Ein Unikat mit Geschichte

mensch
»Ich erinnere mich noch …« So begin-
Ein
Unikat mit Geschichte
Als Frau würde sie keine sehr gute Figur
abgeben. Doch ihre Anhänger lieben
ihre knubbelige, unregelmäßige Form.
Denn die Palabirne ist für sie etwas Besonderes. Seit über 300 Jahren wächst
die autochthone Birne im mittleren und
oberen Vinschgau. Kein anderer Baum
im Landschaftsbild zwischen Kastelbell
und Mals ist so beeindruckend wie der
bis zu 20 Meter hohe Palabirnbaum. Seine gesunde Frucht war hier früher ein
Grundnahrungsmittel. Doch die älteste
Birnensorte Südtirols geriet mit dem
Einzug exotischer Früchte in den Supermarkt in Vergessenheit. Nun jedoch erlebt sie ein Revival.
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nen die meisten Erzählungen der Vinschgauer über
ihre ›Vinschger Palabir‹.
»Ich erinnere mich noch daran, dass der Arzt
von Mals früher immer sagte, wenn die Palabirnen
reif sind, könne er in Urlaub gehen«, erzählt Irene
Hellrigl, der die Palabirne besonders am Herzen
liegt. Und in der Tat ist die Birne überaus gesund.
Sie ist reich an Vitamin C, Kalium und Pektin, das die
Darmflora heilt und den Cholesterinspiegel senkt.
& produkt
hin 400 Gramm so vorbereitete Spalten. »Das Brot
ist nicht nur gesund, sondern auch eine köstliche
Ganzjahres-Spezialität zu Almkäse oder einfach nur
mit Butter«, schwärmt Irene Hellrigl.
Doch gerade die mühevolle Ernte macht den
Menschen zu schaffen. Mit einer sogenannten Lon
– einer Leiter, die aus einem Stab mit Querstreben
»Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter die
Birnenspalten als günstigen Zuckerersatz getrocknet und gemahlen hat; die Birnen hingen ja im
Garten«, berichtet Friedrich Steiner, der in Mals die
erste Bio-Brennerei Südtirols besitzt. »Und die Palabirne ist weit süßer als ihre Artgenossen und wird
daher auch Zuckerbirne genannt.«
»Ich erinnere mich noch an damalige Weihnachten«, meint Peter Schuster lächelnd. »Wenn meine
Mutter ihr köstliches Weihnachtsbrot, das Zelten,
gebacken hat. Natürlich mit Palabirnen.« Vielleicht
war das ja der Grund, warum der Bäckermeister aus
Laatsch vor fast zehn Jahren für eine neue Karriere der Palabirne sorgte: Obwohl die Palabirnbäume
die Region prägen, wurden ihre Früchte nicht mehr
geschätzt. Die meisten Bäume sind weit über zehn
Meter hoch, was die Ernte schwer macht. »Früher
waren die Menschen hier arm, doch dann kamen
der Tourismus und mit ihm die Supermärkte. Der
Mensch ist eben bequem, warum noch auf hohe
Bäume klettern statt in den Laden zu gehen!?« Also
verfaulten die Birnen am Boden oder wurden als
Viehfutter genutzt. Doch Peter Schuster erkannte
das Problem. »Wenn wir die Palabirne nicht neu
schätzen gelernt hätten, wäre sie irgendwann verschwunden.« In seiner Bäckerei bäckt er daher sein
fruchtig-saftiges Palabirnenbrot, ein Roggenbrot
mit Palabirnen und Rosinen. In mühevoller Kleinarbeit werden dafür jährlich bis zu 6.000 Kilo Birnen in
Spalten geschnitten und gedörrt. So sind sie etwa
ein Jahr haltbar. Ehe sie in den Brotteig kommen,
werden sie in Wasser aufgekocht und abgekühlt.
Für einen 300-Gramm-Brotlaib braucht man immer-
besteht – kam man meist nicht einmal bis zur Hälfte des Baumes hinauf. Heute verwendet man Teleskop-Alu-Leitern; damit kann man höher und sicherer
hinauf, aber ungefährlicher wird die Ernte dadurch
nicht. »Wegen dieses enormen Aufwands wird meist
nur einmal geerntet, und das ist eben nicht ideal.
Nicht alle Früchte haben dann den perfekten Reifegrad«, meint Peter Schuster. »Allerdings habe ich
da etwas Spielraum, weil ich ja auch kleine und
nicht so schöne Früchte nehmen kann.«
Mittelbauchig und knubbelig –
und bei den Vinschgauern
inzwischen wieder mehr als
beliebt: Die grüne Palabirne
besticht durch ihr saftig-süßes
und honigartiges Aroma
»
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Rittner Kloatze
142 Palabirnbäume stehen
allein in Glurns, der kleinsten
Stadt des Alpenlandes. Das
ergab eine Zählung des Forstwirts Dr. Olaf Wessel. Einige
davon sind bis zu 300 Jahre alt
Friedrich Steiner hat es da nicht so einfach. Für
seinen mehrfach prämierten Palabirnenbrand verarbeitet der 53-Jährige nur allerbeste Früchte. »Das
ist reine Liebhaberei«, gibt er zu. »Ich maische nur
die reifsten Früchte ein und lasse die anderen liegen, bis sie auch soweit sind.« Auf diese Weise muss
er manche Birne drei bis vier Mal in die Hand nehmen. »Das Endprodukt muss stimmen.« Die Birnen
für seinen Brand bekommt er von Besitzern alter
Bäume, die die bis zu 500 Kilo pro Baum nicht allein
verarbeiten können. Wie einst tauscht er die Birnen
gegen Kartoffeln aus eigener Ernte. »Schon früher
war die Palabirne ein begehrtes Handelsgut.« Und
sie war es auch, die Steiner zum Brennen
brachte: »Die Palabirne
begleitet mich seit meiner Kindheit. Ich habe sie
immer in der Küche unseres Familienhotels verarbeitet, aber das reichte
mir nicht.« Vor sechs Jahren begann er mit dem
Schnapsbrennen. »Die Palabirne kommt bei mir nur
in sehr guten Jahren in die
Flasche. Der Brand ist eine
absolute Rarität.« Und mit
dem feinen, sehr fruchtigen
Aroma, dem harmonischen
Bouquet und dem langen,
weichen, fast cremigen Abgang ein Hochgenuss.
Um diese neugewonnenen Produkte der Re­gion
auch in Zukunft zu unterstützen, pflanzte der Pensionär Friedl Powitzer 220 neue Palabirnbäume. »Ich
habe lange überlegt, wie ich mich an der Wiederbelebung der ›Palabir‹ beteiligen kann«, sagt der
61-Jährige. »Wir haben nicht mehr genug alte Bäume, um den Weg auf Dauer zu gehen, den wir nun
eingeschlagen haben.« Seine neue Palabirnen-Generation ist als Mittelstamm gezüchtet. Die Bäume
werden somit nur zwei bis drei Meter hoch, was das
Ernten erheblich erleichtert.
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»Birne auf dem Vormarsch« heißt es auch auf
dem Ritten, einem Hochplateau oberhalb
Bozens. Auch hier wird eine fast vergessene
Birnensorte wieder entdeckt: die »Rittner
Kloatze.« Früher stand vor jedem Haus ein
Birnbaum, heute fördert man deren Wiederanbau. Die kleinen, gelblich-bräunlichen
Birnen wurden zu »Kloatzen« getrocknet
und so für den Winter konserviert. Die Rittner Kloatze wächst auf 700 bis 1000 Metern
und wird im Juli und August geerntet.
»Aber«, wirft Ägidius Wellenzohn ein, »wir dürfen deswegen nicht unsere alten Bäume vergessen.« Im vergangenen Jahr gründete er darum die
Arbeitsgruppe »Vinschger Palabir«, die mittlerweile
25 Mitglieder zählt. »Jeder von uns hat mindestens
einen alten Palabirnbaum.«
Vor seinem Haus in Glurns
steht einer der ältesten.
»Bei einer Zählung des Altbestands wurde er auf 280
bis 300 Jahre geschätzt«,
berichtet er stolz. »Die Palabirne ist ein Unikat. Sie
ist ein Geschenk für unsere Region, das geschützt
werden muss!« Daher
bemüht sich die Arbeitsgruppe auch bei der EU
um Fördergelder zum Erhalt der Palabirne.
Ihren Weg fand die
Palabirne im 17. Jahrhundert über Vorderasien ins Vinschgau.
Doch damals hätte wohl
niemand geahnt, dass
sie einmal zum Aushängeschild dieser Region werden würde – und ihr sogar ein Fest gewidmet wird.
Vom zweiten Septemberwochenende an feiert die
Gemeinde Glurns eine Woche lang »ihre« Birne.
Dann steht die ›Palabir‹ an erster Stelle – auch in
der Gastronomie, die sich allerlei Köstliches einfallen lässt. »Sie gehört einfach wieder zu uns«, freut
sich Peter Schuster. »Und dass das so bleibt, dafür
sorgen wir schon.«
Anja Hanke