AZ Aarau, vom: Donnerstag, 30. Juli 2015

DONNERSTAG, 30. JULI 2015
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NORDWESTSCHWEIZ
KULTUR
«Ich werde nie wieder einen Fuss
auf eine Theaterbühne setzen.»
Morgan Freeman (78) Hollywood-Star
«Man fühlt sich wie ein Junkie»
Dokumentarfilm «Forever and a Day» zeigt
die Scorpions auf Abschiedstournee –
und den Rücktritt vom Rücktritt.
Will man das sehen?
XENIX FILM
Die Bühne, die ihnen die Welt bedeutet – Szene aus dem Dokumentarfilm «Forever and a Day» über die Scorpions.
VON HANS JÜRG ZINSLI
Das vermeintlich letzte Konzert der Scorpions sollte im Dezember 2012 in München über die Bühne gehen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die deutsche Hardrockband 100 Millionen Alben verkauft
und mit Hits wie «Rock You Like a Hurricane», «Still Loving You» und «Wind of
Change» die internationalen Charts erobert. Man hätte es sich durchaus leisten
können, punkto Live-Auftritte in Frührente zu gehen.
«Eine abartige Vorstellung»
Doch dann, im Verlauf der Abschiedstournee, sagt Leadgitarrist Matthias Jabs:
«Das Adrenalin auf der Bühne ist so
stark, dass man sich fühlt wie ein Junkie,
weil man das immer wieder erleben
möchte.» Beim letzten Konzert fügt er
an: «Gerade jetzt, wos uns so viel Spass
macht, ist es ehrlich gesagt eine abartige
Vorstellung, das nicht mehr zu machen.»
Der langjährige Bandmanager Peter
Amend sagt: «Wir waren jetzt ausverkauft ohne Ende. Also… wer will da aufhören? Das kann man nicht!» Nein, die
Scorpions konnten nicht. Bis heute ist die
Band um Gitarrist Rudolf Schenker und
Sänger Klaus Meine auf Achse. Auf der Jubiläumstour zum 50-jährigen Bandbestehen schauen die Scorpions auch einige
Male in der Schweiz vorbei, unter anderem Ende November im Hallenstadion in
Zürich.
Zuvor kommt «Forever and a Day» in
die Kinos, ein Dokumentarfilm, der
grösstenteils die angebliche Abschiedstournee festhält. Regisseurin Katja von
Garnier hat aus Konzertausschnitten,
Backstageaufnahmen,
Archivmaterial
und Statements von Bandmitgliedern sowie zugeneigten Künstlern (unter ande-
ren Kiss-Sänger Paul Stanley) ein anderthalbstündiges Potpourri der guten Laune
gemixt. Das Ganze wirkt wie eine hundertminütige Promotion in eigener Sache; nur selten werden Schwierigkeiten
(wie das zeitweilige Versagen von Klaus
Meines Stimme) thematisiert.
Tot oder Kult müssen sie sein
Das Überraschendste an diesem Film
ist der Name der Regisseurin: Katja von
Garnier reüssierte bislang vor allem mit
unterhaltsamen Frauenausbruchsfantasien. Da waren die Paarungswilligen in
«Abgeschminkt!» (1993), die Gefängnisband in «Bandits» (1997) und – nach
längerer Durststrecke – die pferdevernarrten Mädchen in «Ostwind» und
«Ostwind 2» (2013/15). Mit gestandenen
Hardrockern hätte man von Garnier
nicht unbedingt in Verbindung gebracht.
Dass der Dokumentarfilm über die erfolgreichste deutsche Band nur in drei
Schweizer Kinos anläuft, mag erstaunen.
Tatsache ist aber: Dokumentarfilme über
Rock- und Popmusiker haben hierzulande einen schweren Stand (siehe Tabelle);
um Erfolg zu haben, sollten die Porträtierten kultartig verehrt oder tot sein.
Wer erfolgreich und lebendig ist, kann da
nicht mithalten; zum Beispiel Metallica.
2004 spielten James Hetfield und Co. vor
rund 35 000 Fans im Zürcher Letzigrund. Den gleichzeitig startenden Dokumentarfilm «Some Kind of Monster» über
die grösste Krise der Band wollten nur
3200 Zuschauer sehen. Als hätten sich
die Fans gefragt: Warum soll ich für eine
Band, die ich live erleben kann, ein Kinoticket lösen?
«Scorpions – Forever and a Day»
Ab heute Kino.
Dokumentarfilme
über Musiker (Auswahl)
Filmtitel
Eintritte CH
3200
Metallica – Some Kind of
Monster (2004)
4300
Justin Bieber’s Believe (2013)
6600
Züri West – Am Blues vorus
(2002)
9400
Abxang (über Polo Hofer,
2003)
12 300
One Direction: This Is Us
(2013)
14 500
Justin Bieber – Never Say Never (2011)
15 000
Amy – The Girl Behind the Name (2015) *
146 000
Mani Matter – Warum syt dir
so truurig? (2002)
164 900
Michael Jackson’s This Is It
(2009)
175 500
Buena Vista Social Club (1999)
* noch in Auswertung
Von Bankern, Philosophen und Kindern
Kinderbuch Die Welt fest im Griff des Homo oeconomicus – wer braucht da schon Philosophen-Porträts für Kinder?
VON HEIMITO NOLLÉ
«Wie Kinder zu Bankern werden», lautete
kürzlich ein Artikel auf dem Schweizer Finanzportal finews.ch. Experten empfehlen darin, Kindern frühzeitig – nämlich
schon ab vier Jahren – die wichtigsten
Grundbegriffe der Finanzwelt einzutrichtern. Die fassbarsten Begriffe – also zum
Beispiel das Sparen – machen den Anfang, es folgen abstraktere Konzepte wie
Zins, Steuern und Aktien. Mit zwölf Jahren sollen die Kinder reif sein, an erste Investitionen zu denken, mit 15 fähig, die
eigene Bonität einzuschätzen.
O die verlorenen Paradiese der Kindheit!
Vorbei scheinen die Zeiten, als man als
Kind noch in die Fantasie-Welten der Wil-
den Kerle eintauchen und stundenlang in
den reichen Illustrationen blättern konnte.
Früh-Englisch, möglichst effizient aufbereitetes Fachwissen und Lernprogramme
für Neugeborene haben die Traumwelten
verdrängt. Wo noch Platz für Fantasie
bleibt, hat sich die Game-Industrie breitgemacht.
Alles schlecht? Nein. Es gibt immer noch
Verlage, die das Wagnis eingehen, Kinder
auf Reisen zu schicken, deren Ausgang
nicht von vornherein klar ist. Der Zürcher
Diaphanes-Verlag publiziert seit Anfang
Jahr eine Reihe von Philosophen-Porträts:
intelligent, liebevoll bebildert, didaktisch
zurückhaltend. Die inzwischen 26 Porträts
erschienen ursprünglich in der französischen Reihe «Les petits Platons» und sind
Marion Muller-Colard,
Clémence Pollet Hannah Arendt auf der Bühne. Diaphanes-Verlag
2015. 64 S., Fr. 18.–.
Denkern wie Sokrates, Descartes oder Einstein gewidmet.
In dem Bändchen über Hannah Arendt
wird das Konzept der Reihe deutlich: Ein
kleines Mädchen – auch sie heisst Hannah –
wird von der Philosophin an der Hand genommen und durch die Welt geführt. Die
Reise startet auf der griechischen Agora,
wo Aristoteles auftritt, führt weiter durch
Revolutionen und politische Umbrüche bis
zur Verfinsterung des Totalitarismus, in der
die Menschen nicht mehr Menschen sind,
sondern nur noch Marionetten. Fast wie
nebenbei bekommt die kleine Hannah auf
ihrer Reise eine Vorstellung von den zentralen Gedanken Arendts, ihrer Idee vom Handeln, von der totalitären Gesellschaft, von
der Möglichkeit des Neuanfangs.
Die Chance eines Neuanfangs im Handeln ist – wenn man so will – die Kernbotschaft des Büchleins, das jedoch an keiner
Stelle belehrend oder missionierend ist.
«Ich behalte den Glauben an das Unvorhersehbare», antwortet die die grosse Hannah.
«Und vor allem behalte ich den Glauben an
dich! Was meinst du, was gibt der Welt die
Möglichkeit des ständigen Neuanfangs?» –
Das Mädchen denkt nach. Dann leuchten
seine Augen auf: «Die Kinder!»
Es wäre zu wünschen, dass Kinderbücher
wie dieses noch Platz finden in den Regalen
der Kleinen. Mag sein, dass Finanz- und
Fachwissen in der heutigen und künftigen
Welt immer wichtiger wird. Fundamentaler
aber ist immer noch die alte philosophische
Frage, wie wir leben wollen.