Die Sprache der Heiligen Schrift aus Das Zeichen Gottes von Franz Kardinal König Jesus hat zu uns über Gott gesprochen, über das Unsichtbare, das sich schon in dieser Welt begibt. Er hat über das Geistige gesprochen, das man nicht sehen kann, nicht greifen, nicht tasten und anfassen, das sich unserer Vorstellung entzieht. »Gott ist Geist« (Jo 4,24). Aber wie sollte Er von all dem sprechen, was man nicht sehen und nicht hören und nicht tasten kann, weil es »jenseits« dieser greifbaren, anschaulichen Welt liegt? Die Heilige Schrift spricht oft in Bildern Das Bild ist die einzige Möglichkeit, um das Unsichtbare »anschaulich« zu machen, das Unhörbare den Menschen vernehmbar zu machen, das Ungreifbare begreiflich zu machen. Jede religiöse Sprache kann sich nur in „Bildern“ verständlich machen. Aber unser Glaube bezieht sich nicht auf die Bilder, sondern auf die Sache selber! So hat schon Thomas von Aquin gesagt, einer der größten Heiligen der Kirche. Aber wie können wir aus solchen „Bildern“ das eigentlich Gemeinte, die geistige Wirklichkeit erkennen? Wie können wir diese bildhaften Reden entschlüsseln, entziffern, übersetzen in das eigentlich Gemeinte? Das ist nur durch religiöse Erfahrung möglich, durch den Geist Gottes, so hat Jesus gesagt. Wir alle haben in unserem Leben schon die eine oder andere geistige Erfahrung gemacht und können deswegen die bildhafte Sprache Christi schon ein wenig »verstehen«. Wenn wir dieses erste, ahnende Verstehen in die Tat umsetzen, dann werden wir im Geiste Gottes wachsen und reifen. Gerade dadurch werden wir jene bildhafte Rede dann noch tiefer verstehen ... Jesus hat ausdrücklich gesagt, daß Er zu den Menschen oft in „Gleichnissen“ spricht, weil sie die eigentliche, geistige Wirklichkeit noch nicht zu begreifen vermögen. „Darum rede Ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie mit offenen Augen nicht sehen und mit offenen Ohren nicht hören“ (Mt 13,13). Diese Gleichnisse wird nur der verstehen, der sich ins Kielwasser Jesu begibt und Ihm nachfolgt und so zum Geiste Gottes und zum Verständnis der „Geheimnisse“ gelangt: „Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Gottesreiches zu verstehen. Jenen aber ist es nicht gegeben“ (Mt 13,11). Bei diesen „Geheimnissen“ geht es um keine Geheimlehren, sondern um das Geistige. Dieses Geistige wird erst durch religiöse Erfahrung verstehbar, erkennbar. Es nützt also wenig, solche Worte Jesu „wörtlich“ zu verstehen. Wer die bildhafte Sprache Jesu nur „wörtlich“ verstehen will, der hat nur das Bild in der Hand. Aber er ist zur gemeinten geistigen Wirklichkeit noch nicht vorgedrungen. So ein Mensch hat die Schale in der Hand, aber nicht den Kern. Wenn es uns nicht gelingt, zu einem geistigen Verständnis vorzudringen, werden wir die Heilige Schrift auf weiten Strecken mißverstehen, uninteressant finden, märchenhaft, widersprüchlich, falsch, unglaubwürdig, veraltet ... Wenn wir nicht zum Geist finden, wird die Schrift tot sein - der Buchstabe „tötet“. Ohne religiöse Erfahrung bleibt die Heilige Schrift uninteressant In der Heiligen Schrift begegnen uns Hunderte von Worten, die „weltfremd“ klingen: ewiges Leben, Seligkeit, Reich Gottes, Himmel, Verantwortung, Gericht, totale Entscheidung, Geist Gottes, Offenbarung, Gebet, Bekehrung, Wunder, Heil, Armut, Nachfolge, Glaube, Demut, Vorsehung, Hölle, Sünde, Vereinigung mit Gott, Ewigkeit ... Man könnte diese Liste noch sehr lange fortsetzen. Es sind Worte wie aus einer fremden Welt. Deswegen interessiert sich der Zeitgenosse für diese Worte kaum. Denn sie sprechen nicht von jenem Leben, das er kennt. Sie sprechen nicht von dieser Welt aus Fleisch und Blut, in der er lebt. Es nützt gar nichts, diese Worte in ein schnoddriges Zeitungsdeutsch zu übersetzen, ihr eigentlicher Inhalt wird dem Zeitgenossen dadurch nicht verständlicher. „Verständlich“ werden diese Worte nur durch religiöse Erfahrung; durch jenes Wachstum im Geiste Gottes, das uns Augen verleiht, die Ohren öffnet, einen Spürsinn für jene andere geistige Welt schenkt, die uns inmitten dieser Welt nahe ist. Solange diese religiösen Erfahrungen fehlen, erscheint die Heilige Schrift unseren Zeitgenossen wie ein phantastisches Buch: gut gemeint, aber unwirklich, wie ein Mythos aus längst vergangenen Zeiten über Götter und Geister. Diese Menschen stoßen sich dann an der bildhaften Sprache, wenn es da z. B. heißt: Jesus ist „herabgestiegen vom Himmel“, „gekommen“, „sitzt zur Rechten Gottes“, ist „hinabgestiegen zur Hölle“, „aufgefahren in den Himmel“ usw. Die Menschen spüren mehr oder minder deutlich, daß es sich hier um eine Bild-Sprache handelt. Der Protest gilt oft nicht dem Inhalt, sondern der Sprache. Solche Gläubige wünschen dann oft mehr oder minder unverblümt die „Abschaffung“ dieser Bilder-Sprache. Aber das wäre Unfug. Denn es gibt keine andere „Sprache“ dafür. Ohne religiöse Erfahrung scheint die Heilige Schrift voll von Wider-Sprüchen zu sein Die Heilige Schrift spricht großteils in bildhafter Sprache. Aber diese verschiedenen Bilder sind wie verschiedene Photographien eines Berges: Ich kann sie nie zur Deckung bringen. So wie sie als Bild vor mir liegen, widersprechen sie einander. Scheinbar. Nur wenn ich den Berg selber kenne, weiß ich, daß auf beiden Bildern derselbe Berg abgebildet ist. Ganz ähnlich ergeht es uns, wenn wir die scheinbar so widersprüchlichen Aussagen der Heiligen Schrift lesen: über die Gerechtigkeit Gottes und Seine Barmherzigkeit, über die Vorsehung Gottes und den freien Willen des Menschen, über die eigene Leistung des Menschen und das Gnadenwirken Gottes an uns, über die Forderungen der Bergpredigt und die Güte Jesu zu den Dirnen und Zöllnern ... Alle diese Bilder können wir einfach nicht miteinander vereinbaren, solange die religiöse Erfahrung fehlt. Wer soll die biblischen Aussprüche miteinander vereinbaren können? Sind sie nicht Wider-Sprüche? Die ganze Heilige Schrift ist erfüllt von solchen Kontrast-Worten. Sie sind wie ein positiver und negativer Pol, aus deren Spannungsfeld sich erst das Leben ergibt. Erst wenn wir das eine und das andere zu verwirklichen suchen, werden wir religiöse Erfahrung sammeln und schließlich bekennen: Das eine ist wahr, und das andere ist auch wahr! Wem diese religiöse Erfahrung allzusehr fehlt, der wird die Bibel allmählich verdrossen weglegen. Ohne religiöse Erfahrung wird die Heilige Schrift geradezu falsch Es kann böse Folgen haben, wenn wir die Heilige Schrift nur „wörtlich“ nehmen wollen und darauf stur beharren. Einige Beispiele: Das Gottes-Volk des Alten Bundes hat Jesus nicht als den verheißenen „König der Endzeit“ erkannt, obwohl dieser „Messias“ in den Verheißungen des Alten Testamentes eindringlich verkündet worden ist. Das alttestamentliche Gottes-Volk hat die Bibel eben zuwenig religiös „erfahren“ und verwirklicht. Und deswegen sind sie weitgehend im „Wörtlichen“ steckengeblieben. Das eigentlich Gemeinte blieb ihnen fremd. Sie konnten daher Jesus nicht als Erfüllung dieser Verheißung erkennen. Als Er kam, erschien Er ihnen so fremd, so Gott-widrig, daß sie ihn töten mußten ... Es ist gefährlich, am Buchstaben hängenzubleiben: „Der Buchstabe tötet ... „ Jesus hat das Reich Gottes als „nahe“ verkündigt. Es wird »bald« kommen, »noch in dieser Generation«, so sagt Er. Wer beim bloßen Buchstaben bleibt, wird zur Ansicht kommen, Jesus habe sich geirrt. Aber Er hat sich nicht geirrt. Schon die Apostel und Jünger haben dieses »Reich Gottes mit Macht kommen sehen«, als ihnen der Auferstandene erschien und als sie zu Pfingsten die Gegenwart dieses Gottesreiches erschütternd erlebten ... Der bloße Buchstabe kann zum tödlichen Mißverstehen führen! „Wer glaubt, wird gerettet werden.“ Wer dieses Wort nur »wörtlich« verstehen will, wird sagen: Wenn ich zum Credo ja sage, bin ich gerettet. Mit diesem „Lippenbekenntnis“ wird er sich dann begnügen, die Bergpredigt wird er für Luxus halten. Aber auch das ist ein gefährliches Mißverständnis: Jesus hat nie das Heil und Leben des Menschen von einer Formel abhängig gemacht. Glaube bedeutete für Ihn mehr: auf Sein Wort hören und es tun. Mit dem bloßen Ja-Sagen ist es nicht getan (vgl. Mt 7,2 h). Wenn wir die Heilige Schrift stur und starr nur „wörtlich“ nehmen, dann tun wir oft bitteres Unrecht, tragen zu Entzweiung und Spaltung und Isolierung der Menschen bei. Wenn wir z. B. auf der „Weltschöpfung in sieben Tagen“ wörtlich bestehen, auf der Erschaffung der ersten Frau „aus der Rippe des Adam“, auf einem Alter der Welt von etwa fünftausend Jahren, auf der Erschaffung des Menschen aus der Ackererde usw., dann tun wir den Naturwissenschaften und aller Forschung der Welt bitteres Unrecht! Noch schlimmer, wir treiben dann die Christen in einen ungerechten Argwohn gegenüber der Wissenschaft, in die Isolierung, in die Entzweiung und Spaltung. „Der Buchstabe tötet.“ Vielleicht haben wir Christen dieses Wort noch nie in solcher Ernsthaftigkeit verstanden wie heute. Eigene Erfahrung und Erfahrung der Kirche Die Heilige Schrift ist wie ein „Schatz im Acker“. Wir müssen so lange suchen, bis uns die Schrift „etwas sagt“, beglückt, stärkt. Dann haben wir „den Schatz gefunden“, dann beginnen sich die WiderSprüche zu klären, dann verstehen wir allmählich das „eigentlich Gemeinte“, dann haben wir religiöse Erfahrung gewonnen. Aber unsere eigene religiöse Erfahrung allein ist zu dürftig, zu unsicher, sie genügt nicht, irrt sich leicht. Deswegen sollten wir uns nicht nur auf die eigene Erfahrung stützen, sondern auch auf die Erfahrung der gesamten Kirche. Im Laufe von zweitausend Jahren religiöser Erfahrung hat die Kirche ein tiefes Verständnis für die Heilige Schrift gewonnen. Die Geschichte dieses Schriftverständnisses im Laufe der Jahrhunderte ist die „Tradition“. Die „Tradition“ steht also nicht als etwas Selbständiges neben der Heiligen Schrift. Sondern die „Tradition“ ist die Heilige Schrift im Verständnis der Jahrhunderte. Und umgekehrt: Die Heilige Schrift ist nie ohne Tradition verständlich, sondern nur im Strome dieses Schrift-Verstehens im Laufe der Jahrhunderte. Denn hier ist der Geist Gottes am Werke, Gott selber: „Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, der nicht ein Bund des Buchstabens ist, sondern des Geistes“ (2 Kor 3,6).
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