Arbeit 4.0 Leben und Arbeiten in der digitalen Zukunft Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen Wirtschafts- und Industriesoziologie TU Dortmund Vier Thesen 1. Technologieschub – „Industrie 4.0“ 2. Weitreichender, aber widersprüchlicher Wandel von Arbeit 3. Arbeit 4.0 als Gestaltungsprojekt 4. Risiken und Chancen für Arbeit Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 2 Phasen der Digitalisierung wirtschaftlicher und sozialer Prozesse Erste Phase seit den 1990ern: Digitalisierung von Dienstleistungsprozessen, Medien, Kommunikation etc. Zweite Phase seit Mitte der 2000er: „Internet der Dinge“, Vernetzung globaler Datennetze mit physischen Geräten und autonome Kommunikation der Geräte untereinander Technologische Basis: massiver Leistungsschub, dramatische Verbilligung, generelle Vernetzung/Internet, Sensorik, „intelligente“ Cyber-Physical Systems (CPS) (z.B. ten Hompel 2005; Zuboff 2010; Brynjolfsson/McAfee 2014) Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 3 Industrie 4.0 Internet der Dinge Alles wird autonom! LKW fahren Güter u. Waren autonom. MENSCHEN CONTAINER planen, steuern, vernetzen… organisieren ihre Ladung – viele Container das logistische Netz. REGALE FAHRZEUGE und STAPLER ordern selber ihren Nachschub. organisieren sich im Schwarm. BEHÄLTER sagen was zu entnehmen ist. Bildquellen: Fraunhofer IML, Jettainer, Daimler, ten Hompel 2015 Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 4 Vision einer grundlegenden Innovation industrieller Prozesse Selbstregulierte Optimierung von Produktionsprozessen Deutliche Absenkung der Automatisierungsschwelle Neue Geschäftsmodelle, insbesondere Integration von Markt- und Kundeninformationen Planung und Ausführung parallel und in Echtzeit und nicht mehr in sequentieller Abfolge Produktionsübergreifendes Anwendungsfeld: Produktion, Logistik, Planung und Steuerung, Engineering, Management Wandel von Arbeit !? Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 5 These 2: Weitreichender, aber widersprüchlicher Wandel von Arbeit Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 6 Arbeitsplatzverluste: umstritten und unklar Einerseits: Pessimistische Prognosen über weitreichende Jobverluste Fast 50% aller Berufe automationsgefährdet Insbesondere Routinetätigkeiten im unteren und mittleren Bereich Andererseits: Optimistische Thesen über auschliessliche Jobgewinne Fast 400.000 neue Jobs in der deutschen Industrie in 10 Jahren Steigende Nachfrage insbesondere nach höheren Qualifikationen Kompensation? Bis 2025: Verlust von 490.000 Jobs und Gewinn von 430.000 Jobs (IAB 2015) (cf. Brynjolfsson/McAfee 2014; Frey/Osborne 2013; BCG 2015; FAZ 2015) Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 7 VW Karosseriebau Golf Wolfsburg cf. Neumann 2015 Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 8 Tätigkeiten und Qualifikationen: Aufwertung vs. Polarisierung Aufwertung: Automatisierung von einfachen Tätigkeiten Wachsende Anforderungen an dispositive Aufgaben Steigende Nachfrage nach mittleren und höheren Qualifikationen „Komptenzentwicklung und Weiterbildung“ Polarisierung: Substitution und Erosion vom mittleren Qualifikationen Neue einfache und dequalifizierte Tätigkeiten Wachsende Bedeutung von hoch qualifizierten Tätigkeiten „Lousy and Lovely Jobs“ (cf. Goos/Manning 2007; Autor/Dorn 2013; Brynjolfsson/McAfee 2014; Autor 2015) Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 9 Arbeitsprozesse: Standardisierung vs. Flexibilisierung Standardisierung: - Digitale und anpassbare Leistungsvorgaben - Standardisierung und Optimierung von Tätigkeiten - Deutlich erweiterte Kontrollpotentiale Betriebliche und überbetriebliche Flexibilisierung: - Fortschreitende Ausdifferenzierung von Tätigkeiten - Vernetzte zeit- und ortsentkoppelte Arbeit - „Open Innovation and Production“, „Crowdsourcing“, „Crowdwork“ z.B. in Engineering, Marketing, IT-Entwicklung - Steigende Anteile von „Solo-Selbstständigen“? „Hyperspecialization“ vs. fortschreitende Entgrenzung (z.B. Malone 2011; Leimeister/Zogaj 2013; Benner 2014; IG Metall 2015) Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 10 Breites Spektrum von Organisation und Qualifikation Polarisierte Organisation Flexible integrierte Organisation Keine eindeutigen Folgen, sondern Wahlmöglichkeiten Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 11 cf. BITKOM et al. 2015 Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 12 These 3: Arbeit 4.0 als Gestaltungsprojekt Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 13 Spielräume für die Entwicklung von Arbeit Konsequenzen für Arbeit kein Automatismus und Selbstläufer Zwar „technology push“, aber Überschätzung der technologischen Potentiale vermeiden Kein „Technikdeterminismus“, vielmehr Existenz von divergierenden Entwicklungslinien für Arbeit Entwicklung von Arbeit abhängig von Gestaltungszielen und entsprechenden Strategien Sozio-technisches Verständnis von Industrie 4.0 Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 14 Übergreifendes Managementsystem, Vernetzung, Wertschöpfungskette Rahmenvorgaben: strategisch, normativ Autonom interagierende technologische Systeme: CPPS, Logistik etc. Mitarbeiter: • Aufgaben • Qualifikationen • Erfahrungswissen • Handlungsspielräume Arbeitsorganisation: • Arbeitsteilung • Kooperation • Kommunikation • Leitungsstruktur Industrie 4.0 als Soziotechnisches System Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 15 Alternativen der Technikentwicklung Technologiezentriertes Design bzw. Automatisierungsszenario Komplementäres Design bzw. Werkzeugszenario Zielsetzung: situationsspezifisches und handlungszentriertes Systemdesign (z.B. Windelband et al. 2011; Grote 2015.) Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 16 Gestaltungs- und Einführungsprozess Hohe Ressourcen sowie breites technologisches Know-how erforderlich Langwierige und aufwendige Abstimmung mit bestehenden Strukturen „Best practice“ Beispiele und Transferprozesse Besonderer Fokus auf KMU: angepasste Lösungen Partizipative Systemgestaltung und -einführung Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 17 Weiterentwicklung arbeitspolitischer Institutionen Soziale Sicherheit: vom Schutz abhängig Beschäftigter zum Schutz abhängiger Beschäftigung Gute Arbeit: normativ wirksame Humanisierungsmaßnahmen – Qualifizierung, Leistungsregulation, Arbeitsschutz Qualifikation und Kompetenzentwicklung: Nutzung unterschiedlicher Ansatzpunkte – Berufsbilder, Weiterbildung, „On the job learning“ Arbeitszeit und Flexibilität: Offene, aber verbindliche Arbeitszeitregelungen und Abgleich der divergierenden Interessen Mitbestimmung: Evaluierung und Erweiterung bestehender Regelungen, direkte Partizipation Innovationspolitik: FuE, Technikentwicklung, arbeitsorientierte Forschung Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 (cf. Urban 2015) Folie 18 These 4: Risiken und Chancen von Industrie 4.0 Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 19 Risiken von Industrie 4.0 Verlust einfacher Arbeitsplätze sowie Erosion mittlerer Qualifikationen Verdichtung und zugleich Entgrenzung von Arbeit – „worklife-balance“? Neue, ungeregelte und individualisierte Formen von Arbeit – neue Anforderungen an sozialpolitische Regelungen Neue Anforderungen an die Praxis der Mitbestimmung Völlig ungeklärt: Datenschutz und Kontrollpotential Fragmentierung der Industrielandschaft – Abkopplung nicht technologieintensiver KMU Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 20 Chancen von Industrie 4.0 Chance zur Entwicklung eines neuen Leitbilds von Industriearbeit Voraussetzung für eine humanorientierte Arbeitsgestaltung, z.B. differentielle Arbeitsgestaltung (Deuse et al. 2015) Nutzung der Gestaltungspotenziale von Industrie 4.0 zur Steigerung der Attraktivität von Industriearbeit Erhalt und Ausbau sozialpolitisch wünschenswerter Beschäftigung Weiterentwicklung des deutschen Innovationssystems als Entwickler, Anbieter und Nutzer von Prozessinnovationen Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 21 Perspektiven? Bislang ungeklärte Reichweite und Einsatzfelder der neuen Systeme Mögliche Produktivitätseffekte vs. hohe Kosten Umstellungsprobleme und Kompatibilität mit bestehenden Daten-/IT-/Produktionsstrukturen Vorbehalte und Desinteresse bei vielen KMU Generell lang laufender evolutionärer Prozess, jedoch mit disruptiven Folgen in bestimmten Bereichen „Digitale Inseln“ mit unterschiedlichen Formen der Arbeit? Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 22 Forschungsgebiet Industrie- und Arbeitsforschung TU Dortmund [email protected] Hirsch-Kreinsen, Dezember 2015 Folie 23
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