Die Tage mit Lois

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MAGAZIN
Frankfurter Rundschau
Montag, 26. Oktober 2015
71. Jahrgang
Nr. 248
Montag, 26. Oktober 2015
71. Jahrgang
Nr. 248
MAGAZIN
Frankfurter Rundschau
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Einige Schafe bleiben
auf der Alm oberhalb
des Hofs.
Der Hof besteht aus
Wohnhaus und Futterhaus, der Tenne.
I
n Luttach, einem Dorf in Südtirol, liegt
das Grab von Alois Auer, dem Bauern
vom Herrenberg, den sie unten im Tal nur
„den Esel“ nannten. Dort oben, auf 1400 Meter Höhe, von wo das Dorf noch kleiner erscheint als es ist, hieß er „der Lois“. Dort lebte er mit seiner alten Mutter Anna, den Tieren, dem Wetter und der Stille. Er starb im
September 2010, 70 Jahre wurde er alt. Die
Welt jenseits von Luttach hätte wohl nie von
ihm gehört, wären nicht eines Tages zwei
fremde Männer den Berg hinaufgestiegen.
Im Sommer 1993 suchten Fotograf Michael Kerstgens und Reporter Gabriel Grüner
im Auftrag des Magazins „Stern“ einen Bergbauern, der seinen Hof noch so bewirtschaftete, als wäre die Zeit irgendwann vor vielen
Jahrzehnten stehengeblieben. Eine Geschichte zum Thema „Heimat“ sollte es werden. Doch es ging nicht nur um ein paar
Stunden des Gesprächs und Fotografierens.
Eigentlich wollte Kerstgens einen Bauern
über einen längeren Zeitraum und zu verschiedenen Jahreszeiten begleiten. Der
„Stern“ gab ihm vier Wochen, Lois nicht mal
einen Tag; der „Deitsche“ mit seinem seltsamen technischen Gerät war ihm nicht geheuer. „Ich brauch‘ keine Bilder, ich brauch‘
Hände“, sagte er.
So legten Kerstgens und Grüner Kamera
und Stift aus der Hand und halfen beim Heuen. „Zumindest versuchten wir, uns beim
Umgang mit der scharfen Sense nicht zu verletzen“, berichtet Kerstgens in dem Buch
„Hartes Leben auf der Höh‘“, das die Geschichte des „Feuchtbauern vom Herrenberg
im Ahrntal“ erzählt.
Die Mischung aus Nähe und Distanz
zeigt sich auch in Kerstgens‘ Bildern –
als habe er ein scheues Tier fotografiert
„Lois hatte – so schien es – seinen Spaß, uns
Großstadtvieh am Hang balancieren zu sehen.“ Von der Grobheit des Tons und der Arbeit ließ Kerstgens sich nicht abhalten. Er
blieb. Zuerst schlief er in seinem Auto, dann
– nachdem er „Lois‘ verschiedene Prüfungen
bestanden hatte“ – im Heuschober und
schließlich in einer Kammer am Hof. Lois
und seine Mutter nannten ihn nun „den
Michl“. Und die Pausen, in denen er mit Lois
ben nicht nur reich an Entbehrungen ist.
Sondern auch reich dadurch, dass in jeder
Geste und in jedem Ausdruck die Kraft und
Entschlossenheit zu spüren sind, mit der Lois
und seine Mutter dieses Leben führen. Ja,
scheinen sie zu sagen, wir hier oben haben
nicht viel und oft zu wenig. Aber hier oben,
bei den Almwiesen und dem Gletscher des
Schwarzensteins, „do isch mei Paradies“,
sagt Lois. Auch wenn er sich wünscht, seinen
Feuchthof „ohne Noat“ bewirtschaften zu
können und ohne „Ongscht, von di Schuldn
gfressn zu wern“. Den „Michl“ hat er beides
sehen lassen – das Wohlgefühl und die
Angst. Und auch den Kampfgeist: „Mit Händ
und Fiaß wehrn wir uns gegen den Untergong des Hofs. Foscht 500 Johr hob’m unsere Vorfohrn aufm Herrenberg ausgholtn. Wir
gebn net auf.“
Als der Fotograf noch einmal zu Besuch
kam, konnte Lois den Weg zu seiner
geliebten Alm längst nicht mehr gehen
ins Gespräch kam, wurden länger. Abends,
nach der Arbeit, saßen sie auf der Alm, tranken einen „Roatn“. Und Lois erzählte.
53 Jahre war er damals und hat nie etwas
anderes gesehen als den Feuchthof, den seine Familie seit vielen Jahren betreibt. Er hat
nie geheiratet. Seine Mutter und er leben von
dem, was der Hof abwirft: „Die Kühe geben
Butter, Käse und Milch; die Schweine und
Lämmer liefern Fleisch; vom Acker kommen
Kartoffeln und Roggen fürs Mehl; im Garten
wachsen Salat und Gemüse; die Hennen legen Eier; aus dem Fell der Schafe wird die
Wolle gesponnen, und die Federn der Gänse
werden zu Daunen verarbeitet“, schreibt Gabriel Grüner in der „Stern“-Reportage. „Tauschen würde der Lois mit seinen besser gestellten Nachbarn nicht. (…) Er will ein ,echta Bergbaur‘ bleiben. Seit Generationen haben sich die Auer’schen am Herrenberg fest-
Die Tage mit Lois
gekrallt.“ Unten im Tal als Handwerker zu arbeiten, wie es viele der anderen Bauern tun,
oder Zimmer an Touristen zu vermieten,
kommt für ihn nicht infrage.
Die Mischung aus Nähe und Distanz, mit
der Lois dem Fotografen begegnet, zeigt sich
auch in Michael Kerstgens Bildern. Sie wirken behutsam, respektvoll. Als habe er ein
scheues Tier fotografiert. Und Lois scheint in
manchen Momenten vergessen zu haben,
dass er im Fokus einer Kamera steht. Dann
hält er die Stirn gesenkt, wirkt versunken in
seiner Arbeit, anscheinend ohne Impuls, sich
für ein Bild anders als sonst zu geben, zu bewegen, zu gestikulieren. Die Frage, ob Authentizität in Anwesenheit eines Fotografen
überhaupt möglich ist – hier hat es wohl Augenblicke gegeben, in denen man sie mit Ja
beantworten muss. Kerstgens schafft in seinen Bildern den Blick dafür, dass dieses Le-
Nach fast acht Monaten, in denen Michael
Kerstgens immer wieder auf den Herrenberg
hinauf kam, endete die gemeinsame Zeit mit
einem Versprechen. „,Michl, du kannst die
Bilder im Magazin zeigen, das ist für eine
Woche, du kannst auch eine Ausstellung machen, die ist für ein paar Wochen.‘ Aber ein
Buch? Das wollte Lois erst nach seinem Tod,
,… das bleibt für immer‘, sagte er.“
Die Reportage erschien und es gab auch
eine Fotoausstellung im Museum Kornkasten
im Ahrntal. Die Schau schien Lois „eine große Genugtuung zu sein“, schreibt Kerstgens.
„Er, den alle im Tal als ,Esel‘ angesehen hatten, stand im Mittelpunkt der Eröffnung und
zahlreicher Berichte.“
Als Kerstgens im Herbst 2009 noch einmal auf dem Feuchthof zu Besuch war, lag
Lois in der Stube, gebrechlich schon, und
sagte: „Da bist du ja, Michl“. Den steilen Weg
zu seiner geliebten Alm konnte er längst
nicht mehr gehen. So ging Michl für ihn und
fand dort in einer Stube über dem Stall eine
alte Ausgabe des „Stern“, die Seiten so knittrig wie Lois‘ Gesicht.
Das Buch erscheint erst jetzt, fünf Jahre
nach seinem Tod. So wie Kerstgens es ihm
versprochen hatte.
ZUM BUCH
Michael Kerstgens, Jahrgang 1960, studierte
Design und Fotografie an der Folkwang Schule in
Essen. Er arbeitete als Freelance Fotograf für viele
nationale und internationale Magazine und
Unternehmen und wurde für seine Arbeit mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Seit 2007 ist
Kerstgens Professor für Dokumentarfotografie an der
Hochschule Darmstadt. Er lebt mit seiner Familie in
Oberhausen im Rheinland.
Der Bildband „Hartes Leben auf der Höh‘ – Der
Feuchtbauer vom Herrenberg im Ahrntal“ mit
Fotografien von Michael Kerstgens und Texten von
Johann Leiter, Gabriel Grüner und Michael Kerstgens
ist im Athesia Verlag erschienen, umfasst 144 Seiten
und kostet 29,90 Euro.
Die Ausstellung „Hartes Leben auf der Höh‘“ ist
noch bis Ende Oktober im Südtiroler Bergbaumuseum
Kornkasten in Steinhaus im Ahrntal zu sehen.
www.bergbaumuseum.it
Gabriel Grüner, geboren 1963 in Südtirol, arbeitete
nach seiner Ausbildung an der Henri-NannenJournalistenschule in Hamburg als Reporter im
Auslandsressort des „Stern“. Er berichtete aus vielen
Krisenländern der Welt, unter anderem aus Afghanistan, Algerien, dem Sudan und immer wieder auch
vom Balkan.
Im Juni 1999 war Grüner, nachdem der Krieg
offiziell für beendet erklärt worden war, im Kosovo
unterwegs. Am 13. Juni wurden er, ein Fotograf
sowie ein Übersetzer auf dem Dulje-Pass in der Nähe
der Großstadt Prizren beschossen, laut Recherchen
des „Stern“ von einem russischen Söldner der
serbischen Armee. Keiner der drei überlebte den
Angriff. osk
Alois Auer lebte als Bauer in Südtirol, so wie es seine
Vorfahren schon getan hatten. Eines Tages kamen
Reporter zu ihm – eine Geschichte über Heimat sollte
es werden. Doch sie wurde anders als gedacht
Fotos: Michael Kerstgens
Text: Tanja Kokoska
Wo der Berg besonders steil ist, muss Lois das Heu selbst tragen – bis zu 100 Kilo.
Lois ist unverheiratet geblieben. Seine Jugendliebe wollte nicht auf den Hof kommen.
Am frühen Abend hat Lois‘ Mutter eine Grießsuppe gekocht. Geredet wird nicht viel.