72 PROCYCLING OKTOBER 2015

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PROCYCLING
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AERO
EUROBIKE
Viel
auf der
Wenn es danach geht, was die Radhersteller auf dem Demoday
der Eurobike 2015 präsentierten, können die konservativen
Radsportfreunde beruhigt sein: Auch 2016 werden Rennräder
nicht deutlich anders aussehen als in den Jahren zuvor. Ein
ungebrochener Trend ist die aerodynamische Optimierung,
die sich inzwischen immer besser mit geringem Gewicht
vereinbaren lässt. Und die neuen Gravel-Racer? Nur einer
davon hat sich ins Messe-Testfeld hineingeschmuggelt –
doch der hat uns wirklich neugierig gemacht …
Text Caspar Gebel
Fotografie Kai Dudenhöfer
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BH G6 Pro Aero
Beim BH freut man
sich an der stimmigen Optik – sogar
die Bremsgummis,
welche die tiefen
Carbon-Felgen in die
Zange nehmen, passen farblich.
Nur minimal modellgepflegt, gefällt das
Aero-BH leichten Sportlern, die sich
eine rennmäßige Sitzposition und gute
Aerodynamik wünschen.
Steif, leicht, aero – nimm’ zwei! Nach diesem Motto werden heutzutage die meisten
Rennräder konstruiert; nur ganz wenige
Hersteller schaffen es, alle drei Eigen-
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schaften unter einen Hut zu bringen. Bei
BH hat man sich mit dem Pro erst einmal
auf zwei dieser Kriterien konzentriert und
eine sehr leichte Rennmaschine im AeroTrimm auf die Räder gestellt, die freilich
„kein Stabilitätsbolzen“ ist, wie Marcel
Wüst es ausdrückt. Das BH Pro ist nicht
unbedingt ein Rad für Sprinter, wohl aber
für Allrounder, die eher tretfrequenzorientiert fahren und bei Gegenwind für jede
Reduzierung des Luftwiderstandes dankbar sind.
Beim G6 klappt Letzteres sehr gut dank
windschnittiger Rohrformen und glattflächigem Äußeren. Die Schaltzüge könnten
allerdings etwas weiter oben ins Unterrohr
eintreten, um die Optik perfekt zu machen. Der Hinterbau sieht dank nach unten verlegter Bremse sehr aufgeräumt aus;
über die Nachteile dieser Anordnung wurde ja schon genug gesagt. Eine gute Lösung ist der Sitzdom mit eingeschobener
Stütze, die einen recht großen Verstellbereich bietet.
Das mit Dura-Ace, FSA-Carbon-Kurbel
und Carbon-Laufrädern aufgebaute BH
mag nicht supersteif sein, kann Marcel in
Sachen Optik und Sitzposition aber voll
überzeugen. „Eine echte Renn-Geometrie“,
freut er sich über das kurze Steuerrohr
und das ausgewogen agile Handling.
Canyon Ultimate CF SLX
Das Topmodell von Canyon gehört zu
den ganz wenigen Rennmaschinen, die
wirklich alles können – und das auf
höchstem Niveau.
Der Highend-Allrounder der Koblenzer
schien kaum noch optimierbar zu sein,
aber hier und da ließ sich dann doch noch
etwas machen. So lässt sich nun eine
neue Sattelklemmung bestaunen, deren
Schraube sehr unauffällig zwischen den
Sitzstreben positioniert ist; das soll etwas
mehr Stützenauszug und damit einen
Tick mehr Komfort ergeben. Gleichzeitig
ist das Rad noch einmal aerodynamisch
optimiert worden, was man an der Lenker-Vorbau-Einheit aus Carbon erkennt.
Schön ist der von unten an den Vorbau geschraubte Garmin-Halter; ebenfalls ein
Highlight im Cockpit sind die Satellitenschalter in den Lenkerbögen, mit denen
die Sprinter hoch- (rechts) und runterschalten (links) können.
Wie bei Canyon üblich, ist auch das
Ultimate supersteif, agil und sehr wendig;
eine steil angestellte Gabel und ein knapper Radstand ergeben einen kurzen Vorderbau; bei unserem Testrad in Größe M
stößt der Vorderreifen beim Einlenken an
die Schuhspitze.
Das superleichte Rad kommt mit DuraAce Di2 und Zipp 303 – „ein idealer
Laufradsatz, aerodynamisch, dabei aber
kaum seitenwindanfällig“, freut sich Marcel Wüst. Stören tut ihn nur der Bogen des
Bremszuges hinten am Oberrohr, der im
Wiegetritt am Oberschenkel streift. Ansonsten ist das mit 6.699 Euro ausgepreiste Ultimate CF SLX einfach nur … na
ja, Sie wissen schon …
Zu den Highlights
am Canyon zählen
die neue Sattelklemmung sowie die Lenker-Vorbau-Einheit
mit Garmin-Halter.
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Look 765
Look dringt mit einem attraktiven Rad
ins gehobene Einsteiger-Preissegment
vor. Hier und da ist das neue 765 sogar
sehr exklusiv.
Die Franzosen können über 30 Jahre Erfahrung beim Bau von Carbon-Rahmen
vorweisen, mit preiswerten Rädern hatten
sie bislang allerdings wenig zu tun. Spätestens mit dem 765 hat sich das geändert: Mit Shimano-105-Mix und soliden
Trainingslaufrädern kostet das Rad gerade
mal 1.999 Euro; der laut Herstellerinfo
an die 1.100 Gramm schwere Rahmen
macht dabei keineswegs einen sparsamen
Eindruck. Schöne Optik, vorbildliche Zuginnenverlegung, BB30-Tretlager – hier ist
alles dran, was man sich wünscht. Sogar
ein exotisches Schmankerl hat Look ein-
gebaut: An Hinterbau und Gabel finden
sich Flachsfasern, die für ein hohes Maß
an Vibrationsdämpfung sorgen sollen. Auf
den glatten Straßen rund ums Messegelände konnte Marcel Wüst dieses Feature
allerdings nicht auf seine Funktion prüfen.
Sparsam ist die Ausstattung des Renners;
eine besser bestückte Ultegra-Variante ist
für 2.799 Euro erhältlich. Etwas uncharmant äußerte sich Marcel über die recht
aufrechte Sitzhaltung, die das lange Steuerrohr mit sich bringt: „Für Rennradfahrer,
nicht für Radrennfahrer“, lautete sein
Kommentar; und auch das Handling hätte
für den Abfahrtskünstler lebendiger sein
können. Nachrüsten sollte man hochwertige Bremsklötze – die einfachen Gummis
an den FSA-Bremsen erforderten einen
kräftigen Zug am Hebel.
Das preiswerte
Look erfreut mit einem gelungenen
Carbon-Rahmen.
Neben BB30-Tretlager und innenliegenden Zügen fallen die
Flachsfasern an
Gabel und Hinterbau
auf, die die Vibrationsdämpfung verbessern sollen.
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Litespeed T1 SL
Das derzeit wohl
modernste TitanRad kommt mit Details wie dem aus
einem Titan-Blech
gekanteten sechseckigen Oberrohr
und aufwendig gemachten Ausfallenden auf den Markt.
Das US-Leichtgewicht erfreut mit exotischen Rohrformen, die aus dem edlen
Material noch etwas mehr Steifigkeit
herauskitzeln.
Dass Titan noch nicht ausgereizt ist, beweist Litespeed mit dem exotischen T1
SL. So fertigt die US-Schmiede das Oberrohr aus einem Titan-Blech, das zu einem
sechseckigen Rohr gekantet wird, um den
Gewichtsnachteil des Edelmetalls gegenüber Carbon oder Aluminium auszugleichen und gleichzeitig eine möglichst hohe
Steifigkeit zu gewährleisten. Das Oversized-Steuerrohr erlaubt die Montage aktueller Gabeln mit konischem Steuerrohr
und vergrößert die Vorderbausteifigkeit.
Am filigranen Hinterbau mit den schönen
Ausfallenden zeigt sich der klassische
Werkstoff dagegen in den gewohnten Dimensionen; auch der Steg hinterm PF30Tretlager darf nicht fehlen.
Dass Marcel Wüst dem Rad eine geringere Steifigkeit bescheinigt, als sie aktuelle
Carbon-Rahmen aufweisen, muss einen
nicht erschüttern – so viel Watt wie der
Tour-Etappensieger bringen nur sehr wenige Radler aufs Pedal. Und selbst wenn
der Kölner antritt, bleiben typische Signale
für einen weichen Hinterbau (wie etwa,
dass die Felge an den Bremsbelag schlägt)
aus. Die sportliche Sitzposition dank kurzem Steuerrohr kommt Marcel jedenfalls
entgegen, auch die edlen Reynolds-Assault-Laufräder gefallen ihm. Die Optik
sowieso – „fast retro“ mit außenliegenden
Zügen und schlichtem, elegantem Dekor.
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Simplon Pavo
Mit vielen Verbesserungen geht das
Pavo ins neue Modelljahr. Besonders in
Sachen Aerodynamik wurde der Komfort-Renner vorangebracht.
Das silbergraue Pavo wirkt auf den ersten
Blick wie ein alter Bekannter, dabei ist am
Vorarlberger Allrounder so ziemlich alles
neu. Fangen wir vorne an: Auffällig ist erst
einmal die ungewöhnliche Gabel, die oben
etwas nach hinten versetzt ist und über
ebenfalls zurückgesetzte Ausfallenden verfügt. Bei gleichen Lenkeigenschaften resultiert dies in einer stärkeren Gabelvorbiegung, was ein Plus an Komfort ergeben
dürfte. Sehr elegant ist die DirektanbauVersion der Ultegra-Bremse, die deutlich
enger anliegt und auch am Hinterbau Verwendung findet – eine deutlich sauberere
Lösung als die vielfach verbauten Aero-
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Das Pavo ist nun
noch etwas aerodynamischer und komfortabler. Außerdem
gibt es dezent verdeckte Hinweise
zum richtigen Lenkverhalten.
Stopper unterm Tretlager. An dieser Stelle
zeigt das Pavo 2016 eine weitere Neuheit:
Zwischen Sitzrohr und Kettenstreben nehmen „Spoiler“ das Hinterrad aus dem
Wind; die Kettenstreben selbst sind in sich
verdreht, wie uns erklärt wird, und sollen
dadurch steifer sein. Praktisch ist der integrierte Kettenfänger; die Sattelstütze ist
hinten à la Kammtail abgeflacht und soll
besonders viel Stoßdämpfung bieten. Der
Rahmen wiegt an die 1.100 Gramm, daneben gibt es eine 820 Gramm leichte
SL-Version. Mit vergleichsweise langem
Steuerrohr will das Pavo für Sitzkomfort
sorgen, mit weit gespreizter Kassette nebst
langem Schaltwerk für Bergtauglichkeit –
nicht ganz Marcels Fall, dem dafür die
leichten DT-Carbon-Laufräder gefallen. So
hinterlässt das mit 3.599 Euro nicht sehr
teure Simplon einen guten Eindruck.
Ridley X-Trail
Ridleys erster
Gravel-Racer macht
viel Spaß mit quirligem Fahrverhalten.
Die moderne Bremsanlage gefällt mit
Steckachsen und
innenliegenden
Leitungen – wenn
schon, denn schon!
Mit ihrem ersten Gravel-Racer betreten
die Belgier Neuland – und schaffen es,
das Beste aus ihren Straßen- wie Querfeldeinrädern zu verbinden.
Der große Rennrad-Trend der Eurobike
2015 hieß „Gravel“ – nicht ganz neu,
doch interessant genug für viele Hersteller,
die erstmals mit entsprechenden Bikes an
die Öffentlichkeit traten. Das kann man
sehen wie Marcel Wüst, nämlich als „Versuch, etwas zu etablieren, das niemand
wirklich braucht“. Doch dann kamen wir
am Stand von Ridley vorbei und wurden
mit einem X-Trail ausgestattet – und seitdem denkt nicht nur Marcel anders über
Gravel-Racer.
Was wollten die Belgier mit dem neuen
Modell? Ganz klar die (enge) Lücke zwischen Straßenrad und Cyclocrosser
schließen. Das geht, indem man die Sitzgeometrie eines Crossers durch ein längeres Steuerrohr entschärft und gleichzeitig
das Oberrohr leicht verkürzt. Dazu haben
die Belgier das Tretlager im Vergleich zum
echten Crosser minimal abgesenkt. Das
Ergebnis ist ein ausgesprochen agiles Rad,
bei dem der Fahrer nicht ganz so viel
Druck aufs Vorderrad bringt, dafür aber
aufrechter sitzt, was Gelände-Novizen
mehr Sicherheit bringt. Das nicht sehr
leichte Bike lässt sich dank hoher Steifigkeit gut beschleunigen und lenkt sich extrem lebendig. Auf Asphalt fährt sich das
X-Trail wie ein normales Rennrad – denkt
man sich die breiten Reifen weg, sind die
Unterschiede fast nicht wahrnehmbar.
Gravel-Bikes stellen die erste Rennrad-Unterart dar, die von Anfang an mit
Scheibenbremsen ausgestattet ist. Ridley
macht am X-Trail alles richtig: Die Bremsleitungen sind komplett integriert, vorne
wie hinten kommen Steckachsen zum
Einsatz und innen an der Gabel findet sich
ein Metallplättchen, das bei hastigem
Laufradwechsel Beschädigungen vorbeugen soll. So macht Gravel-Racing Freude
– und kann auch erfahrene Traditionalisten begeistern.
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Merida Scultura
Extrem leicht, dabei schnell und komfortabel: Mit dem Lampre-Teamrad
können sich Radsportler sofort anfreunden.
Das neue Scultura mag nicht unbedingt
filigran wirken, doch beim Anheben ist
man angenehm überrascht: Das Rad ist
ausgesprochen leicht – kein Wunder, zumal das Rahmenset laut Info des MeridaStandpersonals gerade mal 1.120 Gramm
wiegt. Und noch eine leichtere Variante
des Rahmens soll verfügbar sein, die
dann allerdings nur den Leichtgewichten
im Team Lampre-Merida Freude machen
dürfte.
Ein Sprinter vom Schlage eines Marcel
Wüst ist mit der „schwereren“ Version jedenfalls gut beraten. „Das Rad fährt sich
steif und agil“, lobt der Kölner, der aber
auch Kritikpunkte hat: „Die Bremse am
Tretlager ist unpraktisch, die Feinjustierung
schwierig und sie verschmutzt schnell.“ Die
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Merida setzt auch
am Topmodell serienmäßig auf breitere Reifen. Die AeroBremse verschlankt
den Hinterbau, birgt
aber funktionelle
Nachteile.
nach unten verlegte Bremse soll freilich dafür sorgen, dass das Rad deutlich komfortabler geworden ist, denn so kann der Hinterbau flexibler ausgeführt werden.
Das mit mechanischer Dura-Ace und
hochwertigen Anbauteilen ausgestattete
Rad rollt auf Fulcrum-Carbon-Rädern, die
nun serienmäßig mit 25er-Reifen besohlt
sind – eine sinnvolle Neuerung im Hause
Merida. Auch 28er sollen in Gabel und
Hinterbau passen; zwischen Reifen und
Sitzrohr wird’s dann allerdings eng.
Stevens Arcalis
menpreis von 1.399 Euro und einem
Komplettpreis um 2.599 Euro mit Ultegra-Komponenten ist der auffällige AeroRenner ebenso preisaggressiv, wie er
schnell aussieht. Ausgekehltes Sitzrohr,
eng in den Rahmen eingepasste Gabel,
flache Stütze mit von hinten aufgeschraubter Klemmung – das Stevens zeigt
zahlreiche Aero-Merkmale, zu Marcel
Wüsts Verdruss allerdings auch eine unterm Tretlager montierte Bremse. Vorne
kommt Shimanos eleganter DirektanbauStopper zum Einsatz.
Die Hamburger haben ihrem Aero-Renner die bewährte Sitz- und Lenkgeometrie
der Marke verpasst. Damit fällt die Sitzhaltung eher sportlich aus; das Rad fährt
sich sehr agil und ist überdies ziemlich
steif – jedenfalls steif genug für den Procycling-Sprinter, und das will schon was
heißen. Der versprochene Komfort dank
Elastomer-Einsatz in der Sattelstütze und
schlanken Gabelenden lässt sich auf dem
glatten Testasphalt leider nicht erfahren.
In jedem Fall hat sich das Arcalis ein weiteres Jahr im Programm von Stevens mehr
als verdient.
Der Aero-Renner aus Hamburg geht
weitgehend unverändert ins Modelljahr 2016. Ihn besser zu machen, wäre
angesichts rundum guter Leistungen
auch nicht einfach …
Kein Wunder, dass der limettengrüne AeroRenner Marcel Wüst am Stevens-Stand
besonders ins Auge fiel. Das Arcalis ist
freilich nicht ganz neu, sondern „läuft
durch“, wie man so schön sagt – sein großer Erfolg bringt ihm ein weiteres Jahr im
Stevens-Programm ein. Mit einem Rah-
Das Stevens gefällt
mit kompakter Vorderbremse und zahlreichen Aero-Details.
Im Stevens-Baukasten ist das Rad in
zahlreichen Ausstattungsvarianten verfügbar.
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