Das Paradox der Privatsphäre

GASTBEITRAG
Das Paradox der Privatsphäre
Der Beitrag bietet eine neue Sicht auf das Problem der Privatheit im Internet. In der Onlinewelt zeigen sich die beiden Sozialformen der «Gemeinschaft» und der «Gesellschaft» und stehen in einem Spannungsverhältnis. Der Artikel ruft dazu auf, Orte
zu schaffen, an denen sich beide Formen begegnen und in produktiven Dialog treten können. Christoph Lutz, Pepe Strathoff
GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT IM PRODUKTIVEN AUSTAUSCH
Raum für produktiven
und kreativen Austausch
(z. B. Open Data)
Internalisierung
Rationalisierung
Gesellschaft
(Distanz, Rationalität,
Anonymität)
Gemeinschaft
(Nähe, Emotionalität,
persönliche Bindung)
Quelle: adaptiert von Meynhardt, 2010
Den Verheissungen des Internets stehen heute
grosse Nachteile und Gefahren entgegen. Unsere digitale Privatsphäre scheint akut bedroht,
sei es durch geheimdienstliches Datensammeln, Targeted Advertising oder das Phishing
von Kreditkarteninformationen. Gleichzeitig
haben soziale Netzwerke Hochkonjunktur, und
Onlineshopping-Anbieter erzielen Jahr für Jahr
neue Umsatzrekorde. Beide Branchen könnten
ohne private Nutzerdaten nicht funktionieren.
Christoph Lutz ist wissens. Mitarbeiter und
­Doktorand am Institut für
Medien- und Kommuni­
kationsmanagement und
Universität St. Gallen.
[email protected]
Pepe Strathoff ist Dok­
torand am Center for
­Leadership and Values
in Society der Universität
St. Gallen.
[email protected]
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Einstellungen und Verhalten:
Das Paradox der Privatheit
Das Privacy Paradox beschreibt die – auf den
ersten Blick – widersprüchliche Tatsache, dass
sich Internetnutzer einerseits Sorgen um ihre
Privatsphäre im Netz machen, andererseits
aber ganz und gar nicht besorgt handeln:
Trotz grosser Bedenken stellen sie sensible
Daten wie Handynummern, Aufenthaltsorte
oder private Fotos offen ins Netz. Das Privacy
Paradox umfasst dieses Auseinanderdriften
von Einstellungen und konkretem Handeln in
der digitalen Welt.
Viele wissenschaftliche Studien haben das
Privacy Paradox bestätigt, besonders bei sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter. Es
besteht nur ein schwacher und in manchen
Fällen gar kein (signifikanter) Zusammenhang
zwischen der Sorge um die eigene Privatsphäre und der Datenpreisgabe. Obwohl sich dieser
Befund vor allem in den USA erhärtete, kamen
Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum
zum gleichen Schluss. Hervorgetan hat sich in
diesem Bereich die Wirtschaftsinformatikerin
Hanna Krasnova, derzeit Assistenzprofessorin
an der Universität Bern. In verschiedenen Studien untersuchte sie mit ihren Co-Autoren die
Datenpreisgabe im Internet und das Privacy
Paradox. Sie konnte zeigen, dass unsere Preisgabe von persönlichen Daten kaum davon abhängt, wie besorgt wir um unsere Privatsphäre im Internet sind.
Der gängigste Ansatz, um das Privacy Paradox zu erklären, ist der sogenannte Privacy Calculus. Hier geht man davon aus, dass die Nutzer
die Vorteile der Datenpreisgabe höher gewichten als die Nachteile der Gefährdung ihrer Privatsphäre. Es gibt jedoch gute Gründe, an einem
rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül zu zweifeln.
So gestaltet sich die Abschätzung der Risiken für
die Privatsphäre im Internet schwierig, weil sie
für den durchschnittlichen Nutzer abstrakt, unbekannt und schwer zu berechnen sind. Eine
aktuelle Studie aus Kanada bestätigt dies. Alison Young und Ana­bel Quan-­Haase zeigen darin, dass die Studienteilnehmer ihre Privats­
phäre-Einstellungen auf Facebook relativ strikt
setzen; und dies aufgrund der Sorge um die soziale Privatsphäre. Diese Sorgen umfassen Phänomene wie Angst vor Stalking, gefunden werden von der oder dem Ex oder davor, dass Partybilder an die falschen Personen gelangen.
Demgegenüber steht eine andere, abstraktere Form der Sorgen um die eigene Privatsphäre, nämlich die institutionelle Privatsphäre.
Hier geht es um Institutionen und Unternehmen, das heisst um die Ausspähung durch Geheimdienste, um personalisierte Werbeangebote oder die Weitergabe privater Daten an
Drittanbieter. Diese zweite Form der Sorgen
um die Privatsphäre ist im Bewusstsein der befragten Studenten in Young und Quan-Haases
Studie kaum präsent. Der eher symbolische Akt
der Änderung der Privatsphäre-Einstellungen
auf Facebook beruhigt das Gewissen – obwohl
dadurch institutionelle Player überhaupt nicht
tangiert werden. Das Privacy Paradox mag in
diesem Fall für die sozialen Sorgen um die Privatsphäre gelöst sein (die Nutzer sorgen sich
UND handeln auch). Für die institutionellen ist
es auf eine andere Art auch gelöst, allerdings
nicht befriedigend: Die Nutzer machen sich
keine Sorgen und handeln auch dementsprechend sorglos. In diesem Sinne scheint fehlendes Wissen oder Bewusstsein eine Erklärung
für das Privacy Paradox, die vom Privacy Calculus zu wenig berücksichtigt wird.
Daneben handelt es sich bei vielen Handlungen im Internet, vor allem in sozialen Netz-
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GASTBEITRAG
werken, um Gewohnheitsabläufe oder emotionales Verhalten. Diese Form des Handelns
kommt in der Diskussion um das Privacy Paradox bislang kaum zur Sprache.
Gemeinschaft schlägt Gesellschaft:
­Versuch einer Erklärung
Wir schlagen vor, das beschriebene Phänomen
eines Auseinandergehens von Einstellung und
Verhalten (institutionelles Privacy Paradox)
durch einen klassische Brille der Soziologie zu
betrachten: die Sozialtheorie von Tönnies. Im
späten 19. Jahrhundert führte der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies eine Unterscheidung zweier Arten von sozialen Kollektiven
ein: Gemeinschaft und Gesellschaft.
Unter «Gemeinschaft» werden traditionelle Formen des Zusammenlebens verstanden. In
solchen Formen kennen sich die Mitglieder untereinander gut und sind einander emotional
eng verbunden (bei Tönnies: Wesenswille).
Tönnies sieht den Wesenswillen als eine Willensform an, bei der eine organische Einheit
zwischen «Wollen» und «Denken» besteht. Individuen nehmen die Gemeinschaft damit als
selbstverständlich war. Die anderen Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, werden
aufgrund der organischen Nähe, aufgrund von
Gewohnheit und aufgrund gemeinsamer Erinnerungen als relevant erachtet. Die Gemeinschaft wird durch implizite Regeln und Bräuche
zusammengehalten, die aus einem gemeinsamen Geist entspringen und sich in Bräuchen
und religiösem Glauben niederschlagen.
Demgegenüber bezeichnet «Gesellschaft»
eine Rationalisierung des sozialen Kollektivs.
In der – in der Regel grösseren – Gesellschaft
dominiert beim Individuum das rationale Denken andere Arten des Wollens. An die Stelle eines ganzheitlichen Wollens mit emotionaler
Verbundenheit tritt die rationale Suche nach
dem eigenen Vorteil als zentrales Motiv (bei
Tönnies: Kürwille). Die Gesellschaft ist ein Ergebnis des modernen arbeitsteiligen Wirtschaftens und Handelns. Die beiden Begriffe bieten
einen plastischen Zugang zu komplexen psychischen Prozessen, die verschiedene Formen
der Verbundenheit mit sich bringen, die nebeneinander existieren. Unser Handeln findet
nämlich oft in beiden Sphären gleichzeitig statt.
Diese klassischen Sozialformen finden
sich auch in sozialen Netzwerken, wo das Individuum Verbundenheit und Bestätigung
sucht. Durch das ständige Teilen und Kommentieren von persönlichen Informationen
werden Beziehungen ritualisiert und es entsteht Vertrauen zwischen den Nutzern. Ein
Beispiel dafür ist das gegenseitige Gratulieren
zum Geburtstag auf Facebook. Dieses wird
erwartet und immer wieder mit ähnlichen
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Formeln praktiziert. Solche Formen der Online-Vergemeinschaftung füllen eine Lücke,
die durch das Weg­
brechen traditioneller
Gemeinschafts­formen (Dorfgemeinschaften,
Grossfamilien) entstanden ist. Die Nutzung
solcher Dienste ist also stark emotional motiviert, denn der Nutzer sucht Geborgenheit
und Bestätigung durch ihm nahestehende Individuen. Die Willensformen, die der Nutzung
solcher Dienste zugrunde liegen, sind deshalb
eher der Gemeinschaft zuzuordnen. In diesem Sinne kann ein soziales Netzwerk wie
Facebook durchaus als virtuelle Gemeinschaft verstanden werden.
Die im Internet lauernden Gefahren hingegen, wie die Ausspähung durch Geheimdienste oder die kommerzielle Nutzung persönlicher Daten, sind eher der abstrakten
Gesellschaftsebene zuzuordnen. Sie setzen
sich nicht in Handlungen um, weil sie zwar
rational verstanden werden, sich aber nicht in
emotionale Betroffenheit umsetzen, eben weil
sie weit weg sind von der alltäglichen Lebensrealität der Nutzer. Die Gefahren sind eher
potenzieller Natur und derart, dass sie in der
Zukunft zu einem Problem werden könnten.
Damit erscheint das eingangs beschriebene Privacy Paradox als gar nicht mehr so paradox: Die emotional geprägte Suche nach Gemeinschaft ist dem menschlichen Wesen
schlicht näher und damit stärker als die Abgrenzung in der Gesellschaft im Sinne der Privatsphäre. Das Privacy Paradox in seiner institutionellen Form kann dann als ein Auseinanderfallen von Gemeinschaft und Gesellschaft verstanden werden, bei dem die
Chancen der Gemeinschaft und die Risiken
der Gesellschaftsebene zuzuordnen sind.
Gemeinschaft trifft Gesellschaft:
Was wir jetzt brauchen
Ist die Privatsphäre damit obsolet? Leben wir in
einer digitalen Welt, in der die Suche nach Gemeinschaft alle Mauern der Privatheit niederreisst? Eines ist klar: Privatheit als Grenzziehung zu anderen Individuen ist ein soziales
Phänomen, das in unterschiedlichen Kontexten
auch unterschiedlich ausgelegt wird. So variieren Einstellungen zu Privatheit in verschiedenen Teilen der Welt und auch im Zeitverlauf. Es
kann also durchaus sein, dass wir im Moment
erleben, wie Privatheit als gesellschaftlicher
Wert neu definiert und verhandelt wird.
Vor allem aber brauchen wir in der so­
zialen Onlinewelt einen Ausgleich zwischen
Chancen der Verbundenheit und Risiken der
Datennutzung und damit auch zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Wir brauchen
Orte und Mechanismen, durch die Gemeinschaft und Gesellschaft zusammenkommen
und in einen produktiven Austausch gebracht
werden. Denn die beiden Sozialformen sind
nicht unabhängig, sondern haben Berührungspunkte, wie die Abbildung (S. 27) zeigt.
Wird ein gemeinschaftliches Phänomen, zum
Beispiel eine bestimmte Verhaltensregel, auf
gesellschaftlicher Ebene gültig, so findet eine
Rationalisierung statt, die sich in expliziten
Begründungen, Gesetzen und Verträgen zeigen kann. Damit ein gesellschaftlich abstraktes Phänomen auf der Ebene der Gemeinschaft
Wirkung entfalten kann, muss es internalisiert, also vom Individuum angeeignet werden. Besonders zwischen den beiden Ebenen,
wo diese überlappen, besteht Raum für produktiven und kreativen Austausch. Hier greifen Internalisierungs- und Rationalisierungsprozesse unmittelbar ineinander und können
sich gegenseitig stabilisieren und verstärken.
Vielversprechend erscheint in diesem Bereich die Open-Data-Bewegung, die grosse
Datenmengen öffentlich und in einem gemeinschaftlichen Prozess nutzbar machen
möchte. So organisiert das Schweizer Open
Data Chapter regelmässig Hackdays, an denen
verschiedene Akteure – von der Zivilgesellschaft, über Behörden und Unternehmen – zusammenkommen und nützliche Anwendungen programmieren. Ein solches Vorgehen
scheint geeignet, die beiden Ebenen Gemeinschaft und Gesellschaft zumindest teilweise
an einen Tisch zu bringen. Auch in anderen
Bereichen der Onlinewelt wären solche Initiativen wünschenswert, die «grosse», gesellschaftliche Phänomene – in diesem Fall der
Umgang mit Big Data – in der Gemeinschaft
rückkoppeln. Für ein Phänomen wie Privatsphäre, das als gesellschaftlicher Wert stets
neu definiert werden muss, erscheinen derartige Initiativen geeigneter als staatliche Regulierung, wenn es darum geht, Gemeinschaft
und Gesellschaft in ein produktives Spannungsverhältnis zu bringen.
Dieser Artikel basiert auf einem Konferenzbeitrag der Autoren für die 59. Jahrestagung der
Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft 2014.
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QUELLE:
Meynhardt, Timo (2010): Management
­z wischen Main Street und Wall Street.
In: Management – eine gesellschaftliche
­Aufgabe. Baden-Baden: Nomos, S. 19–45.
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