Armut war auf dem Ried weit verbreitet

Innerrhoden
AV/Mittwoch, 23. Juni 2010
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Ausbau des Hochspannungsnetzes
SBB baut Bahnstromnetz aus – Zusätzliche Leiterseile auf bestehenden Leitungsmasten
Zurzeit sind in Eggerstanden
umfangreiche Vorbereitungsarbeiten für Umbauten am Stromnetz zu beobachten. Der Einbau
einer neuen Bahnstromschleife
macht die Erhöhung einzelner
Masten nötig.
St. Galler Rheintal soll eine neue
132kV-Bahnstromschleife
erstellt werden. Mit Rücksicht auf
das Landschaftsbild und im Einverständnis mit der NOK Grid AG
wird diese auf den bereits bestehenden
Tragwerken
der
380/220-kV-Gittermastenleitung
Winkeln-Bonaduz mitgeführt.
(rr) Schon vor Wochenfrist wurde im Gebiet Weier in Eggerstanden eine Baupiste angelegt. In
der Zwischenzeit ist ein umfangreiches Equipment aufgebaut
und eine Menge Material angeliefert worden. Grund für die Aktivitäten ist der Einbau der SBBLeitung in die bestehende Hochspannungsanlage, wie einer
Mitteilung an den Standortbezirk
Rüte vom April 2010 zu entnehmen ist. Die Aktivitäten basieren
auf einem Plangenehmigungsentscheid des Bundesamtes für
Energie (BFE) vom Mai 2008.
Höhere Masten
Bahnstrom wird mitgeführt
Um den künftig steigenden Energiebedarf zu decken, seien die
SBB gezwungen, ihr BahnstromVersorgungsnetz
auszubauen,
heisst es im Projektbeschrieb.
Zwischen dem 132 kV-SBB-Unterwerk Gossau und einer geplanten Netzkupplung Rüthi im Auslegeordnung auf der Baustelle in Eggerstanden: Die Mastenerhöhung bedeutet einigen Aufwand.
Einzelne Masten werden, wie auf
der Baustelle zu erfahren war,
um elf Meter erhöht, das Sockelwerk im gleichen Zug entsprechend verstärkt. Gleichzeitig
wird auch das bestehende Erdseil ausgewechselt. Im Endausbau werden zwei Leiterseile für
die SBB aufgelegt, was für Anfang Juli geplant ist.
Wie auf Anfrage bei der NOK Grid
AG zu erfahren war, werden auf
der gesamten Umbaustrecke acht
Masten erhöht, zwei davon im
Raum Eggerstanden. Dies geschieht aus Rücksicht auf die
umstehenden Häuser und Ställe.
Mit dieser Mass-nahme werden,
dank grösserem Abstand zwischen der Leitung und den Gebäuden, die elektromagnetischen
Felder minimiert. Der gesamte
Umbau soll bis Ende Oktober ab(Bild: Rolf Rechsteiner) geschlossen sein.
Armut war auf dem Ried weit verbreitet
Cölestin Fässler erinnert sich: Kinderreiche Familien im Tagelöhner-Milieu
Cölestin Fässler ist so alt wie die
Pro Senectute: Er feierte dieses
Jahr seinen 90. Geburtstag. Zur
Reihe der Gratulanten gehören
zwei jüngere Schwestern. Die
Schar seiner Vereinskameraden
von einst aber hat sich markant
gelichtet.
tochter vom Saul, hatte schon etliche Jahre den «Falken» in Appenzell geführt. Dort machte er
sich nützlich, nachdem er selbst
gekündigt hatte. So richtig ausgelastet fühlte er sich damit aber
nicht. Freudig nahm er das Angebot an, als «Mann für alle Fälle» in der AHV einzuspringen.
Ein Buchhalter sei definitiv nicht
aus ihm geworden, lacht er, aber
er habe sich nützlich machen
können. Halb Hauswart, halb
Drucker – sogar mit dem Offsetdruck habe er sich gegen Ende
seiner Berufszeit noch angefreundet.
Rolf Rechsteiner
Das sei etwas vom Härtesten,
was das Altwerden mit sich
bringt, sagt Cölestin Fässler: Die
Kollegen sterben weg, nach und
nach. Dabei werde einem bewusst, dass jeder Tag geschenkt
ist. Fässler zieht ein Bild des
Männerchors hervor, dessen
Proben er während 48 Jahren
fast lückenlos besuchte. Noch
1990 zählte er rund sechzig Mitglieder, jetzt sind es kaum mehr
die Hälfte. Als versierter Bass
half Fässler zudem dreizehn Jahre lang im Kirchenchor aus.
Auch der Infanterie Schützenverein Ried, der sein 100-jähriges
Jubiläum feiert, ist auf ein eher
bescheidenes Grüppchen geschrumpft. Vorbei die Zeiten, als
man sich zusammendrängeln
musste, damit der Fotograf alle
aufs Bild kriegte. Schöne Zeiten
seien das gewesen, merkt Fässler an. Doch er trauert ihnen
nicht nach: «Ich blicke nach
vorn», sagt er weise und freut
sich über jeden Tag, den er in
den eigenen vier Wänden verbringen kann.
Ungewöhnliche Jugend
Bierbrauer sei er gewesen, erzählt der rüstige Senior. Die
Lehre aber habe er erst mit 18
Jahren antreten können – dank
guter Schulzeugnisse, die allerdings nur die Primar- und ein
Jahr Realschule am Kollegium
abbildeten. Gerne wäre er länger bei den Kapuzinern zum Unterricht gegangen. Gescheitert
sei diese Karriere daran, dass er
dem Vater beim Holzen behilf-
Ein Riedler durch und durch
Cölestin Fässler, ein Zeitzeuge.
lich sein musste. Die Patres hätten dazu kein Einsehen gehabt;
von Schulsport und Studium am
Samstag sei er partout nicht
freigestellt worden. Das habe
den Vater erzürnt: «Ich kann die
Zweihand-Waldsäge nun einmal
nicht allein führen», habe er oft
gesagt.
Cölestin musste sich für die Mitarbeit zuhause entscheiden.
Sein Vater war wie viele andere
Männer auf dem Ried ein einfacher Tagelöhner. Daneben amtete er als Bannwart und war über
Jahre Mitglied der Riedkommisson. Wohl betrieb er am Sonnenfeldgässli ein Bierdepot,
aber das warf nicht genug ab.
Der Vater habe alles mögliche
gearbeitet, um seine Frau und
fünf Kinder über die Runden zu
bringen, lobt er. Zwei von ihnen
seien dennoch im Schulalter gestorben.
Das aber sei nur die halbe Familiengeschichte. Sein Vater
war zweimal verheiratet. Mit
der ersten Frau hatte er sechs
Kinder, von denen keines das
zehnte Altersjahr erreichte.
Dann starb ihm auch die Frau
(Bild: Rolf Rechsteiner)
weg. Ungewöhnlich sei das
nicht gewesen, weiss Fässler.
Armut und Krankheiten wie
Keuchhusten und Diphterie
grassierten vor dem Ersten
Weltkrieg im ganzen Kanton.
Auch Armut sei allgegenwärtig
gewesen. Der Lohn eines Holzfällers lag bei vier Franken pro
Tag. Viele Familien hätten ohne
die Klostersuppe nicht überleben können. An der Pforte des
Frauenklosters und des Kapuzinerklosters habe sich «das halbe
Ried» verpflegt. Auch viele Erwachsene aus dem ganzen Dorfkreis kamen nicht umhin, diese
Form von Caritas zu beanspruchen. In den 30er-Jahren
herrschte Arbeitslosigkeit, und
die Maschinenstickerei war am
Boden. Ungelernte Arbeiter trugen das schwerste Los.
Beruf und Wehrdienst
Wie dem auch sei: Der junge Cölestin hätte Maurer werden wollen. Eine Lehrstelle hatte er bei
einem Appenzeller in Zürich in
Aussicht. Sobald ein grösserer
Auftrag an Land gezogen werde,
könne er anfangen, wurde ihm
beschieden. Aber dazu kam es
nie. Der Buchhalter der Brauerei wurde auf das zupackende
Wesen des jungen Cölestin aufmerksam und sorgte dafür, dass
er die Brauerlehre antreten
konnte. Dankbar sei er gewesen
für diese zwar nasse und kalte,
aber doch gesicherte Arbeit, betont er.
Dann kam der Zweite Weltkrieg.
Der junge Berufsmann durfte
dank einer Sonderbewilligung
noch den Lehrabschluss machen, bevor er zum Aktivdienst
eingezogen wurde. Bei der
schweren Infanterie in Chur leistete er alle erforderlichen Dienste als Kanonier.
«Dann habe ich 25 Jahre lang
Bier gesotten», sagt er nicht ohne Wehmut, denn ein Arbeitsunfall setzte seiner Passion ein jähes Ende. Bei Renovationsarbeiten stürzte er von der Leiter und
verletzte sich schwer. Nach acht
Monaten an Krücken wurde ihm
klar, dass das Brauen nicht mehr
seine Sache sein würde. «Ich
konnte nicht mehr in die Bottiche und Fässer steigen», sagt er.
Seine Ehefrau Marie, eine Wirts-
Cölestin Fässler war ein geselliger Mensch, der aktiv am Vereinsleben teilnahm. Ab 1971 amtete er während dreizehn Jahren
als Präsident der Korporation
Stiftung Ried. Es war die Zeit, da
man bei gemeinsamen Bereisungen den Zustand von Wald und
Flur beurteilte. Die Genossen
konnten an öffentlichen Holzganten teilnehmen, und die Brachen wurden jedes Jahr neu verlost. Etliche Familien waren
auch damals noch auf diesen
Sondernutzen angewiesen.
Umso grösser war die allgemeine Verehrung für die edlen Stifter vom Ried. Zum 500-jährigen
Jubiläum der Stiftung wurde ein
grosses Riedfest mit Festspiel
und allem Drum und Dran gegeben. Nach diesem glanzvollen
Höhepunkt habe er sein Amt in
jüngere Hände gelegt, sagt Fässler. Im Archiv aber, das anlässlich des Jubiläums im Pulverturm eingerichtet worden war,
machte er sich weiterhin nützlich. In mühevoller Kleinarbeit
tippte er die Ried-Protokolle, so
weit sie in alter deutscher Schrift
vorlagen, auf Maschine – rund
700 Seiten weit.
Älter als die
PRO SENECTUTE
(rr) Zum 90-jährigen Jubiläum der Pro Senectute publiziert der Appenzeller Volksfreund in loser Folge Porträts
von betagten Menschen, die
für sich in Anspruch nehmen
können, gleich alt oder älter
als die Institution zu sein. Sie
haben uns im persönlichen
Gespräch Einblick in ihr Leben gewährt – nicht im Sinne
von Selbstdarstellung, sondern als Zeugen ihrer Epoche, die von Armut und zwei
Weltkriegen geprägt war.
aufgabe gefunden hat. Im
Stockwerk über ihm wohnt seine Tochter Marie-Louise mit ihrem Ehemann. Sie unterstützt
ihn, so weit es ihm angenehm
ist. Er nutzt die Dienste der Spitex, beansprucht deren Hilfe
bei der Körperpflege und ist
dankbar, dass sein Blutdruck
und die pünktliche Einnahme
seiner Medikamente überwacht
werden und die Verbindung
zum Arzt jederzeit gewährleistet
ist. So fühle er sich sicher, und
seine Tochter könne getrost aus
dem Haus gehen. Dreimal wöchentlich lässt er sich vom
Mahlzeitendienst
bekochen.
Dazwischen stehe er ganz gerne
selber am Herd, bekennt er,
der zu Lebzeiten seiner Frau einen Bogen um die Küche machte. Sich selber zu helfen, habe
er vor vierzehn Jahren lernen
müssen.
Geblieben sind ihm seine beiden
Schwestern, die er ab und zu besucht. Im Elternhaus am Sonnenfeldgässli hat er noch immer
eine kleine Werkstatt. Dort verbrachte er früher viel freie Zeit,
Mit dem Alter arrangiert
indem er mit Holz werkelte und
Heute lebt er mit eigenem Körbchen flocht. Die bunte Welt
Haushalt im Haus seines Soh- des Fernsehens entdeckte er entnes, der auswärts eine Lebens- sprechend spät.