Reclam Anne-Rose Meyer Inge Müller: Liebe 45, Liebe nach Auschwitz und Rendezvous 44 Inge Müller: Liebe 45, Liebe nach Auschwitz und Rendezvous 44 Die alte Scham ist falsche Scham Von Anne-Rose Meyer Inge Müller: »Liebe 45«, »Liebe nach Auschwitz« und »Rendezvous 44« Liebe 45 Sie hatten kein Haus. Sie hatten kein Bett. Sie liebten sich draußen vorm Tor. Hinter ihnen die Stadt starb den Bombentod. Rot überm Rauch kam der Mond hervor. Liebe nach Auschwitz Das war Liebe Als ich zu dir kam Weil ich mußte Das war Liebe als ich von dir ging Weil ich wußte. Die alte Scham ist falsche Scham. 1 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. 5 Reclam Anne-Rose Meyer Inge Müller: Liebe 45, Liebe nach Auschwitz und Rendezvous 44 Da half kein Gott und kein Danebenstehn Und ich ging. Und da war nichts getan Ich sah mich und dich Und sah die andern an Und es reichte noch nicht 10 Da half kein Auseinandergehn. Rendezvous 44 František Als du kamst war ich weg Als ich kam warst du geholt František! die Erde rollt. Solln wir nur das Leben haben Um die Freunde zu begraben? Wann wird was wir wolln gewollt? Als ich kam warst du geholt Wenn du kommst bin ich weg Werd dich suchen, František. 5 10 Abdruck nach: Inge Müller, Wenn ich schon sterben muss. Gedichte. Berlin/Weimar: Aufbau Verlag, 1985. 2 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Anne-Rose Meyer Inge Müller: Liebe 45, Liebe nach Auschwitz und Rendezvous 44 Reclam »Liebe 45«: S. 35. »Liebe nach Auschwitz«: S. 62. »Rendezvous 44«: S. 13. – © 1985 Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. Die alte Scham ist falsche Scham. Zu Inge Müllers »Liebe 45«, »Liebe nach Auschwitz« und »Rendezvous 44« Inge Müller (1925–1966) wurde in der DDR zu Lebzeiten weniger durch selbstständige Publikationen bekannt als durch die Theaterstücke Die Korrektur, Der Lohndrücker und Klettwitzer Bericht, die sie mit ihrem dritten Ehemann, Heiner Müller, schrieb. 1959 erhielt das Paar für die ersten beiden Dramen eine der renommiertesten Auszeichnungen des Staates, den Heinrich-Mann-Preis, zwei Jahre später wurde Inge Müller der »Vaterländische Verdienstorden« für das Hörspiel Die Weiberbrigade verliehen. Trotz dieser offiziellen Würdigungen hielt sie sich vom sozialistischen Kulturbetrieb fern und veröffentlichte neben Texten für Kinder nur wenige kurze Prosaskizzen und Gedichte, die von den zuständigen Behörden wie Literaturkritikern als subjektivistisch abqualifiziert wurden: Lange Zeit sahen viele Interpreten darin allein den künstlerisch fragwürdigen Ausdruck psychischer Befindlichkeiten der Verfasserin. Dieses unvorteilhafte Bild ist revidiert worden: Nachdem nahezu alle Gedichte aus dem Nachlass Inge Müllers im Jahr 1985 erschienen sind, gilt sie als erste wichtige Lyrikerin der DDR, die mit leiser, aber eindringlicher Stimme Erinnerungen an millionenfaches Sterben, eigene traumatische Kriegserlebnisse und die Auswirkungen faschistischer Gewaltherrschaft auf die Gesellschaft ihrer Zeit artikulierte. Für das Verständnis dieser Texte ist der Zeitraum ihrer Entstehung, 1954–61, bedeutsam: Der Doktrin des sozialistischen Realismus gemäß galt es in dieser Phase, 3 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Anne-Rose Meyer Inge Müller: Liebe 45, Liebe nach Auschwitz und Rendezvous 44 Reclam die sich konsolidierende Republik wortgewaltig zu feiern, durch positive Stimmungsbilder und Identifikationsfiguren auch literarisch an ihrem Aufbau mitzuwirken. Somit lagen Inge Müllers zentrale Themen – Krieg, Tod und Liebe – nicht im Trend der Zeit, wirkten anachronistisch, provokativ und befremdeten die Fortschrittsoptimisten der Ulbricht-Ära. Als Dichter wie Volker Braun, Karl Mickel, Rainer Kirsch und Heinz Czechowski noch die ›sozialistische Menschengemeinschaft‹ priesen, suchte Inge Müller Abstand von der »Auferstanden aus Ruinen«-Euphorie ihrer Schriftstellerkollegen, redete in ihrer Lyrik keinem neuen Patriotismus das Wort, und sei es dem der DDR, verweigerte sich einem funktionalisierten Literaturbegriff und staatlich gelenkter Poetik ähnlich wie die Lyrikerinnen Christa Reinig und Helga M. Novak, die beide Mitte der 60er Jahre die DDR verließen. Mittels kurzer, auf den ersten Blick nüchtern anmutender Gedichte schuf Inge Müller Momentaufnahmen von bestürzender Schwärze, so in Liebe 45: »Sie hatten kein Haus. Sie hatten kein Bett. / Sie liebten sich draußen vorm Tor. / Hinter ihnen die Stadt starb den Bombentod. / Rot überm Rauch kam der Mond hervor.« In kühl-sachlichem Ton, der ohne drastische Metaphorik auskommt, wird in dieser extrem pointierten Skizze die Szenerie eines schweren Bombardements wiedergegeben, wirft die Autorin ein Schlaglicht auf ein namenloses Paar, das trotz des nahen Infernos Sinnlichkeit erlebt. Charakteristisch für ihre Schreibweise ist der pessimistische Grundton: Vernichtung und Zusammenbruch, nicht Liebesglück und Hoffnung kennzeichnen den beschriebenen Moment. Der Mond – einst unerlässliches romantisches Requisit für den zärtlichen Zauber nächtlicher Stimmungen – verbreitet über der brennenden Stadt kein mildes Licht, ist vielmehr rot wie Blut und Flammen und verstärkt den Eindruck tödlicher Bedrohung. Ein Bild, das durch die Umwertung seiner Symbolik an vergleichbare Darstellungsmodi des Expressionismus, beispielsweise an die beängstigende Beschreibung Georg Heyms in dem Gedicht Luna II, erinnert: »Schon 4 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Anne-Rose Meyer Inge Müller: Liebe 45, Liebe nach Auschwitz und Rendezvous 44 Reclam hungert ihn nach Blut, des kurze Tracht / An einen Henker mahnt im roten Rock / Und einer Pfauenfeder blaue Pracht / Trägt er am Dreispitz auf dem Nachtgelock« (Dichtungen und Schriften, Bd. I, S. 241). Dass Inge Müller apokalyptisch anmutende Impressionen wie in Liebe 45 lange Zeit nicht veröffentlichen wollte, zementierte ihre Außenseiter-Position in der Kulturszene ebenso wie die von ihr gewählte Perspektive: Nicht ausschließlich »der Zukunft zugewandt«, sondern die Vergangenheit im Blick, befand sie sich in Friedenszeiten immer noch im Krieg, wie dies die Jahreszahlen in vielen Titeln ihrer Gedichte signalisieren (33 war ich ein gläubiges Kind, Rendezvous 44, Liebe 45, Exekution 45, Soldaten 45 u. a.). Vergangenheit war für Inge Müller nicht abgeschlossen, sondern zeitigte vor allem im zwischenmenschlichen Bereich, in Liebesbeziehungen, symptomatische Spätfolgen. Diese thematisiert Inge Müller in Liebe nach Auschwitz, einer Zustandsbeschreibung zerstörter Innigkeit. Lakonisch muten die ersten Zeilen an: »Das war Liebe / Als ich zu dir kam / Weil ich mußte« (Z. 1–3). Keine komplizierte Liebeshermeneutik, große Gefühle sind in einem einfachen Aussagesatz festgehalten. Weder das lyrische Ich noch das angesprochene Du sind genauer bestimmt, ihre Verbindung gehört, wie es das gewählte Tempus indiziert, der Vergangenheit an. Worauf die Anziehungskraft des imaginierten Gesprächspartners beruht, bleibt unklar, ebenso die kausale Verknüpfung »weil ich mußte«: Ist es intensiven Gefühlen oder äußeren Umständen zuzuschreiben, dass sich das lyrische Ich dem Angesprochenen näherte? Inge Müller arbeitet in diesem Gedicht mit Leerstellen, die ein unmittelbares Verständnis des Textes verhindern. Kalkulierte Unbestimmtheit findet sich auch in den folgenden Zeilen: »Das war Liebe als ich von dir ging / Weil ich wußte.« (Z. 4 f.) Ließen sich ohne Berücksichtigung des Titels eine ganze Reihe von Gründen assoziieren, warum sich der Sprecher / die Sprecherin abwendet, weist Liebe nach Auschwitz auf ein Spannungsverhältnis von 5 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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