21.03.2016 Fortbildungsnachmittag der Kinderärzte-Vereinigung Zentralschweiz Kispi Luzern 22.3.2016 1 Notfalltherapie – warum ? Überwiegende Anzahl der Anfälle selbstlimitierend in max. 3 Min. Bei Anfällen > 5-10 Min. Dauer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Anfall spontan endet gering: hohes Risiko für Status epilepticus 2 Status epilepticus Definition: tonisch-klonischer Anfall > 5 Minuten oder fokaler Anfall > 20 Min. oder mehrere kurze Anfälle hintereinander, ohne dass der Patient sich in der Zwischenzeit vollständig erholt Inzidenz: ca. 18-20 Kinder/ 100000/Jahr (Raspall-C. M et al., Epilepsia 2007) Klinik: vor allem tonisch-klonisch, ca. 1/3 primär fokal Ätiologie: altersabhängig, v.a. symptomatisch/ entzündlich, Fieberanfälle (30%), Epilepsie (15%), vorbestehende neurologische Erkrankung Prognose: abhängig von der Ätiologie Mortalität bei konvulsivem SE 3-11%, Morbidität 10-15% (bis 50%) Ziel der NT: Risiko und Dauer eines Status epilepticus senken 3 1 21.03.2016 Notfalltherapie aktuell - PERFECT- Initiative „The Practices in Emergency and Rescue Medication for Epilepsy Managed with Community administered Therapy“ Initiiert von ViroPharma 2011 Teilnehmer: Experten aus 7 europäischen Ländern (Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Schweden und England) Phase I: Review bzgl. bestehender Guidelines/ Anweisungen für Schulen etc. Phase II: telefonische Umfrage bei „healthcare professionals“ mit der Frage wie Kinder ihrer Meinung nach ambulant behandelt werden Phase III: Befragung der Patienten und Eltern/ Betreuungspersonen 4 PERFECT- Initiative – erste Erkenntnisse Kein Guidelines für Behandlung ausserhalb des Spitals Mangel an Information/ Training für Ersthelfer Häufig Rufen der Ambulanz Verzögerung der Therapie höheres Risiko für Status epilepticus 5 Notfalltherapie - Erste Hilfe Massnahmen rén zhōng «Meisterpunkt der Wiederbelebung» und der wichtigste Akupressurpunkt bei einem Notfall. Hinweise für Laien (Notfallausweis) Bewahren Sie Ruhe Beobachten Sie den Anfall/ das Anfallsgeschehen genau Beengende Kleidungsstücke im Halsbereich lösen Vermeiden Sie Verletzungsgefahr Bringen Sie die Person in die stabile Seitenlage Rufen Sie einen Arzt oder Krankenwagen, wenn mehrere Anfälle hintereinander auftreten, ohne dass der Patient dabei zu Bewusstsein kommt der Anfall länger als 5 Minuten dauert oder Verletzungen auftreten Lokalisation: Im Philtrum 1/3 von der Nase abwärts, 2/3 von der Oberlippe aufwärts Technik: mit dem Finger oder Fingernagel fest und vibrierend pressen, bis sich der Zustand des Patienten bessert. 6 2 21.03.2016 Domäne der Benzodiazepine allosterische Bindung an den postsynaptischen GABA-Rezeptor, Öffnung von Chloridkanälen und Verstärkung der Wirkungen von GABA Nebenwirkungen: Müdigkeit, Schläfrigkeit, Atemdepression, Reizbarkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Obstipation, vermehrter Speichelfluss, Hypotonie, Toleranzentwicklung Wechselwirkung (CYP3A4/ P450) mit zentral wirksamen dämpfenden Substanzen u.a. Alkohol, langsamerer Abbau mit Omeprazol 7 Benzodiazepine – Diazepam (1962) Diazepam rectal (1977) Diazepam Desitin® (Stesolid® rectiolen) < 20 kg: 5 mg > 20 kg: 10 mg 25 CHF/5 St. Wirkeintritt nach 3-7 Min. Wirkdauer 10-20 Min., HWZ 24-48 Std. Diazepam oral Psychopax® -Lösung Valiquid® -Lösung (1ml=30gtt=10mg) 0.75-1 mg/kgKG 14 CHF/ 20 ml in 3-4 ED Wirkeintritt nach 30-90 Min. Diazepam i.v. Valium (10 mg/2 ml) 0,25 mg/kgKG 6,30 CHF/5 St. Wirkeintritt sofort, Wirkdauer < 1 Std., HWZ 28-54 Std. Cave: schnelles Abfluten ins Fettgewebe 8 Benzodiazepine – Clonazepam und Clobazam Clonazepam oral Rivotril Tropfen (2,5 mg/ml) Rivotril Tbl. (0,5 mg u. 2 mg) Wirkeintritt nach 30 – 60 Min., Wirkdauer 6-8 Std. Maximum nach 2-3 Std., HWZ 30-40 Std. 7,75 CHF/ 10 ml Clonazepam i.v. Rivotril® -Lösung 0.02 mg/kgKG 9,65CHF/ 5 ml Wirkeintritt sofort, Wirkdauer 2-3 Std. Cave: ölige Lösung, muss angemischt werden, nur langsam zu spritzen 0.5-1 mg/kgKG 14,45 CHF/ 30 St. in 3 ED Wirkeintritt nach 30 Min (bis 4 Std.), HWZ 36-79 Std. Clobazam oral Urbanyl® Tbl. à 10 mg 9 3 21.03.2016 Benzodiazepine – Lorazepam (2009) Lorazepam bukkal Temesta® Expidet 0.1 mg/kgKG (à 1 mg u. 2,5 mg) max. 4 mg 7,50 CHF/20 St. Wirkeintritt nach 15-20 Min., Maximum nach 2-3 Std., HWZ 8-25 Std. Cave: zugelassen ab 12 Jahren Lorazepam i.v. Temesta® -Lösung 0.1 mg/kgKG Tavor® - Lösung max. 4 mg Wirkeintritt nach 1-2 Min., Wirkdauer 4-6 Std. weniger atemdepressiv als Diazepam i.v. 10 Benzodiazepine - Midazolam Midazolam nasal off label Herstellung 0.2 mg/kgKG (1 mg u. 2.5 mg/Hub) 37,95 CHF/60 Hub Wirkeintritt nach 3-10 Min. Cave: Brennen/ Schleimhautreizung Midazolam i.v./ i.m. (5mg/5ml) Dormicum-Lsg. 0,1 mg/kgKG 24 CHF/ 5 Amp. Wirkeintritt i.v. nach 2-5 Min., i.m. nach 10-30 Min., HWZ 1,5-3,5 Std. Midazolam buccal Buccolam®-Fertigspritzen 114 CHF/ 4 St. Wirkeintritt nach 5-10 Min., Maximum nach 30 Min. HWZ 24 – 204 Min. 11 Buccolam® Zugelassen durch die Europäische Kommission 9/2011 Swissmedic Zulassung 9/2012 Erhältlich in der Schweiz seit 8/2015 Indikationen/Anwendungsmöglichkeiten Notfallbehandlung länger anhaltender, akuter Krampfanfälle von mehr als 5 Minuten Dauer bei Kindern ab 6 Monaten bis 18 Jahren. Buccolam darf von Eltern/Betreuungspersonen nur dann verabreicht werden, wenn bei dem Patienten Epilepsie diagnostiziert wurde. 12 4 21.03.2016 Midazolam buccal Gleiche Wirksamkeit wie Diazepam rektal und Midazolam i.v. bzw. nasal, Lorazepam buccal langsamer (z.B. McIntyre J et al, Lancet 2005; Metaanalyse von Mc Mullan J et al., Acad Emerg Med 2010) Initial höhere Kosten (Buccolam 28,50 CHF vs Diazepam rektal 5 CHF) aber Sozial „akzeptablere“ Applikation, dadurch ggf. konsequentere Behandlung, weniger Dosierungsfehler (Fertigspritze) und damit Ggf. weniger Ambulanzeinsätze/ Hospitalisationen und Kostenersparnis (Lee D et al., Health Economics Review, 2014) 13 Empfehlungen Vorgehen bei Anfallsereignis - keine Epilepsie bekannt Einleiten der erste Hilfe Massnahmen Bei spontanem Sistieren des Anfalls: Untersuchung des Kindes, Suche nach mgl. Ursache des Anfalls Bei Fortbestehen des Anfalls > 3 Minuten Dauer: 1 x 5 mg (< 20 kg) bzw. 10 mg (> 20 kg) Diazepam rektal Mehr als 2-3 Benzodiazepin-Gaben nicht sinnvoll bei Status Eskalation i.v. keine Änderung 14 Empfehlungen Vorgehen bei prolongiertem Anfall bei Patient mit bekannter Epilepsie siehe individuelle Notfallempfehlung bei Kleinkindern unverändert 1. Wahl Diazepam rektal Bei Schulkindern Alt: Midazolam Nasenspray 0,2 mg/kg Neu: (v.a. bei Kindern mit häufigen längeren Anfällen) Buccolam® 1 x 1 Fertigspritze gemäss Alter bei anhaltendem Anfall Vorstellung auf dem Notfall Eskalation nach etabliertem Notfallschema 15 5 21.03.2016 Algorithmus zur Behandlung prolongierter Anfälle Zeit ab Anfallsbeginn Allgemeine Massnahmen Diagnostik Medikamentöse Therapie Dosis 3-5 Min Schutz vor Verletzungen sichere Lagerung Atemwege freihalten ABC Körpertemperatur messen Kleinkinder: Diazepam rektal < 20 kg: 5 mg > 20 kg: 10 mg Schulkinder: Alt: Midazolam nasal 0,2 mg/kgKG Neu: Midazolam buccal Buccolam® 1 x 1 Fertigspritze gemäss Alter Diazepam-Gabe wiederholen s.o. 5-20 Min. Diagnose sichern Körperl. Untersuchung Anamnese Allgemeinmassnahmen Überwachung BZ, BGA, BB, Elektrolyte + je nach Anamnese Bedside-EEG bei i.v. Zugang Lorazepam i.v. Oder Clonazepam i.v. Bei Erstereignis bei Kindern unter 2 Jahren zusätzlich Pyridoxin i.v. 20-60 Min. > 60 Min. Überwachung inkl. RR Intubationsbereitschaft Intensivstation LP ? Cerebrale Bildgebung ? EEG-Monitoring 0,1 mg/ kgKG (max. 4 mg) 0,03 mg/kgKG über 1-3 min. 100 mg Phenobarbital i.v. Oder Valproat i.v. (oder Levetiracetam i.v. 10 mg/kgKG Midazolam DI Bolus 0,2 mg/kgKG, DI 0,3-2 mg/kg/h Oder Thiopental DI 20-40 mg/kgKG 50 mg/kgKG) Bolus 5 mg/kgKG, DI 3-5 mg/kg/h (oder Propofol DI) Nach Wolff M et al., Moki 8/2011 ambulant Rettungsdienst/ im Spital 16 praktische klinische Definition (ILAE 2014) Epilepsy is a disease of the brain defined by any of the following conditions: 1. At least two unprovoked (or reflex) seizures occurring >24 h apart 2. One unprovoked (or reflex) seizure and a probability of further seizures similar to the general recurrence risk (at least 60%) after two unprovoked seizures, occurring over the next 10 years 3. Diagnosis of an epilepsy syndrome Epilepsy is considered to be resolved for individuals who had an agedependent epilepsy syndrome but are now past the applicable age or those who have remained seizure-free for the last 10 years, with no seizure medicines for the last 5 years. aus “A practical clinical definition of epilepsy”, Robert S. Fisher et al, Epilepsia, 55(4):475–482, 2014 17 Epilepsie - Häufigkeit Häufigkeit: 0,5 bis 1 % der Bevölkerung In der Schweiz ca. 70000 Personen davon ca. 15000 Kinder (Info Epilepsie Liga) 2 bis 5 % haben mindestens 1-mal im Leben einen epileptischen Anfall Inzidenz ist altersabhängig Korrelation FK und Epilepsie: 30-40% der Kinder mit FK erleiden einen 2. FK, wiederum ca. 30% einen 3. FK Risikofaktoren für Anfallsrezidive: pos. FA, Anfälle in den ersten 18 Lebensmonaten, komplizierte Fieberanfälle, Entwicklungsverzögerung Epilepsierisiko 2-3%, jeweils verdoppelt pro Risikofaktor Aus EpiInfo, Dr. G. Krämer 18 6 21.03.2016 medikamentöse Therapie Auswahl nach Alter, Epilepsiesyndrom, Anfallsform und -frequenz, evtl. Grunderkrankung etc. Valproat (Orfiril, Depakine) Levetriacetam (Keppra) Carbamazepin (Timonil) Topiramat (Topamax) Ethosuximit (Petinimid, Petnidan) Lamotrigin (Lamictal) Lacosamid (Vimpat) Perampanel (Fycompa) Sultiam (Ospolot) (Rufinamid (Inovelon)) Vigabatrin (Sabril) Clobazam (Urbanyl) (Stiripentol) Brom Clonazepam (Rivotril) Oxcarbazepin (Apydan, Trileptal) (Steroide) Ziel: Anfallsfreiheit (-reduktion) unter Monotherapie. Bei Versagen 2er Monotherapien ggf. Kombinationstherapie 19 Cannabis Lancet Neurol. 2016 Mar;15(3):270-8. Cannabidiol in patients with treatment-resistant epilepsy: an open-label interventional trial. Devinsky O et al 400 verschiedene Phytocannabinoide am besten untersucht (medizinische Indikation) Tetrahydrocannabinol (THC) psychoaktiv (dopaminerg) analgetisch, antiinflammatorisch Cannabidiol (CBD) nicht psychoaktiv antikonvulsiv, analgetisch Einsatz bei Krebspatienten, Schizophrenie, Migräne Bislang nicht etabliert – „off label“ (Ausnahmebewilligung BAG) Keine Anwendungsempfehlungen/ Guidelines Keine Langzeiterfahrungen 20 Nicht medikamentöse Therapie Ketogene Diät/ modifizierte Atkins Diät: fettreiche, extrem kohlenhydratreduzierte Ernährung, die den metabolischen Zustand des Fastens imitiert: Ketone als alternative Energiequelle Epilepsiechirurgische Behandlung (z.B. bei Dysplasien/ Sklerosen, Tumoren oder Tuberöser Sklerose) Vagus-Nerv-Stimulation (invasiv/ transkutan) oder Tiefenhirn-Stimulation 21 7 21.03.2016 Einschränkungen im Alltag – alters- und anfallsabhängig Allgemein: Anfallsauslöser vermeiden (Schlafmangel, Alkohol etc.) Sport : Körperliche Aktivität hat keinen negativen Einfluss auf die Anfallskontrolle - möglicherweise sogar protektiv Nur einige wenige Sportarten sind prinzipiell ungeeignet (z.B. Tiefseetauchen, Gebirgsklettern, Fallschirmspringen, Paragliding, Schiesssport) Sonderfall Schwimmen: Cave: Ertrinkungsgefahr dtl. erhöht ! Fernsehen/ Videospiele: Menschen ohne Photosensibilität haben kein erhöhtes Anfallsrisiko Berufswahl: qualitative Einschränkungen (Angebot der IVBerufsberatung) Fahrtauglichkeit 22 Infos und Links Schweizerische Epilepsie Liga: www.epi.ch Schweizerisches Epilepsie-Zentrum/ Klinik Lengg: www.swissepi.ch bzw. www.kliniklengg.ch Schweizerische Elternvereinigung: www.parepi.ch Internationale Liga gegen Epilepsie www.ilae.org Deutsche Gesellschaft für Epileptologie: www.izepilepsie.de Epilepsy Society UK: www.epilepsysociety.org.uk 8
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