PflegeAlltag Kultur Kunstprojekte in der Altenpflege „Weckworte“ – Mit Poesie gegen Demenz Es gibt viele Künstler, die sich in Sachen Demenz und Alzheimer engagieren. Die Schriftstellerin Astrid McCornell, die 25 Jahre in der Pflege gearbeitet hat, veröffentlichte bereits zwei Bücher mit Geschichten für Menschen mit und ohne Demenz. In HEILBERUFE stellt sie nun Projekte für Demenzkranke vor, die stellvertretend für viele kreative Ideen stehen. W as mich und meine Kollegen aus der Kultur eint, ist der empfundene Mangel in der Betreuung und im Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen. Es fehlt an Gemeinschaft, Aktivität und Kommunikation. So unterschiedlich die künstlerischen Projekte sind, in ihrer Wirkung sind sie sich ähnlich: Sie bringen die Menschen in Kommunikation, lassen vergessene Erinnerungen aufsteigen, wecken Gefühle und bieten einen gemeinsamen Moment im Hier und Jetzt. Als Schlüsselelemente dienen die liebevolle Zugewandtheit zum Gegenüber, das Spiel und das Einbeziehen der Sinne. Lars Ruppel, ein junger Slam-Poet, bringt beispielsweise mit seinem Projekt „Weckworte“ interessierten Menschen bei, wie man Gedichte für Menschen mit ©© Ken Yamamoto Bei seinen Besuchen in Pflegeheimen „erweckt“ Poetry Slammer Lars Ruppel Menschen aus ihrer Demenz. 46 Demenz vorträgt, sie in Kommunikation bringt und so Gemeinschaft herstellt. Gedichte können Spaß machen Als Gasthörerin begleitete ich einen Workshop von Lars Ruppel. Die teilnehmenden Schüler waren zwischen 20 und 40 Jahre alt und damit zu jung für die Generation „Gedichte auswendig lernen“. Klassische oder neue Gedichte waren den meisten Schülern daher gänzlich unbekannt. Zum Aufwärmen trug Lars einen selbstgedichteten Text mit Tempo und Witz vor. Erste erfreute Gesichter, Gedichte können also auch Spaß machen! Lars erklärte den Zuhörern, worauf es beim Vortrag ankommt. Jedes Gedicht hat einen eigenen Rhythmus, den man mitklatschen oder schnippen kann. So wurde das erste Gedicht gemeinsam gesprochen und geschnippt: „Eine Kuh“ – von Heinz Erhardt. Der Text ist einfach, lustig und rhythmisch. Das klappte gut, alle sprachen und schnippten gemeinsam. Erstaunen, Gelächter und Heiterkeit bei den Schülern. Ach, so einfach ist das? Dann wurde es aber doch ein bisschen schwieriger, denn nun sollten die Schüler ein klassisches Gedicht einer einzelnen Person vortragen. Dazu muss der Text langsam und deutlich gesprochen werden. Zum Text sollen passende Gesten und Berührungen eingeübt werden. Lars machte es vor. Als Gedicht wählte er „Mutters Hände“ von Kurt Tucholsky. Es ist ein Dankesgedicht an die Mutter und diesen Dank drückte Lars mit seinem Körper in jeder Zeile aus. Er kniete vor einer Schülerin nieder, strahlt sie an, rezitierte langsam Satz für Satz. Bei der Zeile „...alles mit deine Hände“ nahm er zärtlich die Hände der Frau in die seinen. Die Frau lächelte selig zurück. Nun mussten die Schüler selber üben und es stellte sich heraus, dass ein paar schauspielerische Talente unter ihnen waren. Heilberufe / Das Pflegemagazin 2015; 67 (12) Gedichte wecken Emotionen Nun wurde es ernst: Lars fuhr mit den Schülern in eine örtliche Pflegeeinrichtung für an Demenz erkrankte Menschen, um das soeben Erlernte direkt vor Ort umzusetzen. Im Saal saßen circa 20 Bewohner, einige im Rollstuhl, einige dösend. Um sie herum gruppierten sich Pflegekräfte und die Schüler. In der Mitte stand Lars. Er begann einen Bewohner nach dem anderen persönlich zu begrüßen, indem er vor der Person in die Hocke ging, ihre Hand nahm, seinen „WECK RU FE“ KO N K R E T Bei Traurigkeit Wenn Lars Ruppel merkt, dass jemand Nähe oder Zuneigung braucht, dann trägt er „Kindersand“ von Joachim Ringelnatz vor. Das Schönste für Kinder ist Sand / Ihn gibt‘s immer reichlich / Er rinnt unvergleichlich / Zärtlich durch die Hand. Dabei kann man so schön die Hand nehmen und drüber streicheln. Bei Aufregung Wenn jemand aufgeregt ist, kann man mit ihm J.W. Goethes Gedicht „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden“ aufsagen und dazu passend tiefe Atembewegungen machen. Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehen, sich ihrer entladen; Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich preßt, Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt. Beispiel für ein Dada-Gedicht „So, so!“ von Kurt Schwitters Vier Maurer saßen einst auf einem Dach. Da sprach der erste: „Ach!“ Der zweite: „Wie ists möglich dann?“ Der dritte: „Dass das Dach halten kann!!!“ Der vierte: „Ist doch kein Träger dran!!!!!!“ Und mit einem Krach Brach das Dach.“ http://larsruppel.de Heilberufe / Das Pflegemagazin 2015; 67 (12) Namen nannte und nach dem Namen seines Gegenübers fragte. Sagte eine Dame zum Beispiel: „Ich heiße Gerda“, antwortete Lars mit einem Reim wie: „Gerda, Gerda, so schön, das war noch nie da ...“. So erhielt er sehr schnell die Aufmerksamkeit eines jeden Einzelnen. Lars begann mit dem Gedicht „Die Glocke“ und schon bald rezitierten die ersten Bewohner die Strophen mit. Lars ging weiter im Kreis, rief den Bewohnern die Strophen des „Zauberlehrlings“ zu, ging in die Knie, schüttete imaginäres Wasser aus. Nun waren alle Bewohner hellwach. Sprachen die Strophen mit, beugten sich vor und antworteten auf gestellte Fragen klar und deutlich. Lächeln flog über die Gesichter, Augen weiteten sich vor Freude und Stolz über die vollbrachte Leistung. Lars hatte die Runde mit den Worten der Poesie aufgeweckt. Dann kamen die Schüler an die Reihe, gaben ihr neues Wissen und die gelernten Gedicht-Texte preis. Und auch dieses Mal verfehlten die Gedichte ihre Wirkung nicht. Schüler und Bewohner strahlten nun gleichermaßen und waren für einige Minuten gemeinsam mitten im Leben – wach, voller Spielsinn und Freude. Ihnen wurde für einen Stunde das Gefühl der Gemeinschaft gegeben, gemeinsame Kommunikation und geteilte Emotionen. Die Schüler und Lars verabschiedeten sich wieder persönlich und mit Handschlag von den Bewohnern. Einige hatten Tränen in den Augen – ein berührendes und beeindruckendes Erlebnis für alle. Mit Musik gegen Demenz Die Fotografin, Filmemacherin und Künstlerin Stefanie Ritter bekam mehr oder minder durch einen Zufall die Betreuung einer an Demenz erkrankten Dame übertragen. Ihr Name war Hilli Sieveking und sie kam aus einem begüterten Hause. Zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörten das Klavierspiel, das Schreiben und Lesen. Stefanie Ritter fiel sehr schnell auf, dass es Hilli an Aktivität, Erfolgserlebnissen und Freude fehlte. Die Demenz machte Hillie für ihre Umwelt zu einem lebensuntüchtigen Menschen, den es zu beaufsichtigen galt. Die nachlassende Gedächtnisleistung zeigte sich unter an- derem bei ihr darin, dass sie nur noch eine Melodie auf dem Klavier spielte. Stefanie beschloss, diese verbliebene Fähigkeit zu nutzen, und schlüpfte in ein Ballett-Tutu. Sie erfand Sprünge und Drehungen und versuchte, sie passend zur Melodie einzusetzen. Das gefiel Hilli. Sie begann, Steffi Vorschläge für passende Bewegungen zu unterbreiten, spielte die Melodie mit neuen Variationen, wurde wach, konzentriert und vor allen Dingen, sie wurde fröhlich und begann zu lachen. Und so wurden ihre Betreuungsstunden zu einem großen Spielplatz. Eines Tages wollten die Beiden gemeinsam Pfannkuchen backen und Steffi zerließ Butter in der Pfanne. Mit dem Finger schob Hilli die Butter ein bisschen hin und her, und da stellten sie fest, dass man mit Butter in der Pfanne toll malen kann. Zuerst ein Herz, dann Buchstaben – die Pfannkuchen waren völlig vergessen. Stefanie fotografierte die schönen Buttergemälde zur Erinnerung und Hilli war von Stolz erfüllt. Bis eine Angehörige auftauchte und mit den Worten „Was macht ihr den hier für eine Sauerei!“ dem Spaß ein Ende setzte. Fünf Jahre lang begleitete Stefanie Ritter Hilli Siveking. Fünf Jahre, in denen sie einen Film mit und über Hilli drehte. Der Film „Ich denke schon weiter“ zeigt in respektvollen Bildern den Verlauf der Krankheit Demenz, die Höhen und Tiefen, die Traurigkeit und die Freude. Positive Effekt nutzen Der Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen kann für Künstler auch sehr inspirierend sein und uns immer wieder auf neue Ideen bringen. Ich hoffe, ich konnte ein lebendiges Bild über den positiven Effekt der Kunst auf Menschen mit Demenz zeichnen und sie ermutigen, Kunst und Demenz zusammenzubringen. Astrid McCornell Schriftstellerin Hamburg [email protected] www.toleranz-manufaktur.com 47 PflegeAlltag Kultur Nachgefragt … bei Lars Ruppel. Der Bühnendichter, der weltweit Poetry Slams (Dichterwettstreits) organisiert, hat das Poesie-Projekt „Weckworte“ für Alzheimer- und Demenzkranke und deren Pflegekräfte erfunden. Sein Ansatz: Weg mit dem alten Kanon, her mit neuen Impulsen – mit Gedichten von Dadaisten und Rappern. ?? Herr Ruppel, Ihr Projekt heißt „WeckRuppel: Ich möchte Menschen mit demenziellen Veränderungen mit Gedichten „wecken“. Und in gewissem Sinn auch die betreuenden Pflegekräfte. Eigentlich ist es ein Fortbildungsprojekt: Ich möchte zeigen, wie Gedichte in die tägliche Pflege integriert werden können. Und zwar solche, die noch nicht so häufig vorgetragen wurden. Deshalb sehe ich es auch als ein Projekt, das das Kulturangebot in der Pflege aufwerten soll. Rap, ein bisschen Slam – es soll einfach alles vorgetragen werden. Und ich will, dass die Pflegekräfte die Gedichte vortragen, die sie gut finden. Deswegen treffe ich eine möglichst große Auswahl und hoffe, dass ich damit die Menschen erreiche, für die ich das vortrage, die Menschen mit Demenz. Natürlich sind auch die alten Sachen dabei. Aber dabei darf es eben nicht bleiben. Die Pflegeeinrichtungen sollten eine Umgebung bieten, die kulturell möglichst vielfältig gestaltet und lebendig ist. ?? Wie ist die Idee entstanden? ?? Wenn Sie in einen Raum in einer Pfle- worte“: Was steckt dahinter? Ruppel: Über eine klassische Schulung, die ich anbiete – zu Bühnenpräsenz, zu Performance, zu Poetry Slam. Teilgenommen haben auch Pflegefachkräfte. Ich hatte den Eindruck, dass im Lebensalltag der Menschen das Kulturangebot in den Pflegeeinrichtungen relativ gleich ist und sich oft ausschließlich mit der Vergangenheit der Bewohner auseinandersetzt, immer wieder Altbekanntes abruft, statt auch mal neue Impulse zu setzen. Jeder Mensch hat ein Anrecht auf die Vielfalt von Gedichten, finde ich. ?? Haben die Pflegekräfte das auch so gesehen? Ruppel: Sie haben meine Beobachtungen bestätigt. Und die Pflegekräfte müssen das ja „ausbaden“ und immer wieder Goethes „Erlkönig“ vortragen. Doch nicht jede 23-Jährige hat eine emotionale Beziehung dazu oder zum Lied „Kein schöner Land“. Und ich fand es schade, dass sie nicht die Gedichte, die sie mögen, in die Pflege einbringen können. ?? Und welche Gedichte nehmen Sie in ein Pflegeheim mit? Ruppel: Möglichst alle; also, das sind Dadaisten, das sind die Modernen, das ist vielleicht auch manchmal ein bisschen 48 geeinrichtung kommen, entscheiden Sie dann spontan, wie Sie anfangen? Ruppel: Wenn ich in einem Pflegeheim bin, sehe ich mich zuerst um: Wer sitzt da in welcher Stimmung? Ganz wichtig ist zu erkennen, wie ist der Mensch, der mir gegenüber sitzt, drauf. Wenn ich das Gefühl habe, dass jemand traurig ist, muss ich nicht auch noch die „Mondnacht“ vortragen. Und wenn jemand total glücklich ist, dann kann ich das auffangen, etwa Heinz Erhardt vortragen: „Das Reh springt hoch, das Reh springt weit / Warum auch nicht, es hat ja Zeit“ – damit kann man hervorragend tanzen! Ich hebe sie so ein bisschen vom Rollator weg. ?? Wie genau ist der Ablauf? Ruppel: Der ist immer gleich: Zwei Stunden Fortbildung, danach gehen wir eine Stunde zusammen in eine Gruppe von etwa zwölf betroffenen Menschen. Da gibt es eine Poesieshow und danach eine interne Auswertung. ?? Welche Reaktionen bekommen Sie? Ruppel: Das ist wunderbar unterschiedlich und ganz anders als beim Poetry Slam-Publikum: Bei einem Poetry Slam sind circa 200 Leute im Raum mit 200 kognitiven Fähigkeiten, die alle ähnlich sind. Lars Ruppel Bühnendichter, Erfinder des Poesie-Projekts „Weckworte“ In einer Pflegeeinrichtung reicht es nicht, wenn ich mich einfach hinstelle und ein Gedicht für alle vortrage. Das würde einfach die wenigsten Leute erreichen. Deswegen mache ich mir Gedanken, wie ich es schaffe, jedes Gedicht so vorzutragen, dass jeder im Raum – unabhängig davon, wie es ihm geht, wie viel er noch sieht, wie viel er versteht, was er noch hört – etwas davon hat. Ich bekomme tolle Reaktionen: Mal steht jemand auf und tanzt, mal ruft jemand „aufhören!“. Mal schläft jemand ein, weil er sich so entspannt. Mal weint jemand vor Freude, mal lacht jemand laut. ?? Wie ist die Resonanz auf Ihr Projekt vonseiten der Pflegekräfte? Ruppel: Sehr positiv. Ja, ich denke, die meisten tragen so ein kleines Trauma aus dem Deutschunterricht mit sich herum, in dem wir die Gedichte pauken mussten. Und der Deutschunterricht ist nicht so angelegt, um aus uns große Leser oder Autoren zu machen. Die Pflegekräfte haben natürlich nicht immer Lust auf Poesie, so wie jeder andere auch. In meinen Fortbildungen versuche ich, Lust auf Sprache zu machen. Sprache ist ja ein ganz wichtiges Werkzeug für die Pflege. Denn Pflege ist ein so intimer, so ein zwischenmenschlich intensiver Beruf, dass Sprache eines der wichtigsten und hauptsächlichsten Werkzeuge für Pflegende ist. Das wird leider häufig ein bisschen vernachlässigt. ?? Kann man Sie als Pflegeheim „buchen“? Ruppel: Ja, man kann mich bundesweit für Inhouse-Schulungen buchen. Das Interview führte Ute Burtke. Heilberufe / Das Pflegemagazin 2015; 67 (12)
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