Einführung in die formale Demographie R OLAND R AU Universität Rostock, Wintersemester 2015/2016 23. November 2015 c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 1 / 36 Vergangene Vorlesung: Abschluss, Sterbetafel / Sterbetafelbevölkerung Beginn: stabiles Bevölkerungsmodell c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 2 / 36 Lassen Sie uns zurückgehen zum Ausgangspunkt der gesamten Vorlesung Einführung in die formale Demographie. Wir wollen untersuchen Nt1 ⇒ Nt2 Mit den gegebenen Annahmen (konstante, altersspezifische Fertilität, konstante, altersspezifische Mortalität, keine Migration) ist uns ja die “Blackbox” (⇒) bekannt. Daher verschiebt sich nun unsere Frage hin zu: Nt1 ⇒ ? c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 3 / 36 Wie erreicht man nun in einer solchen Situation die erste Altersklasse (also Alter “Null”) zu einem späteren Zeitpunkt (n1,t=2 = n1 )? F1 x1 + F2 x2 + F3 x3 + . . . + Fω xω = n1 In menschlichen Bevölkerungen sind in aller Regel (bei einjährigen Altersstufen) die ersten und letzten Werte von F gleich Null. c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 4 / 36 Wie erreicht man nun in einer solchen Situation die zweite Altersklasse (also Alter 1) zu einem späteren Zeitpunkt (n2,t=2 = n2 )? Mittels der Überlebenswahrscheinlichkeiten px aus der Sterbetafel: p1 x1 + p2 x2 + p3 x3 + . . . + pω xω = n2 Dies wird zu (man kann Alter(sstufe) 2 ja nur aus Alter(sstufe) 1 erreichen): p1 x1 + 0x2 + 0x3 + . . . + 0xω = n2 p1 x1 + 0 + 0 + . . . + 0 = n2 Und Altersgruppe 3 (Alter 2)? Ganz analog: p1 x1 + p2 x2 + p3 x3 + . . . + pω xω = n3 0x1 + p2 x2 + 0x3 + . . . + 0xω = n3 0 + p2 x2 + 0 + . . . + 0 = n3 c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 5 / 36 Dies lässt sich natürlich so fortführen. Die resultierende Matrix für alle Altersstufen hat eine charakteristische Struktur, die nach ihrem Erfinder Patrick Holt Leslie (1945) als Leslie-Matrix bezeichnet wird. Diese hat die Form: F1 p1 0 0 . .. 0 F2 0 p2 0 .. . 0 F3 0 0 p3 .. . 0 ... ... ... ... .. . ... Fω−1 0 0 0 .. . pω−1 n1,t2 n1,t1 Fω 0 n2,t1 n2,t2 n3,t1 n3,t2 0 = 0 n4,t1 n4,t2 .. .. .. . . . nω,t2 nω,t1 0 Oder aber kompakter: An(t) = n(t + 1) c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 6 / 36 Numerisches Beispiel 0 A = 0.9 0 0·1 n(t = 2) = 0.9 · 1 0·1 + + + 1·0 0·0 0.1 · 0 0·0 n(t = 3) = 0.9 · 0 0·0 0 · 0.9 n(t = 4) = 0.9 · 0.9 0 · 0.9 1 0 0.1 3 0 ; 0 1 n(t = 1) = 0 0 3·0 0 0 · 0 = 0.9 0·0 0 + + + + + + 1 · 0.9 0 · 0.9 0.1 · 0.9 + + + 1·0 0·0 0.1 · 0 c Roland Rau + + + + + + + + + 0 0 0 + + + 0 0 0 = 0.9 0 0 3·0 0.9 0 · 0 = 0 0·0 0.09 3 · 0.09 0.27 0 · 0.09 = 0.81 0 · 0.09 0 Einführung in die formale Demographie 7 / 36 Was wird langfristig mit dieser Bevölkerung geschehen? N(t = 1) = 1; N(t = 2) = 0.9; N(t = 3) = 0.99; N(t = 4) = 1.08; 0.6 0.8 Altersgruppe 1 Altersgruppe 2 Altersgruppe 3 0.2 0.4 Anteil der Altersgruppen 1.05 1.00 0.95 0.90 0.0 0.85 Gesamtbevölkerung 1.10 1.0 1.15 ? 1 2 3 4 Zeit 1 2 3 4 Zeit c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 8 / 36 1000 100 Gesamtbevölkerung 10 1 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 Zeit c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 9 / 36 1.0 0.6 0.4 0.2 0.0 Anteil der Altersgruppen 0.8 Altersgruppe 1 Altersgruppe 2 Altersgruppe 3 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 Zeit c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 10 / 36 Ist dies immer so? Ein weiteres Beispiel (Caswell, 2001, S. 11): 0 1 5 1 A = 0.3 0 0 ; n = 0 0 0.5 0 0 c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 11 / 36 3 2 Gesamtbevölkerung 1 0 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 Zeit c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 12 / 36 1.0 0.6 0.4 0.2 0.0 Anteil der Altersgruppen 0.8 Altersgruppe 1 Altersgruppe 2 Altersgruppe 3 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 Zeit c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 13 / 36 Ist dies immer so? Beispiel: USA, Frauen, 1965, 0–44 Jahre in 15-jährigen Altersgruppen (Keyfitz and Beekman, 1984, S. 95): 0.4271 0.8498 0.1273 29, 415 0 0 ; n = 20, 886 (in 1, 000) A = 0.9924 0 0.9826 0 18, 040 c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 14 / 36 1e+13 1e+11 Gesamtbevölkerung 1e+09 1e+07 1e+05 0 20 40 60 80 100 Zeit c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 15 / 36 1.0 0.8 0.6 t(relmatrix) 0.4 0.2 0.0 0 20 40 c Roland Rau 60 80 Einführung in die formale Demographie 100 16 / 36 Erste, asymptotische Ergebnisse Unter den gegebenen Annahmen des stabilen Bevölkerungsmodells: wächst (oder schrumpft) eine Bevölkerung langfristig mit der gleichen Rate wird der Anteil der Altersgruppen langfristig konstant werden. c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 17 / 36 Erstellen einer Projektionsmatrix Schritt 1: Erstellen eines “Life-Cycle-Graphs” Schritt 1.1: Definition der interessierenden Stadien eines Organismus. Bei menschlichen Bevölkerungen meist Alter (bzw. Altersstufen) Altersstufe 1 Altersstufe 2 Altersstufe 3 c Roland Rau Altersstufe 4 Altersstufe 5 Einführung in die formale Demographie Altersstufe 6 18 / 36 Erstellen einer Projektionsmatrix Schritt 1: Erstellen eines “Life-Cycle-Graphs” Schritt 1.1: Definition der interessierenden Stadien eines Organismus. Bei menschlichen Bevölkerungen meist Alter (bzw. Altersstufen) Schritt 1.2: Auswahl eines Projektionsintervals (z.B. 1 Jahr, 5 Jahre, 15 Jahre) Altersstufe 1 Altersstufe 2 Altersstufe 3 c Roland Rau Altersstufe 4 Altersstufe 5 Einführung in die formale Demographie Altersstufe 6 19 / 36 Erstellen einer Projektionsmatrix Schritt 1: Erstellen eines “Life-Cycle-Graphs” Schritt 1.1: Definition der interessierenden Stadien eines Organismus. Bei menschlichen Bevölkerungen meist Alter (bzw. Altersstufen) Schritt 1.2: Auswahl eines Projektionsintervals (z.B. 1 Jahr, 5 Jahre, 15 Jahre) Schritt 1.3: Welchen Beitrag leistet eine (Alters-)Stufe vom Beginn eines Projektionsintervalls bis zum Ende eines Projektionsintervalls? Prinzipiell zwei Möglichkeiten: Überleben in die nächste Altersstufe Reproduktion in die erste Altersstufe Bitte beachten Sie: Diese Beiträge beziehen sich nur, wenn eine Altersdifferenzierung vorgenommen wird. Bei anderen Übergängen (z.B. Familienstand) kann dies völlig anders sein. c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 20 / 36 Erstellen einer Projektionsmatrix ... Schritt 1.3: Welchen Beitrag leistet eine (Alters-)Stufe vom Beginn eines Projektionsintervalls bis zum Ende eines Projektionsintervalls? Prinzipiell zwei Möglichkeiten: Überleben in die nächste Altersstufe Reproduktion in die erste Altersstufe Altersstufe 1 Altersstufe 2 Altersstufe 3 c Roland Rau Altersstufe 4 Altersstufe 5 Einführung in die formale Demographie Altersstufe 6 21 / 36 Erstellen einer Projektionsmatrix ... Schritt 1.4: Eintragen von Koeffizienten von (Alters-)Stufen zu (Alters-)Stufen, wo tatsächlich ein Beitrag geleistet wird — Siehe Schritt 1.3, ⇒ Reproduktion und Überleben (zuerst symbolisch, also F1 , F2 , . . . ; p1 , p2 , . . .) F3 Altersstufe 1 p1 Altersstufe 2 p2 F5 F4 Altersstufe 3 c Roland Rau p3 Altersstufe 4 p4 Altersstufe 5 Einführung in die formale Demographie p5 Altersstufe 6 22 / 36 Erstellen einer Projektionsmatrix Schritt 2: Umsetzen des Lifecycle-Graphs in eine Projektionsmatrix. aij bezeichnet das Element der Matrix A, das in der i-ten Zeile und der j-ten Spalte steht (d.h. der erste Index bezeichnet die Zeile; der zweite Index bezeichnet die Spalte) Generelle Regel: Das Element aij beschreibt den Beitrag der j-ten Altersstufe zur i-ten Altersstufe. c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 23 / 36 Erstellen einer Projektionsmatrix F3 Altersstufe 1 p1 Altersstufe 2 p2 Altersstufe 3 ⇒ F5 F4 p3 Altersstufe 4 p4 Altersstufe 5 0 0 F3 F4 F5 p1 0 0 0 0 0 p2 0 0 0 A= 0 0 p3 0 0 0 0 0 p4 0 0 0 0 0 p5 c Roland Rau p5 Altersstufe 6 0 0 0 0 0 0 Einführung in die formale Demographie 24 / 36 Anderes Beispiel: Großer Schwertwal — Orca Quelle: Solange B RAULT, Hal C ASWELL (1993): Pod-Specific Demography of Killer Whales (Orcinus Orca). Ecology 74(5), 1444-14454 Bildquelle: Wikipedia, Bild ist in der “Public Domain” http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/37/Killerwhales_jumping.jpg c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 25 / 36 Anderes Beispiel: Großer Schwertwal — Orca F3 1: Yearling 2: Juvenile F2 1 3: Reproductive Adults 2 G1 G2 P2 P1 P1 G1 A= 0 0 3 G3 P3 F2 P2 G2 0 F3 0 P3 G3 0 0 0 P4 c Roland Rau 4: Postreproductive Adults 4 P4 0 0.9775 A= 0 0 0.0043 0.9111 0.0736 0 0.1132 0 0.9534 0.0452 Einführung in die formale Demographie 0 0 0 0.9804 26 / 36 Erstellen einer Projektionsmatrix Bisher waren die numerischen Werte immer gegeben, z.B. — siehe Caswell (2001, S. 11) 0 1 5 A = 0.3 0 0 0 0.5 0 Doch wo kommen diese Werte her? (Ich beziehe mich dabei stark auf Wachter (1997).) c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 27 / 36 Statistische Daten ⇒ Projektionsmatrix 25 25 20 20 15 15 Unser Beispiel: Altersdifferenzierte Bevölkerung in 5-jährigen Altersstufen Wir beginnen mit der Subdiagonalen. Wie lautet die Wahrscheinlickeit, dass eine Person im Alter 15 6 x < 20 weitere 5 Jahre später noch am Leben ist? (siehe Lexis-Diagramm) t c Roland Rau Einführung in die formale Demographie t+5 28 / 36 Statistische Daten ⇒ Projektionsmatrix Unser Beispiel: Altersdifferenzierte Bevölkerung in 5-jährigen Altersstufen 25 25 20 20 15 15 Wir beginnen mit der Subdiagonalen. Wie lautet die Wahrscheinlickeit, dass eine Person im Alter 15 6 x < 20 weitere 5 Jahre später noch am Leben ist? (siehe Lexis-Diagramm) ⇒ Die Anzahl der Lebenden am Ende des Projektionsintervalls geteilt durch die Anzahl der Lebenden am Anfang des Projektionsintervalls Wie wir uns erinnern ist n Lx aus der Sterbetafel die durchschnittliche Bevölkerung in der Altersgruppe x → x + n. (und in Bezug auf die Sterblichkeit haben wir im stabilen Modell die gleichen Annahmen wie im stationären Modell). c Roland Rau t Einführung in die formale Demographie t+5 29 / 36 Statistische Daten ⇒ Projektionsmatrix Daher kommen auf die Subdiagonalen die Werte F1 F2 F3 . . . 5 L5 0 0 . . . 5 L0 0 . . . 0 55LL105 5 L15 0 . . . 0 5 L10 .. .. .. .. . . . . n Lx+n n Lx : Oder im vorherigen Beispiel: 0 L2 L1 0 A= 0 0 0 0 0 L3 L2 0 0 0 c Roland Rau F3 F4 F5 0 0 0 0 0 0 L4 0 0 L3 L5 0 L4 0 0 0 LL56 0 0 0 0 0 0 Einführung in die formale Demographie 30 / 36 Statistische Daten ⇒ Projektionsmatrix Was kommt jedoch in die erste Zeile? Schrittweise: 1 ganz einfach: Multiplikation der altersspezifischen Fertilitätsraten (nur für Töchter!) mit dem gewählten Zeitabstand: n fx · n 2 es überleben jedoch nicht alle Neugeborenen das erste Lebensjahr (oder 5 Jahre, oder . . . je nach Intervallbreite n) c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 31 / 36 Statistische Daten ⇒ Projektionsmatrix 2 es überleben jedoch nicht alle Neugeborenen das erste Lebensjahr (oder 5 Jahre, oder . . . je nach Intervallbreite n) Vorher (für Subdiagonale): 25 Jetzt (für erste Zeile): 25 20 5 5 0 0 20 t 15 t+5 15 t t+5 c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 32 / 36 Statistische Daten ⇒ Projektionsmatrix 2 es überleben jedoch nicht alle Neugeborenen das erste Lebensjahr (oder 5 Jahre, oder . . . je nach Intervallbreite n) D.h. wir haben im Nenner 5 · l0 und im Zähler: l4.5 + l3.5 + l2.5 + l1.5 + l0.5 = L4 + L3 + L2 + L1 + L0 = 5 L0 Daher haben wir eine etwas kompliziertere Formel: n fx ·n ⇒ n L0 n · l0 · n · n fx = n L0 l0 n fx . . . und hier geht es nächste Woche weiter! c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 33 / 36 Literatur Brault, S. and H. Caswell (1993). Pod-Specific Demography of Killer Whales (Orcinus Orca). Ecology 74(5), 1444–1454. Caswell, H. (2001). Matrix Population Models. Construction, Analysis, and Interpretation. Second Edition. Sunderland, MA: Sinauer. Keyfitz, N. and J. A. Beekman (1984). Demography Through Problems. Problem Books in Mathematics. Springer-Verlag. Leslie, P. H. (1945). On the Use of Matrices in Certain Population Mathematics. Biometrika 33, 183–212. Wachter, K. W. (1997). Essential demographic methods. Unpublished Lecture Notes. c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 34 / 36 Lizenz This open-access work is published under the terms of the Creative Commons Attribution NonCommercial License 2.0 Germany, which permits use, reproduction & distribution in any medium for non-commercial purposes, provided the original author(s) and source are given credit. Für ausführlichere Informationen: http://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/de/ (Deutsch) http://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/de/deed.en (English) c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 35 / 36 Kontakt Universität Rostock Institut für Soziologie und Demographie Lehrstuhl für Demographie Ulmenstr. 69 18057 Rostock Germany Tel.: +49-381-498 4044 Fax.: +49-381-498 4395 Email: [email protected] Sprechstunde im WS 2015/2016: Mittwochs, 09:00–10:00 (und nach Vereinbarung) c Roland Rau Einführung in die formale Demographie 36 / 36
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