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22.04.2016
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Staatsbürgerschaft im Spannungsfeld
zwischen Inklusion und Exklusion
von Andreas Kewes
Soziologische Nachwuchstagung, 15./16. Oktober 2016,
Universität Siegen
Staatsbürgerschaft wird in den Tagen der öffentlichen Diskussion über Flucht zwangsläufig
mit Migrationsprozessen in Verbindung gebracht. Entsprechend ging es auch bei der
Siegener Tagung weniger um die bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte aller
Mitglieder eines politischen Gemeinwesens, sondern vorwiegend um globale
Migrationsbewegungen, Flüchtlinge oder spezifische Inklusionspolitiken für
Neuankömmlinge. Diese thematische Akzentuierung war zwar ursprünglich von den
OrganisatorInnen der Tagung nicht beabsichtigt worden, ermöglichte aber eine gute
Anschlussfähigkeit der einzelnen Beiträge untereinander. EMMANUEL NDAHAYO (Siegen)
begrüßte im Name der Gruppe, die die Tagung inhaltlich und konzeptionell vorbereitet
hatte (SARAH GRÜNENDAHL, JASMIN MOUISSI, CAROLIN SPRENGER, ANDREAS
KEWES, alle Siegen), zunächst die Teilnehmenden aus dem In- und Ausland, die
verschiedene wissenschaftliche Disziplinen vertraten.
ALBERT SCHERR (Freiburg) eröffnete die Tagung mit einem vorwiegend
gesellschaftstheoretisch argumentierenden Vortrag. Ihn beschäftigte, wo denn eigentlich in
der an Exklusionsprozessen interessierten kritischen Sozialforschung im Sinne von Autoren
wie Theodor W. Adorno oder Pierre Bourdieu die internationalen Austauschverhältnisse
ausreichend thematisiert würden, damit man soziale Inklusion und Exklusion zugleich
denken könne. Zudem argwöhnte er, es gebe in diesem Forschungsfeld einen gewissen
Hang dazu, auf eine untertheoretisierte Formel zu bauen, nach der Staatsbürgerschaft
immer schon Inklusion bedeute. Anschließend bot Scherr seine eigene Sicht auf das
Tagungsthema dar, wobei er Staatsbürgerschaft lediglich als Inklusionsmodus für einen
politischen, nicht zwangsläufig aber für andere gesellschaftliche Teilbereiche fasste.
Vielmehr wirke der bei Thomas Marschall mit Staatsbürgerschaft verknüpfte
Wohlfahrtsstaat ja gerade als eine Art zentraler Mechanismus der globalen
Ungleichheitserzeugung. Bei der Stabilisierung dieser Ungleichheit spielten dann
Migrationsregime, also Politiken der Zugangsregelung zu Nationalstaaten, eine wesentliche
Rolle.
CHANTAL MUNSCH (Siegen) skizzierte in ihrem Vortrag ein Dilemma – es sei zwar
unglaublich wertvoll, den richtigen Pass zu haben, der Pass garantiere aber im Alltag
keineswegs die faktische Teilhabe. Vielmehr sei im alltäglichen und individuellen Erleben
der Bürgerschaft zentral, wie Lebenswirklichkeiten in alltäglichen Interaktionen zwischen
den jeweils Involvierten hergestellt würden. Um diese Überlegung zu illustrieren, schilderte
sie zwei Formen der Grenzziehung, nämlich einerseits in den symbolischen Ordnungen, die
Praktiken im bürgerschaftlichen Engagement prägen, und andererseits das nicht
verschwinden wollende Label des Migrationshintergrunds. Ersteres diskutierte sie am
Beispiel der Planung eines Stadtteilfestes, während der sie beobachten konnte, wie zwar
alle Freiwilligen willkommen geheißen wurden, wie aber letztlich implizite
Effizienzanforderungen Ausschließungsprozesse in Gang setzten, durch die manche
Freiwillige wieder aus Planungskommunikationen herausfielen. Umfassende politische
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Partizipation ist in diesem Fall nicht abhängig von einer Staatsbürgerschaft, sondern von
einer Passung in bestimmte Arten und Weisen des Planens. Letzteres brachte sie mit ihrer
eigenen biografischen Erfahrung als Luxemburgerin in Deutschland in Verbindung. Dabei
bemerkte sie, Migrationshintergrund sei kein Attribut, das man sich im landläufigen
Verständnis selbst zuweise. Dieses Klassifikationsmuster betreffe im alltäglichen
Sprachgebrauch nur bestimmte Migrantengruppen.
Nach den beiden Vorträgen war ein erstes Analyseraster erarbeitet: Demnach ist
Staatsbürgerschaft nicht als Königsweg zur gesellschaftlichen Inklusion zu betrachten,
schon allein deshalb, weil verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche wie Bildung,
Jugendhilfe, Arbeitsmarkt, Wissenschaft oder Zivilgesellschaft dieses Konzept ganz
unterschiedlich übersetzen. Für die Inklusions- oder Exklusionsmechanismen von
Staatsbürgerschaft scheinen Kontexte von weit größerer Bedeutung zu sein. Diese
unterscheiden sich wiederum, je nachdem wie sich das Handeln in einem politischen
Mehrebenensystem verortet: Auf kommunaler Ebene sowie im lebenspraktischen Alltag
können gelebte Solidarität oder ein ausgrenzender kleinbürgerlicher Habitus manche auf
Bundesebene gewollte Exklusion revidieren – oder eben auch nicht.
Die Tagung wurde anschließend mit einer Diskussionsrunde fortgesetzt, zu der auch
außeruniversitäres Publikum zugelassen war. Zwei Mitarbeiterinnen aus den
Integrationsagenturen in Düren und Olpe, SYBILLE HAUßMANN und GEYLA TROT,
debattierten dabei über die Zusammenarbeit von MigrantInnen mit der kommunalen
Verwaltung; konkret ging es um Migrantenselbstorganisationen. Haußmann und Trot waren
sich darin einig, dass Kommunen bei den Themen Staatsbürgerschaft, Migration und
Migranteneinbindung gewisse Ermessensspielräume hätten. Implizit wiesen sie auch darauf
hin, dass die nationalstaatliche politische Steuerung von Inklusionspolitiken im
Mehrebenensystem nicht immer auch tatsächlich die Kommune erreicht habe, weshalb sich
Kommunen erst sehr spät selbst daran gemacht hätten, solche Politiken zu entwerfen.
Moderator WOLF-DIETRICH BUKOW (Siegen) schloss die Diskussion mit einem Aufruf an
kommunalpolitisch Engagierte, sich nicht länger um Ausschließungseffekte in
Migrantenselbstorganisationen zu sorgen. Damit verweist er auf die Besorgnis diverser
WissenschaftlerInnen, sogenannte Migrantenselbstorganisationen seien einer Integration
eher abträglich, weil sich in ihnen nur Migranten träfen und es daher zu einer sozialen
Schließung komme. In eigener Forschung habe er dagegen beobachtet, dass in diesen
Verbänden vergleichsweise unterschiedliche Formen sozialer Schließung existieren
würden, wie sie etwa ein westfälischer Schützenverein ebenfalls aufweise.
Im Abendvortrag richtete OLIVER SCHMIDTKE (Victoria) den Blick auf Kanada. Seiner
Meinung nach zeigt der Vergleich dieses Staates mit europäischen Ländern, dass das
Staatsangehörigkeitsrecht nicht dahingehend diskutiert werde, wie schnell es zu
Einbürgerungen komme, sondern die Kanadier wichtiger fänden, was von Bürgern erwartet
werde und was deren Rechte seien. Dem kanadischen Bürgerschaftsverständnis sei eine
dialogische Form inhärent: Zwar verteile der Staat die Bürgerschaft, doch könnten
beziehungsweise sollten sich Bürgerinnen und Bürger, seien sie nun im Land geboren oder
eingewandert, im Sinne des Gebots der Teilhabe in dieses aktiv einbringen. Freilich habe
dieser kanadische Republikanismus in den vergangenen Jahren Schaden genommen. War
Kanada lange Jahre erfolgreich, was den ökonomischen Anschluss der Neuankömmlinge an
die kanadische Mehrheitsgesellschaft betreffe, so sei dieses Aufholen in den vergangenen
Jahren immer schwieriger geworden. Zugleich sei man zu der Strategie übergegangen,
Einwanderergruppen stärker zu differenzieren und gegebenenfalls einige Gruppen
einzuschränken. Kanada habe die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge reduziert und somit
die quantitative Ergänzung strategisch ausgewählter Arbeitsmigranten durch
Fluchtmigranten zurückgefahren; auch der Familiennachzug sei stark begrenzt worden.
Das Politikfeld Migration werde zunehmend von Nützlichkeitserwägungen sowie
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Vorstellungen von Sicherheit und nationaler Identität strukturiert.
Die NachwuchswissenschaftlerInnen bekamen nun in thematischen Panels die Möglichkeit,
ihre eigenen Arbeiten zu diskutieren. Im Panel zu den normativen Grundlagen von
Staatsbürgerschaftspolitik stellte VALERIE LUX SCHULT (Berlin) den enormen Beitrag Will
Kymlickas zur Erweiterung des liberalen Staatsbürgerschaftsverständnisses vor. FLORIS
BISKAMP (Kassel) verwies anhand Seyla Benhabibs Begriff des Jurispathos auf die
Tatsache, dass jegliches philosophische Legitimieren von Staatsbürgerschaftspolitiken
innerhalb der Prämisse von Nationalstaatlichkeit stattfinde. RechtsphilosophInnen sollten
bedenken, dass das eigene Handeln sich immer im Spannungsfeld zwischen Legitimation
und Ideologisierung von Staatlichkeit situiere. SARAH STEIDL (Hamburg) schloss das Panel
mit einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung von Romanen zu Staatenlosigkeit und
Fluchtmigration ab. Migration sei immer schon ein starker Topos in der Literatur gewesen,
weshalb diese einen Zugang zum Verständnis gesellschaftlichen Wandels biete.
Im Panel zu vergleichenden Policies von Zuwanderung stellten LIDIA AVERBUKH
(München) und DANI KRANZ (Wuppertal) ihre jeweiligen Projekte zur Migration nach
Israel vor. Erstere beschäftigte sich mit der ethnischen Einwanderung von Aussiedlern aus
Russland und verglich diese mit der entsprechenden Migration nach Deutschland, letztere
befasste sich mit der Arbeitsmarktinklusion von Arbeitsmigranten. Anschließend diskutierte
MARTIN WEINMANN (Berlin) die Aufrechterhaltung und Gewährung von
Staatsbürgerschaft für ausgewanderte Staatsbürger/innen sowie ihre im Einreiseland
geborenen Kinder, wobei er die Bestimmungen in Ländern wie Deutschland, Schweden,
Kanada und den USA im Rahmen verschiedener Demokratietheorien reflektierte.
Im Panel über Teilhabe ging es um die Kontexte, in denen Staatsbürgerschaft Bedeutung
zukommt. Für heranwachsende undokumentierte Migranten in den USA, so ELIZABETH
BENEDICT CHRISTENSEN (Kopenhagen), sei Staatsbürgerschaft aufgrund der
Beziehungen zu ihren Peers zunächst unerheblich, im späteren Bildungsverlauf erlange das
Thema dann aber größere Bedeutung. Auch Jugendliche im Übergang zwischen Schule und
Beruf empfänden die Staatsbürgerschaft durchaus als ein wesentliches Element ihres
Selbstverständnisses, wie IMOGEN FELD (Hamburg) ausführte. FELIX MAAS (Berlin)
skizzierte anschließend sein Dissertationsprojekt zur Einpassung von Fluchtmigration in
stadtpolitische Inklusionspolitiken, deren konzeptionelles Ziel die Konstruktion eines guten
Staatsbürgers sei, der sich durch Offenheit, Toleranz und Kreativität auszeichne.
Zum Abschluss der Tagung versuchten sich HARALD BAUDER (Toronto), ANDREAS KEWES
(Siegen) und KARIN SCHITTENHELM (Siegen) sowohl an einer Ergebnissicherung der
Tagung als auch an der Formulierung eines kondensierten Arbeitsauftrages für die Zukunft.
Für Bauder war bemerkenswert, dass in der englischsprachigen Tagungsankündigung das
Wort „Dialectics“ vorkomme, es aber bei der Tagung keineswegs um Dialektiken gegangen
sei. Zukünftiges Nachdenken über Staatsbürgerschaft könne von einer Reflektion über
Dialektiken von Staatsbürgerschaft möglicherweise profitieren. Schittenhelm stellte die
Frage zur Diskussion, wie sich Diskurse über Staatsbürgerschaft und politische Anlässe, die
eine Veränderung politisch-rechtlicher Bedingungen einleiten, im länderübergreifenden
Vergleich untersuchen lassen. Kewes schließlich schlug den Bogen zurück zum einleitenden
Spannungsfeld zwischen Analysemöglichkeiten im Rahmen einer funktionalen
Differenzierung einerseits und im Hinblick auf das politische Mehrebenensystem
andererseits. Wie die Tagung gezeigt habe, fänden sich für beide Analyseraster spannende
Themen, weshalb in Zukunft sowohl weitere theoretisch informierte als auch
theoriegenerierende Arbeit notwendig sei.
Konferenzübersicht:
Eröffnungsvorträge
Albert Scherr (Freiburg), Inklusion, funktionale Differenzierung und Staatsbürgerschaft
Chantal Munsch (Siegen), Subtile Ausgrenzungsformen im doing citizenship
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Podiumsdiskussion „Lokale Praktiken der Inklusion und Exklusion – ein Austausch zwischen
Wissenschaft und Praxis“
Sybille Haußmann (Düren), Gelya Trot (Olpe)
Moderation: Wolf-D. Bukow
Oliver Schmidtke (Victoria, Kanada), Citizenship in Action: Praktiken der In- und Exklusion
aus transatlantischer Perspektive
Politisch-Philosophisches Panel
Valerie Lux Schult (Berlin), Will Kymlickas Konzeption einer multikulturellen
Staatsbürgerschaft
Floris Biskamp (Kassel), Nationale Staatlichkeit und Jurispathos. Auf dem Weg zu einer
gesellschaftstheoretisch reflektierten politischen Theorie der Aushandlung von
Zugehörigkeit
Sarah Steidl (Hamburg), Verkörperungen von Staatenlosigkeit. Flüchtlingsfiguren in der
deutsch-sprachigen Gegenwartsliteratur
Vergleich von Policies zur Zugehörigkeit
Lidia Averbukh (München), Ethnische Einwanderung nach Deutschland und Israel.
Inklusive und exklusive Dynamiken in der Staatsbürgerschaft von Spätaussiedlern und
russischer Alija im Vergleich
Dani Kranz (Wuppertal), When labour market needs collide with the raison d’être of
citizenship: The dual helix of exclusion and inclusion in Germany and Israel
Martin Weinmann (Berlin), Auswanderung als Herausforderung für die repräsentative
Demokratie? Ein Vergleich von Generationen-Schnittmodellen in Deutschland, Schweden,
Kanada und den USA unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten
Teilhabe
Elizabeth Benedict Christensen (Kopenhagen), A False Sense of Belonging: Inclusion and
Exclusion of 1.5 Generation Undocumented Youth in the U.S.
Imogen Feld (Hamburg), Das Gefühl der Teilhabebefähigung vers. Handlungsohnmacht am
Beispiel von jungen Frauen an Berliner Sekundarschulen
Felix Maas (Berlin), Der Umgang von Berliner Flüchtlingsprojekten mit den
gesellschaftlichen Erwartungen an das ‚good citizen-subject‘
Abschlussdiskussion
Harald Bauder (Toronto), Andreas Kewes (Siegen), Karin Schittenhelm (Siegen)
Fußnoten
1 In Seyla Benhabibs jüngerer politischer Theorie ist der Begriff der Jurisgenerativität zentral.
Dieser beschreibt, dass Recht über lediglich formale Rechtsetzung hinaus
Bedeutungszusammenhänge erschließen und Macht ausüben könne. Jurispathos ist sozusagen
der Gegenbegriff zu dieser optimistischen Sichtweise und wird erstmals von Benhabib in ihrem
Band Dignity in Adversity (2013) diskutiert.
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