesen Regeln Autorität verleihen könnten, fehlen. Die Frage ist: Warum? Der am meisten berüchtigte und verabscheute Verbrecher von Kanada ist Clifford Olson, ein Serienmörder, der im Januar 1982 wegen Folterung und Ermordung von elf Jungen und Mädchen zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. Diese Verbrechen waren die letzten und verabscheuungswürdigsten einer langen Reihe asozialer und krimineller Taten, die bis in seine frühe Kindheit zurückreichen. Auch wenn manche Psychopathen nicht gewalttätig und nur wenige so brutal sind wie er, ist Olson der Prototyp eines Psychopathen. Man bedenke die folgenden Zitate aus einem Zeitungsartikel, der ungefähr zur Zeit seines Gerichtsverfahrens geschrieben wurde: »Er war ein Angeber und Tyrann, ein Lügner und Dieb. Er war ein gewalttätiger Mann mit einem cholerischen Temperament. Aber er konnte sich auch charmant und einschmeichelnd geben, wenn er versuchte, jemanden zu beeindrucken ... Olson war ein zwanghafter Schwätzer ... Er ist ein aalglatter Redekünstler, ein begabter Schwätzer ... Er hatte immer tolle Geschichten auf Lager ... Der Mann war ein kompletter Lügner ... Er wollte immer die Grenzen anderer Leute ausloten. Er wollte herausfinden, wie weit er gehen konnte, ehe man ihn bremste ... Er war ein Manipulator ... Olson war ein Plappermaul ... Nach einer Weile haben wir ihm gar nichts mehr geglaubt, weil er so viel log.« [Farrow, 1982] Ein Reporter, der mit Olson gesprochen hatte, sagte über ihn, »Er hat schnell geredet, im Stakkato ... 96 Er ist von Thema zu Thema gesprungen. Er hörte sich glatt an, schleimig, wie ein Gauner, der beweisen will, wie hart und wichtig er ist.« [Ouston, 1982] Diese Aussagen von Menschen, die ihn kannten, sind wichtig – geben sie uns doch einen Hinweis darauf, wie er seine jungen, vertrauensseligen Opfer dazu brachte, mit ihm allein zu sein. Vielleicht können sie uns auch dabei helfen, zu erklären, warum die Regierung ihm 100.000 Dollar dafür zahlte, daß er verriet, wo er sieben der elf Leichen seiner jungen Opfer versteckt hatte. Es ist nicht überraschend, daß das Bekanntwerden dieser Zahlung einen Aufschrei der Empörung auslöste. Einige typische Schlagzeilen: Killer wurde für das Auffinden der Leichen bezahlt; Geld-für Gräber-Zahlung an Kindermörder löst Empörung aus. In den Jahren seit seiner Inhaftierung hat Olson die Familien seiner Opfer gequält, indem er ihnen immer wieder Briefe mit Details über die Ermordung ihrer Kinder geschickt hat. Nie hat er Schuldbewußtsein oder Reue für seine grausigen Taten gezeigt; im Gegenteil, er beklagt sich ständig über seine Behandlung durch die Presse, die Justiz und die Gesellschaft. Während seines Gerichtsverfahrens posierte er eitel, wann immer eine Kamera auf ihn gerichtet war. Anscheinend hielt er sich für eine prominente Persönlichkeit und nicht etwa für einen Mann, der eine Serie von Abscheulichkeiten begangen hatte. Am 15. Januar 1983 berichtete die Vancouver Sun: »Der Massenmörder Clifford Olson hat an die Redaktion geschrieben, um mitzuteilen, daß er mit dem Foto, das wir von ihm abgedruckt haben, nicht einverstanden ist ... und daß er uns in Kürze ein neueres, vorteilhafteres Bild von sich schicken würde.« [Die Zitate sind aus Artikeln von R. Ouston in der Vancouver Sun vom 15. Januar 1982 und M. Farrow in der Vancouver Sun vom 14. Januar 1982] Inzwischen hat Olson an mehrere forensische Institute in Kanada geschrieben, um seine Hilfe bei der Einrichtung eines Kurses über ihn anzubieten. 8.3 Unterhalb der emotionalen Armutsgrenze Wenn die Sprache von Psychopathen bilateral ist – also von beiden Gehirnhälften gesteuert wird –, kann es sein, daß andere Hirnprozesse, die normalerweise von einer Hirnhälfte gesteuert werden, ebenfalls bilateral gesteuert werden. Während bei den meisten Menschen die rechte Gehirnhälfte für Emotionen zuständig ist, weisen neuere Forschungsergebnisse darauf hin, daß bei Psychopathen keine der beiden Gehirnhälften emotionale Prozesse gut verarbeiten kann.111 Warum das so ist, bleibt ein Rätsel. Aber eine interessante Folgerung ist, daß die Hirnprozesse, die die Gefühle eines Psychopathen steuern, verteilt und unfokussiert sind, was zu einem flachen und farblosen Gefühlsleben führt. Ted Bundy mag entrüstet gewesen sein, als man ihn als einen leeren und gefühllosen Roboter bezeichnet hat. »Mann, wie kann man nur so falsch liegen!«, hat Bundy gesagt. »Wenn man denkt, ich hätte kein Gefühlsleben, ist das falsch. Völlig falsch. Ich habe eins, und es ist sehr real und reichhaltig.«112 Allerdings ist aus anderen seiner Äußerungen und seinen flachen Erklärungen für sein mörderisches Verhalten völlig klar, daß das Bild des gefühllosen Roboters zutreffend ist. Wie alle Psychopathen hatte Bundy nur eine vage Vorstellung vom Ausmaß seiner Gefühlsarmut. Viele Menschen fühlen sich zu populär-psychologischen Gruppen hingezogen, die sich auf die Suche nach dem wahren Ich machen – »seine Gefühle spüren«. Für Psychopathen ist eine solche Übung – wie die Suche nach dem heiligen Gral – zum Scheitern verurteilt. Letztlich ist ihr Selbstbild eher durch Besitztümer und andere sichtbare Symbole von Erfolg und Macht bestimmt als durch die abstrakten Begriffe Liebe, Erkenntnis und Mitgefühl, die kaum eine wirkliche Bedeutung für sie haben. 97 8.4 Ihre Gestik Achten Sie auf die Gestik, wenn eine Person zu Ihnen spricht: Ist sie eher ruhig oder ein hektisches Herumfuchteln? Hilft Ihnen die Gebärdensprache, das Gesagte zu verstehen? Wenn sie das Gesagte visuell unterstützt, kann sie beim Verständnis helfen – wenn zum Beispiel bei der Aussage, »Es war ein riesiger Fisch«, die Hände weit auseinandergehen oder die Figur einer beschriebenen Person in die Luft gezeichnet wird.113 Die meisten sprachbezogenen Gesten übermitteln allerdings keine Information oder Bedeutung an den Zuhörer. »Leere« Gesten, die »beats« genannt werden, sind kleine, schnelle Handbewegungen, die nur beim Sprechen oder in Sprechpausen auftreten, aber mit der Erzählung nichts zu tun haben. Wie andere Gesten und Bewegungen sind sie häufig ein Bestandteil der »Show«, die der Sprecher inszeniert (mehr dazu im folgenden Kapitel) oder ein Ergebnis kulturell geprägter Kommunikationsformen. Aber Beats kommen auch aus anderen Gründen vor. So machen zum Beispiel viele Menschen solche Gesten, während sie sich am Telefon unterhalten. Der Zuhörer kann solche Gesten nicht sehen – warum macht der Sprecher sie also? Die Antwort könnte darin liegen, daß es Hinweise dafür gibt, daß die Sprachzentren im Gehirn auch die Gestik beim Sprechen steuern. Auf bislang unbekannte Art – vielleicht, indem sie die Gesamtaktivität in den betroffenen Sprachzentren steigern – scheinen Beats die Sprachprozesse zu fördern: Sie helfen uns, unsere Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen – man achte nur auf die hektischen Handbewegungen, die jemand macht, wenn er ein bestimmtes Wort sucht und nicht darauf kommt. Oder versuchen Sie einmal, die Hände beim Sprechen still zu halten; führt das zu mehr Verzögerungen, Pausen und Fehlern beim Sprechen? Falls Sie zwei Sprachen sprechen, werden sie wahrscheinlich sehr viel mehr Beat-Gesten machen, wenn sie in der Fremdsprache sprechen als in Ihrer Muttersprache. Manchmal scheint ein vermehrtes Auftreten von Beats Schwierigkeiten beim Umwandeln von Gedanken und Gefühlen in Sprache anzuzeigen. Beats können auch etwas über die Größe der »Denkpakete« aussagen, die der Sprache zugrundeliegen. Eine Denkeinheit kann klein, einfach und abgeschlossen sein – eine einzelne Idee oder ein Wort, ein Ausdruck, ein Satz – oder größer und komplexer werden – eine Gruppe von Ideen oder Sätzen oder eine ganze Geschichte. Die Ideen, Worte, Ausdrücke und Sätze einer größeren Denkeinheit sind meist in sich schlüssig, in sinnvoller und logischer Weise miteinander verknüpft und ergeben so ein Konzept. Beats scheinen diese Denkeinheiten voneinander abzugrenzen: Je größer die Anzahl der Beats, desto kleiner sind die Denkeinheiten. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, daß Psychopathen mehr Beats als normale Menschen verwenden, insbesondere, wenn sie über Dinge sprechen, die gemeinhin für emotional gehalten werden – wenn sie zum Beispiel ihre Gefühle über Familienmitglieder oder andere »liebe Menschen« beschreiben.114 Daraus könnte man zwei Schlüsse ziehen: ¾ Wie ein Tourist, der mit seinem Schul-Französisch in Paris nach dem Weg fragt, haben Psychopathen Schwierigkeiten, emotionale Themen in Worte zu fassen, weil sie solche Themen nur vage und unzureichend verstanden haben. In diesem Sinne sind Gefühle für Psychopathen wie eine Fremdsprache. ¾ Die Gedanken und Ideen von Psychopathen sind in relativ kleinen Denkeinheiten organisiert und können daher leicht hin- und hergeschoben werden. Das kann beim Lügen ein entscheidender Vorteil sein. Der Psychologe Paul Ekman hat darauf hingewiesen, daß geschickte Lügner in der Lage sind, Ideen, Konzepte und Sprache in ihre Grundbestandteile zu zerlegen und diese dann auf vielfältige Weise wieder zusammenzusetzen, fast wie beim Scrabble-Spiel.115 Aber dabei gefährdet der Psychopath die Kontinuität seiner Geschichte; sie kann ihre Struktur ver98 lieren und weniger schlüssig und zusammenhängend werden, als wenn er mit großen Denkeinheiten operieren würde. Aus diesem Grunde wird ein geschickter Lügner häufig einen »wahren Kern« verwenden, um den Faden nicht zu verlieren und um seine Geschichte für den Zuhörer schlüssig erscheinen zu lassen. »Die hinterhältigsten Lügner sind jene, die sich stets am Rande der Wahrheit bewegen.«116 8.5 Gebrochene Wahrheiten Obwohl Psychopathen viel lügen, sind sie nicht die geschickten Lügner, als die sie oftmals erscheinen. Wie schon erwähnt, ist ihre Sprache voller unlogischer und widersprüchlicher Aussagen. Auch wenn Psychopathen in Gedanken Scrabble spielen, sind sie dabei meistens nicht besonders gut, da es ihnen nicht gelingt, die Einzelteile zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzusetzen; ihre Wahrheit ist bestenfalls gebrochen und geflickt. Man bedenke den weiter oben zitierten Häftling, der gesagt hat, er sei nie gewalttätig gewesen, aber mußte einmal jemanden töten. Wir verstehen das als Widerspruch, weil wir es als eine einzige Denkeinheit behandeln. Der Häftling allerdings mag es mit zwei Denkeinheiten zu tun gehabt haben: »Ich habe nie ein gewalttätiges Delikt begangen« und »Ich habe einmal jemanden getötet«. Die meisten Menschen können einzelne Gedanken so kombinieren, daß sie sich schlüssig in ein zugrundeliegendes Thema einfügen, aber Psychopathen scheinen dabei Schwierigkeiten zu haben. Das erklärt die eklatanten logischen Fehler und Widersprüche, die typisch für ihre Aussagen sind. Es mag auch ihre Verwendung von Neologismen erklären (die Kombination von Wortbestandteilen – Silben – auf eine Art, die ihnen logisch erscheinen mag, aber für andere nicht nachvollziehbar ist). Man könnte die Situation mit einem Spielfilm vergleichen, bei dem eine Szene bei bewölktem Himmel gedreht wird und die nächste – die vermeintlich ein paar Minuten später stattfindet – bei strahlendem Sonnenschein. Offensichtlich sind die Szenen an verschiedenen Tagen gedreht worden, was der Regisseur beim Schneiden des Films nicht berücksichtigt hat. Manchen Kinogängern – wie manchen Opfern von Psychopathen – fällt die Diskrepanz nicht auf, insbesondere, wenn sie von der Handlung gefesselt sind. Eine weitere Anmerkung zur Verwendung von Sprache durch Psychopathen: Ihre »Denkeinheiten« sind nicht nur klein, sondern auch zweidimensional, ohne emotionalen Gehalt. Die meisten Menschen berücksichtigen bei der Wahl ihrer Worte sowohl die semantische Bedeutung als auch die emotionalen Konnotationen. Aber Psychopathen brauchen nicht so wählerisch zu sein; ihre Worte sind nicht durch emotionales Gepäck belastet und können auf eine Art verwendet werden, die anderen Menschen seltsam vorkommt. So mag zum Beispiel ein Psychopath nichts Falsches darin sehen, einer Frau zu sagen, »Ich liebe dich«, nachdem er sie unmittelbar zuvor verprügelt hat, oder einer dritten Person zu sagen, »Ich mußte sie verprügeln, um sie in ihre Schranken zu weisen, aber sie weiß, daß ich sie liebe.« Für die meisten Menschen wären diese beiden Vorgänge (Aussage von Liebe, Mißhandlung) logisch und affektiv unvereinbar. Man bedenke die folgende, absurde Aussage eines Mannes mit einer hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste, der drei Jahre wegen Betrugs und Diebstahls im Gefängnis gesessen hat – er brachte seine verwitwete Mutter dazu, eine Hypothek von 25.000 Dollar auf ihr Haus aufzunehmen, stahl das Geld und überließ es ihr, die Schulden von ihrem dürftigen Einkommen als Verkäuferin zu tilgen: »Meine Mutter ist ein großartiger Mensch, aber ich mache mir Sorgen um sie. Sie arbeitet zu viel. Die Frau 99 bedeutet mir wirklich eine Menge und ich werde ihr helfen.« Als er nach dem Geld gefragt wurde, das er seiner Mutter gestohlen hatte, antwortete er: »Einen Teil davon habe ich noch in einem sicheren Versteck, und wenn ich rauskomme, werde ich damit viel Spaß haben!« Seine angebliche Fürsorge für seine Mutter stand nicht nur im Widerspruch zu seinem aktenkundigen Verhalten ihr gegenüber, sondern auch zu seinen Plänen für das Geld. Darauf hingewiesen, sagte er: »Na ja, klar, ich liebe meine Mutter, aber sie ist schon ziemlich alt, und wenn ich nicht selbst auf mich aufpasse, wer denn dann?« 8.6 Wo war ich stehengeblieben? Es scheint also, daß die Äußerungen von Psychopathen manchmal auf subtile Art seltsam wirken und daß sie dazu neigen, den »Faden zu verlieren«.117 Das heißt, daß sie häufig das Thema wechseln, sich mit unwichtigen Nebensächlichkeiten beschäftigen und daß es ihnen oft nicht gelingt, Ausdrücke und Sätze sinnvoll zu verbinden. Ihre Geschichte, wenn auch etwas unzusammenhängend, mag doch für den beiläufigen Zuhörer akzeptabel klingen. Zum Beispiel hat einer unserer männlichen Psychopathen, von einer weiblichen Interviewerin gebeten, ein intensives Gefühlserlebnis zu beschreiben, folgendes geantwortet: Gute Frage. Da fallen mir so viele ein. Einmal – äh – bin ich über eine rote Ampel gefahren, aber es war kein Verkehr, klar? Was ist also das Problem? Dieser Bulle hat angefangen, mich zu nerven, ohne Grund, er hat mich echt wütend gemacht. Ich bin nicht wirklich bei rot über die Ampel gefahren. Wahrscheinlich war sie noch gelb ... äh, also – worüber hat er sich eigentlich aufgeregt? Das Problem mit den Bullen ist, daß sie – äh – meistens auf dem Macht-Trip sind. Sie führen sich wie Machos auf, oder? Ich stehe nicht auf Macho-Gehabe. Ich bin eher der sensible Typ. Was meinen Sie? Ich meine, wenn ich nicht im Knast wäre ... also, wenn wir uns zum Beispiel auf einer Party getroffen hätten und ich würde Sie einladen, mit mir auszugehen – äh – dann wette ich, Sie würden ja sagen, oder? Sein Redefluß wurde begleitet durch weit ausholende Handbewegungen und übertriebenen Grimassen – eine spektakuläre Show, die unsere Interviewerin davon ablenkte, was tatsächlich passierte. Die Videoaufzeichnung des Interviews offenbarte allerdings für jeden – einschließlich der peinlich berührten Interviewerin –, daß der Mann nicht nur den Faden verloren, sondern sie in ein flirtendes Geplänkel gelockt hatte. Psychopathen sind bekannt dafür, die ihnen gestellten Fragen nicht zu beantworten oder in ihrer Antwort nicht auf die Frage einzugehen. So antwortete zum Beispiel ein Psychopath in einer unserer Studien auf die Frage, ob er häufig wechselnde Launen habe: »Ähm – häufig wechselnd? – also wissen Sie – manche Leute sagen, sie sind immer nervös, aber oft scheinen sie ganz ruhig zu sein. Also wechselt ihre Laune wohl häufig. Einmal war ich – äh – also, ich fühlte mich schlecht und – mein Kumpel ist rübergekommen und wir haben im Fernsehen Football geguckt und – äh – haben gewettet und er hat gewonnen – und da hab ich mich ziemlich beschissen gefühlt.« Manchmal machen es Psychopathen ihren Zuhörern schwer, Teile ihrer Erzählung zu verstehen. »Ich hab diese Burschen in einer Bar getroffen. Der eine war ein Dealer und der andere ein Zuhälter. Sie fingen an, mir auf die Nerven zu gehen, da hab ich ihm eins auf die Nase gegeben«, erzählte einer unserer Psychopathen. Aber war es nun der Dealer oder der Zuhälter, der »eins auf die Nase« bekommen hat? Natürlich kommen kleine Brüche auch in den Äußerungen normaler Menschen vor; meist entstehen sie aus mangelnder Sorgfalt oder einer momentanen Konzentrations100 schwäche. Aber bei Psychopathen sind solche Brüche häufiger, gravierender und möglicherweise Symptom eines zugrundeliegenden Defekts bei der Organisation – nicht aber den Inhalten – von Hirnprozessen. Es ist die Art, wie sie Worte und Sätze verknüpfen, nicht, was sie tatsächlich sagen, die auf eine Abweichung von der Norm hindeutet. Im Gegensatz dazu sind schizophrene Äußerungen typischerweise in Form und Inhalt seltsam und absurd. So gab zum Beispiel einer unserer Probanden, der später als schizophren diagnostiziert wurde, auf die Frage: »Haben Sie häufig wechselnde Launen?«, folgende Antwort: Na ja, also ich – glaube, daß – äh – das Leben so kurz ist und daß wir für eine so kurze Zeit hier sind und so – so werden wir ohnehin alle irgendwann sterben, also – äh – man – wir – erreichen eine ganz neue Ebene und alle Probleme dieser Welt sind für uns gelöst und dann haben wir neue Probleme und neue Freuden – was auch immer – äh – also, ich kann nicht behaupten, das wirklich zu verstehen. Diese Antwort ist seltsam sowohl in Form als auch Inhalt und ist schwierig zu verstehen. Die oben beschriebene Antwort des Psychopathen auf dieselbe Frage mag nebensächlich und etwas merkwürdig erscheinen, kann aber als ausweichend oder heuchlerisch interpretiert werden. Wir können aus dieser Antwort eher eine Bedeutung herauslesen als aus der Antwort des Schizophrenen. Es ist hinlänglich bekannt, daß Psychopathen oft Geisteskrankheiten glaubwürdig simulieren, wenn das zu ihrem Vorteil ist. So gelang es zum Beispiel einem weiter oben beschriebenen Häftling, sich in die Psychiatrie überweisen zu lassen – und wieder zurück –, indem er seine Antworten auf die Fragen eines verbreiteten psychologischen Tests anpaßte. Vor einigen Jahren wurde ich gebeten, in beratender Funktion an einem Hollywood-Film über einen psychopathischen Serienmörder mitzuwirken. Die Filmemacher waren sehr um Authentizität bemüht und hatten das Thema so gründlich wie möglich recherchiert. Aber eines Tages rief mich der Drehbuchautor nahe der Verzweiflung an. »Wie kann ich meine Figur interessant machen?«, fragte er. »Wenn ich versuche, mich in ihn hineinzuversetzen, seine Motive, Bedürfnisse und Komplexe herauszuarbeiten, auf eine Art, daß sie für das Publikum halbwegs verständlich werden, komme ich nicht weiter. Diese Typen [die beiden Psychopathen in der Geschichte] sind sich zu ähnlich, und unter der Oberfläche scheint es wenig Interessantes zu geben.« Im gewissen Sinne hatte der Drehbuchautor den Nagel auf den Kopf getroffen: Die Darstellung von Psychopathen in Film und Literatur neigt zu zweidimensionalen Charakteren ohne die Gefühlstiefe und die komplexen und verwirrenden Triebe, Konflikte und psychologischen Wirren, die selbst alltägliche Menschen interessant und unterschiedlich machen. Stets werden Psychopathen als flache Figuren wie aus Pappe dargestellt, und während erheblicher Aufwand für drastische, blutige, fesselnde und wohlfeile Darstellungen ihrer Taten getrieben wird – im SCHWEIGEN DER LÄMMER überfährt Hannibal Lecter die Menschen mit seiner pompösen Gelehrsamkeit und verspeist sie anschließend bei passender Gelegenheit –, lernen wir nur wenig darüber, wie sie funktionieren. Bis zu einem gewissen Grad mögen diese Darstellungen in den Medien der Realität entsprechen. Buchstäblich alle Untersuchungen der Innenwelten von Psychopathen zeichnen ein ödes Bild. Die Lebensphilosophie dieser Individuen ist für gewöhnlich banal, blasiert und ohne die Details, die die Lebensgeschichten normaler, erwachsener Menschen bereichern. 101 Ein besonders aufschlußreiches Beispiel für die Fähigkeit des Psychopathen, erfahrene Psychiater und Psychologen zu manipulieren, ist in Terry Ganeys Buch über Charles Hatcher enthalten, der mindestens sechzehn Menschen umgebracht hat, weil es ihm einen »Kick« verschaffte.118 Nach einer Anklage wegen Mordes an einem sechsjährigen Jungen wurde er zwischen Gerichtssaal und forensischer Psychiatrie hin- und hergeschoben. Vom Gericht bestellte psychiatrische Gutachter stellten fest, daß Hatcher verhandlungsunfähig sei, aber die Psychiater in der Klinik waren gegenteiliger Ansicht. Und so ging es hin und her. Nach einer scheinbar endlosen Reihe gegensätzlicher psychiatrischer Gutachten wurde Hatcher des Spiels überdrüssig und verlegte sich nunmehr darauf, die Anwälte und Gerichte auszutricksen. Allerdings legen die in diesem Kapitel vorgestellten Forschungsergebnisse die Vermutung nahe, daß es vielleicht nicht nur das manipulative Geschick des Psychopathen ist, das es den Praktikern erschwert, seine geistige Gesundheit zu beurteilen. Eine Befragung, in deren Verlauf die Aussagen des Psychopathen widersprüchlich, nebensächlich oder zusammenhanglos sind, muß eine ausgewogene klinische Beurteilung beeinflussen. So war zum Beispiel das Verfahren von John Wayne Gacy, dem Geschäftsmann und Serienmörder aus Chicago, der »Pogo den Clown« für kranke Kinder gespielt hat, von gegensätzlichen psychiatrischen Gutachten geprägt.119 Die Gutachter der Staatsanwaltschaft argumentierten, er sei ein Psychopath und geistig gesund, während die Gutachter der Verteidigung sagten, er sei psychotisch oder geisteskrank. Ein Psychologe sagte, er habe eine psychopathische oder asoziale Persönlichkeit mit abartiger Sexualität und daß Gacys Aussagen in Befragungen durch Widersprüche, Ausweichen, Rechtfertigungen und Ausreden geprägt seien. Ein Psychiater stellte fest, daß Gacy einfach gern redete. Im Kreuzverhör wurde dieser Psychiater gefragt, »ob Gacys überschwenglicher Redefluß nicht schwache Assoziationen anzeigen würde, ein Symptom von Schizophrenie. ›Wenn Herr Gacy einerseits sagt ... er habe jemanden getötet, aber andererseits sagt, er habe das nicht getan, bedeutet das nicht schwache Assoziationen?‹« Der Psychiater antwortete: »Ich meine, das bedeutet, daß er lügt. Ich meine, er kann sich von einem Tag auf den anderen nicht daran erinnern, was er gesagt hat, weil er lügt.« [S. 338] Die Geschworenen lehnten Gacys Antrag auf Schuldunfähigkeit wegen Geisteskrankheit ab und empfahlen die Todesstrafe. Gacys »schwache Assoziationen« und seine widersprüchlichen Aussagen und Lügen mögen wenig mehr sein als geistige Nachlässigkeit, mangelndes Interesse, den Zuhörern ein geordnetes Bild zu präsentieren oder Teil einer Strategie, um seine Zuhörer durcheinander zu bringen. Im Zusammenhang des in diesem Kapitel vorgestellten Materials könnten sie allerdings auch das Ergebnis eines Zustandes sein, in dem die Kontinuität zwischen geistigen Ereignissen und die Wahrnehmung der eigenen Sprache beeinträchtigt oder gar gestört ist: geistiges Scrabble ohne Konzept. Das wirft eine wichtige Frage auf: Wenn ihre Sprache manchmal seltsam ist, warum sind Psychopathen so glaubwürdig und so geschickt darin, uns zu täuschen und zu manipulieren? Warum fallen uns die Widersprüche in ihren Äußerungen nicht auf? Die kurze Antwort lautet, daß es schwierig ist, hinter ihre Maske der Normalität zu sehen: Die Merkwürdigkeiten in ihrer Sprache sind oft zu subtil, um dem beiläufigen Zuhörer aufzufallen – und sie liefern eine gute Show. Wir werden eingewickelt nicht durch das, was sie sagen, sondern dadurch, wie sie es sagen. Während einer Rede, die ich kürzlich an einer Universität in Kalifornien gehalten habe, äußerte ein Linguist im Publikum den Gedanken, daß Psychopathen in mancherlei Hinsicht guten Märchenerzählern ähneln. Beide verwenden übertriebene Körpersprache und unerwartete Wendungen in der Geschichte, die das Interesse der Zuhörer wecken und halten und sie »in die Geschichte hineinziehen«. Für viele Zuhörer ist die Phantasie mindestens ebenso wichtig wie die Geschichte. Der Linguist meinte, daß Psychopathen in diesem Sinne gute 102 Märchenerzähler seien. Wie dem auch sei – die Geschichten von Märchenerzählern sind durchweg schlüssiger und logischer aufgebaut als die von Psychopathen. Außerdem will ein Märchenerzähler auch unterhalten und belehren – während es dem Psychopathen um wenig mehr als um Macht und die Befriedigung seiner Bedürfnisse geht. 8.7 Heißt das also, daß sie verrückt sind? Widersprüchliche, unlogische Aussagen! Gefühlsarmut! Sicherlich beschäftigt Sie inzwischen eine nagende Frage: Sind diese Leute bei Verstand? Sind wir wieder bei der alten Debatte angelangt, ob sie verrückt oder böse sind? Im Anschluß an eine Vorlesung über Psychopathie und Sprache, die ich auf einem Kongreß über Psychiatrie in Florida gehalten habe, sprach mich ein forensischer Psychiater an und sagte: Ihre Forschungen implizieren, daß Psychopathen möglicherweise geistesgestört sind und daher vielleicht nicht in dem Maße für ihre Handlungen verantwortlich, wie wir bisher gedacht haben. Bis jetzt hat die Diagnose »Psychopathie« den »Todeskuß« für viele Mörder bedeutet. Wird sie jetzt zu ihrer »Lebensversicherung«? Eine interessante Frage. Wie bereits erwähnt, sind Psychopathen aus juristischer und psychiatrischer Sicht geistig gesund. Sie verstehen die Regeln der Gesellschaft und die herkömmliche Bedeutung der Begriffe »richtig« und »falsch«. Sie können ihr Verhalten steuern und sie sind sich der möglichen Folgen ihrer Handlungen bewußt. Ihr Problem ist, daß dieses Wissen sie oft nicht von gegen die Gesellschaft gerichtetem Verhalten abhalten kann. Und trotzdem, so argumentieren manche Fachleute, haben Psychopathen Defekte in den geistigen und emotionalen Mechanismen, die notwendig sind, um ihr Wissen von den Regeln in gesellschaftlich akzeptables Verhalten zu übertragen. Wenn sie kein Gewissen entwickelt haben, unfähig sind, Schuldbewußtsein oder Reue zu empfinden und Schwierigkeiten haben, ihr Verhalten und seine Auswirkungen auf andere zu steuern, so lautet die Argumentation, dann sind sie doch sicherlich uns anderen gegenüber stark benachteiligt. Sie verstehen die rationalen Spielregeln, aber die emotionalen Regeln gehen an ihnen vorbei. Diese moderne Version der Vorstellung von »moralischem Wahnsinn« mag in der Theorie schlüssig sein, ist aber nicht relevant für praktische Entscheidungen über Schuldfähigkeit. Meiner Meinung nach wissen Psychopathen mit Sicherheit gut genug, was sie tun, um für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden zu können. 103 9 Fliegen im Spinnennetz Menschen können dazu gebracht werden, alles zu schlucken, wenn es nur mit genügend Lob gewürzt ist. Moliere, DER GEIZHALS (1668), 1, ins Englische übersetzt von John Wood Der Polizist hielt etwas Abstand, als die Frau aus dem Auto stieg. Er hatte sie angehalten, weil sie auf einer schmalen Landstraße fast 130 km/h gefahren war. Eigentlich ist es gegen das Protokoll, daß ein Verkehrssünder aus seinem Fahrzeug aussteigt – die stehende Haltung des Polizeibeamten verschafft ihm einen körperlichen Vorteil und verstärkt seine Autorität. Und doch stieg sie ganz selbstbewußt aus, mit einem gewinnenden Lächeln. Sie ist nicht wirklich hübsch, aber der sofort von ihr hergestellte, direkte Blickkontakt wirkt sehr anziehend. Er fragt nach ihrem Führerschein und widersteht ihrem Versuch, ein Gespräch zu beginnen – einstweilen. Schließlich gibt er sich jedoch ihrem neckischen Geplänkel geschlagen und stellt nur eine Verwarnung aus. Ein Junge ist gerade letzten Monat an dieser Strecke zu Tode gekommen, sagt er. Der Beamte beobachtet sie, als sie wieder in ihr Auto steigt und davonfährt; er unterdrückt seinen Impuls, ihr im Rückspiegel nachzuwinken. Die meisten Menschen akzeptieren die Bedingungen und Regeln zwischenmenschlicher Begegnungen. Aber es gibt immer Menschen, die mit ihrem Aussehen und ihrem Charme – sei er nun echt oder aufgesetzt – andere dazu bringen, ihnen zu Willen zu sein. Und stets spielen die Bedürfnisse und Schwächen des »Opfers« für den Ausgang der Begegnung eine Rolle. Meistens ist das Ergebnis eher harmlos, ein Teil der alltäglichen Begegnungen zwischen Menschen. Aber bei Fällen, an denen ein Psychopath beteiligt ist, kann die Wirkung auf das Opfer katastrophal sein. Psychopathen neigen dazu, jeglichen sozialen Austausch als Gelegenheit zum Schmarotzen anzusehen, einen Wettbewerb oder Willenskampf, der nur einen Sieger haben kann. Ihre Motive sind es, zu manipulieren und zu nehmen, ohne Skrupel oder Reue. 9.1 Bühne frei! Wie ich bereits erörtert habe, sind Psychopathen, auch wenn sie viel reden, keine sonderlich geschickten Redekünstler. Es ist eher die »Show« als die geschickte Rhetorik, die unsere Aufmerksamkeit erweckt und uns aufs Glatteis führt. Ein attraktives Äußeres, Charisma, ein Schwall von Worten, gekünstelte Ablenkungsmanöver und das instinktive Wissen, welche Knöpfe sie drücken müssen – all dies hilft, die Tatsache zu verschleiern, daß der psychopathische Auftritt eben doch nur eine »Show« ist. Ein gutaussehender, redseliger Psychopath und ein Opfer mit »kleinen Schwächen« ist eine verheerende Kombination. Sollte die »Show« des Psychopathen allein noch nicht ausreichen, wird meistens der kunstgerechte Einsatz von »Requisiten« – gefälschte Zeugnisse, ein protziges Auto, teure Klamotten, eine respekteinflößende Position, etc. – den Rest besorgen. Natürlich sind Psychopathen nicht die Einzigen, die zu theatralischen Auftritten imstande sind. Wir alle kennen Menschen, die immer »auf der Bühne« sind, großspurig und mit einem Hang zu übertriebenen Deklamationen und Gebärden und Effekthascherei. Häufig ist ihre Kommunikation mit anderen offenkundig flach und unaufrichtig und darauf angelegt, einen guten Eindruck zu machen, ein schwaches Selbstbild aufzupolieren oder berufliche oder politische Ziele zu erreichen. Aber im Gegensatz zu Psychopathen haben sie nicht nur die Absicht, andere auszusaugen. 104 Die Gesellschaft basiert auf Vertrauen, und normalerweise achten wir mehr auf das, was jemand sagt, als auf das begleitende, nonverbale Verhalten – Gestik, Gesichtsausdruck, Lächeln, Augenkontakt. Wenn allerdings der Sprecher attraktiv ist und einen beeindrukkenden nonverbalen Auftritt liefert, kann der Effekt umgekehrt werden – wir achten auf die Show und nicht auf das, was gesagt wird.120 Die Requisiten, die von manchen Hochstaplern verwendet werden, erscheinen den meisten Menschen absurd oder gar dumm, aber es gibt keinen Mangel an eifrigen Gutgläubigen. Über sechs Jahre hin gab sich der 56jährige Ed Lopes als Baptistenpriester aus, der Gott in der Todeszelle gefunden hatte. Lopes behauptete, eine fünfzehnjährige Karriere als Auftragskiller für »Murder, Inc.« hinter sich zu haben, während der er 28 Auftragsmorde ausgeführt habe. Trotzdem, erzählte er seiner Gemeinde und anderen kirchlichen Gruppen überall im Staate Washington, sei er von Billy Graham beraten worden. Und die Eingaben von 350 Justizvollzugsbeamten hätten die Bewährungskommission dazu bewogen, ihn freizulassen. Vor kurzem enttarnt, gab Lopes zu, daß er nach seiner Entlassung auf Bewährung in lllinois auf der Flucht war, seine zweite Frau stranguliert, eine andere Frau zu Tode geprügelt und eine Freundin erstochen und erwürgt hatte. Die Reaktion seiner Gemeinde? Nun, einige Rechtschaffene waren unangenehm berührt, während andere für seine Kaution sammelten – die mit 5.000 Dollar erstaunlich niedrig festgesetzt worden war – und ihn öffentlich unterstützten. Das Gericht entwickelte bald Bedenken wegen der niedrigen Kaution und ließ ihn wieder verhaften, um ihn alsbald nach lllinois überstellen zu lassen. [Associated Press, 8. und 10. Januar 1992] Und wieder zeigt sich, daß Psychopathen häufig ihre Körpersprache sehr wirkungsvoll einsetzen, während sie reden, und oft fällt es schwer, ihre Aktionen nicht mit den Augen zu verfolgen. Psychopathen neigen auch dazu, in unsere persönliche Sphäre einzudringen – zum Beispiel durch intensiven Blickkontakt, sich vorbeugen, näher heranrücken und so weiter. Insgesamt kann ihre Show so effektvoll oder enervierend sein, daß es ihnen gelingt, uns damit abzulenken, zu beeindrucken, zu steuern oder einzuschüchtern und unsere Aufmerksamkeit von dem, was sie sagen, abzulenken. »Ich habe nicht alles mitgekriegt, was er gesagt hat, aber er hat es so schön gesagt. Er hat so ein wunderbares Lächeln«, hat eine Frau gesagt, die von einem der von uns untersuchten Psychopathen geprellt worden war. Einer meiner ehemaligen Kollegen, gefangen in einem Gespinst von Leidenschaft und Täuschung, das von seiner Ehefrau – die seiner Überzeugung nach eine Psychopathin ist – gesponnen worden war, stellte fest: Sie hat mir das Leben zur Hölle gemacht, aber ohne sie habe ich mich verlassen gefühlt. Ständig hat sie aufregende oder sogar ungeheuerliche Sachen gemacht. Manchmal ist sie wochenlang verschwunden, ohne jemals wirklich zu erklären, wo sie gewesen war. Wir haben einen Batzen Geld durchgebracht – meine gesamten Ersparnisse, die Hypothek auf das Haus. Aber sie hat mir das Gefühl gegeben, wirklich am Leben zu sein. Mein Kopf war immer total durcheinander, wenn sie bei mir war. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, außer an sie. Die Ehe kam zu einem für ihn schmerzlichen Ende, als sie bei einem anderen Mann einzog. »Sie hat noch nicht mal einen Zettel hinterlassen«, erzählte er mir. 105 9.2 Knöpfe Falls Sie irgendwelche Schwachstellen in Ihrer psychischen Konstitution haben, wird ein Psychopath sie mit Sicherheit finden und ausnutzen und Sie verletzt und fassungslos zurücklassen. Die folgenden Beispiele illustrieren die unheimliche Fähigkeit von Psychopathen, unsere Schwächen zu finden und auf die richtigen Knöpfe zu drücken. ¾ In einem Interview hat einer unserer Psychopathen, ein Betrüger, offen gesagt, »Wenn ich einen Job mache, taxiere ich dich erst mal. Ich suche nach einem Ansatzpunkt, einer Möglichkeit, kriege raus, was du brauchst, und dann gebe ich dir das. Dann mußt du zurückzahlen, mit Zinsen. Ich ziehe die Daumenschrauben an.« ¾ William Bradfield, der psychopathische Lehrer, den ich weiter oben beschrieben habe, »machte sich nie an attraktive Frauen heran ... er konnte Unsicherheit und Einsamkeit riechen, wie ein Schwein die Trüffeln riecht.« ¾ In dem Spielfilm KAP DER ANGST zieht die von Robert DeNiro gespielte psychopathische Hauptfigur in einer beklemmenden Szene in einem leeren Theatersaal ein 15jähriges Mädchen in seinen Bann und verführt sie gewissermaßen, indem er mit ihrer erwachenden Sexualität spielt. Das kaltherzige Ausnutzen einsamer Menschen ist das Markenzeichen von Psychopathen. Einer unserer Probanden pflegte sich niedergeschlagene, unglückliche Frauen in Single-Bars zu suchen. Nachdem er bei einer dieser Frauen eingezogen war, überzeugte er sie davon, daß sie ein Auto bräuchte und verkaufte ihr sein eigenes für 4.000 Dollar. Prompt verschwand er, bevor das Auto auf sie umgemeldet worden war – natürlich mit dem Auto. Die Angelegenheit war ihr zu peinlich, um Anzeige zu erstatten.121 Manche Psychopathen, besonders die im Gefängnis, nehmen den ersten Kontakt mit ihren Opfern durch Kontaktanzeigen auf. Briefe führen oft zu Besuchen und – unausweichlich – zu Enttäuschung und Schmerz der Opfer. Vor einigen Jahren gab eine meiner ehemaligen Studentinnen, eine Liebhaben von Siam-Katzen, eine Kontaktanzeige auf und erhielt mehrere Zuschriften von Gefängnisinsassen. Eine davon stammte von einem Psychopathen, den sie vormals im Rahmen einer Studie über Psychopathie befragt hatte. Der Stil des Briefes war blumig, er war voller schmalziger Beschreibungen warmer Sonnenuntergänge, langer Spaziergänge im Regen, liebevoller Beziehungen, die Schönheit und das Mysterium von Siam-Katzen, und so weiter. All dies stand im krassen Gegensatz zu seinem gewalttätigen Verhalten gegenüber Personen beiderlei Geschlechts, das in seiner Strafakte dokumentiert war. ¾ Psychopathen zögern nicht, sich die Bedürfnisse anderer Menschen zunutze zu machen, um ein Ziel im Leben zu finden, oder den Unsicheren, Schwachen und Hilflosen aufzulauern. Einer unserer Probanden studierte sorgfältig die Todesanzeigen in den Zeitungen, auf der Suche nach älteren Menschen, die gerade den Ehepartner verloren und keine anderen Angehörigen hatten. In einem Fall gab er sich als »Trauerbegleiter« aus und brachte eine 70jährige Witwe dazu, ihm Generalvollmacht zu erteilen. Sein Plan mißlang nur, weil ein wachsamer Pfarrer Verdacht schöpfte, den Hintergrund des Hochstaplers überprüfte und herausfand, daß er ein verurteilter, auf Bewährung entlassener Schwindler war. »Sie war einsam und ich habe nur versucht, ein bißchen Freude in ihr Leben zu bringen«, sagte unser Proband. ¾ Psychopathen erkennen die Komplexe und Selbstzweifel, die die meisten Menschen haben und nutzen sie für ihre Zwecke aus. In seinem Buch DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER [S. 20-22] schildert Thomas Harris eine aufschlußreiche Szene, in der es Dr. Hannibal Lecter – »ein echter Soziopath« – schnell und geschickt ge106 lingt, den schwachen Punkt der FBI-Agentin Starling aufzuspüren und auszunutzen: ihre Angst, »alltäglich« zu sein. Agentin Starling war ein Neuling im Umgang mit Psychopathen, aber sogar Kenner der Persönlichkeitsstörung haben Knöpfe, die gedrückt werden können. Fast jeder Psychiater, Sozialarbeiter, Krankenpfleger oder Psychologe, der auch nur einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik oder im Gefängnis gearbeitet hat, kennt mindestens einen Kollegen, dessen Leben durch einen psychopathischen Patienten oder Insassen auf den Kopf gestellt worden ist. In einem Fall ist eine Psychologin mit einer soliden beruflichen Reputation – und einem nichtexistenten Sozialleben – mit einem ihrer psychopathischen Patienten durchgebrannt. Zwei Wochen später, nachdem er ihr Bankkonto abgeräumt und ihre Kreditkarten ausgereizt hatte, ließ er sie fallen. Ihre Karriere ruiniert und ihre Träume von einer liebevollen Beziehung zerbrochen, erzählte sie in einem Interview, daß ihr Leben leer gewesen und sie einfach seinen Schmeicheleien und Versprechungen erlegen sei. ¾ Psychopathen haben eine unheimliche Fähigkeit, fürsorgliche (»nurturant«) Frauen zu erkennen und zu benutzen – also Frauen, die ein starkes Bedürfnis haben, anderen zu helfen oder sie zu bemuttern. Viele dieser Frauen findet man in helfenden Berufen – Krankenpflege, Sozialarbeit, Therapie – und sie neigen dazu, das Gute im Menschen zu suchen, während sie ihre Fehler übersehen oder verharmlosen: »Er hat seine Probleme, aber ich kann ihm helfen«, oder »Er hat es als Kind so schwer gehabt, er braucht nur jemanden, der ihn in den Arm nimmt.« Diese Frauen nehmen für gewöhnlich in ihrer Überzeugung, helfen zu können, viel Mißhandlung in Kauf; danach sind sie reif, emotional, körperlich und finanziell ausgeblutet zurückgelassen zu werden. Eine meiner liebsten Anekdoten handelt von einem psychopathischen Delinquenten – einem »Torpedo auf der Suche nach Bemutterung« (»nurturance-seeking missile«) –, der notorisch dafür bekannt war, einen nie versiegenden Strom weiblicher Besucher anzulocken. Seine Historie von Gewalttaten gegen beiderlei Geschlechter war lang, und er war nicht sonderlich attraktiv oder ein interessanter Gesprächspartner. Aber er hatte eine gewisse cherubinische Qualität, die manche Frauen – einschließlich Mitgliedern des Personals – anscheinend attraktiv fanden. Eine Dame bemerkte, sie »hätte ständig das Bedürfnis, ihn zu knuddeln«. Eine andere meinte, er müsse »bemuttert werden«. 9.3 Tödliche Anziehung Ich habe mich schon immer gewundert über die starke Attraktion, die Verbrecher für viele Menschen haben. Ich nehme an, daß wir in vielen Fällen indirekt unsere Phantasien durch die Taten derjenigen ausleben, die willens sind, auf die falsche Seite des Gesetzes zu wechseln. Diese »befreiten« Seelen werden häufig zu Volkshelden oder Vorbildern für Menschen, die zu gehemmt sind, ihre eigenen »bösen« Phantasien auszuleben. Die meisten Menschen sind natürlich durchaus wählerisch, wenn es daran geht, sich Volkshelden zu erwählen. Pädophile, kleine Diebe und wahnsinnige Verbrecher füllen die Rolle nicht so gut aus wie Rebellen auf der Flucht, wie sie zum Beispiel in Filmen wie BONNIE UND CLYDE und THELMA UND LOUISE dargestellt worden sind. Ein äußerst absurdes Beispiel tödlicher Anziehung zeigt sich während des Gerichtsverfahrens eines notorischen Mörders und danach: die zahllosen Verehrer, Brieffreunde, begeisterten Unterstützer und liebestollen Fans, die im Gerichtssaal erscheinen. Für diese »desperado junkies« haben psychopathische Serienmörder, deren grausige Verbrechen einen sexuellen Bezug haben, die größte Anziehungskraft. Ted Bundy, Kenneth Bianchi, John Gacy und Richard Ramirez, um nur einige Beispiele zu nennen, hatten alle ihre enthusiastisch jubelnde Gefolgschaft. In solchen Fällen wird traurige Berühmtheit mit Ruhm verwechselt, und selbst der kaltherzigste Verbrecher mutiert zum Star. Inzwi107 schen gibt es Comics, Brettspiele und Quartettkarten über Serienmörder – letztere waren einst den Helden des Sports vorbehalten. In einem Buch über Richard Ramirez, den satanistischen »Night Stalker«, beschrieb der Autor eine junge Studentin, die keine vorgerichtliche Anhörung verpaßt hat und Ramirez Liebesbriefe und Fotos von sich schickte. »Ich habe soviel Mitleid mit ihm. Wenn ich ihn anschaue, sehe ich einen echt attraktiven Typen, der sein Leben nur deswegen verkorkst hat, weil er niemanden hatte, der ihn führen konnte«, soll sie gesagt haben.122 Daniel Gingras, ein psychopathischer Killer, der in Kanada drei lebenslange Haftstrafen wegen Mordes und sexueller Angriffe absitzt, überzeugte das Gefängnispersonal, daß er für einen Tag Freigang bekommen sollte. Er entwischte der Aufsicht und brachte zwei Menschen um, bevor er wieder eingefangen wurde. Eine Frau aus Kalifornien las über den Fall, begann, mit Gingras zu korrespondieren und erklärte, daß sie ihn heiraten wolle. »Ich habe ein Bild von ihm gesehen und ein solches Mitgefühl für ihn gehabt«, sagte sie. Für die meisten von uns ist es schwer zu verstehen, wie manche Menschen die monströsen Verbrechen der von ihnen so bewunderten Mörder ignorieren können. Klar ist allerdings, daß diese hingebungsvollen Bewunderer oft die Opfer ihrer eigenen psychischen Probleme sind. Einige verhalten sich so, weil sie ein romantisches Bedürfnis nach unerwiderter Liebe haben, andere suchen die traurige Berühmtheit, den Nervenkitzel oder die nachempfundene Gefahr, und wieder andere sehen ein nobles Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt, wie zum Beispiel die Abschaffung der Todesstrafe, eine Seele, die gerettet werden kann, oder den festen Glauben, daß die Verbrechen eine unvermeidliche Folge körperlicher oder emotionaler Mißhandlungen im Kindesalter waren. Es sind nicht nur notorische, wegen Gewaltverbrechen verurteilte Männer, die eine so eifrige Gefolgschaft anziehen, wie die Saga von Lawrencia Bembenek zeigt. Vormals Playboy-Playmate und Polizistin, bekam sie durch die Medien den Spitznamen »Bambi« verpaßt. Sie wurde wegen Mordes an der Ex-Frau ihres Mannes in Milwaukee verurteilt. Während sie im Gefängnis saß, feierten Hunderte ihren Geburtstag mit Parties im Ballsaal des Grand Hotels. Nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis wurden auf einer Kundgebung zur Feier des Ereignisses dreihundert Menschen mobilisiert, die Schilder mit der Aufschrift »RUN, BAMBI, RUN« schwenkten. Sie entkam nach Kanada, wo sie bald wieder verhaftet wurde. Ein Auslieferungsersuchen der USA führte zu einer endlosen Reihe von Anhörungen, Verzögerungen und serviler Unterstützung durch einen lautstarken Teil der Öffentlichkeit, der ihre Behauptung, ein unschuldiges Opfer einer verleumderischen Kampagne eines männlich dominierten Systems zu sein, geglaubt und unterstützt hat. Die kanadischen Behörden prüften ihre Eingabe, sie sei ein politischer Asylant auf der Flucht vor US-Unrecht, lehnten sie ab und lieferten sie an die USA aus. Obwohl sie einen gewissen Kultstatus erreicht hat und das Thema zahlreicher Zeitschriftenartikel, Fernsehberichte und mehrerer mitfühlender Bücher ist (von denen sie eines selbst verfaßt hat),123 bestanden die Behörden in Milwaukee darauf, daß sie in Wirklichkeit eine eiskalte Mörderin und eine abgefeimte »femme fatale« sei. Schuldig oder nicht, in den Medien wurde über ihren Fall berichtet als ein bemerkenswertes Beispiel dafür, »das Beste aus seinen Talenten zu machen« – und für die hirnlose Verehrung der schönen und glamourösen Prominenz durch die Gesellschaft. Kürzlich wurde die Vollstreckung ihres Urteils ausgesetzt und ein neues Verfahren angeordnet. Sie bekannte sich einer weniger schwerwiegenden Anklage für schuldig, ihre bereits abgesessene Strafe wurde auf das neue Urteil angerechnet und sie wurde entlassen. Sie wurde zu einem gefragten Gast in Talkshows. Frau Bambeneks Aufstieg zur Berühmtheit war quälend mühselig, vergleicht man ihn mit Amy Fishers Sprung ins Rampenlicht. Auf den Spitznamen »Long Island Lolita« getauft, wurde sie verurteilt, weil sie der Ehefrau ihres angeblichen Freundes in den 108 Kopf geschossen hatte. Sie wurde über Nacht zum Medienereignis und war das Thema dreier Fernsehfilme, von denen zwei am selben Abend ausgestrahlt wurden. Ein verstimmter »professioneller« Krimineller, der an einem unserer Forschungsprojekte teilgenommen hat, kommentierte: »Sie ist ein Niemand. Dann versucht sie, die Frau ihres Freundes wegzupusten und verpfuscht den Job. Jetzt ist sie ein großer Star.« In den meisten Fällen ist die Lobhudelei, die verurteilten Verbrechern entgegengebracht wird, harmlos genug; dem Kriminellen hilft sie selten, und die Eiferer werden nicht ernsthaft gefährdet – zumindest nicht, solange das Objekt ihrer Leidenschaft im Gefängnis sitzt. Anstatt Opfer der Manipulationskünste eines Psychopathen zu werden, sind sie willige Teilnehmer eines makaberen Tanzes. 9.4 Verzerrung der Realität Über diese nachempfundene – und im Allgemeinen ungefährliche – Erfahrung der dunklen Seite des menschlichen Wesens hinaus ist es eine traurige Tatsache, daß der Drang des Psychopathen, seine Bedürfnisse zu befriedigen, oft nur allzu leicht erfüllt wird, da manche Menschen durchaus bereit sind, die Rolle des Opfers zu spielen. In manchen Fällen weigert sich die betroffene Person schlichtweg zu glauben, daß sie ausgenutzt wird. So lehnte es zum Beispiel der Ehemann einer unserer Psychopathinnen kategorisch ab, Berichte von Freunden zu glauben, daß seine Frau ihn betrog. Sogar als sie mit einem anderen Mann durchgebrannt war, blieb er von ihrer Tugendhaftigkeit überzeugt. Psychische Negation ist ein wichtiger Mechanismus, um schmerzhafte Erkenntnisse aus dem Bewußtsein zu filtern, sie kann uns aber auch blind machen für Tatsachen, die für andere offensichtlich sind. Manche Menschen sind immun gegen die Wahrheit, weil es ihnen gelingt, die Realität so zu verzerren, daß sie mit ihrer Wunschvorstellung übereinstimmt. Die ehemalige Freundin eines unserer Pychopathen sah sein kriminelles Verhalten als Ausdruck von Männlichkeit und Potenz an. Sie sah ihn an und erblickte ihr Traumbild eines fast perfekten Mannes, »äußerst sensibel ... ein Macher, der Dinge bewegt ... ein Mann, der vor nichts Angst hat«, wie sie es ausdrückte. Und selbstverständlich paßten ihre Projektionen perfekt zu seinem Selbstbild. Frauen, die in ihren Beziehungen zu Männern rigide an traditionell weiblichen Rollen festhalten, werden es sehr schwer haben, wenn Psychopathen unter den Männern sind. Und umgekehrt kann ein Psychopath, der mit einer Frau verheiratet ist, die sich verpflichtet fühlt, »eine gute Ehefrau« zu sein, ein sehr komfortables Leben führen. Das Heim liefert ihm eine verläßliche Quelle der Unterstützung, eine sichere Basis, von der aus er seine Intrigen inszenieren und eine endlose Folge von Affären mit anderen Frauen beginnen kann. Die leidende Ehefrau weiß für gewöhnlich, was sich abspielt, meint aber, die häusliche Harmonie bewahren zu müssen – besonders, wenn Kinder da sind. Vielleicht glaubt sie auch, daß ihr Mann sich ändern wird, wenn sie sich nur etwas mehr Mühe gibt oder einfach abwartet. Zugleich verstärkt die Rolle, in der sie sich sieht, ihre Gefühle von Schuld und Verantwortlichkeit wegen der unglücklichen Beziehung. Wenn er sie ignoriert, mißhandelt oder betrügt, mag sie sich sagen, »Ich werde mir mehr Mühe geben, mehr Energie in die Beziehung stecken, besser für ihn sorgen als eine andere Frau das jemals könnte. Und dann wird er sehen, wie wertvoll ich für ihn bin. Er wird mich wie eine Königin behandeln.« In einem im Oktober 1991 in der Zeitschrift New Woman unter der Überschrift DAS NEUE OPFER DES HEIRATSSCHWINDLERS erschienenen Artikel untersuchte Kiki Olson einen unerwarteten Randeffekt des stetig zunehmenden Anteils beruflich selbstständiger Frauen. »Die alleinstehende Karrierefrau, die zwischen 2.000 und 20.000 Dollar besitzt – oder sich leihen kann – und nach Liebe und 109 Geld strebt, ist ein natürliches Opfer für einen Heiratsschwindler.« Olson berichtet, daß laut Joseph D. Casey, dem Leiter des Wirtschaftsdezernats der Staatsanwaltschaft in Philadelphia, »der männliche Heiratsschwindler auf der Pirsch nach alleinstehenden, berufstätigen Frauen, die mehr verdienen, als sie verbrauchen, seine Opfer an Orten suchen wird, die sie gerne frequentieren – Single-Bars, Fitneß-Studios, Vereine. Orte, wo alleinstehende Frauen sich treffen, stets auf der Suche nach etwas mehr als einem Cocktail, sportlicher Betätigung oder einem Tänzchen ... ›Der Heiratsschwindler wird sie erkennen. Er wird eine gewisse Anfälligkeit erkennen. Das ist sein Job.‹« Während er die Frauen, denen er wegen Geld, Kleidung, Kost und Logis, Autos und Bankkrediten auflauert, aus einer Menschenmenge herauspicken kann, ist er selbst für seine Opfer von einem honorigen Verehrer nicht zu unterscheiden. Allerdings, sagt Casey, »kann man davon ausgehen, daß er attraktiv, charmant, aalglatt, selbstbewußt, manipulativ und zweifellos durchaus liebenswert ist.« In einem Fall, der mir von dem Kriminalpsychologen J. Reid Meloy beschrieben worden ist,124 hat ein gebildeter und gepflegter Psychopath seine Frau attackiert und sie schwer verletzt. Danach hat sie in einem Tagebuch, das sie dann Meloy überließ, notiert: Er braucht besondere Zuwendung. Ich war ihm nicht die Frau, die ich hätte sein sollen. Aber ich werde mich bessern, ja, ich werde mich bessern, und ich werde seinen Zorn in etwas Gutes und Starkes verwandeln. Die leidenschaftliche Hingabe dieser Frau für ihren Mann und ihr Vorsatz, eine loyale und »gute« Ehefrau zu sein, hatten ihre Wahrnehmung der Realität verzerrt und sie ihres gesamten Selbstbewußtseins beraubt. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß sie in der Realität zu einem Leben voller Enttäuschungen und Mißhandlungen verdammt ist. Bedauerlicherweise gilt das weitgehend für alle Frauen – oder Männer –, die ein schwaches Selbstbewußtsein, ein stark ausgeprägtes Abhängigkeitsgefühl und eine schwach entwickelte eigene Identität haben, falls sie sich auf eine enge Beziehung zu einem Psychopathen einlassen. Psychopathen fällt es leicht, Menschen zu benutzen, die sich körperlich oder psychisch minderwertig fühlen, oder die zwanghaft und trotz der Schmerzen an einer Beziehung festhalten müssen.125 9.5 Welche Möglichkeiten haben wir? Inzwischen werden viele Leser das beunruhigende Gefühl haben, daß sie nur wenig tun können, um sich vor einem Psychopathen zu schützen, der ihnen eventuell über den Weg läuft. Auch wenn die meisten Vorteile beim Psychopathen liegen, können wir doch einiges tun, um den uns zugefügten Schmerz und Schaden zu minimieren. (Im letzten Kapitel werde ich verschiedene Überlebenstechniken erörtern.) 110 10 Die Wurzeln des Problems »Ich weiß jetzt, was passiert ist, also ist Lügen zwecklos«, sagte Mrs. Penmark zu ihrer Tochter Rhoda. »Du hast ihn mit dem Schuh geschlagen, dadurch hat er diese sichelförmigen Abdrücke auf seiner Stirn und seinen Händen.« Rhoda trat langsam zurück, mit einem leidenden und verwirrten Ausdruck in ihren Augen; dann warf sie sich auf das Sofa, begrub ihr Gesicht in einem Kissen und weinte herzzerreißend, während sie zwischen den Fingern hindurch zu ihrer Mutter emporschielte. Aber die Vorstellung war überhaupt nicht überzeugend; Christine erwiderte ihren Blick mit einem neuen, sachlichen Interesse und dachte sich, »Noch ist sie Amateurin, aber sie wird jeden Tag besser. Sie feilt an ihrer Show. In ein paar Jahren werden ihre Vorstellungen überhaupt nicht mehr übertrieben wirken. Sie werden dann völlig glaubwürdig sein, da bin ich sicher.« William March, THE BAD SEED Die vorstehende Szene stammt aus einem Bestseller-Roman, der die undenkbare und »monströse« Idee zum Thema hat, daß Kinder einfach »böse« geboren werden könnten. Der Roman erzählt die wahre Geschichte der kleinen Rhoda Penmark, deren wahrer Charakter in dem Buch enthüllt wird, als sie einen Klassenkameraden ermordet: Das Kind war schon immer etwas seltsam, aber ihre Eltern hatten ihre Eigenheiten ignoriert, in der Hoffnung, daß sie im Laufe der Zeit mehr wie andere Kinder werden würde, was allerdings nicht passiert war; damals, als sie sechs war und sie in Baltimore lebten, schickten sie sie auf eine moderne Schule, die weithin empfohlen worden war, aber nach einem Jahr verlangte der Schuldirektor, das Kind möge von der Schule entfernt werden. Mrs. Penmark verlangte eine Erklärung und der Direktor, der seinen Blick starr auf das dekorative Seepferdchen aus Gold und Silber gerichtet hatte, das seine Besucherin am Revers ihres blaßgrauen Mantels trug, sagte brüsk, als wären Takt und Geduld längst erschöpft worden, Rhoda sei ein kaltes, selbstsüchtiges, schwieriges Kind, das nach seinen eigenen Regeln lebte und nicht nach den Regeln der anderen. Sie sei eine geschickte und sehr überzeugende Lügnerin, wie man bald entdeckt hätte. In mancherlei Hinsicht sei sie weit überdurchschnittlich reif; in anderen Bereichen sei sie stark unterentwickelt ... Aber alle diese Umstände hätten nur einen geringen Einfluß auf die Entscheidung der Schule gehabt: Der wahre Grund für ihren Verweis von der Schule war der Umstand, daß sie sich als eine ziemlich gewöhnliche, aber sehr geschickte kleine Diebin erwiesen hatte ... ohne das Schuldbewußtsein und die Ängste normaler Kinder; und natürlich war sie auch unfähig, Zuneigung zu empfinden, da sie nur mit sich selbst beschäftigt war. [S. 40-41] Die Geschichte, die in THE BAD SEED erzählt wird, ist in Wirklichkeit die Geschichte von Rhodas Mutter, Christine Penmark, und es ist eine Geschichte von Schuldbewußtsein. Christine Penmark fragt sich, nachdem sie sich dazu gezwungen hat, ihre Tochter als die heranwachsende Psychopathin zu sehen, die sie war, wie um alles in der Welt das relativ ruhige, ordentliche, liebevolle und förderliche Familienleben, für das sie und ihr aufmerksamer Gatte gesorgt hatten, eine kindliche Mörderin hatte hervorbringen können. So unheimlich dieser Roman auch sein mag, ist er doch erstaunlich realistisch. Die Eltern von Psychopathen können wenig mehr tun als hilflos zuzuschauen, wie ihre Kinder einem krummen Pfad egozentrischer Befriedigung folgen, begleitet von Allmachtsge111 fühlen und Anspruchsdenken. Panisch suchen sie Hilfe bei schnell wechselnden Beratern und Therapeuten, aber nichts scheint zu funktionieren. Bestürzung und Schmerz verdrängen allmählich die erwarteten Elternfreuden, und wieder und wieder fragen sie sich: »Was haben wir falsch gemacht?«. 10.1 Junge Psychopathen Für viele Menschen ist schon die Idee von Psychopathie bei Kindern unvorstellbar. Allerdings haben wir gesehen, daß die Bausteine dieser Persönlichkeitsstörung bereits sehr früh erstmals zu Tage treten. Eine Mutter hat mir diesen verzweifelten Brief geschrieben, nachdem sie in der Zeitung über meine Arbeit gelesen hatte: Mein Sohn war schon immer eigensinnig und unnahbar. Mit fünf Jahren hatte er den Unterschied zwischen richtig und falsch begriffen: Wenn er mit etwas durchkommt, ist es richtig; wird er erwischt, ist es falsch. Von dem Zeitpunkt an hat er sein Verhalten danach ausgerichtet. Bestrafungen, Familienkrach, Drohungen, Bitten, Therapien, selbst ein Versuch mit einem »Therapie-Sommerlager« haben nicht das Geringste bewirkt. Jetzt ist er fünfzehn und ist schon siebenmal verhaftet worden. Eine andere Mutter hat mir geschrieben, daß ihre Familie von dem Jungen, den sie einige Jahre zuvor adoptiert hatte, erpreßt wird. Indem er lernte, sich in der Welt zurechtzufinden und sich seiner Macht der Manipulation und Einschüchterung bewußt wurde, entwickelte sich dieses Kind zum Hauptakteur eines chaotischen und herzzerreißenden Familiendramas. Als sie den Brief schrieb, hatte die Mutter gerade ein Kind geboren, und nun waren sie und ihr Mann besorgt um das Wohlergehen des Neugeborenen in der Gegenwart ihres unbegreiflichen Adoptivsohnes.126 Viele Menschen scheuen sich, den Begriff Psychopath auf Kinder anzuwenden. Sie führen moralische und praktische Bedenken an, die berücksichtigt werden müßten, bevor man einen jungen Menschen solchermaßen diskriminiere. Aber klinische Erfahrung und empirische Forschung weisen klar darauf hin, daß das Rohmaterial der Persönlichkeitsstörung sehr wohl schon bei Kindern zu finden ist. Psychopathie bricht nicht plötzlich und ohne Vorwarnung im Erwachsenenalter aus. Die Vorläufer des in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Profils treten erstmalig schon früh im Leben in Erscheinung.127 Klinische und anekdotische Belege zeigen, daß die meisten Eltern von Kindern, die später als Psychopathen diagnostiziert worden sind, sich schmerzlich bewußt waren, daß es schwere Probleme bereits gab, bevor das Kind eingeschult wurde. Auch wenn alle Kinder ihre Entwicklung frei von sozialen Einschränkungen beginnen, bleiben manche Kinder hartnäckig resistent gegen Sozialisierungsdruck. Sie unterscheiden sich von anderen Kindern auf unerklärliche Weise, sind schwieriger, eigensinniger, aggressiver und verlogener; schwieriger verständlich oder zugänglich; weniger beeinflußbar und steuerbar und loten stets die Grenzen der gesellschaftlichen Toleranz aus. Schon in der Grundschule zeigen bestimmte Merkmale ihre Abweichung von einer normalen Entwicklung: ¾ ständiges, leichtfertiges und offenbar bedenkenloses Lügen; ¾ offenkundiges Desinteresse an oder mangelndes Verständnis für die Emotionen, Erwartungen oder Schmerzen anderer Menschen; ¾ Renitenz gegen Eltern, Lehrer und Regeln; ¾ ständig in Schwierigkeiten und unempfänglich für Tadel und Strafandrohungen; 112 ¾ Diebstahl zum Schaden anderer Kinder und der Eltern; ¾ ständiges aggressives und tyrannisches Verhalten und Prügeleien; ¾ ständiges Schuleschwänzen, zu spät nach Hause kommen und Ausreißen; ¾ häufiges Quälen und Töten von Tieren; ¾ frühe sexuelle Experimente; ¾ Vandalismus und Brandstiftung. Die Eltern solcher Kinder fragen sich ständig, »Was kommt als nächstes?« Eine Mutter mit einem Universitätsabschluß in Soziologie hat mir erzählt, daß ihre Tochter – die ich Susan nennen werde – im Alter von fünf Jahren »versucht hat, ihr kleines Kätzchen in der Toilette hinunterzuspülen. Ich kam dazu, als sie es erneut versuchen wollte; es schien ihr nicht viel auszumachen, erwischt zu werden, vielleicht war sie ein bißchen wütend. Später habe ich meinem Mann von der Geschichte erzählt, und als er Susan danach fragte, stritt sie kühl ab, daß es überhaupt passiert sei ... Es ist uns nie wirklich gelungen, ihr nahezukommen, sogar als sie noch ein Säugling war, und sie hat immer versucht, ihren Willen durchzusetzen, entweder durch niedliches Getue oder durch einen Wutanfall. Sie log, selbst wenn sie wußte, daß wir die Wahrheit kannten ... Wir haben noch ein Kind bekommen, einen Sohn, als Susan sieben war, und ständig ärgerte sie ihn auf grausame Weise. Zum Beispiel nahm sie ihm seine Flasche weg und hielt den Sauger an seine Lippen, nur um ihn dann wegzuziehen, wenn er eifrig versuchte, daran zu saugen ... Inzwischen ist sie dreizehn, und auch wenn sie manchmal ihre zuckersüße Show von Reue abspult, fühlen wir uns doch durchweg von ihr schikaniert. Sie ist faul, schwänzt die Schule, ist sexuell aktiv und versucht ständig, Geld aus meinem Portmonee zu klauen.« 10.2 Verhaltensstörungen bei Heranwachsenden und Psychopathie Die »Diagnosebibel« der »American Psychiatric Association« DSM-IV bietet keine Kategorie an, die das volle Bild des psychopathischen Charakters bei Kindern und Heranwachsenden reflektiert. Stattdessen beschreibt sie eine Klasse von »expansiven Verhaltensstörungen« (»Disruptive Behavior Disorders«)’ die sich durch störendes Sozialverhalten äußert und meist für Menschen im Umfeld mehr Probleme mit sich bringt als für die Betroffenen selbst. Drei überlappende Unterkategorien werden aufgeführt: ¾ Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS, »Attention-Deficit Hyperactivity Disorder«), charakterisiert durch dem Entwicklungsstadium nicht angemessene Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität; ¾ Störung des Sozialverhaltens (»Conduct Disorder«), ein anhaltendes Verhaltensmuster, bei dem die grundlegenden Rechte anderer und altersgerechte soziale Normen oder Regeln verletzt werden; ¾ Oppositionelle Verhaltensstörung (»Oppositional Defiant Disorder«), ein Muster negativen, feindseligen und trotzigen Verhaltens ohne die schwere Mißachtung der Rechte anderer, die bei der Störung des Sozialverhaltens zu beobachten ist. Keine dieser diagnostischen Kategorien trifft auf junge Psychopathen gänzlich zu. Die Störung des Sozialverhaltens paßt am besten, aber sie deckt die emotionalen, kognitiven und zwischenmenschlichen Charakterzüge nicht ab – Egozentrik, fehlendes Mitgefühl, fehlendes Schuldbewußtsein und fehlende Reue, etc. –, die für die Diagnose von Psychopathie so wichtig sind. Die meisten erwachsenen Psychopathen haben wahrschein113 lich im Kindesalter die diagnostischen Kriterien der Störung des Sozialverhaltens erfüllt, aber umgekehrt stimmt das nicht – das heißt, daß die meisten Kinder mit einer Störung des Sozialverhaltens nicht zu Psychopathen heranwachsen werden. Aber es gibt eine Unterkategorie der Störung des Sozialverhaltens – mit »schwachen sozialen Bindungen, schwach ausgeprägten Ängsten, ausgeprägter Aggressivität und anderen ›psychopathischen‹ Eigenschaften« –, die fast vollständig der von der PsychopathieCheckliste definierten Persönlichkeitsstörung bei Erwachsenen entspricht.128 Eine von zwei Erziehungseinrichtungen in Alabama und Kalifornien durchgeführte neuere Studie liefert konkretere Ergebnisse über Psychopathie bei Kindern.129 Die zumeist männlichen Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren waren wegen unterschiedlicher emotionaler Störungen, Lern- und Verhaltensstörungen eingewiesen worden. Das Forscherteam unter der Leitung von Paul Frick an der Universität Alabama untersuchte auf der Basis der Psychopathie-Checkliste jedes Kind auf die in den Kapiteln 3 und 4 dieses Buches beschriebenen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Man fand eine Untergruppe von Kindern mit einem Muster emotionaler/sozialer Eigenschaften und sozial abweichenden Verhaltensweisen, das erwachsene Psychopathen charakterisiert. Für diese Forscher – und für zahllose verwirrte und verzweifelte Eltern – ist Psychopathie bei Kindern zur grimmigen Realität geworden. 10.3 Eine schwierige Herausforderung: Wie soll man reagieren? Die meisten der Kinder, die zu erwachsenen Psychopathen heranwachsen, fallen ihren Lehrern und Betreuern bereits in einem sehr frühen Alter auf. Es ist entscheidend, daß diese Berufsgruppen das Wesen des Problems verstehen, mit dem sie konfrontiert sind. Falls Intervention eine Chance auf Erfolg haben soll, muß sie in der frühen Kindheit stattfinden. Bereits in der Pubertät sind die Erfolgssaussichten, das Verhalten eines werdenden Psychopathen ändern zu können, gering. Leider setzen sich viele Lehrer und Betreuer aus verschiedenen Gründen nicht direkt mit dem Problem auseinander. Viele verfolgen einen rein behavioristischen Ansatz und ziehen es vor, an Verhaltensweisen – Aggression, Diebstahl, etc. – zu arbeiten, als sich mit einer Persönlichkeitsstörung und der damit einhergehenden komplexen Kombination von Eigenschaften und Symptomen auseinanderzusetzen. Andere haben Bedenken wegen der potentiellen langfristigen Konsequenzen für den kindlichen oder heranwachsenden Betroffenen, der mit einer Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird, die nach landläufiger Meinung nicht therapierbar ist. Wieder andere haben Schwierigkeiten, sich vorzustellen, daß die bei ihren jungen Klienten beobachteten Verhaltensweisen und Symptome nicht nur übertriebene Ausprägungen normalen Verhaltens sind, das Ergebnis unzulänglicher elterlicher Erziehung oder mangelhafter Sozialisation und somit therapierbar. Alle Kinder sind in gewissem Maße egozentrisch, hinterlistig und manipulativ – lediglich eine Frage der Reife, wird argumentiert, sehr zum Kummer der drangsalierten Eltern, die sich täglich mit einem Problem herumschlagen müssen, das einfach nicht verschwindet und sogar schlimmer wird. Natürlich ist es keine Bagatelle, Kindern – oder auch Erwachsenen – psychologische Etiketten aufzukleben. Das Problem mit den vielleicht schwerwiegendsten Konsequenzen für Kinder ist die »self-fulfilling prophecy« (selbsterfüllende Prophezeiung), wobei das als Störenfried abgestempelte Kind sich tatsächlich so entwickelt, wie es offenkundig von ihm erwartet wird und die Bezugspersonen – Lehrer, Eltern, Freunde – diese Entwicklung begünstigen, indem sie unterschwellig ihre negativen Erwartungen vermitteln. 114 Auch wenn die Verfahren anerkannten wissenschaftlichen Standards entsprechen, ist keine Diagnose sicher vor Fehlern oder Fehlanwendung durch sorglose oder inkompetente Praktiker. So habe ich zum Beispiel von einem Fall gelesen, in dem ein junges Mädchen durch einen Psychiater als schizophren diagnostiziert worden ist. Später stellte sich heraus, daß sie in Wirklichkeit von ihren Eltern nicht ausreichend ernährt worden war; sobald sie ordentlich versorgt wurde, besserte sich ihr Zustand dramatisch. In Hunderten von anderen bekannten – und vermutlich zahllosen unbekannten – Fällen hatten fehlerhafte psychiatrische Diagnosen gravierende Auswirkungen auf das Leben der Patienten. Und es ist leicht vorstellbar, daß diese Auswirkungen noch stärker sind, wenn aufgrund einer Fehldiagnose andere, therapierbare Probleme übersehen werden. Andererseits können die Eltern, falls nicht erkannt wird, daß ihr Kind viele oder die meisten der Charaktereigenschaften hat, die Psychopathie definieren, zu endlosen Konsultationen mit Schuldirektoren, Psychiatern, Psychologen und Therapeuten verdammt sein, in dem fruchtlosen Versuch, herauszufinden, was bei ihrem Kind nicht stimmt – und bei sich selbst. Das kann auch zu einer Reihe von Fehlbehandlungen und ungeeigneten Interventionen führen – unter großem finanziellen und emotionalen Einsatz. Sollten Sie sich unwohl dabei fühlen, eine formale Diagnose auf junge Menschen anzuwenden, dann unterlassen Sie es. Aber verlieren Sie nicht das Problem aus den Augen: Ein spezifisches Syndrom von Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen, das auf lange Sicht Ärger bedeutet – egal, wie man es bezeichnen will. 10.4 Jason Kürzlich haben wir eine Gruppe junger, männlicher Delinquenten im Alter zwischen dreizehn und achtzehn Jahren einer Variante der Psychopathie-Checkliste unterzogen. Die durchschnittliche Punktzahl auf der Checkliste war höher als bei erwachsenen, männlichen, kriminellen Populationen und mehr als 25 Prozent erfüllten unsere Kriterien für Psychopathie. Besonders beunruhigend war unsere Erkenntnis, daß der Delinquent mit einer der höchsten Punktzahlen auf der Checkliste gerade dreizehn Jahre alt war. Jason hatte schon vor seinem sechsten Lebensjahr schwerwiegende Delikte begangen – unter anderem Einbruch, Diebstahl und Angriffe auf jüngere Kinder. Im Unterschied zu älteren Psychopathen sprach er offener und ehrlicher, weniger defensiv und verschlagen über seine Überzeugungen und Einstellungen. Es war beängstigend, diesem Jungen zuzuhören. Auf die Frage, warum er Straftaten begehen würde, antwortete dieses Produkt einer stabilen, beruflich erfolgreichen Familie: Es macht mir Spaß. Meine verdammten Eltern rasten aus, wenn ich Scheiße baue, aber das geht mir am Arsch vorbei, solange ich Spaß habe. Ja ja, ich war schon immer ein bißchen wild. Über andere Menschen, einschließlich seiner Opfer, hatte er folgendes zu sagen: Wollen Sie die Wahrheit hören? Sie würden mich aufs Kreuz legen, wenn sie könnten, aber ich bin schneller. Er pflegte gerne Obdachlose auszurauben, besonders »Schwule«, »Plastiktüten-Omas« und Straßenkinder, denn »die kennen das. Die heulen nicht bei der Polizei rum ... Ein Typ, mit dem ich Streit hatte, hat ein Messer gezogen und ich habs mir geschnappt und ihm ins Auge gerammt. Er rannte herum und heulte wie ein Baby. Was für ein Wichser!« Als er eingeschult wurde, war er es gewohnt, seine Eltern und Läden in der Nachbarschaft zu beklauen und Süßigkeiten und Spielzeuge von anderen Kindern »abzuziehen«. Oft konnte er sich herausreden. 115 Ich hab ihnen einfach direkt in die Augen gesehen und ihnen Unsinn erzählt. Das ist klasse. Ich mach’ das immer noch. Meine Mutter hat mir das lange Zeit abgenommen. Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die Gesellschaft sehr viel Ärger mit Jason haben wird. Dies ist kein Jugendlicher, dessen Motive und Verhalten leicht zu verstehen wären – er war nicht emotional gestört, neurologisch krank oder das Produkt unzulänglicher sozialer oder materieller Lebensumstände. Leider kennt jeder, der in einer Erziehungseinrichtung, einer Beratungsstelle für Jugendliche, einer Sozialeinrichtung, einem Jugendgefängnis oder im Strafvollzug arbeitet, jemanden wie ihn. Die Fragen sind seit Jahrhunderten immer dieselben geblieben: ¾ Wie können wir solche Kinder verstehen? ¾ Wie soll die Gesellschaft reagieren und sich schützen, aber gleichzeitig die Rechte dieser Kinder schützen? Indem die Anzeichen des gesellschaftlichen Verfalls immer bedrohlicher werden, können wir uns nicht mehr den Luxus leisten, das Auftreten von Psychopathie bei manchen Kindern zu ignorieren. Vor einem halben Jahrhundert haben uns Hervey Cleckley und Robert Lindner gewarnt, daß das Verkennen der Psychopathen unter uns bereits eine gesellschaftliche Krise ausgelöst hätte. Heutzutage begegnen unsere gesellschaftlichen Institutionen – Schulen, Gerichte, psychiatrische Kliniken – der Krise jeden Tag auf tausendfache Weise, und immer noch verschließen wir die Augen vor der Realität der Psychopathie. Unsere einzige Hoffnung besteht darin, unser Wissen über die Persönlichkeitsstörung so früh wie möglich zum Einsatz zu bringen. Anderenfalls werden wir weiterhin eine lebensbedrohliche Krankheit mit Heftpflastern behandeln, und die Gesellschaftskrise wird sich verschärfen. (Ich werde in einem späteren Kapitel noch mehr darüber zu sagen haben.) 10.5 Verbrechen und Gewalt Im letzten Jahrzehnt hat eine unausweichliche und erschreckende Entwicklung stattgefunden: Eine dramatische Zunahme der Jugendkriminalität, die droht, unsere gesellschaftlichen Institutionen lahmzulegen. Besonders deprimierend ist der atemberaubende Anstieg von Drogenmißbrauch und Gewaltdelikten – Mord, Vergewaltigung, Raub, schwere Körperverletzung – und das immer jüngere Alter, in dem diese Delikte begangen werden. Wir sind immer wieder angewidert und bekümmert – aber nicht mehr erstaunt – durch Berichte über Kinder unter zehn, die einer Art sinnloser Gewalttaten fähig sind, die einst hartgesottenen erwachsenen Verbrechern vorbehalten war. Der Psychologe Rolf Loeber130 weist uns auf den hinlänglich bekannten Umstand hin, daß die Kliniker in der Rehabilitation Heranwachsender kaum Erfolge aufzuweisen haben, wenn sich deren asoziales Verhalten erst einmal verfestigt hat, und daß die meisten Therapieprogramme nur kurzfristige Erfolge erzielen. Dann wendet sich Loeber einem Thema zu, das oft von der schieren Masse aktueller Statistiken über die Kriminalität in unserer Gesellschaft überlagert wird: Das in den Sechziger- und Siebzigerjahren entstandene Ausmaß mangelhafter Sozialisation bei Heranwachsenden sollte Besorgnis erregen über die Befähigung eines Teils dieser Generation, die folgende Generation heranzuziehen. Mangelnde Qualifikation für die Kindererziehung ist einer der bestimmenden Faktoren dafür, wie asozial eine Folgegeneration sein wird. [S. 3] Mit anderen Worten: Schnallen Sie sich gut an – das war bis jetzt noch gar nichts. 116 Loeber stellt fest, daß es mehrere etablierte Pfade in die Kriminalität gibt und daß es unlogisch und dumm wäre, nicht alles in unserer Macht stehende zu tun, um diese Pfade so früh wie möglich zu blockieren. Dasselbe Argument gilt, in noch höherem Maße, für Psychopathie. Ken Magid und Carole McKelvey verwenden das Konzept der Psychopathie, um die rasch ansteigende Jugendkriminalität – zumindest teilweise – zu erklären.131 Zur Illustration präsentieren sie eine verstörende Zusammenstellung von Schlagzeilen aus Zeitungen im ganzen Land: ¾ Ein Teenager in Colorado wartet geduldig, während zwei junge Freunde seine Mutter zu Tode hacken und hämmern. ¾ Die Polizei in Florida versucht zu ermitteln, ob sich ein Fünfjähriger über die Konsequenzen im Klaren war, als er einen Dreijährigen aus dem fünften Stock das Treppenhaus hinunterstieß. ¾ Die Polizei in Kansas City ist entsetzt über einen eifersüchtigen Zwölfjährigen, der seine jüngere Schwester und seine Mutter umgebracht hat, als sie eine Geburtstagsparty planten. ¾ Eine Elfjährige aus wohlhabender Nachbarschaft in St. Louis jagt einen Zehnjährigen vom Grundstück; als er nicht gehen will, erschießt sie ihn mit der Waffe ihrer Eltern. Ihr Spielgefährte stirbt nach einer Operation. ¾ Ein vierjähriges Mädchen tötet Zwillingsbrüder, indem sie sie auf den Boden wirft, nachdem eines der drei Wochen alten Babys sie beim Spielen versehentlich gekratzt hatte. Ich könnte diese Liste mit Dutzenden anderer Fälle fortsetzen. Während ich dies schreibe, sucht zum Beispiel eine kleine Stadt in einem westlichen Bundesstaat nach Wegen, mit einem Neunjährigen umzugehen, der angeblich andere Kinder mit vorgehaltenem Messer vergewaltigt und belästigt. Er ist zu jung, um angeklagt zu werden und kann nicht in Gewahrsam genommen werden, weil »eine solche Maßnahme nur getroffen werden kann, wenn das Kind in Gefahr ist, nicht seine Opfer«, sagt ein Jugendschutzbeamter.132 Diese erschreckenden Vorfälle waren keineswegs gewöhnliche Unfälle oder Auswüchse normalen kindlichen Verhaltens, die im Laufe der Zeit von selbst zurückgehen würden. Vorfälle dieser Art werden verständlich, wenn wir die Tatsache akzeptieren, daß psychopathische Charaktereigenschaften sich schon früh im Leben zeigen. So beunruhigend das sein mag, ermöglicht es uns doch, die Persönlichkeitsstörung über die ganze Lebensspanne hinweg zu erforschen – eine unerläßliche Pflicht, um wirkungsvolle Interventionsstrategien zu entwickeln und herauszufinden, was den einen Jugendlichen zum Heiratsschwindler oder Betrüger macht, den anderen zu einem gewalttätigen Verbrecher und einen Dritten zu einem unehrenhaften Geschäftsmann, Politiker oder Freiberufler werden läßt, während ein weiterer – vielleicht mit einer weniger potenten Mixtur der in Kapitel 3 und 4 beschriebenen Eigenschaften ausgestattet – zu einem hinlänglich produktiven Mitglied unserer Gesellschaft wird. 117 10.6 Ursachen Wenn wir über Psychopathie bei Kindern nachdenken, kommen wir sehr schnell zu einer einzigen grundlegenden Frage: Warum? Wir haben bereits festgestellt, daß viele Jugendliche wegen ungünstiger sozialer Umstände – elterlichem Mißbrauch, Armut, Arbeitslosigkeit, schlechtem Umgang – vom rechten Pfad abkommen, aber der Psychopath scheint von Anfang an auf dem falschen Weg zu sein. Abermals: Warum? Leider sind die Einflüsse, die zur Entwicklung eines Psychopathen führen, in der Forschung immer noch unklar. Allerdings sind mehrere theoretische Ansätze über die Ursachen der Psychopathie bedenkenswert. Am einen Ende des Spektrums stehen Theorien, die Psychopathie weitgehend als Produkt genetischer oder biologischer Faktoren ansehen (Anlage), während Theorien am anderen Ende des Spektrums postulieren, daß Psychopathie gänzlich aus einem ungünstigen sozialen Umfeld entsteht (Umwelt). Wie bei den meisten Kontroversen liegt die »Wahrheit« zweifellos irgendwo dazwischen. Das heißt, daß psychopathische Einstellungen und Verhaltensweisen sehr wahrscheinlich das Ergebnis einer Kombination von biologischen Faktoren und Umwelteinflüssen sind. 10.7 Anlage Belege für die genetischen und biologischen Fundamente des Temperaments, das Potential einiger Formen von Hirnschäden, psychopathieähnliche Symptome hervorzurufen und das frühe Auftreten psychopathischer Verhaltensweisen bei Kindern schaffen das Rahmenwerk für mehrere biologische Theorien über die Ursprünge der Psychopathie. ¾ Die relativ neue Disziplin der Soziobiologie behauptet, Psychopathie sei weniger eine psychische Störung als vielmehr der Ausdruck einer bestimmten genetisch veranlagten Reproduktionsstrategie.133 Vereinfacht gesagt erklären die Soziobiologen, daß es eine unserer wichtigsten Aufgaben im Leben ist, uns fortzupflanzen und so unser Erbgut an die nächste Generation weiterzugeben. Das können wir auf verschiedenen Wegen erreichen. Eine Reproduktionsstrategie ist es, nur wenige Kinder zu bekommen und sie sorgsam aufzuziehen, so daß sie eine gute Überlebenschance haben. Eine andere Strategie ist es, so viele Kinder zu zeugen, daß einige überleben werden, auch wenn sie vernachlässigt oder verlassen werden. Psychopathen verfolgen angeblich eine extreme Version der letzteren Strategie: Sie pflanzen sich so oft wie möglich fort und vergeuden keine Energie darauf, sich um das Wohlergehen ihres Nachwuchses zu kümmern. Auf diese Weise verbreiten sie ihr Erbgut mit geringem oder gar keinem persönlichen Einsatz. Für männliche Psychopathen ist die effizienteste Art, viele Kinder zu bekommen, sich mit einer großen Anzahl von Frauen zu paaren – und sie dann umgehend zu verlassen. Falls ein Psychopath nicht so attraktiv oder charmant ist, daß die Damenwelt ihm aktiv nachstellt, kann er dieses Ziel am besten durch Täuschung, Manipulation, Mogeln und Hochstapelei erreichen. Einer unserer psychopathischen Probanden, ein 30jähriger Trickbetrüger, hatte Dutzende von eheähnlichen Verhältnissen, seit er sechzehn Jahre alt war. Er pflegte eine flüchtige Bekanntschaft mit einigen Rockstars und gab sich gerne als ihr Agent und persönlicher Vertrauter aus. Es fiel ihm leicht, angehenden Unterhaltungskünstlerinnen weiszumachen, er könne ihrer Karriere einen großen Schub verschaffen. In acht mir bekannten Fällen zog er bei solchen Frauen ein und verließ sie, sobald sie schwanger waren. Auf die Frage nach seinen Kindern antwortete er: »Was gibt’s da schon groß zu erzählen? Sie sind halt Kinder, das ist alles.« Terry ist einundzwanzig, der zweite von drei Söhnen einer wohlhabenden und hoch angesehenen Familie. Sein älterer Bruder ist Arzt und sein jüngerer Bruder ist ein Stipendiat in seinem zweiten Jahr an der Universität. Terry ist ein 118 Ersttäter, der zwei Jahre wegen einer vor einem Jahr begangenen Raubserie absitzt. Er ist auch ein Psychopath. Nach allem, was man hörte, waren sein Familienleben stabil, seine Eltern warmherzig und liebevoll und seine Aussichten hervorragend. Seine Brüder waren ehrenhaft und fleißig, während er sich einfach »treiben ließ und zupackte, wenn sich eine Gelegenheit bot«. Die Hoffnungen und Erwartungen seiner Eltern waren ihm viel weniger wichtig, als seinen Spaß zu haben. Trotzdem unterstützten sie ihn emotional und finanziell während seiner Flegeljahre, die von Zügellosigkeit, Ausloten seiner Grenzen und wiederholten Gesetzesverstößen – zu schnellem Fahren, Verkehrsgefährdung, Trunkenheit am Steuer – geprägt waren, aber ohne eine formale Anklage vorübergingen. Mit zwanzig hatte er zwei Kinder gezeugt und war tief in Glücksspiel und Drogenmißbrauch verstrickt. Als er kein Geld mehr von seiner Familie bekam, verlegte er sich auf Bankraub und wurde alsbald erwischt und ins Gefängnis gesteckt. »Ich wäre nicht hier, wenn meine Eltern für mich dagewesen wären, als ich sie gebraucht habe«, sagte er. »Was sind das für Eltern, die ihren Sohn in einem solchen Loch verrotten lassen?« Auf die Frage nach seinen Kindern antwortete er, »Ich habe sie nie gesehen. Ich glaube, sie wurden zur Adoption freigegeben. Wie, zur Hölle, soll ich denn das wissen!« Soziobiologen sagen nicht, daß das Sexualverhalten von Menschen bewußt darauf abzielt, ihr Erbgut weiterzugeben, sondern nur, daß die Natur uns dafür mit verschiedenen Strategien ausgestattet hat, von denen eine eben die von Psychopathen angewandte »Mogel«-Strategie ist. Auf die Frage, ob er promisk leben würde, weil er viele Kinder zeugen und so eine Art »genetischer Unsterblichkeit« erreichen wolle, lachte einer unserer psychopathischen Probanden und sagte: »Ich ficke einfach gern.« Das Verhalten weiblicher Psychopathen reflektiert ebenfalls eine Mogel-Strategie, bei der sexuelle Beziehungen mit einer großen Anzahl von Männern eingegangen und das Wohlergehen des Nachwuchses vernachlässigt wird. »Ich kann jederzeit noch eins haben«, war die kalte Antwort einer Psychopathin auf meine Erkundigung nach einem Vorfall, bei dem ihre zweijährige Tochter von einem ihrer zahlreichen Liebhaber zu Tode geprügelt worden war. (Zwei ältere Kinder waren bereits zu deren Schutz unter Amtsvormundschaft gestellt worden.) Auf die Frage, warum sie denn noch ein Kind haben wolle, da das Schicksal der ersten drei sie doch offenbar nicht interessiere, antwortete sie: »Ich liebe Kinder.« Wie bei den meisten von uns untersuchten Psychopathinnen stand ihre angebliche Kinderliebe im krassen Gegensatz zu ihrem Verhalten. Psychopathinnen vernachlässigen routinemäßig ihre Kinder körperlich oder emotional oder geben sie einfach auf, wenn sie von einer sexuellen Begegnung zur nächsten übergehen. Ein beklemmendes Beispiel war Diane Downs, die ihre Kinder mißbraucht, vernachlässigt und am Ende erschossen hat, während sie eine ausgedehnte Serie von Affären pflegte. Sie entwickelte sich auch zu einer »professionellen« Leihmutter, die darauf aus war, gegen Bezahlung schwanger zu werden.134 Natürlich werden Menschen, die ständig lügen und betrügen, irgendwann erwischt. Dadurch wird die Effektivität ihres Verhaltens stark reduziert und sie machen sich schnell auf die Suche nach anderen Partnern, Gruppen, Gemeinden oder Städten. Ihr mobiles, nomadenhaftes Leben und ihre Anpassungsfähigkeit an neue soziale Umgebungen können als anhaltender Drang nach neuen Fortpflanzungsmöglichkeiten angesehen werden. Ein weiterer Punkt: Geschicktes Mogeln mag zur Anpassung in manchen Schichten einer Leistungsgesellschaft wie der unseren gewisse Vorteile haben. Anders ausgedrückt: Auch wenn sie weit davon entfernt sind, am Fuße der Pyramide zu landen, könnten ihre spezifischen Charaktereigenschaften Psychopathen beim Erklimmen mancher Erfolgsleiter helfen. 119 Die soziobiologische Theorie hat einen starken, intuitiven Reiz für manche Menschen, aber es ist schwierig, sie wissenschaftlich fundiert zu überprüfen; die meisten Belege zu ihrer Unterstützung sind eher zufällig und anekdotisch. Eine schon ziemlich alte biologische Theorie besagt, daß die Hirnstrukturen des Psychopathen sich – aus unbekannten Gründen – abnorm langsam entwickeln.135 Diese Theorie hat zwei Stützpfeiler: ¾ Parallelen zwischen den EEGs (Hirnstromkurven) erwachsener Psychopathen und normaler Heranwachsender und ¾ Ähnlichkeiten zwischen manchen Charaktereigenschaften von Psychopathen – wie Egozentrik, Impulsivität, Selbstsucht und mangelnde Bereitschaft, auf Befriedigung zu warten – und von Kindern. Manche Forscher schließen daraus, daß Psychopathie lediglich eine verlangsamte Entwicklung reflektiert. So hat zum Beispiel der Psychologe Robert Kegan von der Universität Harvard die Ansicht vertreten, daß nicht etwa Wahnsinn hinter Cleckleys »mask of sanity« (Maske der Vernunft) steckt, sondern ein Kind im Alter von neun oder zehn Jahren.136 Dies sind interessante Spekulationen, aber die in Frage stehenden HirnstromkurvenMerkmale werden auch bei benommenen oder gelangweilten normalen Erwachsenen beobachtet. Daher könnten sie auch auf ein schläfriges Desinteresse des Psychopathen an den zu ihrer Messung verwendeten Verfahren hinweisen statt auf eine verzögerte Entwicklung des Gehirns. Außerdem bezweifle ich, daß die Egozentrik oder Impulsivität von Kindern und Psychopathen wirklich die Gleiche ist. Ich bin sicher, daß kaum jemand Schwierigkeiten haben wird, Persönlichkeit, Motive und Verhalten eines normalen Zehnjährigen und eines Psychopathen zu unterscheiden, selbst unter Berücksichtigung des Altersunterschiedes. Noch wichtiger ist, daß nur wenige Eltern eines zehnjährigen Psychopathen ihn mit einem normalen Zehnjährigen verwechseln würden. ¾ Ein interessantes biologisches Modell vertritt die Ansicht, daß Psychopathie das Ergebnis einer frühen Hirnschädigung oder -Fehlfunktion ist, besonders im vorderen Bereich des Gehirns, der eine Hauptrolle bei Denkprozessen auf hoher Ebene (»high-level mental activities«) spielt. Dieses Modell basiert auf einigen vermeintlichen Ähnlichkeiten im Verhalten von Psychopathen und Patienten mit Schädigungen an ihren vorderen Hirnlappen. Zu diesen Ähnlichkeiten zählen schlechte langfristige Planungsfähigkeit, niedrige Frustrationstoleranz, flacher Affekt, Reizbarkeit und Aggressivität, unpassendes Sozialverhalten und Impulsivität. Allerdings haben neuere Forschungen keine Hinweise auf Schädigungen der Frontallappen bei Psychopathen feststellen können.137 Darüber hinaus könnten die Ähnlichkeiten zwischen Psychopathen und Frontallappen-Patienten nur oberflächlich sein, oder zumindest nicht wichtiger als die Unterschiede. Trotzdem haben einige Forscher überzeugend argumentiert, daß eine wie auch immer geartete Frontallappen-Fehlfunktion – nicht unbedingt in Verbindung mit einer tatsächlichen Schädigung – der Impulsivität des Psychopathen und seiner häufig beobachteten Unfähigkeit, unpassendes Verhalten zu unterdrücken, zugrundeliegen könnte.138 Es ist erwiesen, daß die Frontallappen eine entscheidende Rolle bei der Steuerung des Verhaltens spielen und es scheint statthaft, zu vermuten, daß sie aus irgendeinem Grunde – »falsche Verdrahtung«, frühe Schädigung – bei der Verhaltenssteuerung des Psychopathen relativ ineffizient sind. 120 10.8 Umwelt Mein Lieblings-Comicstrip ist CALVIN & HOBBES. In einer Episode schreit ein aufgebrachter Calvin: »Warum muß ich jetzt ins Bett gehen? Nie darf ich machen, was ich will! Wenn ich eine Art Psychopath werde, wenn ich groß bin, wird es euch leid tun!« »Es ist noch nie jemand zum Psychopathen geworden, weil er zu einer vernünftigen Uhrzeit ins Bett gehen mußte«, antwortet sein Vater. »Ja ja«, gibt Calvin zurück, »aber ihr laßt mich auch nicht Tabak kauen! Man weiß nie, welcher Tropfen das Faß zum Überlaufen bringt!« Calvin spiegelt das vielleicht beliebteste Vourteil über Psychopathie wider – daß sie das Ergebnis früher psychischer Traumata oder mißliebiger Erfahrungen ist: Armut, emotionale oder körperliche Entbehrung oder Mißhandlung, elterliche Ablehnung, inkonsequente Erziehungsmethoden und so weiter. Leider ist das Bild, das sich aus klinischer Erfahrung und Forschung ergibt, bei dieser Frage keineswegs klar. Im Ergebnis kann ich allerdings keine überzeugenden Belege dafür entdecken, daß Psychopathie das direkte Ergebnis früher sozialer oder milieubedingter Faktoren ist. (Mir ist klar, daß meine Meinung nicht akzeptiert werden wird von Menschen, die glauben, daß jegliches asoziales Verhalten bei Erwachsenen – vom kleinen Diebstahl bis hin zum Massenmord – der Mißhandlung oder Vernachlässigung im Kindesalter entspringt.) Vernachlässigung und Mißhandlung von Kindern kann entsetzliche psychische Schäden anrichten.139 Kind er mit solchen Schäden haben oft einen niedrigeren Intelligenzquotienten und ein erhöhtes Risiko von Depressionen, Selbstmord, Kurzschlußreaktionen und Drogenmißbrauch. Sie neigen mehr als andere zu Gewalttätigkeit und jugendlicher Delinquenz. Mißhandelte und vernachlässigte Vorschulkinder neigen eher dazu, wütend zu werden, Anweisungen nicht zu befolgen und wenig begeisterungsfähig zu sein. Zur Zeit ihrer Einschulung sind sie oft hyperaktiv, leicht abgelenkt, unbeherrscht und bei ihren Kameraden unbeliebt. Aber diese Faktoren machen sie nicht zu Psychopathen. Es bestehen kaum Zweifel, daß die Korrektur solcher frühen Probleme zu einem dramatischen Rückgang der Kriminalität und anderer Formen sozialen Fehlverhaltens führen würde. Aber es ist unwahrscheinlich, daß ein vergleichbarer Rückgang in der Anzahl von Psychopathen und der Intensität ihres asozialen Verhaltens festzustellen wäre. 10.9 Bezaubernde, schaurige Tess In einem Fernsehfilm wird der Psychologe Ken Magid bei der Arbeit mit der sechseinhalbjährigen Tess gezeigt – eine engelsgleiche Erscheinung, mit großen, bezaubernden, blauen Augen und einer Zahnlücke, wo ihre vorderen Milchzähne ausgefallen sind. Der größte Teil des Films besteht aus Videoaufzeichnungen von Therapiesitzungen mit Tess. Ihr zuzuhören, wie sie von den Schmerzen spricht, die sie ihrem jüngeren Bruder Benjamin nachts zufügt – in einem solchen Maße, daß ihre Eltern sich genötigt sehen, sie in ihr Zimmer einzuschließen, damit der bedrängte Säugling unversehrt schlafen kann – ist nicht nur beklemmend, sondern steht im krassen Gegensatz zu unserer Vorstellung kindlichen Verhaltens (die Namen der Kinder sind geändert worden). »Benjamins Mißhandlungen durch Tess haben mich unglücklich gemacht«, erzählte ihr Adoptivvater dem Interviewer. »Zuerst dachten wir, daß Benjamin ein Problem mit dem Unterleib hätte, aber es stellte sich heraus, daß Tess ihm nachts in den Bauch geboxt hat. Wir mußten ihre Tür abschließen.« Tess hat Messer gestohlen – »große, scharfe«, gab sie zu. »Was wolltest du damit machen, Tess?« fragte Magid seine kleine Patientin. Kühl antwortete das kleine Mädchen, »Mami und Benjamin umbringen ...« 121 An einer Stelle beschreibt der Erzähler des Films, wie Tess, bei einem von vielen gewalttätigen Wutanfällen, Benjamins Kopf immer wieder auf den Zementfußboden schlug. Ihre Mutter mußte Tess’ Hände vom Kopf des Säuglings ringen. »Ich hab nicht aufgehört«, berichtete Tess. »Ich hab ihm immer weiter wehgetan.« »Und was hast du dir dabei gedacht?«, drängte der Therapeut. »Ich hab daran gedacht, ihn umzubringen.« An einer anderen Stelle des Videos bittet Magid Tess, ihm zu erzählen, wie sie kleine Tiere behandelt. »Sie mit Nadeln pieken. Viele Nadeln«, sagt das Mädchen. »Sie umbringen.« Tess und ihr Bruder Benjamin waren von einem liebenden Paar adoptiert worden, die von Tess’ Verhalten entsetzt und verängstigt waren. In dem Versuch, es zu verstehen, recherchierten sie Tess’ Fall und fanden heraus, daß beide Kinder, aber besonders Tess, als Babys in ihren biologischen Familien unvorstellbaren sexuellen Mißbrauch und psychische und körperliche Vernachlässigung zu erleiden hatten. Magid präsentierte Tess als ein eindrucksvolles – ja, unvergeßliches – Beispiel dafür, was mit Kindern passieren kann, die keine frühe Bindung zu ihren Eltern oder primären Bezugspersonen aufbauen können. In seinem erstmalig 1987 erschienenen Buch HIGH RISK entwickelte er die Ansicht, daß das Ausbleiben der psychischen Bindung zwischen Eltern und Kind auf der entsprechenden Entwicklungsstufe – zwischen Geburt und dem Alter von zwei Jahren – ein Hauptfaktor bei der Entstehung psychischer Probleme und Verhaltensstörungen sei, auch der Psychopathie.140 Bindungstheorien erfreuen sich anhaltender Popularität, zum großen Teil weil sie vermeintlich alles »erklären« können, von Ängsten und Depressionen bis hin zu multipler Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie, Eßstörungen, Alkoholismus und kriminellem Verhalten. Aber die meisten empirischen Belege für diese Theorien stammen aus retrospektiven Berichten früher Erfahrungen, sicherlich nicht die zuverlässigste Quelle wissenschaftlicher Daten.141 Darüber hinaus gibt es kaum Hinweise, daß frühe Bindungsprobleme etwas mit der Entstehung von Psychopathie zu tun haben könnten. Die meisten externen Faktoren für eine ausbleibende Bindung – Ablehnung, Mangel, Vernachlässigung, Mißhandlung, und so weiter – können in der Tat schreckliche Folgen haben, und manche dieser Folgen mögen einigen wenigen Charakterzügen und Verhaltensweisen ähneln, die die Persönlichkeitsstörung der Psychopathie definieren. Mit Sicherheit ist die kleine Tess in dem Fernsehfilm ein ergreifendes Beispiel dafür. Aber es gibt keine Hinweise darauf, daß ein Ausbleiben der Bindung auch nur annähernd zu der vollen Bandbreite der Symptome von Psychopathie führen könnte – mit dem charakteristischen, manipulativen Charme und dem klaren Fehlen der schweren und beeinträchtigenden psychischen Symptome, die bei Menschen zu beobachten sind, die durch ihre soziale und materielle Umwelt emotional geschädigt wurden. Während gelegentlich die Ansicht vertreten wird, Psychopathie sei das Ergebnis frühkindlicher Bindungsstörungen, stelle ich das Argument auf den Kopf: Bei manchen Kinder ist gerade die Bindungsstörung ein Symptom der Psychopathie. Wahrscheinlich fehlt diesen Kindern die Fähigkeit, bereitwillig Bindungen einzugehen, und ihre Bindungslosigkeit ist weitgehend das Ergebnis und nicht die Ursache von Psychopathie. Diese Möglichkeit wird gerne übersehen von denjenigen, die behaupten, eine ungünstige Umgebung oder unfähige Eltern wären alles. Die Eltern eines jungen Psychopathen, der ihr Leben trotz ihrer verzweifelten Versuche, ihn zu verstehen und zu fördern, auf den Kopf gestellt hat, werden es schwer erträglich finden, wenn die Gesellschaft ungerechterweise sie für das Problem verantwortlich macht. Die aus ihrem Schuldkomplex 122 entstehende Suche nach einer Antwort auf die Frage, was sie falsch gemacht haben, wird kaum zum Erfolg führen. 10.10 Ein interaktives Modell: Anlage und Umwelt Der Standpunkt, den ich bevorzuge, erwächst aus einer komplexen – und kaum verstandenen – Wechselwirkung zwischen biologischen Faktoren und sozialen Einflüssen. Er basiert auf Belegen, daß genetische Faktoren zu den biologischen Fundamenten der Gehirnfunktionen und zur grundlegenden Persönlichkeitsstruktur beitragen, die wiederum beeinflussen, wie eine Person auf erlebte Erfahrungen und ihr soziales Umfeld reagiert.142 Daraus folgt, daß die Elemente, die für die Entstehung von Psychopathie erforderlich sind – einschließlich einer profunden Unfähigkeit, Mitgefühl und das volle Gefühlsspektrum, auch Angst, zu empfinden – teilweise natürlichen Ursprungs sind und zum Teil vielleicht auch unbekannten biologischen Einflüssen auf den heranreifenden Fötus und das Neugeborene unterliegen. Im Ergebnis ist die Fähigkeit, interne Kontrollen und ein Gewissen zu entwickeln und emotionale Bindungen zu anderen aufzubauen, stark beeinträchtigt. Das bedeutet nicht, das es Psychopathen bestimmt ist, eine vorgezeichnete Entwicklung zu nehmen und von Geburt an eine abweichende soziale Rolle im Leben zu spielen. Aber es bedeutet durchaus, daß ihre biologische Ausstattung – das Rohmaterial, das durch Umwelt, Gesellschaft und Erfahrung zu einem einzigartigen Individuum geformt wird – eine dürftige Basis für ihre Sozialisation und die Entwicklung eines Gewissens ist. Um eine einfache Analogie zu gebrauchen: Der Töpfer formt Geschirr aus Ton (Umwelt), aber die Eigenschaften des Geschirrs hängen auch von der Sorte Ton (Anlage) ab, die ihm zur Verfügung steht.143 Obwohl Psychopathie nicht primär das Ergebnis inkompetenter Erziehung durch die Eltern oder widriger Erfahrungen im Kindesalter ist, meine ich, daß diese Faktoren eine wichtige Rolle dabei spielen, das natürliche Rohmaterial zu formen. Soziale Faktoren und die elterliche Erziehung beeinflussen die Entwicklung der Persönlichkeitsstörung und das Verhalten, in dem sie sich manifestiert. Also könnte eine Person mit einer Kombination psychopathischer Charaktereigenschaften, die in einer stabilen Familie aufwächst und Zugang zu förderlichen gesellschaftlichen und Bildungsressourcen hat, ein Heiratsschwindler oder Wirtschaftskrimineller werden, oder vielleicht ein etwas unseriöser Unternehmer, Politiker oder Freiberufler. Eine andere Person mit weitgehend den gleichen charakterlichen Eigenschaften, aber aus einem benachteiligten und gestörten Umfeld, könnte ein Herumtreiber, Söldner oder gewalttätiger Verbrecher werden. In jedem Falle beeinflussen die sozialen Faktoren und die elterliche Erziehung die jeweilige Ausprägung der Persönlichkeitsstörung (die sich im Verhalten manifestiert), sie haben aber weniger Auswirkungen auf die Unfähigkeit des Individuums, Mitgefühl zu empfinden oder ein Gewissen zu entwickeln. Auch die stärkste soziale Prägung kann nicht allein die Fähigkeit heranbilden, sich um andere zu sorgen oder ein ausgeprägtes Empfinden für richtig und falsch zu entwickeln. Um meine Analogie fortzuführen: Psychopathischer »Ton« ist wesentlich weniger formbar als der Ton, mit dem die Töpfer der Gesellschaft gemeinhin arbeiten. Eine Konsequenz dieser Sichtweise für die Strafjustiz besteht darin, daß die Qualität des Familienlebens sehr viel weniger Einfluß auf das asoziale Verhalten von Psychopathen hat als auf das Verhalten der meisten anderen Menschen. In mehreren neueren Studien haben wir die Auswirkungen des kindlichen Familienumfelds auf das spätere kriminelle Verhalten bei Psychopathen und anderen Straftätern untersucht.144 123 ¾ Wir haben keine Hinweise darauf gefunden, daß das familiäre Umfeld von Psychopathen sich von dem anderer Straftäter unterscheiden würde. Es ist nicht überraschend, daß die meisten Kriminellen aus problematischen Familien stammten. ¾ Unter den Kriminellen, die keine Psychopathen waren, korrelierte die Qualität des familiären Umfelds stark mit der Intensität der kriminellen Aktivitäten und dem Alter, in dem die ersten Delikte begangen wurden. Das heißt, daß diejenigen aus einer gestörten oder benachteiligten Familie etwa im Alter von fünfzehn erstmalig vor Gericht erschienen sind, während jene aus einem relativ stabilen Umfeld erst sehr viel später, nämlich im Alter von etwa 24 Jahren, erstmals vor Gericht erschienen. ¾ Im scharfen Gegensatz dazu hatte die Qualität des familiären Umfelds bei Psychopathen keinerlei Auswirkungen auf die Entwicklung ihrer Delinquenz. Psychopathen traten im Durchschnitt im Alter von vierzehn erstmalig vor Gericht in Erscheinung, unabhängig davon, ob sie ein stabiles oder labiles Familienleben hatten. ¾ Die Ergebnisse für nicht-psychopathische Straftäter stimmen mit der allgemeinen Literatur über Kriminalität überein. Das heißt, daß negative familiäre Einflüsse die frühe Entwicklung krimineller Aktivitäten begünstigen. Aber selbst ein positives familiäres Umfeld, das gesundes Verhalten bei ihren Geschwistern fördert, bewirkt nur wenig, um Psychopathen von einem Leben rücksichtsloser Befriedigung der eigenen Bedürfnisse abzuhalten. ¾ Es gibt eine wichtige Ausnahme von diesen allgemeinen Schlußfolgerungen: Unsere Forschungen haben gezeigt, daß Psychopathen aus einem labilen familiären Umfeld wesentlich mehr gewalttätige Delikte begehen als Straftäter aus stabilen Familien, während das Umfeld wenig Einfluß auf die Gewaltbereitschaft anderer Straftäter hat. Das deckt sich mit meiner früheren Aussage, daß soziale Faktoren einen Einfluß darauf haben, wie sich Psychopathie im Verhalten ausdrückt. Ein sozial benachteiligtes und gestörtes Umfeld, in dem gewalttätiges Verhalten an der Tagesordnung ist, findet im Psychopathen einen willigen Schüler, für den Gewalt keinen anderen emotionalen Gehalt hat als andere Verhaltensweisen. Auch andere Menschen erlernen natürlich gewalttätige Verhaltensweisen, aber sie leben sie aufgrund ihrer Selbstbeherrschung und ihrer Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, nicht so bedenkenlos aus wie Psychopathen. 10.11 Die Gesellschaft als Tarnung In Anbetracht des sich ausbreitenden gesellschaftlichen Notstands gewinnt die Frage nach den Ursachen der Psychopathie zunehmend unheilvolle Bedeutung. Ein Fall, der sich vor kurzem in meiner Heimatstadt zugetragen hat, beleuchtet nicht nur den Ernst steigender Kriminalitätsraten unter Jugendlichen, sondern auch die Bedeutung der Statistiken. Ein Dreizehnjähriger wurde wegen des brutalen Mordes an einem Zwölfjährigen gemäß dem »Canadian Young Offenders Act« zur Höchststrafe von drei Jahren verurteilt. Das Motiv für den Mord? Der Junge hatte bereits vom Mörder bezahltes Marijuana im Wert von 250 Dollar nicht geliefert – in der Tat ein sehr »erwachsenes« Delikt.145 Der ungenannte Mörder wurde als manipulativ, abgebrüht und »verkorkst von Kindesbeinen an« beschrieben. Die den Mord begleitenden Umstände sind von nachhaltiger Bedeutung. So beschrieben zum Beispiel Freunde aus der Nachbarschaft des Mörders ihn als einen »ganz normalen« Jungen, der die Schule geschwänzt, gekifft und Videospiele gespielt hat ... Gefragt, ob er besondere Interessen 124 gehabt hätte, sagten seine Freunde: Ladendiebstahl ... Der Verteidiger ... sagte der Bewährungskommission, der verurteilte Mörder hätte seine ersten Einbrüche im Alter von acht Jahren begangen. Der Junge fing an, Feuer zu legen, als er neun war und war in den vergangenen drei Jahren neunmal ausgerissen ... Er war bereits wegen Einbruchs, Diebstahls und Drogenbesitzes verurteilt worden. Er war mehrfach wegen Störung des Unterrichts und Schwänzens vom Unterricht ausgeschlossen worden. In der siebten Klasse wurde er wegen Diebstahls von der Schule verwiesen. Im Alter von elf Jahren rauchte er täglich Marijuana und wurde später ein gewohnheitsmäßiger Konsument von Haschisch und manchmal Kokain ... In seinem Urteil zitierte der Richter ärztliche Beurteilungen, die besagten, der Junge zeige klassisches »asoziales« Verhalten. Sie haben, im Gegensatz zu anderen, kein Schuldbewußtsein und haben Schwierigkeiten, Mitgefühl zu empfinden ... im Allgemeinen ändern sie sich nicht im Laufe der Zeit. Klingt das bekannt? Vielleicht – wenn ich auch auf der Basis einiger kolportierter Details keine Ferndiagnose stellen kann. Bemerkenswert an diesem Porträt ist nicht die Diagnose des jungen Angreifers, sondern die folgende Aussage über die Begleitumstände seiner Mordtat: In seiner Nachbarschaft waren Gerüchte im Umlauf, denen zufolge bis zu 20 Jugendliche gewußt haben, daß er für den Mord verantwortlich war, aber darüber Stillschweigen bewahrten. Banden haben schon immer großartige Gelegenheiten für junge Psychopathen geboten. Ihre unbeherrschten, selbstsüchtigen, abgestumpften und aggressiven Tendenzen gehen nahtlos in viele der Bandenaktivitäten über oder prägen sie sogar. In der Tat gibt es nur wenige andere Aktivitäten, die gewalttätigen Psychopathen mit so wenig Risiko ein so hohes Maß an Befriedigung bieten können. Örtliche Jugendbanden sind tief in Drogenhandel, Diebstahl, Einschüchterung und Erpressung verwickelt. Sie rekrutieren viele ihrer neuen Mitglieder an den Schulen, und ihre Präsenz in und an den Schulen erinnert Schüler und Lehrer ständig daran, welchen Einfluß und welche schiere Macht die Banden haben. Wenn auch die Gesellschaft durch das Auftreten von Banden in unseren Gemeinden immer mehr aufgerüttelt wird, sind die Strafen für gesetzwidrige Bandenaktivitäten doch häufig lächerlich. In einem Fall, der sich kürzlich zugetragen hat, wurden zwei 15jährige und ein 16jähriger verschiedener Bandendelikte angeklagt, darunter Körperverletzung, Autodiebstahl, Waffenbesitz, tätlicher Angriff mit einer gefährlichen Waffe und schwere Körperverletzung. Die meisten Anklagepunkte wurden fallengelassen, da die Eltern der jugendlichen Zeugen ihnen die Aussage vor Gericht aus Angst vor Repressalien verboten hatten. Ein Polizeisprecher sagte, es sei »sehr beunruhigend, daß ein Straftäter durch Drohungen und Einschüchterung eine Einstellung des Verfahrens erreichen kann« und fügte hinzu, daß immer in Verfahren wegen Bandendelikten die Zeugen beeinflußt würden. Diese Banden haben ein gemeinschaftliches Bewußtsein ihrer Macht und Unbesiegbarkeit, das sich nur wenig von dem ihrer psychopathischen Mitglieder unterscheidet. Falls, wie ich meine, unsere Gesellschaft sich dahingehend entwickelt, daß manche der in der Psychopathie-Checkliste aufgeführten Eigenschaften – wie zum Beispiel mangelnde Selbstbeherrschung, Verantwortungslosigkeit, mangelnde Reue, etc. – zunehmend toleriert, begünstigt und in einigen Fällen sogar belohnt werden, könnten unsere 125 Schulen sich zu Milieus einer »Tarngesellschaft« (»camouflage society«) entwickeln, in der echte Psychopathen sich verbergen und ihren destruktiven und selbstsüchtigen Neigungen nachgehen und so ihre Mitschüler gefährden könnten. Wahrlich beunruhigend sind die Implikationen des Schweigens der zwanzig kanadischen Jugendlichen, die von einem Mord wußten und den Mörder kannten, aber – aus welchen Gründen auch immer – keinem Menschen etwas davon gesagt haben. Sie legen den Schluß nahe, daß unsere Gesellschaft nicht nur vom psychopathischen Charakter fasziniert ist, sondern ihn zunehmend auch toleriert. Noch beängstigender ist die Möglichkeit, daß »coole«, aber bösartige Psychopathen zu falschen Vorbildern für Kinder aus gestörten Familien oder sozialen Brennpunkten werden, in denen Ehrlichkeit, Fairneß und das Wohlergehen der Mitmenschen nur wenig zählen. 10.12 »Was habe ich falsch gemacht?« Es ist schwierig, sich Eltern eines Psychopathen vorzustellen, die sich nicht schon – fast immer am Rande der Verzweiflung – die Frage gestellt hätten, »Was haben wir als Eltern nur falsch gemacht, um das in unserem Kind hervorzubringen?« Die Antwort ist: Vielleicht gar nichts. Um unsere spärlichen Daten zusammenzufassen: Wir wissen nicht, warum Menschen zu Psychopathen werden, aber der aktuelle Wissensstand widerspricht der landläufigen Vorstellung, daß das Verhalten der Eltern gänzlich oder auch nur zum großen Teil für die Entstehung der Persönlichkeitsstörung verantwortlich ist. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Eltern und das soziale Umfeld völlig entlastet sind. Das elterliche Verhalten mag nicht für die grundlegenden Elemente der Persönlichkeitsstörung verantwortlich sein, aber es könnte eine große Rolle bei der Entwicklung und Ausprägung des Syndroms spielen. Es bestehen kaum Zweifel, daß inkompetentes Verhalten der Eltern und ein ungünstiges soziales und materielles Umfeld mögliche Probleme potenzieren und daß diese Faktoren eine wichtige Rolle bei der Ausprägung kindlicher Verhaltensmuster spielen. Das komplexe Wechselspiel dieser Einflüsse bestimmt, warum nur einige wenige Psychopathen zu Serienmördern werden, während der weitaus größte Teil als »normale« Kriminelle, unseriöse Geschäftsleute, oder räuberische Anwälte durchs Leben geht. Wenn auch die Ursachen der Psychopathie im Dunklen bleiben, erlauben uns eine präzisere Diagnostik und der wachsende Bestand an Forschungsergebnissen, bessere Methoden für den Umgang mit Psychopathen in unserem Gemeinwesen zu entwickeln. Das ist das Thema der letzten Kapitel dieses Buchs. Im Jahre 1981, in Milpitas, Kalifornien, schwiegen dreizehn Teenager drei Tage lang, nachdem ein Junge ein 14jähriges Mädchen aus ihrer Schulklasse ermordet hatte. Unterdessen machte die Gruppe mehrere Ausflüge aufs Land, um sich die Leiche anzusehen. Der Spielfilm RIVER’S EDGE aus dem Jahr 1987 basiert auf den Umständen dieses Falls und bezeichnet diese Kinder als Mitglieder einer »leeren Generation« (»blank generation«). Diese Darstellung wird jedem, der die unter manchen Teenagern heutzutage üblichen Kommunikationsformen kennt, alarmierend vertraut sein. Der gut gemachte Film bietet ungewöhnliche Einsichten darüber, wie sich eine gesetzlose Subkultur von Jugendlichen tarnen kann. Die Welt, in der diese Kinder leben, ist ein Milieu der weißen Arbeiterklasse, das in Spielfilmen nur selten realistisch dargestellt wird. Die Kinder, durch Gewaltdarstellungen im Fernsehen geprägt, bilden eine geheime Unterwelt, während ihre Eltern um den Lebensunterhalt kämpfen und das Familienleben aus den Fugen gerät. Abgelenkt und gestreßt vom täglichen Überlebenskampf schaffen es die Eltern in dem Film bestenfalls, ihren Kindern ein »Bist du das?« 126 nachzurufen, während diese ein- und ausgehen auf ihren eigenen, fremden Wegen. Eine der stärksten Szenen des Films zeigt einen Lehrer, der sich seine Anteilnahme bewahrt hat, bei dem Versuch, das »coole«, ironische Gehabe zu durchbrechen, hinter dem sich diese Kids verstecken. Erst bittet er die Klasse, dann fleht er sie geradezu an, ihm zu erzählen, wie sie den Verlust ihrer toten Mitschülerin empfinden. Nur der Klassenstreber ist bereit, zuzugeben, daß er überhaupt berührt ist; die anderen scheinen durch die Frage hoffnungslos verwirrt zu sein. Auf der verzweifelten Suche nach einem Anzeichen dafür, daß er seine Schüler auf einer bedeutsamen Ebene erreicht, wendet sich der Lehrer an eine Schülerin namens Clarissa, die eine von denjenigen war, die den Behörden schließlich den Mordfall gemeldet haben: »Sag mir, was Jamie dir bedeutet hat ...« Die Antwort, selbst von diesem Mädchen, ist ein flacher, leerer Blick. Die Entscheidung, ob das Mädchen keine Gefühle hatte oder es nur ablehnte, sie einer Autoritätsperson zu zeigen, überlassen die Filmemacher dem Publikum. Das Fehlen von Einfühlungsvermögen, Mitgefühl oder auch nur einem Verstehen des Verlustes treiben den Lehrer in einen Wutanfall: »Niemand in dieser Klasse interessiert sich einen Dreck dafür, daß sie tot ist ... Durch ihren Tod könnten wir uns moralisch integer zeigen, aber niemand in dieser Klasse schert sich einen Dreck darum. Denn wenn wir davon berührt wären, dann wären wir draußen auf der Straße, halbtot vor Müdigkeit, auf der Suche nach dem Kerl, der sie umgebracht hat.« Die beklemmende Reaktion auf den Ausbruch des Lehrers? Schweigen. Sicher, es ist nur ein Film. Aber in RIVER’S EDGE wird auf erschreckend realistische Weise eine Gesellschaft gezeigt, in der Gefühlsarmut, Impulsivität, Verantwortungslosigkeit, Selbstüberhöhung und Selbstsucht die Norm sind. Während einstmals, wie Robert Lindner 1944 sagte, der Psychopath durch »das Funkeln und den Glanz persönlicher Freiheit« dazu verlockt wurde, sich über Grenzen und Beschränkungen hinwegzusetzen, bieten heute unsere Straßen, Schulen und sogar Familien dem Psychopathen die Chance, unbemerkt, unerkannt oder sogar geachtet unter uns zu leben. Ich hoffe, daß dieses Buch die Aufmerksamkeit auf diese beängstigende Möglichkeit lenken wird, indem es den Gedanken von Psychopathie bei Kindern gesellschaftsfähig macht. 127 11 Die Ethik der Diagnose Ich bin in der achten Klasse von der Schule geflogen, weil ich einen Lehrer verprügelt habe. Der Sozialarbeiter hat gesagt, »Er ist benachteiligt. Er sollte ins Ferienlager geschickt werden.« Mit siebzehn wurde mir eine Vergewaltigung vorgeworfen. Der Psychiater hat gesagt, »Er ist ein Psychopath. Er sollte ins Gefängnis gesteckt werden.« Das hat mein Leben ruiniert. Sie hielten mich für schlecht – also habe ich ihnen bewiesen, daß sie Recht hatten. Ein verurteilter Serienvergewaltiger, der sein erstes Sexualdelikt im Alter von elf Jahren begangen hat In diesem Buch habe ich stets den Standpunkt vertreten, daß genaue Beurteilungen von Psychopathie notwendig sind, um unser Verständnis dieser gesellschaftlich verheerenden Persönlichkeitsstörung zu vertiefen. Aber noch dringender wird eine genaue Diagnostik gebraucht: Bevor wir wirksame Führungs- und Therapieprogramme für Psychopathen entwickeln können, müssen wir sie zuverlässig erkennen. In Anbetracht der Kriminalitätsraten und Gefängnispopulationen, die immer mehr außer Kontrolle geraten, überfüllten psychiatrischen Anstalten, der beispiellosen Zunahme gewalttätiger Verbrechen, Drogenmißbrauch, ungewollter Schwangerschaften und steigender Selbstmordrate bei unseren Jugendlichen bin ich der festen Überzeugung, daß Psychiater und Sozialarbeiter dringend das Konzept der Psychopathie bei ihren Entscheidungsprozessen berücksichtigen müssen. Richtig angewendet hat die Diagnose von Psychopathie das Potential, einen Teil der Verwirrung um das Wie und Warum unserer gesellschaftlichen Krise zu klären. Allerdings birgt die ungerechtfertigte Verwendung des Etiketts »Psychopathie« gravierendes destruktives Potential für die falsch diagnostizierte Person. Aus diesen Gründen ist die Psychopathie-Checkliste ein so wertvolles Werkzeug. Sie gibt nicht nur Praktikern und Entscheidungsträgern ein zuverlässiges und anerkanntes Diagnoseverfahren an die Hand, sondern liefert anderen – zum Beispiel den Beamten der Strafjustiz – eine detaillierte Beschreibung der Faktoren, die bei der Diagnose von Psychopathie berücksichtigt werden müssen. Anstelle der wenig fundierten Aussage eines Praktikers: »Nach meiner fachlichen Meinung ist diese Person ein Psychopath«, werden die Gründe für die Diagnose ausdrücklich aufgeführt. Vor kurzem hat mir ein Gefängnispsychologe auf einem Kongreß erzählt, daß die Anstalten in seinem Heimatstaat routinemäßig die Psychopathie-Checkliste verwenden würden, um nicht für zweifelhafte Bewährungsentscheidungen verantwortlich gemacht werden zu können. »Sie hilft uns bei unseren Empfehlungen an die Bewährungskommission«, sagte er. »Wir teilen der Kommission mit, ob ein Delinquent ein Psychopath ist oder nicht, und erklären die Implikationen der Diagnose. Dann ist es die Entscheidung der Kommission, ob und wie sie diese Informationen verwenden will. Falls er ein Psychopath ist, sie ihn rauslassen und er jemanden umbringt, sind wir nicht verantwortlich und es ist Sache der Bewährungskommission, der Öffentlichkeit und der Familie des Opfers die Entscheidung zu erklären. Ist er kein Psychopath und alle anderen Umstände indizieren ein geringes Rückfallrisiko und er bringt jemanden um, haben wir trotzdem alles richtig gemacht. Und die Bewährungskommission auch; wir haben alle unser Bestes getan – keine Entlassung auf Bewährung ist ohne Risiko.« Der Psychologe fuhr fort, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Familie eines Opfers, das durch einen auf Bewährung entlassenen Täter getötet worden sei, den Staat verklagen würde, weil »ein psychopathischer Killer aufgrund ei- 128 ner falschen Diagnose freigelassen worden sei«. Die Psychopathie-Checkliste, sagte er, sei eine Versicherungspolice gegen solche Vorwürfe. 11.1 Nur die Bewährungskommission war überrascht Die Öffentlichkeit hat selten Verständnis dafür, wenn ein Krimineller mit einem langen Vorstrafenregister offenbar zu früh auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wird. Die Gründe sind unterschiedlich, aber in den meisten Fällen ist die Bewährungskommission der Ansicht gewesen, daß der Delinquent kein nennenswertes Risiko mehr für die Gesellschaft darstelle. In den meisten Fällen sind ihre Entscheidungen einwandfrei, aber gelegentlich machen sie unerklärliche und tragische Fehler. Man bedenke zum Beispiel den Fall von Carl Wayne Buntion, über den in der Fernsehsendung A CURRENT AFFAIR am 7. Mai 1991 berichtet worden ist. Er wurde 1990 aus einem texanischen Gefängnis entlassen – fünfzehn Monate, nachdem er zu einer Haftstrafe von fünfzehn Jahren wegen sexueller Nötigung verurteilt worden war. Sechs Wochen später erschoß er einen Polizeibeamten bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle. Warum wurde dieser Mann auf Bewährung entlassen, obwohl er gerade erst eine lange Haftstrafe wegen einer gewalttätigen Straftat angetreten hatte? Und dies war keineswegs seine einzige Straftat. Sein Vorstrafenregister reichte zurück bis mindestens 1961, und er hatte regelmäßig gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen. Er schien stets schnell und einfach auf Bewährung freizukommen. Tatsächlich war er 1984 zu zwei Haftstrafen von jeweils zehn Jahren verurteilt worden, kam aber schon 1986 wieder auf Bewährung (seine siebte) frei. Auf die Frage: »Wie können sie annehmen, daß ein Mann mit einem solchen Vorstrafenregister keine Bedrohung für die Gesellschaft darstellt? Ganz offensichtlich ist dieser Mann ein Wiederholungstäter«, antwortete der Vorsitzende der Bewährungskommission, »Das ist Ermessenssache.« Er sagte auch, daß die Bewährungskommission keinerlei Verantwortung für den Tod des Polizeibeamten trüge – »Ebenso wenig wie seine Mutter dafür zur Verantwortung gezogen werden kann, ihn [Buntion] zur Welt gebracht zu haben.« Buntions Freundin beschrieb ihn folgendermaßen: Er ist intelligent, hat einen wunderbaren Sinn für Humor und ist sehr locker und entspannt; er ist ein Gentleman. Weder das Opfer seines sexuellen Übergriffs noch die Familie des ermordeten Polizeibeamten wird wohl mit dieser etwas seltsamen Einschätzung eines völlig asozialen Mannes einverstanden sein. Mit den Worten des Fernsehreporters David Lee Miller: Liebe mag blind machen, aber was ist die Entschuldigung der texanischen Bewährungskommission dafür, daß sie die Wahrheit über Carl Wayne Buntion nicht erkannt hat? Ist Buntion ein Psychopath? Wahrscheinlich. Hätten die Behörden vor der Entscheidung über seinen Antrag auf Bewährung auf einer fundierten Begutachtung seiner Persönlichkeit bestanden, und wäre die Bewährungskommission klug genug gewesen, die Diagnose und seine Vorstrafen zu berücksichtigen, wäre Buntion wohl kaum aus dem Gefängnis entlassen worden. Letztlich mußte man kein Genie sein, um vorhersagen zu können, daß Carl Buntion nicht plötzlich zu einem vorbildlichen Bürger werden würde. Allerdings ist es eine traurige Tatsache, daß Bewährungskommissionen eher mit aus politischen Gründen ausgewählten, wenig qualifizierten Kandidaten besetzt werden als mit Personen, die kriminelles Verhalten verstehen und die wichtige Rolle von Psychopathie für die Prognose der Rückfallwahrscheinlichkeit und künftige Gewalt zu würdigen wissen. Darüber hinaus haben Mitglieder der Bewährungskommissionen oft zu wenig Zeit, um ordentliche Arbeit zu leisten. Und in vielen Fällen verwenden sie klinische 129 Gutachten von Psychiatern und Psychologen nur widerwillig oder sie verstehen sie nicht. Ich habe schon viele solche Gutachten gesehen und kann verstehen, warum viele Bewährungskommissionen sie für ihre Entscheidungen nicht sehr hilfreich finden. Viele klinische Berichte sind vage oder voller Jargon und manche stellen Diagnosen, die einer faktischen Grundlage für eine Prognose über Rückfallwahrscheinlichkeit und künftige Gewalt entbehren. 11.2 Die Macht der Diagnose Korrekte Diagnosen, die zutreffende Prognosen ermöglichen, können außerordentlich nützlich für die Strafjustiz sein. Der Erfolg der Psychopathie-Checkliste bei der Prognose der Rückfallwahrscheinlichkeit und künftiger Gewalt belegen das. Allerdings ist es auch wichtig, sich der Gefahren ungenauer Diagnosen und falscher Etikettierungen bewußt zu sein. So kann zum Beispiel im Strafvollzug ein einziger Eintrag eines Bewährungshelfers oder eines Gefängnispsychologen einem Häftling ein Kainsmal aufdrükken. Nehmen wir zum Beispiel an, daß ein junger Mann, der wegen einer Reihe von Einbrüchen im Gefängnis sitzt, die Voraussetzungen für einen Antrag auf Bewährung erfüllt. Der überarbeitete und unterbezahlte Gefängnispsychologe führt ein kurzes Gespräch mit dem Mann und blättert seine Akte durch, wobei er feststellt, daß ein Psychiater einige Jahre zuvor festgestellt hat, er sei eine »asoziale Persönlichkeit«. In seinem Bericht schreibt der Psychologe, daß der Häftling seiner klinischen Meinung nach ein Psychopath sei und daher ein hohes Rückfallrisiko darstelle. Der Antrag auf Bewährung wird von einer Kommission abgelehnt, die meint zu wissen, was dieses Etikett bedeutet und dadurch befangen ist; außerdem ist sie wegen der steigenden Kriminalitätsrate besorgt. Der Häftling entwickelt daraufhin Depressionen und verübt Selbstmord. Bei der anschließenden Untersuchung sagt der glücklose Psychologe aus, er hätte seine Diagnose aufgrund der Aktenlage und eines 15minütigen Gesprächs gestellt. Andererseits können zutreffende Beurteilungen sehr nützlich sein bei der Einstufung von Delinquenten, der Zuteilung von Arbeitsaufträgen, der Entscheidung über angemessene Therapien und Interventionen, der Planung von Entlassungen und beim täglichen Umgang mit Straftätern. Auch mag die Diagnose »Psychopathie« die Verlegung eines Straftäters in eine forensische Psychiatrie (einer Anstalt für geistesgestörte Kriminelle) verhindern, wo er einen störenden Einfluß auf die anderen Patienten haben könnte. Oder, erst einmal in eine solche Anstalt eingewiesen, mag die Diagnose die Sicherheitsstufe beeinflussen, die über einen Straftäter verhängt wird. Vor kurzem tötete ein Patient ein Mitglied des Personals im größten Krankenhaus für geistesgestörte Straftäter in Nordamerika.146 Die Verwaltung und das Personal haben sich daraufhin versammelt und eine neue Richtlinie beschlossen: Ein Patient, der sowohl eine hohe Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste als auch eine gewalttätige Historie hat, muß sich einer besonderen Prüfung durch die Verwaltung unterziehen, bevor er für eine niedrigere Sicherheitsstufe innerhalb der Anstalt in Betracht kommen kann. Diese Prüfung hilft dem Personal bei der schwierigen und nervenaufreibenden Aufgabe, eine vernünftige Abwägung zwischen der Notwendigkeit, Gewalt zu minimieren, und den Bedürfnissen und Rechten des einzelnen Patienten auf angemessene Behandlung zu treffen. Die meisten Rechtssysteme auf der Welt stufen Psychopathen juristisch und psychiatrisch als gesund ein. In einem Fall, der sich vor kurzem in Australien ereignet hat, beschlossen die Behörden allerdings, daß der einzige Weg, die Entlassung des »aggressiven Psychopathen« Garry David zu verhindern, die Einführung eines Gesetzes sei, das ihn und seinesgleichen für geisteskrank erkläre. Nachdem er von Davids langer Geschichte von Gesetzesverstößen und Gewalttaten erfahren hatte, soll ein Verfassungsrichter, der für den Fall zuständig war, gesagt haben: »Jemand mit einer solchen Geschichte muß geistes130 krank sein, und wenn die Psychiater das nicht erkennen, müssen sie selbst ›verrückt‹ sein.« Trotz lautstarker Opposition des psychiatrischen Berufsstandes wurde David für geisteskrank befunden und in eine psychiatrische Anstalt der höchsten Sicherheitsstufe eingewiesen. (Neville Parker, THE GARRY DAVID CASE, Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 25, 1991, S. 371-374). 11.3 Ferndiagnose Wie es der Zufall will, wurde ich eines Tages von CBS (einem großen Fernsehsender) angerufen und gebeten, mich zu einem möglichen Zusammenhang zwischen Psychopathie und dem Charakter des irakischen Präsidenten Saddam Hussein zu äußern. Der Golfkrieg war in vollem Gange und die Bevölkerung wurde Tag und Nacht mit Bildern und Kommentaren zu jedem Aspekt der Kriegsführung und den ihr zugrundeliegenden politischen Fragen bombardiert. Es war zu einem Volkssport geworden, Husseins nächsten Schritt vorherzusagen, und CBS hatte anscheinend beschlossen, die Aufregung mit Hilfe einer »Expertenmeinung« zu dämpfen. Ich schlug die Einladung aus. Wie die von »Dr. Death« aus dem Stegreif gestellten Diagnosen (auf den folgenden Seiten beschrieben) kann die Ferndiagnose einer öffentlichen Person, selbst durch erfahrene Diagnostiker, leicht zu einer Parodie professioneller Verfahren werden. Das Ergebnis ist oft nur prätentiöses Geschwätz, das nicht durch Tatsachen, sondern lediglich die Reputation des Experten glaubwürdig erscheint. Im Falle von Saddam Hussein waren die Gefahren besonders augenfällig, da man in den frühen Kriegstagen immer wieder hörte: »Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit«. Biographisches Material über Hussein war nur spärlich verfügbar, und der Versuch einer psychologischen Diagnose erforderte profundes Verständnis und sorgfältige Berücksichtigung der wichtigen Einflüsse von Kultur, Religion und anderer Elemente eines Wertesystems, das sich von dem unseren fundamental unterscheidet. Zur gleichen Zeit berichtete Daniel Goleman über Äußerungen von Dr. Jerrold Post, Professor der Psychiatrie und Politikwissenschaften an der George Washington University (EXPERTS DIFFER ON DISSECTING LEADER’S PSYCHES FROM AFAR, The New York Times vom 19. Januar 1991, S. C1 ff. In einer Anhörung vor dem US-Senat sagte Dr. Post aus, der irakische Präsident würde unter »malignem Narzißmus«, einer schweren Persönlichkeitsstörung, die ihn grandios, paranoid und rücksichtslos gemacht habe«, leiden. Selbst Laien fühlten sich zu Kommentaren berufen. Am 13. Februar 1991 bezeichnete der Abgeordnete Robert Dornan Hussein als »soziopsychopathisch«. In seinem in der New York Times erschienenen Artikel führte Goleman aus, daß psychologische Profile öffentlicher Personen ihre Wurzeln in Freudschen Theorien haben und von der US-Regierung für nützlich gehalten würden, aber daß Fachleute ihre Brauchbarkeit unterschiedlich beurteilten. Gerade im Fall Hussein »führten kritische Stimmen an, daß andere Interpretationen ebenso plausibel seien und daß die Diagnose von Dr. Post auf spärlichen Indizien beruhe.« Trotzdem verwendete Post seine Diagnose, um Husseins Psyche zu beschreiben und Voraussagen über seine künftigen Aktionen zu machen. Vor dem 15. Januar (Ablauf des Ultimatums, das der ehemalige Präsident Bush Hussein für den Rückzug seiner Truppen aus Kuwait gestellt hatte) sagte Post, daß »Hussein wahrscheinlich in letzter Minute vor einer Konfrontation zurückschrecken würde«. Die Fakten belehren uns eines besseren: Hussein verschanzte sich. Post gab zu, daß Vorhersagen auf der Basis klinischer Diagnosen ihre Grenzen haben: Dies sind Verhaltensmuster und Neigungen. Man kann sagen, wie sich jemand bei vergangenen Krisen verhalten hat, aber man kann 131 keine sicheren Vorhersagen allein auf Grund der Persönlichkeitsstruktur machen. Eine interessante Fußnote zu dieser Geschichte ist die Äußerung eines Irakers am 7. Februar 1991 in den Nachrichten der Canadian Broadcasting Corporation: Bush will alle Araber töten. Er ist ein Psychopath. Eines Tages wurde ich von einer Mutter angerufen, die einen Zeitungsartikel über meine Arbeit gelesen haue. Sie sagte, »Nach dem Artikel sieht es so aus, als ob mein Sohn ein Psychopath wäre.« Dann fragte sie mich, ob ich ihren Sohn, der eine dreijährige Haftstrafe wegen Diebstahls verbüße, anhand der Psychopathie-Checkliste diagnostizieren könne. Ich erklärte ihr, daß das nicht möglich sei und daß unabhängig davon eine bestätigte Diagnose von Psychopathie es ihrem Sohn erschweren könne, eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung zu erreichen. »Das ist ja genau der Punkt«, rief sie aus. »Ich will nicht, daß er rauskommt! Für uns bringt er nichts als Ärger. Mit sieben hat er seine jüngere Schwester belästigt. Als er neun war, hat die Polizei so viel Zeit bei uns im Haus verbracht, daß ich Miete von ihnen hätte verlangen sollen. Jetzt sitzt er im Gefängnis, weil er die Firma seines Vaters bestohlen hat.« 11.4 Vorhang auf für »Dr. Death« Das zerstörerische Potential diagnostischer Etiketten vor Gericht nimmt in der Person des Dr. James Grigson, eines texanischen Psychiaters, furchteinflößende Gestalt an; er ist sowohl in der populären als auch der psychologischen Literatur als »Dr. Death« bekannt. Die schlimmste Kategorie von Mord kann in Texas nur mit zwei möglichen Strafen geahndet werden: Mit lebenslangem Freiheitsentzug oder der Todesstrafe. Nach der Verurteilung wegen eines solchen Verbrechens wird eine separate Gerichtsverhandlung vor den Geschworenen abgehalten, um das Strafmaß festzusetzen. Um in einer solchen Verhandlung die Todesstrafe aussprechen zu können, müssen die Geschworenen einstimmig die folgenden drei »besonderen Umstände« (»Special Issues«) feststellen: 1. daß der Mörder »absichtlich« den Tod des Opfers herbeigeführt hat; 2. daß »die Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Angeklagte auch in Zukunft gewalttätige Straftaten begehen wird«; 3. daß es keine nachvollziehbare »Provokation« für das mörderische Verhalten des Angeklagten gegeben hat. Fast immer bereitet »Special Issue Nr. 2« – die Frage der Gefährlichkeit – die größten Schwierigkeiten. In einem Artikel über Grigson147 schrieb Ron Rosenbaum: An dieser Stelle hat der Doktor seinen Auftritt. Er tritt in den Zeugenstand, hört sich die Fakten über den Mord und den Mörder an, und dann erzählt er den Geschworenen – meistens, ohne den Angeklagten untersucht zu haben und ohne ihn vor dem Tag der Verhandlung jemals zu Gesicht bekommen zu haben –, daß er ihnen aus medizinischen, wissenschaftlichen Gründen versichern könne, daß der Angeklagte eine fortgesetzte Gefahr für die Gesellschaft gemäß »Special Issue No. 2« darstellen würde. Damit ist der Fall erledigt. [S. 143] Der Autor fährt fort mit einem Bericht über seine gruseligen Reisen mit Grigson, der innerhalb von zwei Tagen in drei Verfahren zur Festsetzung des Strafmaßes ausgesagt hat – und dessen Aussage in allen drei Fällen zu einem Todesurteil durch die Geschworenen geführt hat. Seine Beschreibung des Doktors im Zeugenstand ist fraglos sehr be132 unruhigend für jeden gewissenhaften Praktiker oder Forscher. Anstelle einer gründlichen Untersuchung des Angeklagten wird etwas angenommen, was unter Juristen als »eine Hypothese« (»a hypothetical«) bekannt ist. Der Staatsanwalt zeichnet verbal ein detailliertes, hypothetisches Bild eines Straftäters, das auf den Vorstrafen des Angeklagten und anderen Akten basiert. Dann fragt er den Doktor auf der Basis dieser Beschreibung: Wird ihrer Meinung nach der Angeklagte mit hinreichender medizinischer Wahrscheinlichkeit ... gewalttätige Straftaten begehen, die eine fortgesetzte Gefahr für die Gesellschaft darstellen? In dem Fall von Aaron Lee Fuller, der verurteilt wurde, weil er eine alte Frau zu Tode geprügelt und sich bei der Plünderung ihres Hauses an ihrer Leiche sexuell vergangen hatte, zitierte Rosenbaum Grigsons Antwort auf die Frage, ob ein hypothetischer Mörder, der dem Angeklagten Fuller ähnlich sei, wieder morden würde: »Was ist Ihre Meinung dazu, bitte?« »Meine Meinung ist, daß es völlig außer Frage steht und es keinerlei Zweifel geben kann, daß das von Ihnen beschriebene Individuum, das sich bereits mehrfach aufbrausend und gewalttätig verhalten hat, auch in Zukunft Gewalttaten verüben wird und eine sehr ernste Gefahr für eine Gesellschaft darstellt, in der er lebt.« »Heißt das, daß er für jede Gesellschaft eine Gefahr darstellt, auch für die Insassen einer Haftanstalt?« »Jawohl, auf jeden Fall. Er wird sich im Gefängnis genau so wie draußen verhalten.« [S. 166] Und das war das, schließt Rosenbaum. Die ganzen »medizinischen« und »wissenschaftlichen« Aussagen, die die Geschworenen brauchten – jedenfalls alle, die sie bekommen würden –, um das Urteil zu rechtfertigen, daß Aaron Lee Fuller zu gefährlich sei, um am Leben zu bleiben, daß Besserung nicht zu erwarten sei und daß er hingerichtet werden müsse. In seiner bejahenden Aussage zu einer bestimmten »Hypothese« nannte Grigson einen Angeklagten eine »schweren Soziopathen«. Allerdings ist es offenkundig, daß dieser Begriff als ein Synonym für Psychopathie im Sinne dieses Buches gemeint war. In einem Artikel zur Ethik der Prognose von Gefährlichkeit148 stellte Charles Ewing fest, daß allein Grigson in mehr als siebzig solcher Verfahren, von denen neunundsechzig mit einem Todesurteil geendet hätten, so ausgesagt habe. Weiterhin führte er aus, daß Grigson »kein Einzelfall« sei und daß Geschworene im ganzen Land ihre Entscheidungen auf solche Gutachten stützen würden. Der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat bestätigt, daß solche Gutachten von Psychiatern wie Grigson zulässig sind, falls der Gutachter darauf hinweist, daß seine Prognose lediglich seine Meinung darstellt. Die vom Widerstreit geprägte Strafprozeßordnung gestattet es, eine solche Meinung durch Gegengutachten anderer Sachverständiger in Frage zu stellen. Aber manche Gutachter sind sehr viel überzeugender als andere. Rosenbaum stellte fest, daß es für den etwas schrillen Grigson ein Leichtes sei, mit seinem Charisma jeden Zweifel an seiner Meinung auszuräumen und die Jury davon zu überzeugen, daß er im Recht sei. Grigsons Einstellung zur Tätigkeit eines Sachverständigen ist ungewöhnlich, um es vorsichtig auszudrücken. Ordentliche diagnostische Verfahren gemäß den Richtlinien der Berufsverbände der Psychologen und Psychiater erfordern eine gewissenhafte Untersu- 133 chung und Prüfung des Betroffenen und die Einhaltung weithin anerkannter und zuverlässiger diagnostischer Kriterien. Ein forensischer Psychiater aus einem südlichen Bundesstaat hat mir vor kurzem erzählt, daß er vor Gericht mit dem Argument erfolgreich gewesen sei, daß ein von ihm als Psychopath diagnostizierter Klient für einen Mord nicht zur Verantwortung gezogen werden könne, da »Ihre Studien gezeigt haben, daß Psychopathen organische Hirnschäden aufweisen«. Es wurde bald klar, daß er sich auf eine kurz vorher veröffentlichte neuropsychologische Studie bezog, in der wir allerdings zu dem Schluß gekommen waren, daß Psychopathen – mit Standardtests gemessen – keine organischen Schädigungen des Gehirns aufwiesen. Seine Aussage vor Gericht zugunsten seines Klienten beruhte auf einem Mißverständnis beim Lesen unserer Studie. Der Fehler des Psychiaters hat seinem Klienten das Leben gerettet: Er entging der Todesstrafe. Meiner Ansicht nach sind Grigsons Diagnoseverfahren und seine leichtfertigen Schlüsse aus wissenschaftlicher und klinischer Sicht nicht nur fragwürdig, sondern sie reflektieren auch einen seltsamen Glauben an die eigene Unfehlbarkeit als Juror über die Persönlichkeiten anderer Menschen. Selbst unter idealen Voraussetzungen, mit Zugang zu hochwertigen Informationen und unter Beachtung strikter diagnostischer Kriterien sind psychiatrische Diagnosen und Prognosen nicht fehlerfrei. Wenn eine Diagnose gravierende Auswirkungen nicht nur auf die Therapie, sondern auf das ganze Leben eines Menschen hat, müssen wir sicherstellen, daß sie innerhalb akzeptabler Grenzen zutrifft. Selbst wenn perfekte Diagnosen möglich wären (und sie sind es nicht), müßten wir uns darüber klar sein, daß sie nur bedingt Rückfallwahrscheinlichkeit oder zukünftige Gewalt vorhersagen könnten, weil schlichtweg die Variablen, die in eine Diagnose einfließen, nur einen Teil der Faktoren in der Persönlichkeit, der Gesellschaft und dem Umfeld reflektieren, die asoziales Verhalten hervorrufen. Trotzdem gibt es zahlreiche Belege dafür, daß eine sorgfältige Diagnose von Psychopathie anhand der PsychopathieCheckliste die mit den Entscheidungen der Strafjustiz verbundenen Risiken erheblich vermindert. Richtig angewendet kann sie dabei helfen, Delinquenten, die ein nur geringes Risiko für die Gesellschaft darstellen, von denjenigen zu unterscheiden, die ein hohes Rückfallrisiko sind oder eine hohe Gewaltbereitschaft haben. 11.5 Ein Werkzeug ist nur so gut wie sein Benutzer Die Psychopathie-Checkliste erfüllt eine wichtige Funktion als deskriptives und prognostizierendes Werkzeug, und sie ist schnell von Praktikern für unterschiedliche Zwecke eingesetzt worden. Allerdings: Ein Werkzeug zu haben und es richtig einzusetzen sind zweierlei Dinge. Das folgende Szenario illustriert dramatisch, welche Gefahren ein fehlerhafter Einsatz dieses Diagnoseinstruments mit sich bringt. Dr. J., ein forensischer Psychiater, der als Gutachter für die Staatsanwaltschaft wohlbekannt ist, hat in einem Verfahren zur Festsetzung des Strafmaßes ausgesagt, daß seiner Meinung nach ein verurteilter Straftäter mit mehreren Vorstrafen wegen Gewaltdelikten eine fortwährende Gefahr für die Gesellschaft darstellt. Diese Meinung basierte auf den Vorstrafen des Mannes und auf der Diagnose von Dr. J., daß er ein Psychopath gemäß der Psychopathie-Checkliste sei und sich daher sicherlich nicht ändern würde. Der Bericht von Dr. J. und seine Zeugenaussage spielten eine wichtige Rolle bei dem Versuch der Staatsanwaltschaft, den Mann für gefährlich zu erklären und zu einer unbefristeten Gefängnisstrafe zu verurteilen. Der Juniorpartner einer renommierten Anwaltskanzlei verteidigte den Angeklagten im Verfahren zur Festsetzung des Strafmaßes, sicherlich keine beneidenswerte Aufgabe angesichts der hervorragenden Reputation von Dr. J. Zufälligerweise kannte der Rechtsanwalt einen meiner ehemaligen Studenten, der mich auf den Fall aufmerksam machte 134 und mir eine Kopie des Berichts zeigte, den Dr. J. bei Gericht eingereicht hatte. Ich hatte gewisse Vorbehalte in Bezug auf diesen Bericht, und der Rechtsanwalt hat mich dann gefragt, ob es möglich wäre, unabhängige Beurteilungen des Angeklagten zu bekommen. Zwei meiner Mitarbeiter, beide sehr erfahren in der Anwendung der Psychopathie-Checkliste, führten den Test mit dem Delinquenten durch. Sie kamen beide zu dem Ergebnis, daß er kein Psychopath sei. Ich erklärte dem Rechtsanwalt und anschließend dem Gericht das Verfahren zur Erhebung und Auswertung der Psychopathie-Checkliste. Daraufhin verhörte der Anwalt Dr. J. über das von ihm angewendete Verfahren und konnte schnell darlegen, daß der Psychiater den sehr genauen Anweisungen des Handbuchs nicht gefolgt war. Stattdessen hatte er die Checkliste als eine Art Rahmen verwendet, um sich selbst eine fachliche Meinung zu bilden und sich einen Überblick über die seinerzeit verfügbare, umfangreiche wissenschaftliche Literatur zu verschaffen. (Dies ist ein unter Praktikern durchaus übliches Verfahren; das heißt, daß sie oft formale Diagnoseverfahren lediglich als Richtlinien verwenden, um sich selbst eine Meinung auf der Basis ihrer eigenen klinischen Erfahrungen zu bilden.) Der Richter wies die von Dr. J. gestellte Diagnose »Psychopathie« zurück und lehnte den Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine unbefristete Gefängnisstrafe ab. Die in diesem Kapitel angesprochenen ethischen Probleme entstehen aus zwei Ursachen: Dem Fehlen wissenschaftlich anerkannter Verfahren und fragwürdiger fachlicher Praxis. Diagnosen führen zu dauerhaften Etiketten; falsche Prognosen auf der Basis unzutreffender Diagnosen können zu Verwirrung und Unheil führen. Die Lösung des Problems und Vorbeugung gegen mögliches Desaster bestehen in der sorgfältigen Einhaltung der Verfahren, die aus solider wissenschaftlicher Forschungsarbeit entwickelt worden sind. Alles andere ist nicht akzeptabel. 135 12 Was kann man tun? Liebe Ann Landers, ich schreibe diesen Brief im Auftrag meiner Schwester, der Stiefmutter eines 22jährigen Schulabbrechers. Ich werde ihn »Denny« nennen. Der Vater des Jungen wurde von seiner ersten Frau geschieden, als Denny ein Säugling war. Es ist seit sieben Jahren mit meiner Schwester verheiratet. Meine Schwester hat Tausende von Dollar für den Jungen ausgegeben, zum Beispiel 10.000 Dollar für ein Militärinternat, von dem er wegen Schummelns, Lügens und Diebstahls verwiesen wurde. Sie hat Nachhilfelehrer engagiert, um ihm bei seinen Hausaufgaben zu helfen, hat ihn zu drei Psychologen gebracht, die ihr gesagt haben, er sei voller Feindseligkeit und hat ihn von Ärzten untersuchen lassen, die keine organischen Probleme festgestellt haben. Denny hat bei meiner Schwester und ihrem Mann, seiner Großmutter und seiner leiblichen Mutter gelebt. Jetzt lebt er bei einer Tante. Er arbeitet nicht, zahlt keine Miete und läßt sich gerne von jedem unterstützen, der dazu bereit ist. Meine Schwester und mein Schwager haben ihm Jobs vermittelt, die er aber nie lange behält. Sie haben sein Interesse für Sport unterstützt, ohne ihn allzu sehr zu verhätscheln, und nun gehen ihnen die Ideen aus. Denny hat durchaus seine Qualitäten: Er trinkt nicht und nimmt keine Drogen. Allerdings hat er die Hunde und Pferde meiner Schwester gequält. Er wurde dabei gesehen, wie er sie getreten und geschlagen hat. Wie kann dieser Junge motiviert werden? Wir befürchten, daß er auf die schiefe Bahn gerät, wenn nichts unternommen wird. Up Against It in Virginia Liebe Virginia, warum sollte ein 22jähriger arbeiten, wenn er mietfrei wohnen kann und von Verwandten unterstützt wird? Offenbar ist Denny völlig verhätschelt worden. Er ist ein wütender, verstörter junger Mann, dessen Leben aus einer endlosen Reihe von Problemen bestehen wird, wenn er nicht in eine Therapie geht und sein Gleichgewicht findet. Es wird viel harte Arbeit sein, aber es lohnt sich. Als erstes sollte er einen Schulabschluß machen. Zeigen Sie ihm diese Kolumne und sagen sie ihm, daß ich mich freuen würde, von ihm zu hören, falls er mir schreiben will. Ann Landers, Press Democrat, 8. Januar 1991 Ich weiß nicht, ob die Schwester von UP AGAINST IT IN VIRGINIA es mit einem psychopathischen Jungen zu tun hat. In diesem Falle allerdings wäre die Reaktion von Ann Landers typisch für einen Laien in unserer Gesellschaft: Hör auf, ihn zu verhätscheln, und schicke ihn in Therapie. Du könntest ihn sogar dazu anhalten, an Ann Landers zu schreiben. Das sind gutgemeinte Ratschläge, die wohl gerne von Menschen angenommen würden, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Aber falls die fragliche Person die Kriterien für Psychopathie erfüllt, müssen diese Ratschläge fehlschlagen, wenn nicht die Umstände und der Therapeut – und der Patient – sehr außergewöhnlich sind. Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich in einem Buch, das sich an Psychologen und Psychiater richtete, folgendes geschrieben: Mit wenigen Ausnahmen haben sich die herkömmlichen Formen der Psychotherapie, einschließlich Psychoanalyse, Gruppentherapie, klientbezogener Therapie und Psychodrama als ineffektiv bei der Behandlung von Psychopathie erwiesen. Die biologischen Therapien, einschließlich Psychochirurgie, Elektroschocktherapie und die Gabe unterschiedlicher Drogen haben auch keine wesentlich besseren Ergebnisse erzielt.149 136 Während ich dies schreibe, Anfang 1993, ist die Situation in Bezug auf Therapien im Wesentlichen unverändert. Tatsächlich haben viele Autoren zu diesem Thema angemerkt, daß in einem Buch über Psychopathie das Kapitel über Therapie das kürzeste sein sollte. Ein Fazit von einem Satz, wie zum Beispiel »Eine effektive Therapie ist nicht bekannt«, oder »Nichts hilft«, ist die gängige Zusammenfassung gelehrter Literaturkritiken. Da allerdings unsere sozialen Institutionen durch explodierende Kriminalitätsraten bedroht sind und unsere Justiz, die Psychiatrie und der Strafvollzug bis an die Grenze des Zusammenbruchs überlastet sind, ist es unumgänglich, daß wir unsere Suche nach Methoden fortsetzen, die den durch Psychopathie verursachten enormen gesellschaftlichen Schaden eindämmen können. Oft beschreiben Praktiker Psychopathen als Personen, deren starke psychologische Verteidigungsmechanismen effektiv Ängste unterdrücken können. Laboruntersuchungen stützen diese Sicht und lassen vermuten, daß es für ihre Fähigkeit, mit Streß umzugehen, biologische Gründe gibt. Das klingt fast so, als ob Psychopathen zu beneiden wären. Allerdings ist die andere Seite der Medaille, daß die Grenze zwischen furchtlos und tollkühn fließend ist: Psychopathen sind immer in Schwierigkeiten, zumeist weil ihr Verhalten nicht durch Ängste motiviert oder durch warnende Anzeichen für Gefahr beeinflußt wird. Wie Personen, die dunkle Sonnenbrillen in Innenräumen tragen, sehen sie »cool« aus, verpassen aber vieles von dem, was um sie herum passiert. Einige besonders schauerliche Beispiele für die Fähigkeit, in extrem prekärer Lage »cool« zu bleiben, sind kürzlich ans Tageslicht gekommen. Jeffrey Dahmer, der Mann aus Milwaukee, der unsägliche Verbrechen begangen hat, darunter Serienmord, Verstümmelungen und Kannibalismus, hat kühl und gezielt die Polizei davon überzeugt, daß ein nackter und blutender Teenager, der aus seiner Wohnung geflohen war, in Wirklichkeit ein erwachsener Liebhaber gewesen sei, der sich aus freiem Willen bei Dahmer aufhielt. Dahmer erzählte, daß die beiden lediglich einen Streit zwischen Liebhabern gehabt hätten, und die Polizei zog beruhigt von dannen und ließ den Jungen in Dahmers Gewalt zurück. Dahmer hat den Jungen kurz darauf ermordet. In seinem Verfahren, in dem er sich zu fünfzehn Morden als schuldig bekannte, aber wegen Geisteskrankheit auf Schuldunfähigkeit plädierte (die Jury befand ihn für geistig gesund), kamen Hinweise auf andere kritische Situationen ans Licht. So wurde zum Beispiel in einer Meldung von Associated Press vom 11. Februar 1992 beschrieben, wie Dahmer von der Polizei angehalten wurde, als er die Leiche seines ersten Opfers zur Müllkippe fuhr. Als ein Polizist den Strahl seiner Taschenlampe auf einen Plastiksack richtete, in dem sich die Leiche befand, erzählte Dahmer seelenruhig, daß er sich über die Scheidung seiner Eltern aufgeregt hätte und daß er, um sich wieder zu beruhigen, beschlossen hätte, auf einer nächtlichen Ausfahrt einen Beutel mit Müll zur Kippe zu bringen. Sie ließen ihn fahren. 137 12.1 Warum nichts zu funktionieren scheint Eine Grundannahme der Psychotherapie ist, daß der Patient Hilfe bei bedrohlichen oder schmerzlichen psychischen und emotionalen Problemen braucht und sucht: Ängste, Depressionen, schwaches Selbstwertgefühl, Gehemmtheit, Zwangsvorstellungen, Verhaltenszwänge, um nur einige zu nennen. Erfolgreiche Therapien erfordern auch die aktive Mitwirkung des Patienten auf der Suche nach Linderung für seine Symptome. Kurzum, der Patient muß erkennen, daß ein Problem existiert und muß es lösen wollen. Und das ist der springende Punkt: Psychopathen sind nicht der Meinung, daß sie psychische oder emotionale Probleme haben, und sie sehen keinen Grund, ihr Verhalten zu ändern und sich an gesellschaftliche Normen zu halten, mit denen sie nicht einverstanden sind. Das bedeutet, daß Psychopathen im Allgemeinen mit sich und ihrer Innenwelt durchaus zufrieden sind, auch wenn diese einem Außenstehenden als trostlos erscheinen mag. Sie sehen keine Fehler an sich selbst, erleben wenig persönliches Leid und finden ihr Verhalten rational, zweckmäßig und befriedigend; sie blicken nie mit Reue zurück oder mit Sorge in die Zukunft. Sie halten sich für überlegen in einer feindseligen Welt des Fressen und Gefressenwerdens, in dem andere Menschen Konkurrenten um Macht und Ressourcen sind. Psychopathen halten es für legitim, andere zu manipulieren und zu täuschen, um zu ihrem »Recht« zu kommen, und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind darauf angelegt, die vermeintliche Bösartigkeit ihrer Mitmenschen auszumanövrieren. Bei dieser Haltung ist es nicht überraschend, daß das Ziel der meisten psychotherapeutischen Ansätze an Psychopathen vorbeigeht. Es gibt andere Gründe, warum Psychopathen so miserable Kandidaten für Therapien sind: ¾ Psychopathen sind »stabile« Individuen. Was sie denken und tun, ist das Resultat einer starren Persönlichkeitsstruktur, die gegen äußere Einflüsse extrem resistent ist. Wenn sie in eine formale Behandlung eintreten, sind ihre Einstellungen und Verhaltensmuster bereits so fixiert, daß sie selbst unter den günstigsten Umständen nur schwer zu ändern sind. ¾ Viele Psychopathen werden vor den Konsequenzen ihres Verhaltens von wohlmeinenden Verwandten oder Freunden geschützt; ihr Verhalten bleibt relativ unauffällig und straflos. Andere wiederum sind geschickt genug, sich ohne allzu große Unbequemlichkeiten durchs Leben zu wurschteln. Und selbst diejenigen, die erwischt und für ihre Übertretungen bestraft werden, suchen die Schuld für ihre mißliche Lage beim System, bei anderen Menschen, ihrem Schicksal – nur nicht bei sich selbst. Viele genießen schlichtweg ihr Leben. ¾ Im Gegensatz zu anderen Menschen suchen Psychopathen nicht von sich aus Hilfe. Stattdessen werden sie von einer verzweifelten Familie zur Therapie gedrängt, oder sie begeben sich aufgrund einer gerichtlichen Anordnung in Behandlung oder als Auftakt für einen Antrag auf Bewährung. ¾ Sind sie erst einmal in Therapie, kooperieren sie nur zum Schein. Sie sind der emotionalen Intimität und tiefen Reflektion unfähig, nach der die meisten Therapien streben. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die kritisch für den Erfolg einer Therapie sind, haben keinen immanenten Wert für den Psychopathen. Hier ist die entmutigte Beschreibung eines Psychiaters von Psychopathen als Patienten (die er als Soziopathen bezeichnet): ... Soziopathen wollen sich nicht ändern, halten Einsichten für Entschuldigungen, haben keinen Lebensplan, lehnen jegliche Autorität – 138 einschließlich der des Therapeuten – ab, sehen die Rolle des Patienten als jämmerlich an, hassen es, in einer untergeordneten Rolle zu sein, halten Therapie für einen Witz und Therapeuten für Objekte, die man betrügen, bedrohen, einwickeln oder benutzen sollte.150 Das ist nicht gerade die selbstkritische Suche nach Einsichten und Erlösung, die sich ein Therapeut von seinem Patienten wünscht. Psychopathen lassen typischerweise den psychotherapeutischen Tanz nur über sich ergehen, und viele Therapeuten sind bereit, das zuzulassen. ¾ Die meisten Therapieprogramme erreichen wenig mehr, als Psychopathen neue Entschuldigungen und Rechtfertigungen für ihr Verhalten und neue Erkenntnisse über menschliche Schwächen zu liefern. Vielleicht erlernen sie neue und bessere Methoden, um andere Menschen zu manipulieren, aber zeigen wenig Interesse, ihre eigenen Ansichten und Einstellungen zu ändern oder einzusehen, daß andere Menschen Bedürfnisse, Gefühle und Rechte haben. Insbesondere sind Versuche, Psychopathen »echte Gefühle« von Reue oder Anteilnahme zu vermitteln, zum Scheitern verurteilt. Diese ernüchternden Schlußfolgerungen gelten sowohl für Einzeltherapien, in denen Therapeut und Patient eins-zu-eins interagieren, als auch für Gruppentherapien, in denen Menschen mit unterschiedlichen Problemen versuchen, voneinander zu lernen und neue Wege zu finden, über sich selbst und andere zu denken und zu fühlen. ¾ Wie ich bereits erwähnt habe, dominieren Psychopathen oft einzel- und gruppentherapeutische Sitzungen, indem sie anderen Teilnehmern ihre eigenen Ansichten und Interpretationen aufdrängen. So hatte zum Beispiel ein Gruppenleiter eines Therapieprogramms in einem Gefängnis folgendes über einen Häftling mit einer sehr hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste zu sagen: Er lehnt es ab, über Dinge zu reden, die er nicht selbst initiiert hat. Er mag es nicht, wegen seines Verhaltens zur Rechenschaft gezogen oder befragt zu werden ... Er lehnt es ab, einzusehen, daß er die Kommunikation blockiert und die Therapiegruppe durch seine langatmigen Monologe dominiert, mit denen er Diskussionen über sein eigenes Verhalten zu verhindern sucht. Und doch schrieb der Psychiater, kurz nachdem er das Vorstehende zu Papier gebracht hatte: Ich bin sicher, daß er sich gebessert hat. Er übernimmt Verantwortung für sein Verhalten. Und ein Psychologe schrieb: Er hat gute Fortschritte gemacht ... Er scheint sich mehr um andere zu kümmern und scheint viel von seiner kriminellen Denkweise aufgegeben zu haben. Zwei Jahre nach diesen optimistischen Aussagen über ihn wurde der Häftling von einer Doktorandin für eines meiner Forschungsprojekte interviewt. Sie sagte, daß er der furchteinflößendste Verbrecher sei, dem sie jemals begegnet ist und daß er offen damit angegeben hätte, wie er dem Gefängnispersonal vorgetäuscht hätte, daß er sich auf dem Weg der Rehabilitation befinde. »Ich verstehe diese Typen nicht«, sagte er. »Woher haben die ihre Lizenz? Ich würde sie noch nicht einmal meinen Hund analysieren lassen! Er würde sie komplett verarschen, genauso wie ich.« Ein 40jähriger Mann mit 55 Verurteilungen wegen Betrugs, Urkundenfälschung und Diebstahls in drei Ländern versuchte, seine Auslieferung aus Kanada zu 139 verhindern, indem er behauptete, er hätte sich durch seine Freundschaft mit einer 76jährigen blinden Frau gebessert. Ein psychiatrischer Bericht von 1985 hatte den Mann als »stets angenehm, höflich, intelligent und einnehmend« beschrieben, aber auch als einen krankhaften Lügner »mit einer tiefsitzenden Persönlichkeitsstörung.« Der Anwalt bei der Einwanderungsbehörde bezeichnete ihn als einen »krankhaften Lügner, der mit seinem Charme jeden einwickeln könne«, »einen notorischen Lügner, der Fakt und Fiktion nicht auseinanderhalten könne« und einen klassischen Hochstapler. Der Anwalt wies darauf hin, daß der betreffende Mann in den späten Achtzigern aus einem US-Gefängnis auf Bewährung entlassen worden sei, gegen die Bewährungsauflagen verstoßen hätte und nach Kanada geflohen sei. Dort schlug er sich nach Vancouver durch und »ließ eine Serie wertloser Schecks flächendeckend hinter sich«. Die Pointe ist, daß er jetzt behauptet, sein Leben durch Selbstfindungs-Sitzungen in einem christlichen Meditationszentrum geändert zu haben, das von der oben erwähnten Frau geleitet wurde. Seinen Behauptungen, geläutert zu sein, wurde durch Zeugen widersprochen, die aussagten, daß er weiterhin wertlose Schecks verteile und seine Rechnungen nicht bezahle. [Aus einem Artikel von Moira Farrow in The Vancouver Sun vom 2. März 1991] 12.2 Therapie kann ihr Verhalten verschlimmern Eine Art von Gruppentherapie ist ein wichtiger Bestandteil der meisten Behandlungsprogramme, die im Gefängnis durchgeführt oder durch Gerichte angeordnet werden. Gruppentherapie wird manchmal eingebettet in eine »Therapiegemeinschaft«, in der den Häftlingen oder Patienten erhebliche Verantwortung für die Gestaltung ihres Lebens übertragen wird. Das Vollzugspersonal ist ein integraler Bestandteil dieser Gemeinschaft und ist speziell dafür ausgebildet, auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Patienten einzugehen und sie menschenwürdig und respektvoll zu behandeln. Solche Programme sind intensiv und durch die notwendigen Einrichtungen und das erforderliche Personal sehr kostspielig, und sie sind bei den meisten Delinquenten einigermaßen erfolgreich. Aber bei Psychopathen funktionieren sie nicht. Beweise für diese kategorische Aussage ergeben sich aus mehreren kürzlich an forensischen Patienten durchgeführten Studien, die Teilnehmer eines Programms mit Therapiegemeinschaft waren. In jedem Falle wurden die Patienten anhand der PsychopathieCheckliste untersucht. ¾ In einer Studie waren die Psychopathen wenig motiviert, Erfolge zu erzielen, brachen die Behandlung vorzeitig ab und zogen wenig Nutzen aus dem Programm. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis war ihre Rückfallquote wesentlich höher als bei anderen Patienten.151 ¾ In einer anderen Studie war für Psychopathen die Wahrscheinlichkeit für neuerliche Gewalttaten nach der Entlassung aus einem Programm mit Therapiegemeinschaft fast viermal so hoch wie bei anderen Patienten.152 Das Programm zeigte aber nicht nur wenig Wirkung bei Psychopathen, es könnte ihr Verhalten sogar verschlimmert haben! Psychopathen, die nicht an dem Programm teilgenommen hatten, waren nach ihrer Entlassung aus der Anstalt weniger gewalttätig als die therapierten Psychopathen. Auf den ersten Blick erscheint diese Erkenntnis als absurd. Wie kann ein Mensch durch Psychotherapie schlimmer werden? Aber dieses Ergebnis ist keinesfalls überraschend für diejenigen, die solche Programme durchführen. Sie berichten, daß die Psychopathen gewöhnlich die Sitzungen dominieren und den Gruppenleiter und andere Patienten in Scheindebatten (»head games«) verwickeln. »Dein Problem ist, daß du Frauen verge140 waltigst, weil du sie unbewußt dafür bestrafen willst, was deine Mutter dir angetan hat«, erzählt der Psychopath belehrend einem anderen Patienten. Gleichzeitig bietet er manchen Einblick in sein eigenes Verhalten. Leider eröffnen solche Programme dem Psychopathen lediglich bessere Methoden, andere Menschen zu manipulieren, zu täuschen und auszunutzen. Mit den Worten eines Psychopathen sind »solche Programme wie ein Kurs für Fortgeschrittene. Man lernt, wie man Leute unter Druck setzt.« Sie sind auch eine ergiebige Quelle wohlfeiler Entschuldigungen für das Verhalten des Psychopathen: »Ich bin als Kind mißhandelt worden« oder »Ich habe es nie gelernt, meine Gefühle wahrzunehmen«. Retrospektive Erkenntnisse dieser Art erklären wenig, klingen aber gut für diejenigen, die ein Ohr dafür haben. Ich staune immer wieder, wie bereitwillig manche Therapeuten solche Aussagen ernst nehmen. Gruppentherapie und Programme mit Therapiegemeinschaften sind nicht die einzigen Quellen neuer Taktiken, durch die Psychopathen andere davon überzeugen, daß sie sich geändert haben. Häufig machen sie Gebrauch von Fortbildungsprogrammen im Gefängnis; Kurse in Psychologie, Soziologie und Kriminologie sind sehr beliebt. Solche Programme mögen wohl, ebenso wie Therapieprogramme, dem Psychopathen wenig mehr als oberflächliches Verständnis und Wissen über Terminologie und Konzepte – Schlagworte – zwischenmenschlicher und emotionaler Prozesse vermitteln, aber sie versetzen ihn in die Lage, Leichtgläubige davon zu überzeugen, daß sie geläutert seien und ein »neues Leben« begonnen hätten. 12.3 Junge Psychopathen Logischerweise ist die beste Möglichkeit, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Psychopathie bei Erwachsenen zu reduzieren, das Problem so früh wie möglich zu behandeln. Allerdings sind Anstrengungen in dieser Richtung bisher nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Nach einer umfassenden Auswertung von Behandlungsprogrammen kam der Soziologe William McCord zu dem Schluß, daß »Versuche, eine Person früh im Leben von ihren psychopathischen Verhaltensmustern abzubringen« im Allgemeinen nicht erfolgreich gewesen waren.153 Trotzdem setzte er Hoffnungen in Programme, in denen das soziale und materielle Umfeld des Betroffenen völlig verändert und die gesamten Ressourcen der Anstalt eingesetzt wurden, um grundlegende Änderungen seiner Einstellungen und Verhaltensweisen herbeizuführen. Aber die Ergebnisse eines solchen, von McCord detailliert beschriebenen Programms sind ernüchternd. Obwohl die Einstellungen und Verhaltensweisen psychopathischer Heranwachsender sich während und nach dem Programm zu bessern schienen, verflüchtigte sich die Wirkung mit zunehmendem Alter wieder. Die Lage mag sich ändern, wenn wir mehr über die Wurzeln der Psychopathie erfahren. Außerdem haben Psychologen Interventionsprogramme entwickelt, die durchaus erfolgreich die Einstellungen und Verhaltensweisen von Kindern und Heranwachsenden mit unterschiedlichen Verhaltensstörungen ändern können. Viele dieser Programme befassen sich nicht nur mit dem Kind, sondern auch mit seinem familiären und sozialen Umfeld, in dem die Probleme auftreten.154 In einem sehr frühen Alter angewendet, könnten manche dieser Programme nützlich dabei sein, die Verhaltensmuster »knospender Psychopathen« zu verändern; vielleicht, indem sie Aggression und Impulsivität reduzieren und sie Strategien einer sozialverträglicheren Form der Bedürfnisbefriedigung lehren. 141 12.4 Noch ein ernüchternder Gedanke Fast alle Belege für die Wirksamkeit von Behandlungen an Psychopathen stammen aus Programmen für Menschen, die sich im Gefängnis oder in psychiatrischen Anstalten befinden oder im Konflikt mit dem Gesetz stehen. Viele dieser Programme sind intensiv, wohlüberlegt und werden unter relativ guten Bedingungen durchgeführt. Und trotzdem sind sie nicht effektiv. Selbst wenn ein Programm eine Änderung der Einstellungen und Verhaltensweisen von Psychopathen erreichen könnte, gäbe es keine Möglichkeit, es für Millionen Psychopathen einzusetzen, die nicht in Haft sind oder unter gerichtlichen Auflagen stehen, sich in Behandlung zu begeben. Es gibt kaum Hoffnung, daß ein beliebiger Psychopath auf der Straße auch nur erwägen würde, an einem solchen Programm teilzunehmen. Und die Gesellschaft hat keine Handhabe, um ihn dazu zu zwingen. Gelegentlich wird in Fallberichten oder -anekdoten behauptet, daß ein bestimmtes Verfahren eine positive Wirkung auf Psychopathen gezeigt habe. So haben mir zum Beispiel in den letzten Jahren mehrere Personen erzählt, daß es ihnen gelungen sei, erhebliche Verbesserungen im Verhalten eines Psychopathen zu erzielen, mit dem sie zusammenleben. Sie können nicht verstehen, warum ich nicht über ihre Erfahrungen ganz begeistert bin. Vielleicht ist ihnen ein therapeutischer Durchbruch gelungen – aber leider gibt es keine Möglichkeit, das zu verifizieren. War die therapierte Person tatsächlich ein Psychopath? Hat sie sich im mittleren Alter gebessert, in dem sich das Verhalten mancher Psychopathen »spontan« zum Besseren ändert? Wie hat sich die Person vor der Veränderung verhalten? Und woher wissen wir, daß es der »Psychopath« war, der sich geändert hat? Viele Menschen verwechseln Verbesserungen im Verhalten von Psychopathen mit Änderungen ihres eigenen Umgangs mit der jeweiligen Person. So könnte zum Beispiel eine Frau mit einem psychopathischen Mann sagen, daß sein Verhalten nicht mehr so schlimm sei wie früher. Was aber tatsächlich passiert sein könnte, ist, daß sie gelernt haben könnte, mit dem Problem umzugehen, indem sie ihm aus dem Weg geht oder sich besonders anstrengt, um seine Bedürfnisse und Forderungen zu erfüllen. Sie könnte ihre eigene Persönlichkeit begraben und ihre Bedürfnisse und Hoffnungen geopfert haben, um die Konflikte und Spannungen in der Beziehung zu vermindern. Wir können Behauptungen über wirksame Behandlungen für Psychopathie nicht ernst nehmen, wenn sie nicht auf sorgfältig kontrollierten empirischen Untersuchungen beruhen. 12.5 Sollten wir einfach aufgeben? Auch wenn der aktuelle Wissensstand deprimierend ist, sollten wir einige Punkte berücksichtigen, bevor wir Psychopathen als nicht therapierbar oder führbar abschreiben. ¾ Erstens hat es, trotz hunderter von Versuchen, solche Menschen zu behandeln und der großen Vielzahl unterschiedlicher versuchter Methoden, nur einige wenige Programme gegeben, die ausreichenden wissenschaftlichen und methodischen Standards genügen. Dies ist ein wichtiger Punkt, da es bedeutet, daß die Datenbasis für unsere Schlußfolgerungen nicht besonders tragfähig ist. Dies gilt sowohl für die zahlreichen Berichte, daß ein bestimmtes Programm nicht funktioniert hätte, als auch den gelegentlichen Bericht, daß etwas funktioniert hätte. Der größte Teil unseres Wissens basiert hauptsächlich auf klinischer Folklore, einzelnen Fallstudien, dürftigen diagnostischen und methodischen Verfahren sowie inadäquaten Auswertungen der jeweiligen Programme. In der Tat, der Stand der Literatur über Therapien für Psychopathie ist erschreckend. 142 Vielleicht die größte Frustration beim Lesen der Literatur über Therapieprogramme entsteht dadurch, daß die diagnostischen Verfahren oft hoffnungslos inadäquat sind oder nur so vage beschrieben werden, daß es unmöglich ist, festzustellen, ob ein bestimmtes Programm überhaupt etwas mit Psychopathie zu tun gehabt hat. Ein weiteres ständiges Problem bei dem Versuch, ein Behandlungs- oder Führungsprogramm zu bewerten, ist das Fehlen sorgfältig ausgesuchter Kontroll- oder Vergleichsgruppen. Wir wissen, daß das Verhalten vieler Psychopathen sich mit zunehmendem Alter bessert, und es ist wichtig, das Ausmaß festzustellen, in dem ein bestimmtes Therapieprogramm die »natürlichen« oder »spontanen« Änderungen bei zunehmenden Alter verstärkt. ¾ Zweitens sind nur wenige Therapieprogramme speziell für Psychopathen entwikkelt worden, und die wenigen, bei denen das der Fall ist, haben mit so vielen Fragen administrativer, exekutiver und öffentlicher Verordnungen zu kämpfen, daß sie bald zu etwas anderem werden, als ursprünglich beabsichtigt war. Tatsache ist, daß ein gut konzipiertes und methodisch sauberes Programm für die Behandlung von Psychopathen erst noch entwickelt, durchgeführt und ausgewertet werden muß. ¾ Der dritte Punkt ist, daß manche unserer Anstrengungen, Psychopathen zu behandeln, unangebracht sein könnten. Der Begriff »Behandlung« impliziert, daß es etwas zu behandeln gibt: Krankheit, subjektives Leiden, schlecht angepaßtes Verhalten, etc. Aber Psychopathen sind, soweit wir das feststellen können, völlig zufrieden mit sich selbst, und sie erkennen keine Notwendigkeit für eine Behandlung, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Es ist sehr viel einfacher, die Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen zu ändern, wenn sie damit unglücklich sind, als wenn sie sie für völlig normal und logisch halten. Aber ist nicht das Verhalten von Psychopathen schlecht angepaßt? Die Antwort ist, daß es für die Gesellschaft schlecht angepaßt sein mag, aber für die betroffenen Individuen selbst durchaus angepaßt ist. Wenn wir Psychopathen auffordern, ihr Verhalten so zu ändern, daß es unseren Erwartungen und Normen entspricht, könnten wir etwas von ihnen verlangen, was gegen ihre »Natur« ist. Sie mögen unserer Forderung nachkommen, aber nur, wenn das in ihrem eigenen besten Interesse ist. Programme, die darauf abzielen, Psychopathen dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern, müssen das berücksichtigen – sonst sind sie zum Scheitern verdammt. »Jedermann schwört, Psychopathen könnten nicht behandelt werden. Das ist großer Unsinn«, hat Joseph Fredricks gesagt, ein homosexueller Pädophiler, dessen lange Historie von Gewalt den Mord an einem 11jährigen Jungen einschließt. »Psychopathen sind so menschlich wie jeder andere auch. Sie sind Psychopathen, weil sie sensibler als andere Menschen sind ... Sie können keinen wie auch immer gearteten Schmerz ertragen, darum vermeiden sie ihn«, hat er gesagt. [Canadian Press, 22. September 1992] 143 12.6 Elemente eines neuen Programms Unter dem Eindruck der dringenden Notwendigkeit, neue Wege für den Umgang mit kriminellen Psychopathen zu finden und in Kenntnis des vorherrschenden Pessimismus in Bezug auf herkömmliche Behandlungsprogramme hat mich die kanadische Regierung kürzlich aufgefordert, ein experimentelles Programm zur Behandlung und Führung solcher Delinquenten zu entwickeln. Ich habe die Herausforderung aus zwei Gründen angenommen. Erstens, wie oben bereits erwähnt, hatten bisherige Programme in der Regel mehrere Fehler und keines hatte ein solides Fundament in den jüngsten Fortschritten in Theorie und Forschung sowie den neueren, im klinischen Bereich und im Strafvollzug gemachten Erfahrungen. Zweitens besteht offensichtlich ein dringender Bedarf an Programmen, die die Wahrscheinlichkeit verringern können, daß psychopathische und andere Straftäter sowohl im Gefängnis als auch nach ihrer Entlassung Gewalttaten begehen. Ich habe ein internationales Gremium von Fachleuten der Psychopathie, Psychiatrie, Kriminologie, des Strafvollzugs und der Programmentwicklung und -auswertung zusammengestellt.155 Auf mehreren Konferenzen haben wir beschlossen, unsere Anstrengungen auf Psychopathen und andere gewaltbereite Delinquenten zu konzentrieren und ein grobes Konzept eines Modellprogramms geschmiedet, dessen Erfolgschancen wir für einigermaßen aussichtsreich hielten. Die Regierung hat kürzlich beschlossen, dieses Programm umzusetzen, und es werden Schritte unternommen, den Probebetrieb in einer staatlichen Anstalt aufzunehmen. Wenn es auch nicht möglich ist, das Programm in diesem Buch detailliert zu beschreiben, können doch einige allgemeine Prinzipien umrissen werden. Zum großen Teil basieren diese Prinzipien auf der Ansicht, daß die Prämisse der meisten Korrektivprogramme – nämlich, daß die meisten Delinquenten irgendwie vom rechten Weg abgekommen seien und lediglich resozialisiert werden müßten – in Bezug auf Psychopathen falsch ist. Aus Sicht der Gesellschaft sind Psychopathen nie auf dem rechten Weg gewesen, sie tanzen zu ihrer eigenen Melodie. Das bedeutet, daß das Programm für Psychopathen weniger darauf abzielen wird, zu versuchen, Mitgefühl oder ein Gewissen auszubilden, als vielmehr darauf, sie nachdrücklich davon zu überzeugen, daß ihre Einstellungen und Verhaltensweisen nicht in ihrem besten Interesse sind und daß sie die Verantwortung für ihr Verhalten tragen müssen. Gleichzeitig werden wir versuchen, ihnen zu zeigen, wie sie ihre Stärken und Fähigkeiten einsetzen können, um ihre Bedürfnisse sozialverträglich zu befriedigen. Notwendigerweise wird das Programm strikte Kontrolle und Aufsicht durchsetzen und klare und strikte Konsequenzen für die Verletzung der Regeln des Programms, der Anstalt und der Gesellschaft festlegen. Es wird sich auch die Tendenz mancher Psychopathen, sich mit dem Erreichen eines mittleren Alters »spontan« zu bessern, zunutze machen und versuchen, solche Entwicklungen zu beschleunigen. Dem stationären Teil des Programms werden nach der Entlassung in die Gesellschaft strikte Kontrolle und intensive Aufsicht folgen. Die Struktur des Programms wird es ermöglichen, unterschiedliche Behandlungsteile oder Module empirisch auszuwerten (was für bestimmte Personen funktioniert und was nicht). Manche Module könnten bei Psychopathen, aber nicht bei anderen Teilnehmern Wirkung zeigen und umgekehrt. Die Teilnehmer des Programms werden mit sorgfältig ausgesuchten (unbehandelten) Kontrollgruppen von Delinquenten verglichen werden. Ein solches Programm wird kostspielig sein und stets der Gefahr unterliegen, verwässert zu werden, durch veränderte Anforderungen der Anstalt, politischen Druck und Belange der jeweiligen Gemeinde. Und es ist zu erwarten, daß die Ergebnisse bestenfalls be144 scheiden sein werden. Jedoch sind die Alternativen – die enormen Kosten, gewaltbereite Täter in Haft zu halten oder das Risiko, sie zu entlassen – nicht sehr attraktiv. 12.7 Wenn nichts funktioniert, was dann? Hat man es mit einem echten Psychopathen zu tun, ist es wichtig, sich klarzumachen, daß gegenwärtig die Prognose für eine nennenswerte Besserung seiner Einstellungen und Verhaltensweisen schlecht ist. Auch wenn das oben beschriebene experimentelle Programm Früchte tragen sollte, wird es bei Psychopathen, die nicht inhaftiert sind oder unter strikter Aufsicht stehen, wenig ausrichten können. Falls Sie mit einem Psychopathen zusammenleben oder verheiratet sein sollten, könnte Ihnen der Verdacht kommen, daß sich nichts zum Besseren ändern wird, und es könnte sich das Gefühl einstellen, daß Sie in einer Falle sitzen, aus der Sie sich nicht befreien können, ohne sich oder andere – insbesondere Ihre Kinder – zu gefährden. Das Problem ist besonders schwierig – und gefährlich – für eine Frau, die mit einem psychopathischen Mann zusammenlebt, der den Drang hat, andere Menschen zu besitzen und zu beherrschen. Viele Frauen mögen sich denken: »Vielleicht geht es, wenn ich mich ändere. Ich kann mir mehr Mühe geben, ihm aus dem Weg gehen, toleranter sein, etwas mehr nachgeben«. Der wachsende Bestand an Literatur über eheliche Gewalt belegt allerdings, daß solche Änderungen nur selten etwas bewirken, außer vielleicht, das Problem zu verstärken und zu verlängern. Natürlich ist es die beste Strategie, sich gar nicht erst auf einen Psychopathen einzulassen. Zugegeben, das ist leichter gesagt als getan. Aber Sie können einige Maßnahmen treffen, um sich zu schützen. Sollten sie nicht greifen, können Sie nur noch versuchen, Ihr Leiden zu minimieren. Das nächste Kapitel bietet einige praktische Ratschläge zum Selbstschutz und zur Schadensbegrenzung an. 145 13 Überlebenshilfe Die Polizei sagt uns, daß ein entschlossener Einbrecher auch in ein optimal gesichertes Haus eindringen kann. Allerdings sagt sie auch, daß das Risiko, zum Opfer eines Einbruchs zu werden, durch Kenntnis der Arbeitsweise von Einbrechern, gesunden Menschenverstand und eine gute Alarmanlage oder einen wachsamen Hund reduziert werden kann. Genauso kann man, obwohl niemand vor den tückischen Intrigen eines Psychopathen gefeit ist, manches tun, um sich besser zu schützen. 13.1 ¾ Schützen Sie sich Sie müssen wissen, womit Sie es zu tun haben. Das klingt einfach, kann aber in Wirklichkeit sehr schwierig sein. Wenn auch dieses Buch eine Hilfe sein sollte, kann Sie alle Lektüre dieser Welt nicht vor den verheerenden Schäden durch Psychopathen schützen. Jeder Mensch, einschließlich der Experten, kann von ihnen vereinnahmt, manipuliert, betrogen und verwirrt zurückgelassen werden. Ein geschickter Psychopath kann ein Konzert auf der Gefühlsklaviatur jedes Menschen spielen. Psychopathen trifft man in jeder Schicht der Gesellschaft an, und es ist relativ wahrscheinlich, daß Sie eines Tages eine schmerzhafte oder demütigende Begegnung mit einem von ihnen haben werden. Ihr bester Schutz ist es, das Wesen dieser Raubtiere in Menschengestalt zu verstehen. ¾ Lassen Sie sich nicht von »Requisiten« beeindrucken. Es ist nicht leicht, das gewinnende Lächeln, die vereinnahmende Körpersprache und das unaufhörliche Gerede eines typischen Psychopathen zu durchschauen, das alles macht uns blind für seine wahren Absichten. Aber es gibt einiges, was man versuchen kann. Zum Beispiel sollten Sie sich nicht zu sehr beeindrucken lassen von ungewöhnlich vereinnahmenden Qualitäten eines Menschen, dem Sie begegnen – blendende Erscheinung, schillerndes Charisma, hypnotisierende Körpersprache, einschmeichelnde Stimme und endloses verbales Sperrfeuer. Wie bei einem Taschenspieler kann jede dieser Eigenschaften Sie sehr geschickt von der wirklichen Botschaft der Person ablenken. Viele Menschen finden es schwierig, mit dem intensiven, gefühllosen oder »raubtierhaften« Starren eines Psychopathen umzugehen. Normale Menschen halten aus verschiedenen Gründen einen engen Blickkontakt, aber der starre Blick eines Psychopathen ist eher der Auftakt zur Durchsetzung eigener Wünsche und zu Machtproben als schlichtes Interesse oder mitfühlende Sorge.156 Manche Menschen reagieren auf das gefühlskalte Starren des Psychopathen mit erheblichem Unbehagen, fast so, als fühlten sie sich als potentielles Opfer in der Gegenwart eines Raubtiers. Andere wiederum mögen sich völlig überwältigt und eingeschüchtert fühlen, oder gar gesteuert, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht. Was immer auch die psychologische Bedeutung ihres starren Blicks sein mag – es ist klar, daß intensiver Blickkontakt ein wichtiger Faktor bei der Fähigkeit mancher Psychopathen ist, andere Menschen zu manipulieren und zu dominieren. Das nächste Mal, wenn Sie es mit einer Person zu tun haben, deren nonverbale Manierismen oder Tricks – fesselnder Blickkontakt, pathetische Handbewegungen, theatralisches Gehabe, und so weiter – Sie zu überwältigen drohen, schließen Sie die Augen oder schauen Sie weg und hören Sie sich sorgfältig an, was die Person sagt. 146 Sind die Augen die »Fenster zur Seele«? Viele Menschen glauben das. Obwohl die Augen de facto sehr trügerische Indikatoren des Seelenlebens von Menschen sind, so haben sie doch einen gewissen Informationsgehalt, besonders dann, wenn ihre Botschaft nicht mit dem Gesichtsausdruck oder dem Gesagten zusammenzupassen scheint. »Wenn die Augen eines sagen und die Zunge etwas anderes, verläßt sich ein erfahrener Mann auf die Sprache der Augen«, ist nur eine der vielen Maximen, die hier zitiert werden könnten. Eine Bekannte hat mir von ihren Erlebnissen mit einem »Liebesdieb« erzählt, einem Mann, der sich ihre Zuneigung erschlichen hatte, um sie dann dazu zu benutzen, sie emotional zu steuern und zu mißbrauchen. »Ich fand es schwierig, ihm in die Augen zu sehen, weil sie mich verwirrt haben. Ich konnte nicht herausfinden, was hinter ihnen steckte und sie haben mir nicht mitgeteilt, was er dachte oder was seine Absichten waren«, sagte sie. Klinische Anekdoten über den »leeren« Blick von Psychopathen gibt es zur Genüge, aber die anschaulichsten Beschreibungen ihres beunruhigenden Starrens findet man in Büchern, die über reale Verbrechen berichten. So hatte zum Beispiel James Clark in seinem Buch LAST RAMPAGE folgendes über Gary Tison zu sagen, einen verurteilten Mörder, der meisterhaft das Gefängnissystem manipuliert hat, mit der Hilfe seines Sohnes aus dem Gefängnis fliehen konnte und eine grausige Mordserie beging: Aber Garys auffallendstes Merkmal – das, was die meisten Menschen an ihm bemerken und nie wieder vergessen – waren seine tiefliegenden, ausdruckslosen ... Augen. Es war, als ob seine Augen keine Verbindung zu den Gefühlen hatten, die er ausdrückte. Wie auch immer seine Laune war – ob er wütend war, fröhlich oder irgendwas dazwischen –, seine Augen blieben immer gleich. Es war nicht möglich, festzustellen, ob Gary etwas dachte oder fühlte, indem man in seine Augen schaute Sein starrer Blick war fesselnd, beunruhigend und hatte eine unheilvolle Intensität. Was die Menschen am meisten an Gary erinnerten, waren seine kalten, harten Augen. [S. 4] Joseph Wambaughs Buch ECHOES IN THE DARKNESS handelt von William Bradfield und Jay Smith, zwei High School-Lehrern, die für die Tötung einer Kollegin und ihrer zwei Kinder verurteilt worden sind (ersterer 1983 und der letztere 1986). Das Buch enthält zahlreiche Verweise auf die Augen der beiden Männer. So hatte Wambaugh zum Beispiel folgendes über Bradfield zu sagen: Er hatte brütende blaue Augen ... Sein starrer Blick war so intensiv, daß er jemanden fesseln konnte; seine blauen Augen wurden verschiedentlich als »poetisch«, »eisig« oder »hypnotisch« bezeichnet, abhängig von seiner Laune. Ein Kollege berichtete, daß »er dich einschüchtert mit diesen stechenden blauen Augen. Er war so intensiv, es war manchmal unheimlich.« Er fixierte Rick Guida (den Staatsanwalt) mit seinem berüchtigten Starren, dem ein FBI-Agent erzählt hatte, daß er einmal wegen Bradfields stechenden Blicks zwei Schritte hinter ihm geblieben war. Guida wurde durch sein Starren förmlich niedergeschmettert. Er wurde buchstäblich zu Boden geworfen. Er setzte sich und spielte mit dem Hund ... Als Bradfield sein Starren an dem Polizeibeamten Jack Holtz ausprobieren wollte, starrte der zurück und sagte: »Der Unsinn funktioniert nur bei intelligenten Leuten.« 147 Ebenso interessant war Wambaughs Beschreibung von Jay Smith, der vor kurzem durch den obersten Gerichtshof von Pennsylvania wegen Verfahrensfehlern freigelassen worden ist. Die Sekretärin von Smith soll gesagt haben: Solch ein Augenpaar haben Sie im Leben noch nicht gesehen. Sie hatten kein Gefühl. Vielleicht denken Sie, daß Sie manche Leute mit kalten Fischaugen kennen, aber nicht so. Wambaugh kommentierte, »es waren keine Fischaugen. An diesen Augen haben sich Zeitungsredakteure noch Jahre später festgehalten, um Eindruck zu schinden. Sie wurden als ›reptilhaft‹ bezeichnet, das traf es aber auch nicht.« Später sagte er, daß alle Lehrer »Schwierigkeiten hatten, die Augen ihres Direktors zu beschreiben. ›Amphibisch‹ kommt einem in den Sinn, das stimmte aber auch nicht genau.« Endlich fiel der Sekretärin von Smith ein, woran sie seine Augen erinnerten, sagte Wambaugh. »Nicht Fisch, nicht Reptil ... sondern die Augen einer Ziege!« ... »Das, mein Freund, ist der Prinz der Finsternis«, sagte ein Lehrer. [S. 18] Können die Augen die Inkarnation des Teufels verraten, was ja der Kommentar des Lehrers impliziert? In Fällen, wo ein wirklicher oder fiktiver Serienmörder – ein Ted Bundy oder Hannibal Lecter – unsägliche Verbrechen begeht, kann man kaum etwas anderes glauben. Allerdings entsteht das Verhalten von Psychopathen – einschließlich der wenigen, die morden und verstümmeln – wahrscheinlich eher aus einem völligen Desinteresse an den Gefühlen oder dem Wohlergehen anderer Menschen als aus dem Bösen an sich. Ihre Augen sind die eines emotionslosen Raubtiers, nicht die des Satans. Aber so interessant sie auch sein mögen, sollten doch solche Anekdoten und Beispiele uns nicht in der falschen Sicherheit wiegen, daß wir einen Psychopathen zuverlässig an seinen Augen erkennen könnten. Es ist nur allzu leicht, den Blick anderer Menschen falsch zu deuten und daraus falsche Rückschlüsse auf Charakter, Absichten und Ehrlichkeit zu ziehen. Etwas anderes zu glauben, bedeutet Unheil. ¾ Vermeiden Sie Scheuklappen. Gehen Sie mit offenen Augen in neue Beziehungen. Wie die meisten von uns verbergen psychopathische Schwindler und »Liebesdiebe« zunächst ihre dunkle Seite und präsentieren sich im besten Licht. Aber sie werden den Umstand in viel höherem Maße ausnutzen, daß soziale Beziehungen auf Vertrauen beruhen und daß wir unmöglich jede ihrer Äußerungen und Aktionen mit penibler und zynischer Aufmerksamkeit analysieren können. Daher versuchen sie typischerweise, ihre Opfer zu überwältigen mit Schmeichelei, geheucheltem Interesse und falscher Freundlichkeit sowie erlogenen Geschichten über finanzielle Transaktionen und sozialen Status. Bald schon könnten sich Risse in ihrer Maske zeigen, aber wenn Sie erst einmal in ihrem Netz von Täuschung und Manipulation gefangen sind, wird es schwierig, finanziell und emotional unversehrt zu entkommen. Die Polizei und die Verbraucheranwälte sagen uns, daß besondere Vorsicht geboten ist, wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein. Das ist ein guter Ratschlag und wird, wenn er denn befolgt wird, dabei helfen, sich vor der potentiell tödlichen Falle des Psychopathen zu schützen. Zumindest sollten Sie sich die Zeit nehmen, den Hintergrund eines neuen Bekannten zu überprüfen, der ein finanzielles oder romantisches Interesse an Ihnen zeigt. Damit will ich nicht sagen, daß sie jedes Mal einen Privatdetektiv anheuern sollten, wenn sie jemandem auf einer Party oder in einer Bar begegnen, sondern nur, daß sie einige legitime Erkundigungen 148 einholen sollten. Fragen Sie die jeweilige Person nach Freunden, Familie, Verwandtschaft, Beruf, Wohnort, Zukunftsplänen und so weiter. Psychopathen geben gewöhnlich vage, ausweichende oder widersprüchliche Antworten auf Fragen nach ihren Lebensumständen. Begegnen Sie solchen Antworten mit Skepsis und versuchen Sie, sie zu verifizieren. Das ist manchmal erstaunlich einfach. So wurde zum Beispiel vor einigen Jahren eine Frau aus meinem Bekanntenkreis in eine Romanze mit einem Mann verwikkelt, den sie in ihrer Kirchengemeinde kennengelernt hatte. Er schien gute Verbindungen und makellose Referenzen zu haben und behauptete, er sei Betriebswirt mit einem Diplom von einer bekannten Universität im Osten des Landes. Sie erwog, eine größere Investition in ein von ihm empfohlenes Geschäft zu machen. Als ich ihn traf, erzählte ich ihm, daß wir dieselbe Universität besucht hätten, aber er war ausweichend über seine Erlebnisse dort und stets gelang es ihm, das Thema zu wechseln. Mein Verdacht war geweckt, ich stellte einige Nachforschungen an und fand heraus, daß er nie an meiner Universität immatrikuliert gewesen war. Weitere Nachforschungen ergaben, daß er ein Schwindler und in mehreren Ländern zur Fahndung ausgeschrieben war. Er verschwand aus der Stadt und ließ meine Freundin desillusioniert zurück. Sie war mir böse, da ich ihre Phantasiewelt zerstört hatte. ¾ Seien Sie vorsichtig in riskanten Situationen. Manche Situationen sind wie für Psychopathen maßgeschneidert: Singles-Bars, Vereine, Urlaubshotels, Kreuzfahrtschiffe, ausländische Flughäfen, um nur einige zu nennen. In jedem Fall ist das potentielle Opfer allein und sucht Spaß, Aufregung oder Geselligkeit. Und für gewöhnlich wird es jemanden geben, der darauf eingeht, für einen versteckten Preis. Alleinreisende, die sich einsam und verloren in ausländischen Flughäfen oder Touristenorten aufhalten, sind ein beliebtes Zielobjekt für Psychopathen und werden an solchen Orten schnell von ihnen aufgespürt. Ich kenne zum Beispiel eine Freiberuflerin, die sich nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in Europa müde und einsam fühlte und Heimweh hatte. Ein hilfsbereiter Mann freundete sich mit ihr im Flughafen von Lissabon an. Er gab sich als verdeckter Ermittler auf der Spur eines Schmugglerrings aus. Es gelang ihm, ihr Vertrauen und ihre Mithilfe für seine Ermittlungen zu gewinnen. In den folgenden Wochen bereiste das Paar ganz Europa und trieb ihre Kreditkartenrechnung in schwindelerregende Höhen. Als sie schließlich Verdacht schöpfte, ließ er sie fallen. Rückblickend sagt sie, daß die ganze Affäre absurd erscheint, aber seinerzeit klang alles plausibel. »Ich war erschöpft und deprimiert, und er war so verständnisvoll und tröstend.« ¾ Erkennen Sie sich selbst. Psychopathen sind sehr geschickt darin, ihre Schwächen aufzuspüren und sie skrupellos auszunutzen, die richtigen Knöpfe zu finden und zu drücken. Ihre beste Verteidigung ist es, ihre Schwächen zu kennen und sehr wachsam zu sein, wenn jemand sie ins Visier nimmt. Solche Menschen sollten Sie kritischer beurteilen als andere, die sich anscheinend Ihrer Schwächen nicht bewußt sind oder sich nicht dafür interessieren. Wenn Sie anfällig für Schmeicheleien sind, wird man Ihnen das mit Sicherheit ansehen, eine handfeste Einladung für jeden skrupellosen Gauner auf der Suche nach neuen Opfern. Schmeicheleien zu genießen, kann, wie ein zu langes Sonnenbad, zunächst angenehm sein, wird aber schmerzhaft enden. Sollten Sie eine dunkle Seite in Ihrer Seele haben, sind sie besonders anfällig für etwas unseriöse Machenschaften. Einsame Menschen mit Geld sind extrem einfache Ziele für Psychopathen. 149 Sich selbst zu kennen ist nicht immer einfach. Selbstkritik, offene Gespräche mit Familie und Freunden und professionelle Beratung können dabei helfen. 13.2 Schadensbegrenzung Leider können auch die sorgfältigsten Vorsichtsmaßnahmen keine Garantie dafür bieten, daß sie vor den Raubzügen eines entschlossenen Psychopathen sicher sind. Manchmal haben Sie vielleicht keinen Einfluß auf die Angelegenheit, wie es zum Beispiel bei gleichberechtigten finanziellen Partnerschaften mit einem Psychopathen der Fall ist. Viele Betrügereien und Maschen richten sich gegen Banken, Finanzmakler, Sparkassen, Pensionskassen, und so weiter. Einzelne Investoren haben keinen Einfluß auf das Tagesgeschäft und sie können ihr Geld ohne eigenes Zutun verlieren. Zum Beispiel erzählte mir kürzlich der verzweifelte Beirat einer High School von einem Anlageberater, der mehrere Millionen Dollar der Pensionskasse der Lehrerschaft, mit deren Verwaltung man ihn betraut hatte, »verloren« hatte. Der Beirat hatte mehrere Hunderttausend Dollar verloren, nicht weil er unvorsichtig war, sondern weil die Offiziellen, die dafür zuständig waren, einen seriösen Anlageberater zu finden, durch einen aalglatten Psychopathen geleimt worden waren. Der Kriminalpsychologe J. Reid Meloy erzählt, wie er bei einem Vorstellungsgespräch mit einem Bewerber hereingefallen ist, dessen gesamte Bewerbungsunterlagen sich letztlich als gefälscht herausstellten. »Das Bewerbungsgespräch lief aber ziemlich glatt«, sagte Meloy in einem Telefoninterview. »Der Kerl hat mich wirklich beeindruckt, ich konnte gar nicht glauben, wie gescheit er war. Während wir uns unterhielten, ließ er hier und da eine Bemerkung fallen, die mich aufmerken ließ und ich dachte mir, ›Toll! Dieser Bursche ist wirklich brillant. Wie bringe ich ihn dazu, daß er den Job haben will?‹ Es dauerte eine Weile – länger, als ich zugeben möchte –, bis ich merkte, daß er aus mehreren Arbeiten zitierte, die ich kürzlich geschrieben und veröffentlicht hatte. Er beeindruckte mich, ja, aber womit? Mit meiner eigenen Brillanz – Ideen von mir, die ich für gut hielt. Ein normaler Mensch würde vielleicht sagen, ›Ich habe Ihre Arbeit gelesen und dazu dies und das gedacht‹, aber dieser Bursche – der sich als kompletter Hochstapler herausstellte – hatte ein intuitives Gespür dafür, wie er mich dazu bringen konnte, zu tun, was er wollte. Für ihn war das Interview eine großartige Gelegenheit, wieder einmal seine Masche abzuziehen.« [persönliches Gespräch, April 1991] Die vielleicht herzzerreißendsten Situationen ergeben sich, wenn fassungslose, panische Eltern versuchen, mit einem psychopathischen Sprößling fertig zu werden. Fast ebenso bedauernswert ist es, wenn jemand verbissen versucht, mit einem psychopathischen Partner umzugehen. In solchen Fällen, und auch wenn es einem Psychopathen gelungen ist, eine Romanze mit Ihnen anzufangen, können Sie eigentlich nur noch versuchen, den Schaden zu begrenzen. Das ist für die meisten Menschen nicht einfach, aber vielleicht können einige Ratschläge helfen: ¾ Suchen Sie professionellen Rat. Ich werde oft von besorgten Menschen angerufen, die Ehemann, Ehefrau, Kind oder Freund für psychopathisch halten und mich um Rat fragen, was sie tun können. Ich kann unter solchen Umständen keine Ratschläge erteilen. Eine fundierte Diagnose von Psychopathie durch einen qualifizierten Praktiker ist zeitraubend und erfordert ein gutes Maß zuverlässiger Informationen, ein intensives Gespräch mit der fraglichen Person und Zugang zu begleitenden und unterstützenden Informationen aus verschiedenen Quellen: von Arbeitgebern, Familienmitgliedern, Freunden, Geschäftsfreunden, der Polizei, und so weiter. 150 Vergewissern Sie sich, daß der Praktiker, den Sie konsultieren, mit der Literatur über Psychopathie vertraut ist und daß er Erfahrung im Umgang mit Psychopathen hat, am besten im Rahmen von Familientherapie und Intervention. Falls Sie die Möglichkeit haben, holen Sie mehrere Meinungen ein. Das kann ein sehr frustrierendes Unterfangen sein. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ein Anrufer, meistens eine ratlose Ehefrau oder ein Elternteil am Ende seines Lateins, mir von wiederholten Versuchen erzählt hat, bei jemandem – bei wem auch immer – Verständnis für das Problem zu finden oder auch nur zu erkennen, daß ein Problem existiert. Ein Anruf, den ich von einer Frau aus Maine erhielt, ist typisch. Sie hatte einen Zeitungsartikel über meine Arbeit gelesen und war davon überzeugt, daß ihr Mann genau in das in dem Artikel umrissene Profil von Psychopathie paßt. Nach dem, was sie mir über ihn erzählt hat, könnte sie sehr wohl Recht haben. Seit mehr als zehn Jahren hatte sie versucht, professionelle Hilfe zu finden, angefangen bei ihrem Hausarzt hin zu einer Reihe von Psychologen und Psychiatern – alles vergeblich. Das Problem war, daß ihr Mann stets eine so gute Show ablieferte, daß ihre Darstellung der Lage nur selten Glauben fand. Keiner dieser Praktiker konnte hinter die charmante und überzeugende Fassade des Ehemanns blicken. Die arme Frau begann zu glauben, daß tatsächlich sie das Problem war. Auch nachdem eine fundierte Diagnose gestellt worden ist, sind Ihre Probleme noch lange nicht vorbei. Die nächsten Schritte werden von Ihrer speziellen Situation abhängen und sollten mit der Hilfe eines kompetenten Fachmanns geplant werden, der Erfahrung im Umgang mit Psychopathen hat. Die Berufsverbände der Psychiater und Psychologen haben gewöhnlich eine Liste von Praktikern, die sie empfehlen können. Sie könnten es auch bei den Beratungsstellen an einer örtlichen psychiatrischen Klinik oder der Universität versuchen. ¾ Geben Sie nicht sich selbst die Schuld. Was auch immer die Gründe für ihren Kontakt mit einem Psychopathen sein mögen – es ist wichtig, daß sie nicht sich selbst für seine Einstellungen und sein Verhalten verantwortlich machen. Psychopathen spielen mit jedem nach denselben Regeln – ihren Regeln. Natürlich wird Ihre eigene Persönlichkeit und Ihr Verhalten einen Einfluß auf die spezifische Art der Interaktion haben. So könnte zum Beispiel eine Frau, die für ihre Rechte eintritt, körperlich mißhandelt werden, während eine eher unterwürfige Frau ihr Leben damit verbringen könnte, sich über den jeweiligen Aufenthalt ihres notorisch untreuen Mannes Gedanken zu machen. Eine dritte Frau könnte beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten gehen, ohne sich noch einmal umzublicken. In jedem dieser Fälle ist das eigentliche Problem, mit einem psychopathischen Mann verheiratet zu sein. Ganz ähnlich quälen sich die Eltern eines psychopathischen Kindes ständig mit ihrer eigenen Rolle bei der Entstehung der Persönlichkeitsstörung. Es ist sehr schwierig, solche Eltern davon zu überzeugen, daß sie wahrscheinlich nichts falsch gemacht haben. Wie bereits erläutert, mögen sie die Lage verbessert oder verschlimmert haben, aber es gibt keine Hinweise darauf, daß elterliches Verhalten Psychopathie verursachen könnte. ¾ Behalten Sie im Auge, wer das Opfer ist. Psychopathen erwecken oft den Eindruck, daß sie es sind, die leiden müssen und daß die Opfer für ihr Elend verantwortlich sind. Aber sie leiden sehr viel weniger als Sie, und aus anderen Gründen. Verschwenden Sie nicht ihr Mitleid auf sie; ihre Probleme sind nicht in derselben Liga wie Ihre. Die Probleme eines Psychopathen entstehen hauptsächlich, wenn er nicht bekommt, was er will, während Ihre Probleme das Ergebnis körperlicher, emotionaler oder finanzieller Schläge sind. 151 ¾ Machen Sie sich klar, daß Sie nicht allein sind. Die meisten Psychopathen haben viele Opfer. Es steht fest, daß ein Psychopath, der ihnen Kummer macht, auch anderen Menschen Kummer macht. Solche Menschen zu finden, um mit ihnen Erfahrungen und Informationen auszutauschen, könnte Ihnen dabei helfen, mit dem Problem fertig zu werden, und sei es nur, um Ihnen zu zeigen, daß nicht Sie für die Probleme verantwortlich sind. Jeder Mensch ist durch Psychopathen verletzlich und es ist keine Schande, zum Opfer zu werden. Das mag schwer zu akzeptieren sein, wenn Sie gerade betrogen worden sind und sich schämen, bei der Polizei oder vor Gericht auszusagen. Aber Sie könnten überrascht sein von der Anzahl Menschen, die in ihrer Nachbarschaft auch hereingefallen sind. ¾ Seien Sie vorsichtig bei Machtkämpfen. Denken Sie daran, daß Psychopathen einen starken Drang nach psychischer und physischer Kontrolle über andere Menschen haben. Sie wollen das Kommando haben und sie werden Charme, Einschüchterung und Gewalt einsetzen, um ihre Autorität zu sichern. Einen Machtkampf wird ein Psychopath unbedingt gewinnen wollen. Das bedeutet nicht, daß Sie nicht für Ihre Rechte einstehen sollten; es heißt aber, daß das wahrscheinlich schwierig sein wird, ohne schwere emotionale oder körperliche Verletzungen zu riskieren. In manchen Fällen mag es Ihnen gelingen, die »Sieg um jeden Preis«-Mentalität des Psychopathen zu Ihrem Vorteil zu nutzen. So waren zum Beispiel in einem Fall in meiner Heimatstadt eine Frau und ihr Ex-Mann in einen langen und verbitterten Streit über das Sorgerecht für ihre beiden Kinder verwickelt. Dem Anwalt der Frau wurde klar, daß dieser Mann gefährlich war, unbedingt gewinnen wollte und sich nicht wirklich für das Wohl der Kinder interessierte. Er riet seiner Mandantin, einem gemeinsamen Sorgerecht zuzustimmen. Das war von Anfang an alles, was der Ex-Mann erreichen wollte, und nachdem er »die Schlacht gewonnen hatte«, verlor er jegliches Interesse an den Kindern. Obwohl die Taktik des Anwalts sich in diesem Falle ausgezahlt hat, ist er das große Risiko eingegangen, daß der Mann auf der Ausübung seines gemeinschaftlichen Sorgerechts bestanden hätte, mit potentiell gefährlichen Folgen für die Kinder. ¾ Stellen Sie strikte Grundregeln auf. Wenn auch Machtkämpfe mit einem Psychopathen zumindest riskant sind, könnte es Ihnen gelingen, einige klare Grundregeln aufzustellen – sowohl für Sie selbst wie auch für den Psychopathen –, um Ihr Leben einfacher zu machen und den schwierigen Übergang von der Rolle des Opfers zu einem selbstbestimmten Menschen einzuleiten. Das könnte zum Beispiel bedeuten, daß Sie ihm oder ihr unter keinen Umständen mehr aus der Klemme helfen. Eine Frau aus meinem Bekanntenkreis war in ein Netz finanzieller Manipulationen und Täuschungen verstrickt, das von einem heuchlerischen »Berater« gesponnen worden war. Wann immer sie ihn zur Rede stellte, überzeugte er sie davon, daß er an dem Problem arbeiten würde und daß sie bald ihr Geld zurückbekommen würde, das er angeblich für sie angelegt hatte. Schließlich beschloß sie verzweifelt, sich nur noch unter Zeugen oder schriftlich mit ihm auseinanderzusetzen. Bald wurde ihr klar, daß sie mit ihm nicht weiterkommen würde, und sie leitete rechtliche Schritte ein, um ihr Geld zu retten. Angemessene, aber feste Grundregeln – »was du tun mußt, damit du hier wohnen kannst« – sind vielleicht der einzige Weg, nicht verrückt zu werden, wenn Sie es mit einem psychopathischen Sprößling zu tun haben. Diese Regeln müssen klar sein und konsequent durchgesetzt werden, wenn sie eine Chance haben sollen, etwas zu bewirken. Spezifische Erziehungstechniken und 152 -strategien würden den Rahmen dieses Buches sprengen, aber die in den Fußnoten für Kapitel 12 aufgeführten Bücher enthalten einige nützliche Informationen. ¾ Erwarten Sie keine dramatischen Veränderungen. Die Persönlichkeit von Psychopathen ist weitgehend »in Stein gemeißelt«. Es ist unwahrscheinlich, daß irgendetwas, was Sie tun, fundamentale und dauerhafte Änderungen ihrer Sicht von sich selbst und anderen Menschen herbeiführen könnte. Sie mögen versprechen, sich zu ändern und vielleicht sogar kurzfristige Besserungen ihres Verhaltens an den Tag legen, aber in den meisten Fällen werden Sie jahrelange Enttäuschungen erleben, falls Sie glauben sollten, daß dauerhafte Änderungen zum Besseren stattgefunden hätten. Wenn auch manche Psychopathen mit zunehmendem Alter etwas »milder« werden und daher das Zusammenleben mit ihnen etwas einfacher wird, bleiben sie doch in den meisten Fällen das, was sie schon immer waren. Das Problem ist besonders tragisch, wenn ein Sohn oder eine Tochter psychopathisch ist. In ihrer verzweifelten Suche nach Hilfe und Verständnis finden sich die Eltern in der Regel auf einer Odyssee zwischen Experten und Anstalten wieder, die selten zufriedenstellende Ergebnisse bringt. Die ratlosen Eltern wenden für gemeinhin erfolglose Versuche, ihr Kind zu verstehen und zu führen, enorme Energien und Ressourcen auf. In den meisten Fällen erwartet sie jahrelange Frustration und immer wieder Forderungen, dem Sohn oder der Tochter aus der Klemme zu helfen. ¾ Begrenzen Sie Ihren Schaden. Dem Psychopathen mag es gelingen, Ihr Selbstbewußtsein zu zerstören und Sie – und Ihre Freunde – davon zu überzeugen, daß Sie seine Zeit nicht wert sind oder gar, daß Sie nicht mehr mit ihrem Leben »klarkommen«. Je mehr Sie nachgeben, desto mehr werden Sie ausgenutzt werden durch den unstillbaren Appetit des Psychopathen auf Macht und Kontrolle. Anstatt fruchtlose Versuche zu machen, sich mit einer hoffnungslosen Situation zu arrangieren – gewöhnlich durch Nachgeben, sich mit Ihrem Schicksal abfinden, oder den Verlust Ihrer Identität – könnte es besser sein, sich klarzumachen, daß Ihr emotionales und körperliches Überleben es erfordert, Ihr Leben in die Hand zu nehmen. Das kann ein schwieriges – oder sogar gefährliches – Unterfangen sein und es erfordert guten fachlichen Rat, sowohl im klinischen wie im juristischen Bereich. Natürlich können Sie nicht, wenn Sie Elternteil eines jungen Psychopathen sind, Ihr Kind einfach aufgeben. Sie werden eng mit Lehrern, Beratern und Praktikern zusammenarbeiten müssen, die im Umgang mit psychopathischen Kindern erfahren sind – wie bescheiden die zu erwartenden Erfolge auch sein mögen. ¾ Nutzen Sie Selbsthilfegruppen. Wenn Ihr Verdacht Sie erst einmal so weit gebracht hat, eine Diagnose anzustreben, wissen Sie bereits, daß Sie eine lange und beschwerliche Reise vor sich haben. Nutzen Sie jedwede emotionale Unterstützung, die Sie finden können. Viele Organisationen und Gruppen haben das Ziel, Opfern von Verbrechen dabei zu helfen, ihren Leidensweg zu verstehen und zu bewältigen. In den meisten Fällen entdecken die Opfer, daß sie nicht allein sind und ihre Erfahrungen mit anderen Opfern austauschen können. So gibt es zum Beispiel in den meisten Städten Krisenzentren und Selbsthilfegruppen für Opfer häuslicher Gewalt, für emotional gestörte und verhaltensauffällige Kinder und für die Durchsetzung der Rechte von Opfern. Je nach Art des Problems könnten eine oder mehrere solcher etablierten Gruppen von großem Nutzen für Sie sein. Was wir allerdings wirklich brauchen, sind Selbsthilfegruppen, die sich speziell an die Opfer von Psychopathen wenden. Vielleicht kann dieses Buch die Entstehung solcher Gruppen anregen. 153 Nachwort Nachdem Sie die Literatur zu einem Thema gesichtet haben, pflegen Wissenschaftler festzustellen, daß weitere Forschungen notwendig sind. Ich will mich dieser Gepflogenheit anschließen, aus zwei Gründen. Erstens bleibt uns das Rätsel des Psychopathen erhalten, trotz klinischer Studien und Spekulationen von mehr als einem Jahrhundert und wissenschaftlicher Forschungen von mehreren Jahrzehnten. Einige neuere Entwicklungen haben uns neue Erkenntnisse über das Wesen dieser beunruhigenden Persönlichkeitsstörung gebracht, und ihre Grenzen werden zusehends klarer definiert. Tatsache ist aber auch, daß im Vergleich zu anderen wichtigen klinischen Störungen nur wenig systematische Forschungsarbeit sich der Psychopathie gewidmet hat, obwohl diese für weit mehr gesellschaftliche Not und Unruhe verantwortlich ist als alle anderen psychiatrischen Störungen zusammengenommen. Zweitens wäre es wesentlich sinnvoller, anstatt nach entstandenem Schaden die Trümmer beiseite zu räumen, unsere Anstrengungen zu verstärken, diese rätselhafte Persönlichkeitsstörung zu verstehen und wirksame frühzeitige Interventionsmaßnahmen zu entwickeln. Die Alternativen sind, weiterhin gewaltige Ressourcen für die Strafverfolgung, Inhaftierung und Aufsicht von Psychopathen aufzuwenden, nachdem sie Straftaten gegen die Gesellschaft begangen haben, und weiterhin Wohlergehen und Leiden ihrer Opfer zu ignorieren. Die Strafjustiz wendet jedes Jahr Milliarden von Dollar in dem vergeblichen Versuch auf, Psychopathen und andere notorische Delinquenten zu »rehabilitieren« oder »resozialisieren«. Aber diese Begriffe – beliebt unter Politikern und bei der Strafvollzugsverwaltung – sind wenig mehr als Schlagworte. Wir müssen lernen, sie zu sozialisieren und nicht, sie zu resozialisieren. Und das erfordert ernsthafte Anstrengungen in der Forschung und bei frühen Interventionsmaßnahmen. Das Unvermögen, das tödliche Rätsel der Psychopathie zu lösen, wird zu immensen sozialen und finanziellen Kosten für die Gesellschaft führen. Es ist zwingend, daß wir die Suche nach Hinweisen fortsetzen. 154 Fußnoten 001 Tim Cahill (1987). BURIED DREAMS. New York: Bantam Books. 002 Richard Neville und Julie Clarke (1979). THE LIFE AND CRIMES OF CHARLES SOBHRAJ. London: Jonathan Cape. 003 Joe McGinniss (1989). FATAL VISION. New York: New American Library. 004 James Clarke (1990). LAST RAMPAGE. New York: Berkley. 005 Darcy O’Brien (1985). TWO OF A KIND: THE HILLSIDE STRANGLERS. New York: New American Library. 006 Clifford Linedecker (1991). NIGHT STALKER. New York: St. Martin’s Press. 007 Ann Rule (1987). SMALL SACRIFICES. New York: New American Library. 008 Autor unbekannt (1980). THE STRANGER BESIDE ME. New York: Signet. 009 Ian Mulgrew (1990). FINAL PAYOFF, Toronto, Ontario: Seal Books. 010 Sue Horton (1989). THE BILLIONAIRE BOYS CLUB. New York: St. Martin’s Press. 011 Joseph Wambaugh (1987). ECHOES IN THE DARKNESS. New York: Bantam Books. 012 Harry MacLean (1988). IN BROAD DAYLIGHT. New York: Dell. 013 Joseph Wambaugh (1989). THE BLOODING. New York: Bantam. 014 Peter Maas (1990). IN A CHILD’S NAME. New York: Pocket Books. Fernsehfilm, CBS, 17. November 1991. 015 Gary Provost (1991). PERFECT HUSBAND. New York: Pocket Books. 016 Dirk Johnson (17. Februar 1992). »Jury weary after gruesome testimony.« N.Y. Times News Service. 017 Robert Gollmar (1981). EDWARD GEIN, New York: Pinnacle Books. 018 Margeret Cheney (1976). THE CO-ED KILLER. New York: Walker & Company. 019 Lawrence Klausner (1981). SON OF SAM. New York: McGraw-Hill. 020 Robert H. Gollmar (1981). EDWARD GEIN. New York: Windsor Publishing Corp. Der Autor war der Richter in Geins Prozeß. 021 American Psychiatric Association (1987). DIAGNOSTIC AND STATISTICAL MANUAL: MENTAL DISORDERS (überarbeitete, 3. Ausgabe). Washington, D.C.: Autor. Die vierte Ausgabe (DSM-IV) erschien 1994. 022 Das Problem war mit der Veröffentlichung der vierten Ausgabe des DSM im Jahre 1994 nicht gelöst. Die »American Psychiatric Association« hat Feldversuche zur Neubewertung der Diagnosekriterien für die Antisoziale Persönlichkeitsstörung durchgeführt. Ein wesentlicher Bestandteil der Feldversuche war der Einsatz einer Zehn-Item-Version der Psychopathie-Checkliste, die in den folgenden beiden Kapiteln beschrieben wird. Obwohl der Feldversuch bestätigt hat, daß Persönlichkeitsmerkmale zuverlässig erkannt werden konnten, sind die Diagnosekriterien für die Antisoziale Persönlichkeitsstörung im DSMIV fast dieselben wie im DSM-III-R. Der DSM-IV Feldversuch ist beschrieben worden von R. D. Hare, S. D. Hart und T. J. Harpur (1991). Journal of Abnormal Psychology 100, S. 391-398. Detailliertere Beschreibungen und Kritiken des Feldversuchs finden sich in W. J. Livesley (Hrsg.) (1995). THE DSM-IV PERSONALITY DISORDERS. New York: Guilford. 023 Die historische Entwicklung des Konzepts der Psychopathie ist von vielen Autoren detailliert beschrieben worden. Ich habe die folgenden Titel besonders nützlich gefunden: Hervey Cleckley (1976; 5. Auflage). THE MASK OF SANITY. St. Louis, MO: Mosby; William McCord und Joan McCord (1964). THE PSYCHOPATH: AN ESSAY ON THE CRIMINAL MIND. Princeton, NJ: Van Nostrand; Theodore Millon (1981). DISORDERS OF PERSONALITY. New York: Wiley. 155 024 Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die Referenzen auf Cleckleys Arbeit auf die jüngste Auflage seines Buches: Hervey Cleckley (1976; 5. Auflage). THE MASK OF SANITY. St. Louis, MO: Mosby. Das Buch ist von Mosby nicht mehr erhältlich, kann aber von Emily S. Cleckley, Publishers, 3024 Fox Spring Road, Augusta, GA 30903, USA, bezogen werden. 025 Entwürfe der Psychopathie-Checkliste wurden Forschern erstmalig in den Jahren 1980 und 1985 zugänglich gemacht. Die jüngste Version wurde 1991 veröffentlicht (siehe Fußnote 26). 026 Die Psychopathie-Checkliste wird von Multi-Health Systems (908 Niagara Falls Blvd, North Tonawanda, NY 14120-2060, USA; in Kanada: 65 Overlea Blvd, Toronto, Ontario M4H 1P1) herausgegeben und kann von qualifizierten Anwendern bezogen werden. Die Items der Psychopathie-Checkliste werden bewertet, indem Daten aus dem Interview, der Fallgeschichte und dem Archiv kombiniert werden. Allerdings haben manche Prüfer stichhaltige Ergebnisse aus der alleinigen Auswertung umfangreichen, hochwertigen Akten- und Archivmaterials gewinnen können (z.B. G. T. Harris, M. E. Rice & C. A. Cormier. PSYCHOPATHY AND VIOLENT RECIDIVISM. Law and Human Behavior, 1991, 15, S. 25-637). 027 Joseph Wambaugh (1987). ECHOES IN THE DARKNESS. New York: Bantam Books. 028 Joe McGinniss (1989). FATAL VISION. New York: Signet. 029 Ann Rule (1988). SMALL SACRIFICES. New York: New American Library. S. 468. 030 Stephen G. Michaud und Hugh Aynesworth (1989). TED BUNDY: CONVERSATIONS WITH A KILLER. New York: New American Library. 031 »The Mind of a Murderer.« Frontline. PBS, 27. März 1984. Siehe auch D. O’Brien (1985). TWO OF A KIND: THE HILLSIDE STRANGLERS. New York: New American Library; und J. Reid Meloy (1988). THE PSYCHOPATHIC MIND: ORIGINS, DYNAMICS, AND TREATMENTS. Northvale, NJ: Jason Aronson, Inc. 032 Die Zitate stammen aus Tim Cahill (1987). BURIED DREAMS. New York: Bantam. 033 Peter Maas (1990). IN A CHILD’S NAME. New York: Pocket Books. 034 Robert Rieber (1997). MANUFACTURING SOCIAL DISTRESS: THE PSYCHOPATHY OF EVERYDAY LIFE. New York: Plenum. 035 Paul Ekman (1985). TELLING LIES. New York: Norton. 036 Michaud und Aynesworth (1989). S. 3. 037 Aus der Fernsehsendung »A Current Affair« vom 10. Oktober 1991. 038 Aus der Fernsehsendung »The Oprah Winfrey Show« vom 26. September 1988. 039 J. H. Johns und H.C. Quay (1962). THE EFFECT OF SOCIAL REWAND ON VERBAL CONDITIONING IN PSYCHOPATHIC AND NEUROTIC MILITARY OFFENDERS. Journal of Consulting Psychology 36, S. 217-220. 040 Jack Abbott (1981). IN THE BELLY OF THE BEAST: LETTERS FROM PRISON. New York: Random House. S. 13. 041 Eine der frühesten Studien wurde durchgeführt von David Lykken (1957). A STUDY OF ANXIETY IN THE SOCIOPATHIC PERSONALITY. Journal of Abnormal Psychology and Social Psychology 55, S. 6-10. Für eine Übersicht der Forschungsliteratur, siehe R. D. Hare (1978). ELECTRODERMAL AND CARDIOVASCULAR CORRELATES OF PSYCHOPATHY. In R. D. Hare und D. Schalling (Hrsg.). PSYCHOPATHIC BEHAVIOR: APPROACHES TO RESEARCH. Chichester, England: Wiley. Die jüngste Studie stammt von J. Ogloff and S. Wong (1990). ELECTRODERMAL AND CARDIOVASCULAR EVIDENCE OF A COPING RESPONSE IN PSYCHOPATHS. Criminal Justice and Behavior 17, S. 231-245. In den meisten dieser Studien wurde die Produktion von Handschweiß und die 156 Herzfrequenz aufgezeichnet, während der Proband einen schmerzhaften Elektroschock oder ein lautes Geräusch erwartete. 042 William McCord und Joan McCord (1964). THE PSYCHOPATH: AN ESSAY ON THE CRIMINAL MIND. Princeton, NJ: Van Nostrand. S. 51. 043 Playboy, Mai 1977. S. 80: 044 McCord und McCord (1964). S. 9. 045 DIABOLICAL MINDS. NBC, 3. November 1991. Die Fernsehsendung war eine Sonderausgabe der Serie UNSOLVED MYSTERIES. 046 Ann Rule (1988). SMALL SACRIFICES. New York: New American Library. 047 Daniel Goleman. The New York Times 7. August 1991. 048 Siehe z.B. D. Olweus, J. Block und M. Radke-Yarrow (Hrsg.) (1986). DEVELOPMENT OF ANTISOCIAL AND PROSOCIAL BEHAVIOR. New York: Academic Press. 049 DIABOLICAL MINDS. NBC, 3. November 1991. 050 Daniel Goleman. The New York Times vom 7. Juli 1987. 051 Robert Hare (1970). PSYCHOPATHY: THEORY AND RESEARCH. New York: Wiley; Gordon Trasler (1978). RELATIONS BETWEEN PSYCHOPATHY AND PERSISTENT CRIMINALITY. In R. D. Hare & D. Schalling (Hrsg.). PSYCHOPATHIC BEHAVIOR: APPROACHES TO RESEARCH. Chichester, England: Wiley. 052 A. R. Luria (1973). THE WORKING BRAIN. New York: Basic Books. 053 Ethan Gorenstein (1991). A COGNITIVE PERSPECTIVE ON ANTISOCIAL PERSONALITY. In P. Magaro (Hrsg.). ANNUAL REVIEW OF PSYCHOPATHOLOGY: COGNITIVE BASES OF MENTAL DISORDERS, Vol. 1. Newbury Park, CA: Sage. 054 Joanne Intrator. Persönliches Gespräch, Oktober 1991. 055 Robert Lindner (1944). REBEL WITHOUT A CAUSE. New York: Grune and Stratton. Das Buch war die Basis für den gleichnamigen, ergreifenden Spielfilm von 1955, aber Lindners Ansichten über Psychopathie haben es nie bis auf die Leinwand geschafft. 056 Jose Sanchez. Zitiert in The New York Times vom 7. Juli 1989. 057 Erörterungen der Ursachen von Verbrechen werden präsentiert von James Wilson und Richard Herrenstein (1985). CRIME AND HUMAN NATURE. New York: Touchstone. 058 Eine Analyse der Attraktion von Verbrechen auf manche Menschen ist enthalten in Jack Kratz (1988). SEDUCTIONS OF CRIME. New York: Basic Books. 059 R. D. Hare, K. Strachan und A. E. Forth (1993). PSYCHOPATHY AND CRIME: A C. Hollin (Hrsg.). CLINICAL APPROACHES TO MENTALLY New York: Wiley. REVIEW. In K. Howells and DISORDERERD OFFENDERS. 060 Tim Cahill (1987). BURIED DREAMS. New York: Bantan Books. 061 Norman Mailer (1980). THE EXECUTIONER’S SONG. New York: Warner Books. 062 Playboy, Mai 1977, S. 76. 063 R. D. Hare und L. N. McPherson (1984). VIOLENT AND AGGRESSIVE BEHAVIOR BY CRIMINAL PSYCHOPATHS. International Journal of Law and Psychiatry 7, S. 35-50; D. S. Kosson, S. S. Smith und J. P. Newman (1990). EVALUATING THE CONSTRUCT VALIDITY OF PSYCHOPATHY ON BLACK AND WHITE MALE INMATES: THREE PRELIMINARY STUDIES. Journal of Abnormal Psychology 99, S. 250-259; R. C. Serin (1991). PSYCHOPATHY AND VIOLENCE IN CRIMINALS. Journal of Interpersonal Violence 6, S. 423-431; S. Wong (1984). CRIMINAL AND INSTITUTIONAL BEHAVIORS OF PSYCHOPATHS. Programs Branch Users Report. Ottawa, Ontario, Canada: Ministry of the Solicitor-General of Canada. 064 Playboy, Mai 1977. S. 76. 157 065 S. Williamson, R. Hare und S. Wong (1987). VIOLENCE: CRIMINAL PSYCHOPATHS AND Canadian Journal of Behavioral Science 1, S. 454-462. THEIR VICTIMS. 066 Zitiert durch Felicia Lee. N. Y. Times News Service, 26. November 1991. 067 R. Prentky und R. Knight (1991). IDENTIFYING CRITICAL DIMENSIONS FOR DISCRIMINATING AMONG RAPISTS. Journal of Consulting and Clinical Psychology 59, S. 643-661. 068 Rapist »might murder.« The Province, Vancouver, B.C., vom 28. Januar 1987. 069 T. Newlove, S. Hart, and D. Dutton (1992). PSYCHOPATHY AND FAMILY VIOLENCE. Unveröffentlichtes Manuskript. Department of Psychology, University of British Columbia, Vancouver, Canada. 070 C. P. Ewing (1983). »DR. DEATH« AND THE CASE FOR AN ETHICAL BAN ON PSYCHIATRIC AND PSYCHOLOGICAL PREDICTIONS OF DANGEROUSNESS IN CAPITAL SENTENCING PROCEEDINGS. American Journal of Law and Medicine 8, S. 407-428. 071 S. D. Hart, P. R. Kropp und R. D. Hare (1988). PERFORMANCE OF MALE PSYCHOPATHS Journal of Consulting and Clinical Psychology 56, S. 227-232; R. C. Serin, R. D. Peters und H. E. Barbaree (1990). PREDICTORS OF PSYCHOPATHY AND RELEASE OUTCOME IN A CRIMINAL POPULATION. Psychological Assessment: A Journal of Consulting and Clinical Psychology 2, S. 419-422. 072 M. E. Rice, G. T. Harris und V. L. Quinsey (1990). A FOLLOWUP OF RAPISTS ASSESSED IN A MAXIMUM SECURITY PSYCHIATRIC FACILITY. Journal of Interpersonal Violence 4, S. 435-448. 073 Das erste Krankenhaus, das die Psychopathie-Checkliste eingesetzt hat, war das Atascadero State Hospital, Atascadero, Kalifornien. (David Plate, Head of Psychology, persönliches Gespräch am 27. November 1991.) 074 J. E. Donovan, R. Jessor und F. M. Costa (1988). SYNDROME OF PROBLEM BEHAVIOR IN ADOLESCENCE: A REPLICATION. Journal of Consulting and Clinical Psychology 56, S. 762-765; R. Loeber (1988). NATURAL HISTORIES OF CONDUCT PROBLEMS, DELINQUENCY, AND ASSOCIATED SUBSTANCE ABUSE: EVIDENCE FOR DEVELOPMENTAL PROGRESSIONS. In B. Lahey and A.E. Kazdin (Hrsg.). ADVANCES IN CLINICAL CHILD PSYCHOLOGY, Vol. II. New York: Plenum; D. Olweus, J. Block und M. Radke-Yarrow (Hrsg.) (1986). DEVELOPMENT OF ANTISOCIAL AND PROSOCIAL BEHAVIOR. New York: Academic Press. 075 R. D. Hare, L. N. McPherson und A. E. Forth (1988). MALE PSYCHOPATHS AND THEIR CRIMINAL CAREERS. Journal of Consulting and Clinical Psychology 56, S. 710-714; G. T. Harris, M. E. Rice und C. A. Cormier (1991). PSYCHOPATHY AND VIOLENT RECIDIVISM. Law and Human Behavior 15, S. 625-637; L. N. Robins (1966). DEVIANT CHILDREN GROWN UP, Baltimore, MD: Williams & Wilkins. 076 Daniel Goleman. The New York Times vom 7. Juli 1987. 077 Brief von Brian Rosner, Office of the District Attorney of the County of New York vom 15. Juli 1987. Rosner arbeitet jetzt für die Firma King and Spalding, New York. 078 Ed Cony. Wall Street Journal vom 23. März 1987. S. 1. 079 The People of the State of New York Against John A. Grambling, Indictment No. 2800/85. Proceedings. Supreme Court of the State of New York, County of New York Criminal Term, Part 48; The People of the State of New York Against John A. Grambling, Indictment No. 2800/85. Sentencing Memorandum; Brief von John A. Grambling an den Honorable Herman Cahn, New York Supreme Court, vom 6. März 1987. 080 Brian Rosner (1990). SWINDLE. Homewood, IL: Business One Irwin. FOLLOWING CONDITIONAL RELEASE FROM PRISON. 158 081 The People of the State of New York Against John A. Grambling, Indictment No. 2800/85. Sentencing Memorandum. 082 Sentencing Memorandum. S. 69. 083 Sentencing Memorandum. S. 78. 084 Sentencing Memorandum. S. 81 (Die Hervorhebung stammt aus dem Brief des Schwiegervaters.) 085 Sentencing Memorandum. S. 3. 086 Brief von John Grambling, Jr. an den Richter Cahn vom 6. März 1987. S. 30. 087 Proceedings. S. 54. 088 Proceedings. S. 51. 089 Sentencing Memorandum. S. 10. 090 Sentencing Memorandum. S. 11. 091 Brian Rosner (1990). 092 Sentencing Memorandum. S. 38. 093 B. Bearak. Los Angeles Times vom 10. März 1986. S. 1 und S. 12. 094 Max Lemer. »How grateful should Europe be?« Actions and Passions (1949). Zitat Nr. 199.7 in R. Thomas Tripp (1970). THE INTERNATIONAL THESAURUS OF QUOTATIONS. New York: Harper & Row. 095 Jonathan Beaty und S. C. Gwynne. »The Dirtiest Bank of All.« Time vom Juli 1991. S. 28. 096 Brief von John Grambling, Jr. an den Honorable Herman Cahn, New York Supreme Court, County of New York: Part 48, vom 6. März 1987. Der Brief war ein Versuch, den Richter davon zu überzeugen, daß er, Grambling, keine lange Strafe für seine Verbrechen verdient hätte. 097 Justice Herman Cahn. Proceedings. S. 55. 098 Brian Rosner. Sentencing Memorandum. S. 84-85. 099 Inside Edition. 22. November 1990. 100 Stephen G. Michaud und Hugh Aynesworth (1989). TED BUNDY: CONVERSATIONS New York: New American Library. S. 107. WITH A KILLER. 101 Aus einem Artikel von Peter Worthington, Saturday Night, Juli bis August 1993. 102 N. Geschwind und A. Galaburda (1987). CEREBRAL LATERALIZATION: BIOLOGICAL MECHANISMS, ASSOCIATIONS, AND PATHOLOGY. Cambridge, MA: MIT Press. 103 R. D. Hare und L. N. McPherson (1984). PSYCHOPATHY AND PERCEPTUAL ASYMMETRY DURING VERBAL DICHOTIC LISTENING. Journal of Abnormal Psychology 93, S. 141-149; R. D. Hare und J. Jutai (1988). PSYCHOPATHY AND CEREBRAL ASYMMETRY IN SEMANTIC PROCESSING. Personality and Individual Differences 9, S. 329-337.; A. Raine, M. O’Brien, N. Smiley, A. Scerbo und C. Chan (1990). REDUCED LATERALIZATION IN VERBAL DICHOTIC LISTENING IN ADOLESCENT PSYCHOPATHS. Journal of Abnormal Psychology 99, S. 272-277. 104 J. H. Johns und H. C. Quay (1962). THE EFFECT OF SOCIAL REWARD ON VERBAL CONDITIONING IN PSYCHOPATHS AND NEUROTIC MILITARY OFFENDERS. Journal of consulting Psychology 26, S. 217-220. 105 V. Grant (1977). THE MENACING STRANGER. New York: Dabor Science Publications. S. 50. 106 W. Johnson (1946). PEOPLE IN QUANDARIES: THE SEMANTICS OF PERSONAL ADJUSTMENT. New York: Harper & Brothers. 159 107 Hervey Cleckley (1976; s. Auflage). THE MASK OF SANITY. St. Louis, MO: Mosby, S. 230. 108 S. Williamson, T. J. Harpur und R. D. Hare (1991). ABNORMAL PROCESSING OF AFFECTIVE WORDS BY PSYCHOPATHS. Psychophysiology 28, S. 260-273. Dies ist die in der Einführung erwähnte Studie über Hirnstromkurven. 109 (August 1990). Sensitivity to emotional polarity in psychopaths. Auf einem Kongreß der American Psychological Association, Boston, MA, USA, vorgestellte Arbeit. 110 Diane Downs (1989). BEST KEPT SECRETS. Springfield, OR: Danmark Publishing. 111 R. Day and S. Wong (1993). Psychopaths process emotion in the left hemisphere. Zur Veröffentlichung eingereichtes Manuskript. 112 Michaud und Aynesworth (1989). S. 158. 113 Sprachbezogene Handbewegungen werden erörtert in P. Feyereisen (1983). MANUAL ACTIVITY DURING SPEAKING IN APHASIC SUBJECTS. International Journal of Psychology 18, S. 545-556; D. McNeill (1985). SO YOU THINK GESTURES ARE NONVERBAL. Psychology Review 91, S. 332-350; B. Rime und L. Schiaratura (1988). GESTURE AND SPEECH. In R. Feldman und B. Rime (Hrsg.). FUNDAMENTALS OF NONVERBAL BEHAVIOR. New York: Cambridge University Press. 114 B. Gillstrom und R. D. Hare (1988). LANGUAGE-RELATED HAND GESTURES IN Journal of Personality Disorders 2, S. 21-27; siehe auch B. Rime, H. Bouvy, B. Leborgne und F. Rouillon (1978). PSYCHOPATHY AND NONVERBAL BEHAVIOR IN AN INTERPERSONAL SITUATION. Journal of Abnormal Psychology 87, S. 636-643. 115 Paul Ekman (1985). TELLING LIES. New York: Norton. 116 Julius Charles Hare und Augustus William Hare (1827). GUESSES AT TRUTH. Zitat No. 329.21 in R. Thomas Tripp (1970). THE INTERNATIONAL THESAURUS OF QUOTATIONS. New York: Harper & Row. 117 Sherrie Williamson (1991). COHESION AND COHERENCE IN THE SPEECH OF PSYCHOPATHS. Unveröffentlichte Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades. University of British Columbia, Vancouver, Kanada. 118 Das Material und die Zitate stammen aus Terry Ganey (1989). ST. JOSEPH’S CHILDREN: A TRUE STORY OF TERROR AND JUSTICE. New York: Carol Publishing Group. 119 Das Material und die Zitate stammen aus Tim Cahill (1987). BURIED DREAMS. New York: Bantam Books. 120 B. Rime und L. Schiaratura (1990). GESTURE AND SPEECH. In R. Feldman und B. Rime (Hrsg.). FUNDAMENTALS OF NONVERBAL BEHAVIOR. New York: Cambridge University Press. 121 Joseph Wambaugh (1987). ECHOES IN THE DARKNESS. New York: Bantam Books. S. 22-23. 122 Clifford Linedecker (1991). NIGHT STALKER. New York: St. Martin’s Press. S. 202-203. 123 Robert Mason Lee. »BAMBI: THE FACE OF A KILLER.« The Sun, Vancouver, Kanada, vom 3. November 1990; Kris Radish (1992). RUN, BAMBI, RUN: THE BEAUTIFUL EX-COP CONVICTED OF MURDER WHO ESCAPED TO FREEDOM AND WON AMERICA’S HEART. New York: Carol Publishing Group. Lawrencia Bambenek (1992). WOMAN ON TRIAL. Toronto: Harper Collins. 124 Persönliches Gespräch im April 1991. PSYCHOPATHS. 160 125 Einige Fälle von Frauen, die sich zu Mördern hingezogen fühlen, wurden präsentiert in Sheila Isenberg (1991). WOMEN WHO LOVE MEN WHO KILL. New York: Simon & Schuster. Die psychischen Prozesse, die bei Personen auftreten, die Bindungen mit gewalttätigen Menschen eingehen, werden erörtert in J. Reid Meloy (1992). VIOLENT ATTACHMENTS. Northvale, NJ: Jason Aronson, Inc. 126 Geschichten adoptierter Kinder, die in ihren neuen Familien großen Schaden anrichten, sind nicht selten. Allerdings stammen die meisten Berichte über frühe Manifestationen von Psychopathie von den leiblichen Eltern der betroffenen Kinder. 127 Langzeitstudien über die Entwicklung von Psychopathie und asozialem Verhalten vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter sind beschrieben in Lee N. Robins (1966). DEVIANT CHILDREN GROW UP. Baltimore, MA: Williams & Wilkins; David Farrington (1991). ANTISOCIAL PERSONALITY FROM CHILDHOOD TO ADULTHOOD. The Psychologist 4, S. 389-394. 128 Eine Übersicht der Forschungsliteratur zu diesem Thema wurde gegeben in B. Lahey, K. McBurnett, R. Loeber und E. Hart (1995). PSYCHOBIOLOGY OF CONDUCT DISORDER. In G. P. Sholevar (Hrsg.). CONDUCT DISORDERS IN CHILDREN AND ADOLESCENTS: ASSESSMENTS AND INTERVENTIONS. Washington, D.C.: American Psychiatric Press. 129 Diese Studien werden detailliert beschrieben von P. J. Frick, B. S. O’Brien, J. A. Wooton und K. McBurnett (1994). PSYCHOPATHY AND CONDUCT PROBLEMS IN CHILDREN. Journal of Abnormal Psychology 103, S. 700-707. 130 Rolf Loeber (1990). DEVELOPMENT AND RISK FACTORS OF JUVENILE ANTISOCIAL BEHAVIOR AND DELINQUENCY. Clinical Psychology Review 10, S. 1-41; David Farrington (1991). ANTISOCIAL PERSONALITY FROM CHILDHOOD TO ADULTHOOD. The Psychologist 4, S. 389-394. 131 Ken Magid und Carole A. McKelvey (1989). HIGH RISK: CHILDREN WITHOUT CONSCIENCE. New York: Bantam. 132 »Officials stymied by alleged rapist, 9.« Seattle Times vom 21. Juli 1992. 133 J. MacMillan und L. K. Kofoed (1984). SOCIOBIOLOGY AND ANTISOCIAL BEHAVIOR. JOURNAL OF MENTAL AND NERVOUS DISEASES 172, S. 701-706; H. C. Harpending und J. Sobus (1987). SOCIOPATHY AS AN ADAPTATION. Ethology and Sociobiology 8, S. 63S-72S. 134 Ann Rule (1987). SMALL SACRIFICES. New York: New American Library. Aufschlußreich ist auch das Buch von Diane Downs (1989). BEST KEPT SECRETS. Springfield, OR: Danmark Publishing. 135 Siehe R. D. Hare (1970). PSYCHOPATHY: THEORY AND RESEARCH. New York: Wiley. 136 Robert Kegan (1986). THE CHILD BEHIND THE MASK: SOCIOPATHY AS DEVELOPMENTAL DELAY. In W. H. Reid, D. Dorr, J. I. Walker und J. W. Bonner, III. UNMASKING THE PSYCHOPATH. New York: W. W. Norton. 137 R. D. Hare (1984). PERFORMANCE OF PSYCHOPATHS ON COGNITIVE TASKS RELATED TO FRONTAL LOBE FUNCTION. Journal of Abnormal Psychology 93, S. 133-140; S. D. Hart, A. E. Forth und R. D. Hare (1990). PERFORMANCE OF MALE PSYCHOPATHS ON SELECTED NEUROPSYCHOLOGICAL TESTS. Journal of Abnormal Psychology 99, S. 374-379; J. J. Hoffman, R. W. Hall und T. W. Bartsch (1987). ON THE RELATIVE IMPORTANCE OF »PSYCHOPATHIC« PERSONALITY AND ALCOHOLISM ON NEUROPSYCHOLOGICAL MEASURES OF FRONTAL LOBE DYSFUNCTION. Journal of Abnormal Psychology 96, S. 158-160. 161 138 E. E. Gorenstein und J. P. Newman (1980). DISINHIBITORY PSYCHOPATHOLOGY: A NEW PERSPECTIVE AND MODEL FOR RESEARCH. Psychological Review 87, S. 301-315; J. P. Newman (1987). REACTION TO PUNISHMENT IN EXTROVERTS AND PSYCHOPATHS: IMPLICATIONS FOR THE IMPULSIVE BEHAVIOR OF DISINHIBITED INDIVIDUALS. Journal of Research in Personality 21, S. 464-480; A. R. Damasio, D. Tranel und H. Damasio (1990). INDIVIDUALS WITH SOCIOPATHIC BEHAVIOR CAUSED BY FRONTAL DAMAGE FAIL TO RESPOND AUTONOMICALLY TO SOCIAL STIMULI. Behavioral Brain Research 41, S. 81-94. Schäden an den vorderen Teilen des Gehirns können verschiedene Verhaltensweisen hervorrufen, die psychopathischen Verhaltensweisen ähneln, zum Beispiel mangelhaftes Urteilsvermögen und mangelnde Fähigkeit, zu planen, Impulsivität, die Unfähigkeit, durch Bestrafung beeinflußt zu werden und schlechtes Sozialverhalten. Allerdings unterscheidet sich dieser von manchen Forschern als »erworbene Psychopathie« bezeichneter Zustand deutlich von der ausgeprägten Kombination von Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen, die Psychopathie definieren. Gleichwohl könnten Forschungen an Patienten mit Hirnverletzungen Hinweise auf das Wesen der Psychopathie ergeben. 139 Frühe Risikofaktoren für Probleme im Erwachsenenalter, zum Beispiel Verbrechen und Gewalttätigkeit, sind von mehreren Forschern erörtert worden, siehe z.B. C. S. Widom (1989). THE CYCLE OF VIOLENCE. Science 244, S. 160-166; D. Olweus, J. Block und M. Radke-Yarrow (Hrsg.) (1986). DEVELOPMENT OF ANTISOCIAL AND PROSOCIAL BEHAVIOR. New York: Academic Press; R. Loeber (1990). DEVELOPMENT AND RISK FACTORS OF JUVENILE ANTISOCIAL BEHAVIOR AND DELINQUENCY. Clinical Psychology Review 10, S. 1-41; J. McCord (1988). PARENTAL BEHAVIOR IN THE CYCLE OF AGGRESSION. Psychiatry 51, S. 14-23; Adrian Raine (1988). ANTISOCIAL BEHAVIOR AND SOCIAL PSYCHOPHYSIOLOGY. In H. L. Wagner (Hrsg.). SOCIAL PSYCHOPHYSIOLOGY AND EMOTION: THEORY AND CLINICAL APPLICATIONS. New York: Wiley. 140 Inzwischen sieht Magid Psychopathie als das Ergebnis sowohl biologischer als auch sozialer Faktoren an. Persönliches Gespräch am 22. Juli 1993. 141 In ihrem einflußreichen, 1964 erschienenen Buch THE PSYCHOPATH: AN ESSAY ON THE CRIMINAL MIND. (Princeton, NJ: Van Nostrand) vertraten William und Joan McCord den Standpunkt, daß soziale Faktoren die Hauptursache von Psychopathie seien. Vor kurzem hatte Joan McCord dazu folgendes zu sagen: »Sowohl elterliche Ablehnung als auch inkonsequente Bestrafung sind als Ursachen für Psychopathie angeführt worden ... Aber die Daten stammten aus der Retrospektive und das Verhalten des Psychopathen könnte die Ursache der elterlichen Ablehnung statt ihr Ergebnis gewesen sein.« (Juli 1984). Family Sources of Crime. Auf einem Kongreß der International Society for Research on Aggression in Turku, Finnland vorgestellte Arbeit. Siehe auch J. McCord (1988). PARENTAL BEHAVIOR IN THE CYCLE OF AGGRESSION. Psychiatry 51, S. 14-23. 142 Hinweise darauf, daß individuelle Unterschiede in Intelligenz, Begabung und Persönlichkeit mit genetischen Variationen zusammenhängen, werden erörtert in: T. J. Bouchard, D. T. Lykken, M. McGue, N. L. Segal und A. Tellegen (1990). SOURCES OF HUMAN PSYCHOLOGICAL DIFFERENCES: THE MINNESOTA STUDY OF TWINS REARED APART. Science 250, S. 223-228; T. J. Bouchard und M. McGue (1990). GENETIC AND REARING ENVIRONMENTAL INFLUENCES ON ADULT PERSONALITY: AN ANALYSIS OF ADOPTED TWINS REARED APART. SPECIAL ISSUE: BIOLOGICAL FOUNDATIONS OF PERSONALITY: EVOLUTION, BEHAVIORAL GENETICS, AND PSYCHOPHYSIOLOGY. Journal of Personality 58, S. 263-292; J. E. Bates und M. K. Rothbart (Hrsg.) (1989). TEMPERAMENT IN CHILDHOOD. New York: Wiley; J. Kagan, J. S. Resnick und N. Snidman (1988). BIOLOGICAL BASES OF CHILDHOOD SHYNESS. Science 240, S. 167-171; J. Kagan und N. Snidman (1991). INFANT PREDICTORS OF INHIBITED AND UNINHIBITED PROFILES. Psychological Science 2, S. 40-44. Der Zusammenhang zwischen Ängsten und Psychopathie im Erwachsenenalter wird er- 162 örtert von B. Lahey, K. McBurnett, R. Loeber und E. Hart (1995). PSYCHOBIOLOGY OF CONDUCT DISORDER. In G. P. Sholevar (Hrsg.). CONDUCT DISORDERS IN CHILDREN AND ADOLESCENTS: ASSESSMENTS AND INTERVENTIONS. Washington, D.C.: American Psychiatric Press. 143 Die Ergebnisse von Studien an Familien, Zwillingen und über Adoptionen zeigen an, daß Verbrechen und Gewalttätigkeit im Allgemeinen und Psychopathie im Besonderen von genetischen und biologischen Faktoren des Temperaments zumindest beeinflußt und von der Umwelt und gesellschaftlichen Faktoren bestimmt werden. Siehe z.B. S. A. Mednick, T. E. Moffitt und S. A. Stack (Hrsg.) (1987). THE CAUSES OF CRIME: NEW BIOLOGICAL APPROACHES. Cambridge, England: Cambridge University Press; R. Plomin, J. C. DeFries und D. W. Fulker (1988). NATURE AND NURTURE DURING INFANCY AND EARLY CHILDHOOD. Cambridge, England: Cambridge University Press; F. Schulsinger (1974). PSYCHOPATHY, HEREDITY, AND ENVIRONMENT. In S. A. Mednick, F. Schulsinger, J. Higgins und B. Bell (Hrsg.). GENETICS’ ENVIRONMENT, AND PSYCHOPATHOLOGY [S. 177-195]. Amsterdam: North Holland/Elsevier. Besonders wichtig ist eine jüngere Zwillingsstudie, die einen großen genetischen Einfluß auf die Kombination von (den in Kapitel 3 beschriebenen) Persönlichkeitsmerkmalen festgestellt hat, die Psychopathie definieren. W. J. Livesley, K. L. Jang, D. N. Jackson und P. A. Vernon. GENETIC AND ENVIRONMENTAL CONTRIBUTIONS TO DIMENSIONS OF PERSONALITY DISORDER. Auf einem Kongreß der American Psychiatric Association in Washington, D.C., vom 2. bis 7. Mai 1992 vorgestellte Arbeit; Adrian Raine (1988). ANTISOCIAL BEHAVIOR AND SOCIAL PSYCHOPHYSIOLOGY. In H. L. Wagner (Hrsg.). SOCIAL PSYCHOPHYSIOLOGY AND EMOTION: THEORY AND CLINICAL APPLICATIONS. New York: Wiley. 144 E. DeVita, A. E. Forth und R. D. Hare (Juni 1990). PSYCHOPATHY, FAMILY BACKGROUND, AND EARLY CRIMINALITY. Auf einem Kongreß der Canadian Psychological Association, Ottawa, Kanada, vorgestellte Arbeit. 145 Über den Fall wurde von Mary Lynn Young in The Sun, Vancouver, British Columbia, Kanada, am 2. Dezember 1990 berichtet. Die Zitate stammen aus diesem Artikel. Kapitel II. DIE ETHIK DER DIAGNOSE 146 Atascadero State Hospital in Atascadero, California. Einzelheiten wurden zur Verfügung gestellt von David Plate, Head of Psychology (persönliches Gespräch, August 1991). 147 Ron Rosenbaum (Mai 1990). TRAVELS WITH DR. DEATH. Vanity Fair. 148 Charles P. Ewing (1983). »DR. DEATH« AND THE CASE FOR AN ETHICAL BAN ON PSYCHIATRIC AND PSYCHOLOGICAL PREDICTIONS OF DANGEROUSNESS IN CAPITAL SENTENCING PROCEEDINGS. American Journal of Law & Medicine 8, S. 407-428. 149 Robert Hare (1970). PSYCHOPATHY: THEORY AND RESEARCH. New York: Wiley. S. 110. 150 J. S. Maxmen (1986). ESSENTIAL PSYCHOPATHOLOGY. New York: W.W. Norton. 151 Das Therapieprogramm wird beschrieben von J. R. Ogloff, S. Wong und A. Greenwood (1990). TREATING CRIMINAL PSYCHOPATHS IN A THERAPEUTIC MUNITY PROGRAM. Behavioral Sciences and the Law 8, S. 81-90. Rückfallquoten nach Entlassung aus dem Programm wurden ermittelt von J. Hemphill (1991). RECIDIVISM OF CRIMINAL PSYCHOPATHS AFTER THERAPEUTIC COMMUNITY TREATMENT. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Department of Psychology, University of Saskatchewan, Saskatoon, Kanada. 152 153 G. T. Harris, M. E. Rice und C. A. Cormier (1991). PSYCHOPATHY AND VIOLENT Law and Human Behavior 15, S. 625-637. RECIDIVISM. William McCord (1982). THE PSYCHOPATH AND MILIEU THERAPY. New York: Academic Press. S. 202. 163 154 Es gibt zahlreiche Bücher, die Methoden und Programme für den Umgang mit verhaltensgestörten Kindern beschreiben. Einige davon sind im folgenden aufgeführt: E. A. Blechman (1985). SOLVING CHILD BEHAVIOR PROBLEMS AT HOME AND AT SCHOOL. Champaign, IL: Research Press. Ein Buch mit Übungen zu häufig auftretenden Verhaltensproblemen. S. W. Garber, M. D. Garber und R. F. Spitzman (1987). GOOD BEHAVIOR: OVER 1200 SENSIBLE SOLUTIONS TO YOUR CHILD’S PROBLEMS FROM BIRTH TO AGE TWELVE. New York: Villard Books. Ein hervorragendes Nachschlagewerk für viele häufig auftretende Verhaltensprobleme bei Kindern. Enthält auch Abschnitte zu schweren Verhaltensproblemen und -störungen und gibt Ratschläge, wie man professionelle Hilfe finden kann. H. Kohl (1981). GROWING WITH YOUR CHILDREN. New York: Bantam. Ein praktischer Leitfaden für Eltern. Beschäftigt sich mit Themen wie Disziplin, Gewalt, Selbstwahrnehmung und Fairneß. J. Wyckoff und B. C. Unell (1984). DISCIPLINE WITHOUT SHOUTING OR SPANKING: PRACTICAL SOLUTIONS TO THE MOST COMMON PRESCHOOL BEHAVIOR PROBLEMS. New York: Meadowbrook Books. Ein praktisches Buch, das häufige Formen des Fehlverhaltens bei Vorschulkindern beschreibt (z.B. Wutanfälle, Rivalität zwischen Geschwistern, Unordentlichkeit, Widerstand gegen zeitiges Zubettgehen). E. A. Kirby und L. K. Grimley (1986). UNDERSTANDING AND TREATING ATTENTION DEFICIT DISORDER. New York: Pergamon Press. Eine gute Ressource für Eltern, die versuchen, mit einem hyperaktiven Kind umzugehen. 155 Robert Hare (1992). A MODEL TREATMENT PROGRAM FOR OFFENDERS AT HIGH RISK FOR VIOLENCE. Ottawa, Canada: Research Branch, Correctional Service of Canada. 156 Eine Abhandlung über den »Raubtierblick« von Psychopathen ist enthalten in J. Reid Meloy (1988). THE PSYCHOPATHIC MIND. Northvale, NJ: Aronson, Inc. 164 Bibliographie der in deutscher Übersetzung erschienenen Titel Jack Abbott, IN THE BELLY OF THE BEAST: MITTEILUNGEN AUS DEM BAUCH DER HÖLLE. Übersetzt von Jürgen Abel. Berlin: Ullstein (1982). Paul Ekman, TELLING LIES: WESHALB LÜGEN KURZE BEINE HABEN. Übersetzt von Ska Wiltschek. Berlin: de Gruyter (1989). Sheila Isenberg, WOMEN WHO LOVE MEN WHO KILL. WENN FRAUEN MÖRDER LIEBEN. Übersetzt von Dietmar Karlowski. Bergisch-Gladbach: Lübbe (1993). Norman Mailer, THE EXECUTIONER’S SONG. – GNADENLOS: DAS LIED VOM HENKER. Rastatt: Moewig (1979). Joe McGinniss, FATAL VISION: DIE UNSCHULD DES MÖRDERS. Übersetzt von Uwe Anton. Gütersloh: Bertelsmann-Club (1992). Joseph Wambaugh, ECHOES IN THE DARKNESS: DER SUSAN-REINERT-FALL. Übersetzt von Nikolaus Stingl. Bayreuth: Hestia (1989). Joseph Wambaugh, THE BLOODING: NUR EIN TROPFEN BLUT. Übersetzt von Dietlind Kaiser. Bayreuth: Hestia (1990). 165
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